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Eine Sage
(1896)
Rabbi Amnon war ein guter
Freund des Mainzer Fürstenhofes.
Alle Frauen, alle Ritter
Liebten es, mit ihm zu sprechen.
Eines Tages gab der Kurfürst
Auf dem Schlosse ein Gelage,
Auch den Rabbi Amnon sah man
An des Fürsten Seite sitzen.
Und als die Pokale klangen,
Und die Frauenherzen glühten,
Hob der Kurfürst seinen Becher
Und er sprach zur Tafelrunde:
»Wir sind alle
eine Seele,
Einer fühlt es mit dem andern,
Wenn die jungen Büsche sprießen
Und die Blütenkronen leuchten.
Wir sind alle treue Brüder
Einer reinen Gotteslehre.
Jeder Fremdling sei willkommen,
Der zu unserm Gotte pilgert.
Rabbi Amnon, sieh den Becher,
Der von Diamanten funkelt,
Sieh die Bilder an den Wänden,
Sieh die reichen Purpurdecken!
Diese Pracht sei dir gegeben,
Willst du unserm Gotte dienen.
Rabbi Amnon, deine Lehre
Ist so arm und ist so düster.«
Da erzitterte der Rabbi,
Seine Lippen schienen blutlos,
Und auf seiner bleichen Stirne
Hoben sich die blauen Adern,
Und es zuckten seine Augen
Und er sprach mit hohler Stimme:
»Kurfürst, meine Antwort will ich
In drei Tagen dir verkünden.« –
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Dreimal hatte schon die Nacht sich
In den hellen Tag gewandelt,
Dreimal sandte schon der Kurfürst
Seine Ritter nach dem Rabbi.
Und es schrie der Kurfürst zürnend:
»Will der Jude nicht gehorchen,
Legt ihm Ketten um die Arme,
Schleppt ihn her zu meinen Füßen.«
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Wieder klangen die Pokale,
Wieder hob der Fürst den Becher
Und er sprach zu Rabbi Amnon,
Der als Sklave vor ihm kniete:
»Jude, sprich! Bei diesem Becher,
Der die Augen dir geblendet,
Schwör ich's, mußt du selber eine
Strafe über dich verhängen!«
Lange schwieg der Rabbi Amnon.
Sterne standen schon am Himmel,
Als er rief: »Die Zunge, Kurfürst,
Die Bedenkzeit sich erbeten,
Meine Zunge, die gelogen,
Laß mir aus dem Munde reißen!«
Also wollte Rabbi Amnon
Seine große Sünde büßen.
Doch der Kurfürst lachte höhnend:
»Deine Zunge soll dir bleiben,
Aber deine krummen Füße,
Die mir dreimal nicht gehorchten,
Will ich meinem Messer opfern,
Und desgleichen sollen deine
Judenhände, deine Nase,
Deine Ohren ihm verfallen.« – –
Da erhoben sich die Ritter.
Wie verrohte Henkersknechte
Packten sie den alten Juden
Und vollführten die Befehle.
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Dreimal hatte schon die Nacht sich
In den hellen Tag gewandelt.
Rausch Haschonoh war's. Die Juden
Wallten in Jehovas Tempel.
Und den armen Rabbi Amnon
Trug man vor die heil'ge Lade.
Und bevor man Kodausch sagte,
Rief der Rabbi zu Jehova:
»Alle Wesen, die da pilgern,
Zählst du, wie ein Hirt die Herde,
Und verhängst ihr Los, bestimmst den
Lebensgang der Kreaturen.
Am Neujahrstag wird's geschrieben,
Am Versöhnungstag besiegelt,
Wer da leben, wer da sterben,
Wer sein Ziel verfehlen sollte,
Wer durch Feuer, wer durch Wasser,
Wer durchs Schwert im Kriege, wer durch
Hungersnot erliegen sollte;
Wes der Ruhm ist, wes die Schande,
Wes der Reichtum, wes die Armut.
Aber Reue und Gebete
Und die Nächstenliebe wenden
Ab das drohende Verhängnis.« – – –
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Also dichtete der Rabbi.
Und es leuchtete sein Antlitz,
Ehe ihn sein großer Schöpfer
Von dem Erdenleid erlöste.
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