F. M. Dostojewskij
Der Idiot
F. M. Dostojewskij

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VI

»Da schauen Sie mich nun alle mit solcher Neugier an«, begann er, »daß Sie mir am Ende noch böse werden, wenn ich diese Neugier nicht befriedige. Nein, nein, ich scherze nur«, fügte er schnell mit einem Lächeln hinzu. »Dort... dort gab es viele Kinder, und ich bin die ganze Zeit über mit Kindern zusammen gewesen, nur mit Kindern. Es waren die Kinder jenes Dorfes, eine ganze Schar, die die Schule besuchte. Unterrichtet habe ich sie nicht, o nein, dazu war ein Schullehrer dort, Jules Thibaut; ich habe sie wohl auch dies und das gelehrt, größtenteils aber war ich ohne solche Absicht mit ihnen zusammen, und die ganzen vier Jahre habe ich in dieser Weise verlebt. Weiter hatte ich keine Wünsche. Ich sagte ihnen alles, ohne ihnen etwas zu verheimlichen. Ihre Eltern und Verwandten waren alle auf mich ärgerlich, weil die Kinder zuletzt ohne mich gar nicht mehr leben konnten und mich immer umdrängten, und der Schullehrer wurde schließlich mein ärgster Feind. Ich hatte dort viele Feinde, alle um der Kinder willen. Sogar Schneider machte mir Vorwürfe. Und was fürchteten sie eigentlich? Man kann einem Kind alles sagen, geradezu alles; mich hat oft die Wahrnehmung überrascht, wie schlecht die Erwachsenen die Kinder kennen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Man darf den Kindern nichts unter dem Vorwand verheimlichen, sie seien noch zu klein, und es sei für sie noch zu früh, dies und jenes zu wissen. Welch ein trauriger, unglücklicher Gedanke! Und wie gut merken es die Kinder selbst, daß die Väter sie für zu klein und unverständig halten, während sie doch in Wirklichkeit alles verstehen! Die Erwachsenen wissen nicht, daß die Kinder selbst in den schwierigsten Angelegenheiten oft einen sehr guten Rat geben können. O Gott, wenn einen so ein hübsches Vögelchen vertrauensvoll und glücklich anblickt, da schämt man sich ja, es zu betrügen! Vögelchen nenne ich die Kinder, weil die Vögelchen das Schönste sind, was es auf der Welt gibt. Übrigens waren alle Leute im Dorfe namentlich wegen eines bestimmten Falles über mich aufgebracht... Thibaut aber beneidete mich einfach; am Anfang schüttelte er immer den Kopf und wunderte sich darüber, wie es zuging, daß die Kinder bei mir alles begriffen und bei ihm fast nichts, aber als ich ihm dann sagte, wir beide könnten sie nichts lehren, sondern umgekehrt sie uns, da lachte er mich aus. Und wie mochte er mich nur beneiden und verleumden, da er doch selbst im steten Umgang mit den Kindern lebte! Durch den Umgang mit Kindern aber wird die Seele gesund... Es war da im Schneiderschen Institute ein Patient, ein sehr unglücklicher Mensch. Sein Unglück war so furchtbar, daß es wohl kaum etwas Ähnliches gab. Er war zur Heilung von Geistesstörung eingeliefert worden; aber nach meiner Meinung war er nicht geistig gestört, sondern litt nur entsetzlich, und das war seine ganze Krankheit. Und wenn Sie nun wüßten, was für ihn zuletzt unsere Kinder wurden ... Aber von diesem Patienten will ich Ihnen lieber ein andermal erzählen; jetzt möchte ich erzählen, wie das alles anfing. Die Kinder liebten mich zuerst nicht. Ich war so groß und immer so unbeholfen; ich weiß, daß ich unschön bin... dazu kam endlich noch, daß ich Ausländer war. Die Kinder machten sich anfangs über mich lustig, und dann fingen sie sogar an, mit Steinen nach mir zu werfen, als sie gesehen hatten, daß ich Marie küßte. Ich habe sie aber nur ein einziges Mal geküßt... Nein, lachen Sie nicht!« schaltete der Fürst hastig ein, um das Lächeln seiner Zuhörerinnen zu unterbinden, »von Liebe war dabei ganz und gar nicht die Rede. Wenn Sie wüßten, was für ein unglückliches Geschöpf sie war, würden Sie selbst sie ebenso bemitleiden, wie ich es tat. Sie war aus unserem Dorf. Ihre Mutter war eine alte Frau, die in ihrem kleinen, ganz baufälligen, zweifenstrigen Häuschen das eine Fenster mit einer Art Ladentisch versehen hatte; aus diesem Fenster verkaufte sie mit Erlaubnis der Dorfobrigkeit Schnüre, Zwirn, Tabak, Seife, alles immer für ganz wenige Groschen, und davon lebte sie. Sie war krank: die Füße waren ihr dauernd geschwollen, so daß sie immer auf demselben Fleck sitzen mußte. Marie war ihre Tochter, zwanzig Jahre alt, schwächlich und mager; schon längst hatte bei ihr die Schwindsucht begonnen, aber trotzdem ging sie immer auf Tagelohn zu schwerer Arbeit in die Häuser – sie scheuerte die Fußböden, wusch Wäsche, fegte die Höfe und versorgte das Vieh. Ein durchreisender französischer Kommis verführte sie und nahm sie mit, ließ sie aber eine Woche darauf unterwegs im Stich und machte sich heimlich davon. Sich durchbettelnd kehrte sie wieder nach Hause zurück, ganz schmutzig, in Lumpen, mit zerrissenen Schuhen; sie war eine ganze Woche lang zu Fuß gewandert, hatte im Freien übernachtet und sich stark erkältet, ihre Füße waren wund, die Hände geschwollen und rissig. Übrigens war sie auch vorher nicht hübsch gewesen; nur die Augen waren still, gut und unschuldig. Sie war im höchsten Grade schweigsam. Einmal, noch vor jenem Vorfall, fing sie bei der Arbeit auf einmal an zu singen, und ich weiß noch, daß alle sich wunderten und zu lachen anfingen: ›Marie singt! Was denn? Marie singt!‹ Sie wurde schrecklich verlegen, und ihr Gesang verstummte dann für ihr ganzes Leben. Damals hatten die Leute sie noch freundlich behandelt, aber als sie krank und heruntergekommen zurückgekehrt war, da hatte niemand mit ihr auch nur das geringste Mitleid. Wie grausam die Menschen in solchen Fällen sind! Was für herzlose Anschauungen sie von solchen Dingen haben! Als erste empfing die Mutter sie mit Zorn und Verachtung: ›Du hast mich jetzt entehrt!‹ Sie war auch die erste, die sie der Schande preisgab: als man im Dorfe hörte, daß Marie zurückgekommen sei, da kamen alle eilig herbeigelaufen, um sie zu sehen, und fast das ganze Dorf versammelte sich in dem Häuschen der Alten: Greise, Kinder, Frauen, Mädchen, alle, alle, eine ungeduldige, gierige Menge. Marie lag hungrig und zerlumpt auf dem Fußboden zu den Füßen der Alten und weinte. Als alle herbeigelaufen kamen, bedeckte sie ihr Gesicht mit dem aufgelösten, wirren Haar und drückte es an den Boden. Alle Umstehenden betrachteten sie, als ob sie ein Scheusal wäre. Die alten Männer brachen den Stab über sie und schalten, die jungen Leute machten sich sogar über sie lustig, die Frauen schimpften auf sie und verdammten sie und sahen sie mit größter Verachtung an wie eine ekle Spinne. Die Mutter ließ das alles geschehen, saß selbst dabei, nickte mit dem Kopf und billigte diese Roheiten. Die Mutter war damals schon sehr krank und dem Tode nahe, zwei Monate darauf starb sie auch wirklich; sie wußte, daß sie bald sterben werde, wollte sich aber trotzdem bis zu ihrem Tode nicht mit ihrer Tochter versöhnen, sie redete sogar kein Wort mit ihr, jagte sie zum Schlafen auf den Flur hinaus und gab ihr fast nichts zu essen. Sie mußte ihre kranken Füße oft in warmes Wasser stellen; Marie wusch sie ihr alle Tage und pflegte die Mutter, aber diese nahm alle Dienstleistungen der Tochter schweigend hin, ohne ihr auch nur ein einziges freundliches Wort zu gönnen. Marie ertrug alles, und als ich dann später mit ihr bekannt wurde, nahm ich wahr, daß sie diese Behandlung sogar selbst für gerecht erachtete und sich selbst für das allerschlechteste Geschöpf hielt. Als die Mutter dauernd an das Bett gefesselt war, kamen die alten Frauen des Dorfes der Reihe nach zu ihr, um sie zu pflegen, das ist dort so Sitte. Nun bekam Marie überhaupt nichts mehr zu essen, im Dorfe aber jagten alle Leute sie fort, und nicht einmal Arbeit wollte ihr jemand geben wie früher. Alle behandelten sie wie eine Verworfene, und die Männer betrachteten sie gar nicht mehr als Frau, solche unflätigen Schimpfworte gebrauchten sie ihr gegenüber. Manchmal, indes nur sehr selten, warfen sie ihr, wenn sie sich sonntags betrunken hatten, spaßeshalber ein paar Groschen hin, einfach auf die Erde, und Marie hob sie schweigend auf. Sie fing schon damals an, Blut zu husten. Schließlich waren ihre Lumpen schon vollständig zu Fetzen geworden, so daß sie sich schämte, sich im Dorfe blicken zu lassen; barfuß ging sie schon seit ihrer Heimkehr. Da begann die ganze Kinderschar – es waren über vierzig Schulkinder – sie zu verhöhnen und sogar mit Schmutz nach ihr zu werfen. Sie bat den Hirten, er möge ihr erlauben, die Kühe zu hüten, aber der Hirt jagte sie weg. Da fing sie an, ohne seine Erlaubnis mit der Herde für den ganzen Tag hinauszuziehen. Da sie dem Hirten sehr viel Nutzen brachte und er dies bemerkte, trieb er sie nun nicht mehr fort und gab ihr manchmal die Überreste seines Mittagessens, Brot und Käse. Er hielt das für eine große Gnade seinerseits. Als die Mutter gestorben war, schämte sich der Pastor nicht, Marie in der Kirche vor allem Volk an den Pranger zu stellen. Marie stand, so wie sie war, in ihren Lumpen, am Sarge. Es hatte sich eine Menge Leute eingefunden, um zu sehen, wie sie weinen und hinter dem Sarge hergehen würde; da wandte sich der Pastor – er war noch ein junger Mann, und sein ganzer Ehrgeiz war, ein großer Prediger zu werden – an alle Anwesenden und zeigte auf Marie. ›Die ist es, die an dem Tode dieser achtenswerten Frau die Schuld trägt‹ (das war unwahr, da die Mutter schon seit zwei Jahren krank gewesen war), ›da steht sie vor euch und wagt nicht aufzublicken, weil Gottes Finger sie gezeichnet hat; da ist sie nun, barfuß und in Lumpen, ein abschreckendes Beispiel für diejenigen, die vom Pfade der Tugend abirren möchten! Und wer ist es? Es ist die eigene Tochter!‹ und in dieser Art immer weiter. Und denken Sie sich: diese Gemeinheit gefiel fast allen, aber... nun ereignete sich etwas Besonderes: die Kinder traten für Marie ein, denn zu dieser Zeit waren die Kinder alle schon auf meiner Seite und hatten Marie liebgewonnen. Das war so zugegangen. Ich wollte gern etwas für Marie tun; es war dringend nötig, daß ihr jemand Geld gab, aber Geld hatte ich dort nie auch nur eine Kopeke in meinem Besitz. Ich hatte eine kleine Brillantnadel, die verkaufte ich an einen Trödler, der in den Dörfern herumzog und mit alten Kleidern handelte. Er gab mir dafür acht Frank, obwohl sie gut vierzig wert war. Lange Zeit bemühte ich mich, Marie allein zu treffen; endlich begegneten wir einander außerhalb des Dorfes, an einem Zaun, auf einem Seitenpfad, der in die Berge führte, bei einem Baum. Dort gab ich ihr die acht Frank und sagte ihr, sie möchte damit sparsam umgehen, da ich nicht mehr hätte, und dann küßte ich sie und sagte, sie solle nicht denken, daß ich irgendeine unlautere Absicht hätte; ich hätte sie nicht etwa geküßt, weil ich in sie verliebt wäre, sondern weil sie mir sehr leid täte und ich sie gleich von Anfang an durchaus nicht für schuldbeladen, sondern nur für unglücklich gehalten hätte. Ich wollte sie gern gleich bei dieser Begegnung trösten und ihr deutlich machen, daß sie sich gar nicht für soviel schlechter als alle zu halten brauche, aber sie schien das gar nicht zu verstehen. Ich merkte das gleich, obwohl sie fast die ganze Zeit über schwieg und mit niedergeschlagenen Augen vor mir stand und sich furchtbar schämte. Als ich zu Ende war, küßte sie mir die Hand, und ich griff sofort nach der ihren und wollte sie ihr küssen, aber sie zog sie schnell weg. In diesem Augenblick erspähten uns auf einmal die Kinder, ein ganzer Schwarm; ich erfuhr später, daß sie mir schon lange nachspioniert hatten. Sie fingen an zu pfeifen, in die Hände zu klatschen und zu lachen, Marie aber lief eiligst davon. Ich wollte den Kindern etwas sagen, aber sie warfen nach mir mit Steinen. Noch an demselben Tage erfuhren alle, was vorgefallen war, das ganze Dorf; alle fielen sie wieder über Marie her und wurden ihr noch mehr feind. Ich hörte sogar, daß man vorhatte, sie zu einer Strafe zu verurteilen; indes ging das, Gott sei Dank, noch so vorüber. Aber dafür ließen ihr die Kinder gar keine Ruhe mehr, sie verhöhnten sie noch ärger als vorher und bewarfen sie mit Schmutz, sie jagten ihr nach, und sie floh dann vor ihnen mit ihrer schwachen Brust ganz außer Atem, und die Kinder schreiend und schimpfend hinter ihr her. Einmal begann ich sogar, mich mit ihnen herumzuschlagen. Dann versuchte ich mit ihnen zu reden und redete zu ihnen jeden Tag, sooft ich nur die Möglichkeit hatte. Manchmal blieben sie stehen und hörten zu, obwohl sie immer noch schimpften. Ich erzählte ihnen, wie unglücklich Marie sei; bald hörten sie denn auch auf zu schimpfen und gingen schweigend fort. Allmählich kam es dazu, daß wir miteinander Gespräche führten; ich verheimlichte ihnen nichts, sondern erzählte ihnen alles. Sie hörten sehr neugierig zu und begannen bald, Marie zu bemitleiden. Einzelne fingen an, wenn sie ihr begegneten, sie freundlich zu grüßen; es ist dort Sitte, wenn man einander begegnet, ob man sich nun kennt oder nicht, sich zu grüßen und ›Grüß Gott‹ zu sagen. Ich kann mir vorstellen, wie erstaunt Marie darüber war. Eines Tages verschafften sich zwei kleine Mädchen etwas Essen, trugen es ihr hin, gaben es ihr und kamen dann zu mir, um es mir zu sagen. Sie erzählten mir, Marie habe geweint, und sie hätten sie jetzt sehr lieb. Bald fingen alle an, sie liebzuhaben, und gleichzeitig auf einmal auch mich. Sie kamen nun oft zu mir und baten immer, ich möchte ihnen etwas erzählen; ich muß wohl gut erzählt haben, weil sie mir sehr gern zuhörten. In der Folgezeit lernte und las ich immer nur in der Absicht, es ihnen nachher zu erzählen, und so habe ich ihnen in den ganzen nächsten drei Jahren immer etwas erzählt. Als mir dann alle, auch Schneider, Vorwürfe darüber machten, daß ich mit den Kindern wie mit Erwachsenen spräche und ihnen nichts verheimlichte, antwortete ich ihnen, man müsse sich schämen, den Kindern etwas vorzulügen, sie erführen ja doch alles, wie sehr man es ihnen auch zu verbergen suche, und erführen es vielleicht auf eine häßliche Weise; wenn sie es aber von mir hörten, so sei das nicht der Fall. Ein jeder brauche sich nur an seine eigene Kindheit zu erinnern. Aber sie stimmten mir nicht bei ... Geküßt hatte ich Marie zwei Wochen vor dem Tode ihrer Mutter, und als der Pastor jene Leichenrede hielt, waren schon alle Kinder auf meiner Seite. Ich erzählte ihnen sofort, wie sich der Pastor benommen hatte, und sagte ihnen, wie ich darüber urteilte; alle waren sie empört, einige so sehr, daß sie ihm die Fenster einwarfen. Dies verbot ich ihnen, weil das nicht mehr recht war, aber im Dorfe hatte man sofort alles erfahren und beschuldigte mich nun, ich verdürbe die Kinder. Dann erfuhren auch alle, daß die Kinder Marie liebhatten, und bekamen einen gewaltigen Schreck; Marie jedoch fühlte sich schon ganz glücklich. Man verbot den Kindern, mit ihr zusammenzukommen; aber sie liefen heimlich zu ihr, nach dem ziemlich weit, fast eine halbe Werst vom Dorfe entfernten Weideplatz der Herde; sie brachten ihr dies und das zum Essen mit, manche aber liefen auch einfach hin, um sie zu umarmen, zu küssen und ihr zu sagen: ›Je vous aime, Marie!‹ und dann Hals über Kopf wieder zurückzurennen. Marie verlor infolge dieses unerwarteten Glückes fast den Verstand; so etwas hätte sie sich nie träumen lassen; sie schämte sich und freute sich zugleich. Besondere Freude machte es den zu ihr hinlaufenden Kindern und namentlich den kleinen Mädchen, ihr mitzuteilen, daß ich sie, Marie, liebte und sehr viel mit ihnen von ihr spräche.

Sie berichteten ihr, daß ich ihnen alles erzählt hätte, und daß sie sie jetzt sehr liebhätten und bemitleideten und ihr immer treu bleiben würden. Dann kamen sie zu mir gelaufen und erzählten mir mit Gesichtchen, die von freudigem Eifer strahlten, sie hätten soeben mit Marie gesprochen und sie lasse mich grüßen. Abends ging ich oft nach dem Wasserfall; dort befand sich ein nach dem Dorfe zu ganz verdeckter Platz, um den herum Pappeln standen; da versammelten sich die Kinder abends um mich, manche liefen sogar heimlich aus dem Dorfe weg. Ich glaube, ihr ganz besonderes Entzücken war meine Liebe zu Marie, und dies war während meines ganzen dortigen Aufenthaltes der einzige Punkt, in dem ich sie täuschte. Ich ließ ihnen den Glauben, daß ich Marie liebte, das heißt in sie verliebt sei, und sagte ihnen nicht, daß ich sie in Wirklichkeit nur sehr bemitleidete; ich sah an allem, daß es ihnen besser so gefiel, wie sie sich das selbst ausgedacht und untereinander zurechtgelegt hatten, und darum schwieg ich und tat, als hätten sie es erraten. Und wie feinfühlig und zärtlich waren diese kleinen Herzen: unter anderm meinten sie, das dürfe doch nicht sein, daß ihr guter Léon Marie so liebe und diese Marie so schlecht gekleidet sei und keine Schuhe habe. Denken Sie sich, sie beschafften ihr Schuhe und Strümpfe und Wäsche und sogar einige Kleidungsstücke; auf welche kluge Weise sie das zustande brachten, ist mir unbegreiflich; der ganze Schwarm wirkte dabei zusammen. Wenn ich sie darüber befragte, lachten sie nur lustig, und die kleinen Mädchen klatschten in die Hände und küßten mich. Manchmal ging auch ich heimlich zu Marie. Sie war schon sehr krank und konnte kaum noch gehen; schließlich war es ihr gar nicht mehr möglich, dem Hirten irgendwelche Dienste zu leisten, aber sie zog doch jeden Morgen mit der Herde aus. Sie setzte sich abseits hin; es war da an einem abschüssigen, beinah senkrechten Felsen ein Vorsprung; dort setzte sie sich ganz in der Ecke, wo niemand sie sehen konnte, auf einen Stein und saß da fast regungslos den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zu der Stunde, wo die Herde heimging. Sie war infolge der Schwindsucht schon so schwach, daß sie meist mit geschlossenen Augen, den Kopf gegen den Felsen gelehnt, dasaß und, mühsam atmend; halb schlummerte; ihr Gesicht war mager geworden wie bei einem Skelett, und an Stirn und Schläfen trat ihr der Schweiß hervor. In diesem Zustand fand ich sie immer. Ich kam stets nur auf einen Augenblick und wünschte auch nicht, von den Leuten gesehen zu werden. Sobald ich mich zeigte, fuhr Marie sofort zusammen, öffnete die Augen und stürzte auf mich zu, um mir die Hände zu küssen. Ich entzog sie ihr nicht mehr, weil sie dies als ein Glück empfand; die ganze Zeit über, während ich bei ihr saß, zitterte und weinte sie; einige Male versuchte sie allerdings auch zu reden; aber es war schwer, sie zu verstehen. Vor Aufregung und Entzücken war sie wie von Sinnen. Mitunter kamen auch die Kinder mit; sie stellten sich dann gewöhnlich in der Nähe auf und bewachten uns vor irgend etwas und vor irgend jemand, und das war für sie ein ganz besonderes Vergnügen. Wenn wir fortgingen, blieb Marie wieder allein, regungslos wie vorher, mit geschlossenen Augen, den Kopf an den Felsen gelehnt; vielleicht träumte sie von irgend etwas. Eines Tages war sie am Morgen nicht mehr imstande, zu der Herde hinauszugehen, und blieb in ihrem leeren Haus. Die Kinder erfuhren es sogleich und kamen an diesem Tage fast alle zu ihr gelaufen, um sie zu besuchen; sie lag mutterseelenallein in ihrem Bett. Zwei Tage lang waren es nur die Kinder, die sie pflegten, indem sie abwechselnd hinkamen; aber als dann im Dorfe bekannt wurde, daß Marie wirklich schon im Sterben liege, stellten sich auch die alten Frauen aus dem Dorfe bei ihr ein, saßen an ihrem Lager und pflegten sie. Es schien, daß man im Dorfe mit Marie Mitleid zu fühlen begann, wenigstens hielt man die Kinder nicht mehr zurück und schalt sie nicht mehr wie früher. Marie lag die ganze Zeit im Halbschlummer, der aber infolge des furchtbaren Hustens sehr unruhig war. Die Kinder aber wurden von den alten Frauen fortgejagt, kamen aber doch ans Fenster gelaufen, manchmal nur auf einen Augenblick, nur um zu sagen: ›Bonjour, notre bonne Marie!‹ Sowie diese sie aber sah oder hörte, kehrte ihre Lebenskraft zurück, und sie versuchte mit Anstrengung, ohne auf die alten Frauen zu hören, sich aufzurichten und auf den Ellbogen zu stützen, nickte den Kindern zu und dankte ihnen. Sie brachten ihr wie früher mitunter ein paar gute Bissen mit; aber sie aß fast gar nichts mehr. Ich versichere Ihnen, dank den Kindern ist sie beinah glücklich gestorben. Die Kinder bewirkten, daß sie ihr schweres Leid vergaß; sie hatte das Gefühl, daß sie von ihnen Vergebung empfangen habe; denn sie hielt sich bis zu ihrem Lebensende für eine große Sünderin. Die Kinder schlugen gleichsam wie kleine Vögel mit den Flügelchen an das Fenster der Kranken und riefen ihr jeden Morgen zu: ›Nous t'aimons, Marie.‹ Sie starb sehr bald. Ich hatte geglaubt, sie würde weit länger leben. Am Tage vor ihrem Tode kam ich vor Sonnenuntergang zu ihr, sie schien mich zu erkennen, und ich drückte ihr zum letzten Male die Hand; ach, wie ausgetrocknet war diese Hand! Und am folgenden Morgen kam unerwartet jemand zu mir und sagte, daß Marie gestorben sei. Nun ließen sich die Kinder nicht zurückhalten: sie schmückten ihren Sarg reich mit Blumen und setzten ihr einen Kranz auf den Kopf. Der Pastor schmähte in der Kirche die Tote nicht mehr; die wenigen Menschen, die sich zur Beerdigung eingefunden hatten, waren nur aus Neugier gekommen; aber als der Sarg weggetragen werden sollte, da stürzten die Kinder alle mit einem Male herbei, um ihn selbst zu tragen. Da dazu ihre Kraft nicht ausreichte, halfen einige von ihnen wenigstens nach Möglichkeit, und die übrigen liefen hinter dem Sarge her, und alle weinten. Maries Grab ist seitdem von den Kindern beständig schön in Ordnung gehalten worden; sie schmücken es jedes Jahr mit Blumen und haben ringsherum Rosensträucher gepflanzt. Aber von dieser Beerdigung an begann mich das ganze Dorf um der Kinder willen zu befehden. Die Hauptanstifter waren der Pastor und der Schullehrer. Den Kindern wurde jeder Verkehr mit mir streng verboten, und Schneider verpflichtete sich sogar, darüber zu wachen. Wir kamen aber doch zusammen und verständigten uns von weitem durch Zeichen, auch schickten sie mir kleine Briefchen. In der folgenden Zeit schob sich das alles wieder zurecht; aber damals fühlten wir uns ganz wohl dabei, und ich war den Kindern durch diese Verfolgung sogar noch nähergerückt. Im letzten Jahr versöhnte ich mich sogar beinah mit Thibaut und dem Pastor. Schneider aber disputierte mit mir viel über meine verderbliche ›Methode‹, mit den Kindern umzugehen. Aber von einer ›Methode‹ war bei mir ja gar nicht die Rede! Zuletzt – es war schon kurz vor meiner Abreise – sprach Schneider mir gegenüber einen recht seltsamen Gedanken aus: er sagte zu mir, er habe jetzt die sichere Überzeugung gewonnen, daß ich selbst ein vollständiges Kind sei; ich hätte nur an Wuchs und Gesicht Ähnlichkeit mit einem Erwachsenen; aber was die Entwicklung der Seele, des Charakters und vielleicht auch des Verstandes anlange, sei ich kein Erwachsener, und ich würde so bleiben, auch wenn ich sechzig Jahre alt würde. Ich lachte darüber herzlich; er hat natürlich unrecht, denn ich bin ja doch kein kleines Kind! Eines ist allerdings daran wahr, nur eines: ich bin wirklich nicht gern mit Erwachsenen, mit Großen zusammen – ich habe das schon längst an mir beobachtet –; ich bin nicht gern mit ihnen zusammen, weil ich sie nicht verstehe. Was sie auch mit mir sprechen, und wie gut sie auch gegen mich sein mögen, ich fühle mich doch stets in ihrer Gesellschaft bedrückt und bin heilfroh, wenn ich so bald wie möglich zu meinen Kameraden gehen kann, und immer waren die Kinder meine Kameraden, aber nicht, weil ich selbst ein Kind war, sondern weil es mich einfach zu den Kindern hinzog. Wenn ich, noch am Anfang meines Aufenthaltes in dem Dorf, allein in die Berge gegangen war, um meinem Kummer nachzuhängen, und wenn ich dann, namentlich mittags, wo sie aus der Schule kamen, diesem lärmenden Schwarm begegnete, der mit seinen Bücherranzen und Schiefertafeln schreiend, lachend und spielend einherrannte – dann strebte auf einmal meine ganze Seele zu diesen Kindern hin. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich empfand bei jeder Begegnung mit ihnen ein außerordentlich starkes Gefühl von Glück. Ich blieb stehen und lachte vor Freude, wenn ich sah, wie ihre kleinen, flinken Beinchen in ständiger Bewegung waren, wie die kleinen Jungen und Mädchen miteinander dahinrannten, wie sie lachten und weinten (denn viele hatten auf dem Wege von der Schule nach Haus schon Zeit gefunden, sich zu prügeln, zu heulen, sich wieder zu versöhnen und weiterzuspielen), und ich vergaß dann meinen ganzen Kummer. Später, während dieser ganzen drei Jahre, konnte ich gar nicht begreifen, weshalb die Menschen sich überhaupt grämen. Mein ganzes Dasein drehte sich um die Kinder. Ich nahm gar nicht in Aussicht, das Dorf jemals wieder zu verlassen, und es kam mir nicht in den Sinn, daß ich einmal wieder hierher nach Rußland fahren würde. Ich meinte, ich würde immer dort bleiben; aber ich sah schließlich ein, daß Schneider doch nicht länger die Unterhaltskosten für mich tragen konnte. Und dann kam eine so wichtige Sache hinzu, daß Schneider mich selbst zum Reisen drängte und mir das Fahrgeld zur Reise nach hier gab. Ich will nun sehen, was eigentlich vorliegt, und jemand um Rat fragen. Vielleicht wird sich mein äußeres Schicksal vollständig ändern, aber das ist nicht so wichtig und nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, daß sich bereits mein ganzes Leben geändert hat. Ich habe dort viel verlassen, sehr viel. Alles ist entschwunden. Ich saß im Zuge und dachte: ›Jetzt gehe ich zu den Menschen; ich verstehe vielleicht noch nichts davon, aber es hat ein neues Leben für mich begonnen.‹ Ich nahm mir vor, meine Aufgabe redlich und standhaft zu erfüllen. Ich werde mich im Verkehr mit den Menschen vielleicht unbehaglich und bedrückt fühlen. Ich habe mir vorgenommen, von vornherein gegen alle höflich und offen zu sein; mehr wird ja doch niemand von mir verlangen. Vielleicht werden mich die Leute hier auch für ein Kind halten, nun, meinetwegen! Es halten mich auch alle, ich weiß nicht warum, für einen Idioten, und ich war tatsächlich einmal so krank, daß ich damals mit einem Idioten Ähnlichkeit hatte, aber wie kann ich jetzt ein Idiot sein, da ich doch selbst begreife, daß man mich für einen Idioten hält? Wenn ich so in ein Zimmer trete, denke ich: ›Da halten mich nun die Leute für einen Idioten, und ich bin doch verständig, aber sie merken das nicht einmal ...‹ Dieser Gedanke kommt mir oft. Als ich in Berlin aus meinem Dörfchen ein paar kleine Briefe erhielt, die die Kinder sich beeilt hatten sogleich an mich zu schreiben, da empfand ich erst so ganz, wie lieb ich sie hatte. Es ist ein sehr schmerzliches Gefühl, wenn man den ersten Brief bekommt! Wie betrübt sie waren, als sie mir bei meiner Abreise das Geleit gaben! Schon einen Monat vorher sagten sie häufig: ›Léon s'en va, Léon s'en va pour toujours!‹ Wir kamen wie früher jeden Abend am Wasserfall zusammen und sprachen immer von unserer bevorstehenden Trennung. Mitunter ging es ebenso heiter zu wie vorher, aber wenn sie dann von mir Abschied nahmen, um schlafen zu gehen, umarmten sie mich fest und herzlich, was sie früher nicht getan hatten. Manche kamen heimlich, ohne daß es die andern merkten, ganz allein zu mir gelaufen, nur um mich allein, nicht vor aller Augen, zu umarmen und zu küssen. Als es so weit war, daß ich mich auf den Weg machen mußte, begleitete mich der ganze Schwarm zum Bahnhof, der von unserem Dorf ungefähr eine Werst entfernt lag. Sie nahmen sich zusammen, um nicht zu weinen, aber viele konnten sich doch nicht beherrschen und weinten laut, namentlich die Mädchen. Wir beeilten uns, um nicht zu spät zu kommen, aber unterwegs kam doch bald dieser, bald jener aus dem Haufen zu mir hingestürzt, umschlang mich mit seinen kleinen Ärmchen und küßte mich, obgleich er dadurch den ganzen Trupp aufhielt; aber obgleich wir es eilig hatten, blieben doch alle stehen und warteten, bis er Abschied genommen hatte. Als ich in den Wagen gestiegen war und sich der Zug in Bewegung setzte, schrien sie alle ›Hurra!‹ und standen noch lange, bis der Zug ganz abgefahren war. Und auch ich blickte nach ihnen zurück ... Wissen Sie, als ich vorhin hier eintrat und Ihre lieben Gesichter sah – ich achte jetzt sehr auf die Gesichter – und Ihre ersten Worte hörte, da wurde mir zum ersten Male seit jener Zeit leicht ums Herz. Ich sagte mir vorhin schon, daß ich vielleicht geradezu ein Glückskind bin; ich weiß ja, daß man nicht erwarten kann, so bald solche Menschen zu treffen, die man sofort liebgewinnt, und nun habe ich Sie, kaum daß ich von der Bahn gekommen bin, sogleich getroffen. Ich weiß sehr wohl, daß sich alle Leute schämen, von ihren Gefühlen zu reden; aber Ihnen gegenüber, sehen Sie, rede ich von meinen Gefühlen und schäme mich vor Ihnen nicht. Ich bin menschenscheu und werde vielleicht lange nicht wieder zu Ihnen kommen. Mißdeuten Sie meine Worte nicht: ich sage das nicht etwa, weil mir der Verkehr mit Ihnen nicht von hohem Wert wäre; glauben Sie auch nicht, daß ich mich durch irgend etwas gekränkt fühlte! Sie fragten mich vorhin nach Ihren Gesichtern, und was ich darin bemerkt hätte; ich will es Ihnen mit dem größten Vergnügen sagen. Sie, Adelaida Iwanowna, haben ein glückliches Gesicht, das sympathischste von allen dreien. Ganz abgesehen davon, daß Sie sehr schön sind, sagt man sich bei Ihrem Anblick: ›Sie hat ein Gesicht wie eine gute Schwester.‹ Sie treten einfach und heiter an einen heran, verstehen es aber auch, das Herz schnell zu erkennen. So denke ich über Ihr Gesicht. Auch Sie, Alexandra Iwanowna, haben ein schönes und sehr liebes Gesicht, aber vielleicht haben Sie einen geheimen Kummer; Ihr Herz ist ohne Zweifel sehr gut, aber Sie sind nicht heiter. Sie haben einen besonderen Zug im Gesicht, ungefähr wie die Holbeinsche Madonna in Dresden. Da haben Sie meine Meinung auch über Ihr Gesicht; kann ich gut raten? Sie nehmen ja selbst an, daß ich diese Fähigkeit besitze. Was aber Ihr Gesicht anlangt, Lisaweta Prokofjewna«, wandte er sich plötzlich zur Generalin, »so habe ich auf Grund desselben nicht nur die Vermutung, sondern die Überzeugung, daß Sie ein vollständiges Kind sind, in all und jeder Hinsicht, in allem Guten und allem Schlechten, obwohl Sie bereits in einem solchen Lebensalter stehen. Sie sind doch nicht böse, weil ich das alles so offen ausspreche? Sie wissen ja, wofür ich Kinder halte. Und glauben Sie nicht, daß ich Ihnen das alles über Ihre Gesichter soeben lediglich aus Naivität so freiheraus gesagt habe, o nein, durchaus nicht! Vielleicht hatte auch ich meine besondere Absicht dabei.«


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