Hans Dominik
Lebensstrahlen
Hans Dominik

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»So, Captain, das ist nun glücklich geschafft! Der Haftbefehl gegen Percy Hartford liegt vor«, sagte Professor James Hartford zu Reinhard. »Jetzt kann ich wohl endlich nach Deutschland abreisen.«

»Sie können es, Herr Professor, aber –«

James Hartford runzelte die Stirn. »Was gibt es noch für ein Aber, Mister Reinhard?«

»Ich möchte den Burschen erst sicher hinter Schloß und Riegel sehen, Herr Professor. Solange er frei herumläuft, traue ich dem Frieden nicht.«

»Ich kann aber nicht mehr länger warten«, fuhr Hartford unwillig auf. »Schon viel zu lange habe ich meine Abreise wegen der dummen Geschichte aufgeschoben. Morgen will ich auf jeden Fall abfahren.«

»Da muß der Kunde heute noch eingesperrt werden«, meinte Reinhard nach kurzem Überlegen. »Sie dürfen sich natürlich in der Rue Saint Antoine nicht sehen lassen, Herr Professor, aber auf mich hat Bigot keinen Verdacht. Ich möchte doch immer mal hingehen und das Terrain sondieren. Wenn die Sureté auf dem Posten ist, können Sie vielleicht sogar schon heute abend fahren.«

Reinhard sagte es und griff nach seinem Hut.

»Alles Gute, Captain!« rief ihm Hartford nach. –

Bigot befand sich allein in seinem Laboratorium. Vollkommen allein, denn Hartford hatte ihn ja schon vor Tagen verlassen, und sein Diener François, dessen Rückkunft er ungeduldig erwartete, befand sich noch auf jener Geschäftsreise, die er mit mehreren Barren in der Tasche und einem unbekannten Reiseziel angetreten hatte. Unbequem war dieser Zustand für Bigot, denn alles ruhte in diesen Tagen auf seinen Schultern. Im Laboratorium zu arbeiten und nebenher noch drängende Gläubiger zu vertrösten, das war in der Tat etwas viel für einen einzelnen Mann.

Eben noch hatte er an der Hochspannungsröhre reguliert, deren Strahlung unablässig Bleiplatten in ein feines goldig schimmerndes Pulver verwandelte. Jetzt ging er in eine andere Ecke des Raumes, aus der her das Brausen eines Elektroventilators ertönte. Unter einem essenartigen Abzug brannte ein Koksfeuer in heller Gelbglut. Bis an den Hals umgaben die Koksstücke einen Tiegel aus feuerfester Schamotte.

Bigot griff nach einer kleinen eisernen Krücke und schob damit die Kohlenstaubschicht, die den Tiegelinhalt bedeckte, beiseite. Grün glühend schimmerte es ihm an den freigelegten Stellen entgegen. Die Schmelze war gar, zum Guß bereit.

Er warf die Krücke beiseite, nahm eine große Rundzange von der Wand und hob mit ihr den Tiegel aus der Glut. Nur wenig mehr als einen Liter mochte das Gefäß fassen, aber offensichtlich hatte es ein bedeutendes Gewicht. Nur mit Mühe vermochte Bigot es mit Hilfe der Zange zu meistern und seinen glutflüssigen Inhalt in die Barrenformen zu gießen, die neben dem Ofen bereit standen. Sechs Formen wurden voll, bevor er den Tiegel leer absetzen konnte.

Mit einem Tuch trocknete er sich die Stirn und beschaute befriedigt sein Werk. Wieder sechs neue Barren . . . dreißig Kilogramm . . . das hatte geschafft. Wenn die erst einmal glücklich abgesetzt waren, würde er wieder über reichliche Geldmittel verfügen, würde vielleicht woandershin gehen, denn bedenklich heiß war auch für ihn der Boden hier in Paris geworden.

Sinnend, Pläne für die Zukunft machend, stand er vor den Barrenformen und sah zu, wie das Metall an den Eingußstellen sich abkühlte, jetzt nur noch schwachrot glühte, jetzt ganz dunkel wurde. Ungeduld überkam ihn, er vermochte nicht zu warten, bis die Formen von selbst erkalteten, füllte an einem Wasserhahn eine Kanne und versprengte das Wasser über die heißen Formen. Dampf stieg auf, hüllte ihn für Sekunden in eine dichte Wolke, wurde wirbelnd in den Abzug gezogen und fortgerissen. Die Formen waren danach kalt. Goldig glänzte es Bigot entgegen, als er sie öffnete. Mit den Händen konnte er die noch knapp lauwarmen Metallblöcke jetzt greifen, nahm sie heraus und baute sie in Reih und Glied auf einem Tisch auf. Während er davorstand, gingen seine Gedanken in die Ferne. Wo mochte François wohl stecken? Wenn er nur endlich käme . . . einen guten Erlös mitbrächte . . . sofort wollte er ihn mit der neuen Ware wieder auf die Reise schicken . . .

In seine Überlegungen klang die Wohnungsglocke. François – ah, das wird sicher François sein! dachte er, während er zur Tür ging. Nein! Der kann es nicht sein, der hat ja Schlüssel, schoß es ihm gleich danach durch den Kopf. Aber da war es schon zu spät. Er hatte die Klinke bereits niedergedrückt, und als er die Tür wieder schließen wollte, schob sich ein Fuß dazwischen . . .

»Keine Umstände, Monsieur Bigot!« ließ sich von draußen eine reichlich unfreundliche Stimme vernehmen. Bigot kannte die Stimme; sie gehörte zu Monsieur Meunier, einem besonders zähen und widerhaarigen Gläubiger. Vergeblich machte Bigot einen letzten Versuch, die Tür zu schließen, mit Gewalt drückte der andere sie von außen auf und stand vor ihm. Im Laboratorium benahm sich der Eindringling, als ob er hier zu Hause wäre. Er warf seinen Hut auf den Tisch, ließ sich in dem bequemsten Sessel nieder und zog seine Brieftasche. Er entnahm ihr einige längliche Papiere, die Bigot nur allzu gut kannte, und faltete sie auseinander.

»Werden Sie heute zahlen?« fragte er mürrisch.

Bigot rieb sich verlegen die Hände, Bigot tänzelte um Monsieur Meunier herum, Monsieur Bigot bedauerte außerordentlich . . . heute leider noch nicht möglich, aber sicher in den nächsten Tagen . . . Eine große Geldsendung sei unterwegs, müsse morgen, spätestens übermorgen eintreffen.

»Ich habe es satt mit Ihnen!« unterbrach ihn Monsieur Meunier schroff. »Diese Wechsel sind protestiert. Ich kann sofort pfänden lassen; ich werde es auch tun.«

Von neuem ließ Bigot einen Redeschwall auf seinen Gläubiger niedergehen – der blieb unerbittlich. Während Bigot weitersprach, ließ der andere seine Augen umhergehen.

»Wo sind denn Ihre Teppiche geblieben?« fragte er mit einem Blick auf den kahlen Fußboden.

»Sie sind in der Reinigung, Monsieur Meunier«, war die Antwort, »es war notwendig.«

»So, so! In der Reinigung?« Eine kurze Weile blieben Meuniers Blicke an der Strahlröhre und der dazugehörigen Apparatur haften. »Wertloser Kram!« murmelte er geringschätzig vor sich hin. »Kein Mensch wird hundert Francs für den Plunder geben.«

Er schaute sich weiter um, sah den Ofen in der anderen Ecke, und sah neben ihm auf einem Tisch die blinkenden Barren. Interessiert stand er auf und ging darauf zu, um sie näher zu betrachten. Wie eine Henne, der man die Küchlein rauben will, lief Bigot neben ihm her. Er wollte ihn zurückziehen, als Meunier nach einem der Barren griff. Aber da hatte der das Metallstück auch schon in der Hand und wunderte sich über das hohe Gewicht.

»Was ist denn das?« fragte er, während er den Barren in seinen Händen hin und her drehte.

»Ein chemisches Produkt, Monsieur Meunier. Das Ergebnis einer meiner Untersuchungen . . . das hat gar kein Interesse für Sie.«

»Im Gegenteil, für derartige chemische Produkte interessiere ich mich sogar ganz bedeutend.« Meunier griff wieder in seine Brieftasche. »Das hier sind drei Wechsel über je tausend Francs. Ich werde mich selber bezahlt machen, das erspart Ihnen die Kosten für den Gerichtsvollzieher.« Er ließ den einen Barren in seine Rocktasche gleiten und griff nach zwei anderen. »Sagen wir, für jeden Wechsel so ein ›chemisches Produkt‹, und wir sind quitt, Monsieur Bigot . . .«

Er konnte nicht weitersprechen, denn wütend fiel ihm Bigot in den Arm und versuchte ihm die kostbaren Barren mit Gewalt zu entreißen. Monsieur Meunier setzte sich zur Wehr, um seinen Raub in Sicherheit zu bringen. Im Nu war eine Rauferei im Gange, bei der sich Bigot als der Schwächere sehr bald im Nachteil befand.

Schon hing sein seidener Schlips zerrissen herab, während Meunier den zweiten Barren in die Tasche gleiten ließ. Mit einem würgenden Griff umklammerte er Bigots Kehle, um auch den dritten noch an sich zu reißen, als der Druck seiner Hand plötzlich nachließ.

Bigot bekam seinen Kopf los und konnte wieder frei um sich schauen. Er sah Meuniers Rumpf nach hinten zurückgebogen. Zwei kräftige Arme lagen wie eine Schlinge um dessen Hals, über seiner Schulter erblickte Bigot das Gesicht von François. Während ihres Ringkampfes mußte der robuste, gut sechs Fuß lange Normanne ungehört in den Raum gekommen sein und hatte auf seine Weise in den Streit eingegriffen. Mit einem Arm hielt er Monsieur Meunier fest, mit der andern Hand griff er ihm in die Taschen, holte die Barren wieder heraus und legte sie auf den Tisch zurück. Ohne ein Wort zu sagen, hob er seinen immer noch benommenen Gegner dann empor und warf ihn wie ein Bund Flicken in den nächsten Sessel.

Erst nachdem das geschehen war, öffnete er den Mund zum Sprechen und fragte Bigot in der Manier eines gut erzogenen Dieners:

»Was haben Monsieur für Befehle für mich?«

Noch außer Atem, war Bigot nicht sofort imstande, zu antworten. Während er sich mit zitternden Händen bemühte, seine Krawatte in Ordnung zu bringen, überzeugte er sich erst einmal, daß die Barren wieder an ihrem alten Platz lagen. François enthob ihn der Antwort.

»Der Herr hat eine Forderung?« fragte er mit einem Blick auf Meunier. Bigot nickte nur und deutete auf die Papiere, die bei dem Ringen zu Boden gefallen waren.

François bückte sich, um sie aufzuheben. Meunier sah es und wollte ihm zuvorkommen. Mit einer Armbewegung schleuderte ihn François auf den Sessel zurück und hob sie auf.

»Drei Wechsel à tausend Francs . . . schon protestiert . . . unnötige Kosten für Monsieur.« Mit einem Ruck riß er die Wechsel mitten durch.

Wütend fuhr Meunier von seinem Stuhl auf, wollte sich auf François stürzen, unterließ es jedoch, als er dessen Fäuste vor seiner Nase sah, und schimpfte laut los.

»Räuber! Gauner! Briganten! Verbrecher . . . Diebe!« Seine Stimme war am Überschlagen. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, zog François seine Brieftasche, entnahm ihr drei Tausendfrancscheine, legte sie auf den Tisch und zählte noch Kleingeld für die Protestkosten daneben auf.

»Wollen Sie sich bezahlt machen?« sagte er, als Meunier seine Schimpfkanonade einen Augenblick unterbrach, um frischen Atem zu schöpfen. Der starrte erst auf François, dann auf die Scheine, war mit einem Satz am Tisch und riß das Geld an sich.

»Wollen Sie sich überzeugen, daß der Betrag stimmt«, sagte François mit unerschütterlicher Ruhe.

»Habe schon gesehen! Stimmt!« keuchte Meunieur.

»Wollen Sie nun die Güte haben, die Wohnung von Monsieur Bigot zu verlassen?«

Auch diese Worte sagte François ebenso ruhig und höflich wie die früheren, aber seine Miene und Haltung waren dabei von einer Art, daß Meunier nach seinem Hut griff und schleunigst zur Tür eilte. Erst als er draußen war, fand Bigot die Sprache wieder.

»Ein Glück, François, daß Sie im letzten Augenblick dazukamen. Der Mensch wollte drei Barren wegnehmen. Denken Sie: Drei Barren! Ein Vielfaches von dem, was er zu fordern hatte.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wechselte er das Thema und fragte François nach dem Erfolg seiner Reise.

»Es ist vorzüglich gegangen«, beeilte sich François zu erwidern. »Alles, was ich mithatte, bin ich zu guten Preisen losgeworden. Die Kundschaft wünscht noch mehr. Ich sehe, Monsieur hat schön vorgearbeitet. Ich möchte gleich wieder auf die Tour gehen. Aber . . .«

Während François sprach, hatte er nach den eingelösten Wechseln gegriffen und besah sie nachdenklich. Beunruhigt blickte Bigot ihn an. Was war das für ein »Aber«, mit dem François ihm jetzt kommen wollte, nachdem doch anscheinend alles glücklich verlaufen war?

». . . Monsieur hat noch mehr Papiere von dieser Art ausgegeben«, vollendete François seinen Satz. Bigot machte eine schwache Bewegung, die Zustimmung bedeuten sollte. Er mochte nicht an die zahllosen Wechsel denken, die von ihm im Umlauf waren.

»Es ist schade um das schöne Geld, das für die Einlösung draufgeht«, setzte François seinen Gedankengang fort. »Monsieur sollte das vermeiden.«

Bigot zuckte die Achseln. »Leicht gesagt, mein Lieber! Wie soll ich das anstellen? Sie haben ja gesehen, wie zudringlich das Pack wird.«

»Monsieur muß diesen Leuten aus dem Wege gehen«, sprach François weiter. »Dies Land hier ist nichts mehr für Monsieur. Wenn wir in ein anderes gingen, könnte Monsieur noch viel Geld machen.«

Es waren die ureigensten Gedanken Bigots, die er jetzt aus anderem Munde zu hören bekam. Schon seit dem Absagebrief Kellys liebäugelte er mit der Idee, seine Zelte in Paris abzubrechen und irgendwo anders von frischem zu beginnen. Nur über das Wohin war er sich noch nicht klar. Ein Land mußte es sein, in dem er vor der Meute seiner Gläubiger sicher wäre, und wenn irgend möglich auch ein Land, in dem man französisch sprach. Interessiert wartete er, was François weiter vorbringen würde.

»Ich habe einen Verwandten, der als Farmer in Kanada lebt und mir öfter schreibt. Ein schönes Land muß das Kanada sein, ein großes Land, ein reiches Land . . . Wenn Monsieur sich entschließen könnte, dorthin zu gehen, ich würde Monsieur mit Vergnügen begleiten . . .«

Bigot machte ein bedenkliches Gesicht. »Kanada gehört zu England, mein lieber François«, warf er ein. »Sie würden erst Englisch lernen müssen . . .«

»Oh, durchaus nicht«, wehrte François ab. »Die große Provinz Quebeck ist ganz französisch. Mein Cousin ist seit zehn Jahren dort und spricht bis heute kein Wort Englisch. Wir würden uns drüben wie zu Hause fühlen. Nur die zudringlichen Leute und die unbequemen Papiere hier würde Monsieur los sein.«

»Hm!« Bigot wiegte den Kopf hin und her. »Wenn das so ist, hat Ihr Vorschlag vieles für sich, François. Aber wir werden Reisegeld brauchen. Erst müssen Sie das da«, er deutete auf die Barren, »noch an den Mann bringen, dann könnten wir fahren.«

François holte seinen winzigen Handkoffer und verstaute die kostbaren Metallblöcke zwischen einigen Wäschestücken. »Ich werde mit dem Einuhrzug fahren«, sagte er, während er den Koffer zuschloß. »Länger als drei Tage wird das Geschäft nicht beanspruchen. Wenn Monsieur entschlossen ist, von hier fortzugehen, könnten wir uns heute über drei Tagen in Le Havre treffen.«

»Das geht etwas plötzlich, François.« Bigot sah sich in dem Laboratorium um. »Es ist viel zu packen, die Strahlröhren . . . der Transformator . . . die Kältemaschine, das ist nicht so einfach.«

»Es ist einfacher, als Monsieur glaubt«, verfocht François seine Ansicht. »Monsieur braucht hier nur einer Speditionsfirma den Auftrag zu geben, die Sachen zu verpacken und nach Quebeck in Kanada zu schicken. Danach ist Monsieur reisefertig. Es wäre gut, wenn Monsieur sich entschließen könnte. In drei Tagen geht die ›Touraine‹ von Le Havre nach Quebeck in See.«

Noch eine kurze Minute der Überlegung, dann hat Bigot sich zu einem Entschluß durchgerungen.

»Sie haben recht, François, wir wollen keine Zeit mehr verlieren. Wo wollen wir uns in Le Havre treffen?«

»Wenn es Monsieur recht ist, im Hotel la Gare; es ist ein kleines, gutes Haus, das ich Monsieur bestens empfehlen kann.« –

Die Tür fiel hinter François ins Schloß. Behaglich ließ sich Bigot in einen Polstersessel sinken. Die Banknoten, die François von seiner Reise mitgebracht und von denen er ihm einen beträchtlichen Teil dagelassen hatte, gaben ihm das Gefühl einer angenehmen Sicherheit. –

Auf der halben Treppe begegnete François Reinhard. Er wollte an ihm vorbeieilen, denn er hatte ein instinktives Mißtrauen gegen den Deutschen. Der aber hielt ihn an, musterte ihn mit einem durchdringenden Blick und fragte: »Heute nicht in Livree, Monsieur François? Haben Sie Ihren freien Tag? Oder wollen Sie verreisen?«

Frage du und der Teufel! dachte sich François. »Ich habe eine andere Stellung angenommen. Ich gehe von Monsieur Bigot fort«, erwiderte er kurz und ging weiter die Treppe hinunter.

Nachdenklich setzte Reinhard seinen Weg fort. Das sieht stark nach einem Zusammenbruch aus, ging es ihm durch den Sinn. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Ich glaube, es wird Zeit, wenn man Hartford noch fassen will. –

Bigot fuhr in seinem Sessel zusammen, als die Wohnungsglocke ertönte. Wer konnte jetzt kommen? Vielleicht wieder ein Gläubiger mit einem unbequemen Papier? Diesmal würde François nicht zu Hilfe kommen können. Bigot entschloß sich, in seinem Sessel zu bleiben und kein Lebenszeichen von sich zu geben. Mochte der unerwünschte Besuch da draußen sich seinetwegen zu Tode klingeln! Dreimal, viermal . . . fünfmal schrillte die Glocke durch die ganze Wohnung. »Jetzt erst recht nicht!« murmelte Bigot vor sich hin und rührte sich nicht vom Platze. Das Klingeln hörte auf. Der ist wieder abgezogen, dachte er und griff nach einem Buch, um sich die Zeit zu vertreiben.

Zwei oder drei Seiten mochte er gelesen haben, als ein Geräusch vom Flur her ihn ausmerken ließ. Er horchte schärfer hin. Kein Zweifel mehr, irgendwer mußte in der Wohnung sein und machte sich da draußen zu schaffen. Einbrecher! war sein erster Gedanke, Gläubiger! sein zweiter. Dumme Geschichte! Er war ganz auf sich selber angewiesen. Mit einem Ruck warf er das Buch beiseite und sah sich nach einer Waffe um.

Noch während er suchte, hörte er draußen deutlich Schritte, lief zu dem Schmelzofen hin und griff die schwere Tiegelzange, entschlossen, den Eindringling, mochte er sein, wer er wollte, niederzuschlagen. Er wog das schwere Gerät in seiner Hand, als die Tür zum Laboratorium sich öffnete. Ein Mann trat ein, der Bigot irgendwie bekannt vorkam, einige Schritte auf ihn zuging, dann stehenblieb und ihn höflich begrüßte.

»Wer sind Sie? Wie kommen Sie hier herein? Was wollen Sie hier?« schrie Bigot ihn an, immer noch bereit, mit der Zange zuzuschlagen.

»Ich denke, wir kennen uns doch, Monsieur Bigot?« sagte der andere ruhig. »Mein Name ist Reinhard . . .«

Bigot ließ die Zange sinken. Reinhard? Die Erinnerung kam ihm an einen Hauptmann dieses Namens, den er einmal mit Spranger zusammen in Deutschland getroffen hatte.

»Wie kommen Sie hier herein?« fragte er etwas ruhiger. »Die Tür war verschlossen.«

»Leider, Monsieur Bigot. Da mein Klingeln nicht gehört wurde, mußte ich sie mir selber öffnen.«

»Eine eigenartige Manier, Besuche zu machen, Herr – Herr Hauptmann Reinhard, wenn ich mich recht entsinne. Ist das deutsche Mode?«

»Bisweilen, Monsieur Bigot. Wenn die Angelegenheit dringlich ist. Die Sache, in der ich Sie aufsuche, ist äußerst dringlich. Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Ich habe mit Mister Hartford zu sprechen.«

Ein hämischer Zug lag um Bigots Lippen, während er antwortete.

»Da kommen Sie in der Tat etwas zu spät. Herr Professor Hartford ist vor einiger Zeit nach Schenektady abgereist. Seine Pflichten dort erlaubten es ihm nicht, länger in Paris zu bleiben. Ich habe es sehr bedauert, seine wissenschaftliche Unterstützung war mir recht wertvoll. Ich hätte gern noch länger mit ihm zusammen –«

»Ich suche hier nicht Herrn Professor James Hartford, mit dem ich übrigens noch vor einer Stunde zusammen war«, unterbrach ihn Reinhard schroff, »sondern einen gewissen Percy Hartford, dem man wegen dunkler Sachen auf der Spur ist . . .«

»Ich habe nur mit Professor Hartford zusammen gearbeitet«, warf Bigot ein.

»– der sich außerdem auch auf ein gefälschtes Diplom hin als Professor ausgegeben hat.«

Die ruhige, feste Art, in der Reinhard seine Anklage vorbrachte, machte Bigot unsicher. Er antwortete stockend.

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen – Herr Professor Hartford – ein Ehrenmann durch und durch – eine bedauerliche Verwechslung höchstwahrscheinlich . . .«

Reinhard verlor die Geduld. »Wir reden aneinander vorbei, Monsieur Bigot«, sagte er scharf. »Ich spreche von Ihrem früheren Mitarbeiter Percy Hartford. Der Mann ist dringend des Diebstahls verdächtig. Die französische Gerichtsbehörde hat einen Haftbefehl gegen ihn erlassen.«

Sachlich sagten die Worte Reinhards Bigot nichts Neues, denn er kannte den Lebensgang seines Komplicen zur Genüge, aber er erschrak doch, als er das Wort »Haftbefehl« hörte. Wenn das zutraf, und Bigot hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, so war Mr. Percy Hartford jedenfalls in Frankreich ein für allemal erledigt. Ein Glück für ihn, Bigot, daß der Mensch rechtzeitig verschwunden war. Es wäre übel, wenn man ihn hier gefaßt hätte. Schade nur um das schöne Geld, das er mit auf die Reise genommen hatte!

»Nun, was sagen Sie dazu?« fragte Reinhard.

»Ich finde es gemein«, sagte Bigot, dessen Gedanken noch bei den Dollarnoten waren, um die Hartford ihn geprellt hatte.

»In der Tat gemein, Monsieur Bigot. Der Mann muß unschädlich gemacht werden. Sie müssen der Behörde bei ihren Bemühungen behilflich sein; zu Ihnen muß er sich doch irgendwie über sein Reiseziel geäußert haben?«

»Kein Wort hat er mir gesagt«, fuhr Bigot auf, der in seinem Ärger über Hartfords Betrug alle Vorsicht vergaß. »Bestohlen hat er mich, während ich krank lag, und ist bei Nacht und Nebel losgegangen. Der Teufel mag wissen, wohin er sich gewandt hat!«

»So, so, Monsieur Bigot.« Reinhard konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Das klingt etwas anders als Ihre erste Aussage. Ich glaube sogar, daß Sie diesmal die Wahrheit gesagt haben. Leider hilfst uns Ihre Mitteilung nicht viel weiter. Jedenfalls werden Sie Ihre Aussage vor der Behörde wiederholen müssen. Sie beabsichtigen doch nicht, Paris zu verlassen?«

Bigot hatte inzwischen seinen Fehler gemerkt und sich wieder gesammelt. Mit einer Handbewegung auf die Apparatur des Laboratoriums hin erwiderte er in einem überzeugenden Ton: »Hier ist meine Arbeitsstätte, Herr Reinhard. Seit Monaten mühe ich mich hier um die Lösung wissenschaftlicher Probleme, und noch weitere Monate werde ich hier tätig sein.«

»Gut, Monsieur Bigot, man wird Sie in dieser Angelegenheit vernehmen«, sagte Reinhard; bevor Bigot noch etwas erwidern konnte, war er bereits an der Laboratoriumstür und zog sie hinter sich zu. Im nächsten Augenblick hörte Bigot auch die Wohnungstür ins Schloß schnappen. Wie ein Träumender stand er allein in dem Raum. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er immer noch die schwere Zange in der Hand hielt. Achtlos warf er sie zu Boden und ließ sich in den nächsten Sessel nieder.

Pfui Teufel, was war das für eine üble Überraschung! Dieser deutsche Hauptmann war ja noch unangenehmer als zehn Gläubiger. Was hatte der von ihm verlangt? Seine Aussage über Hartford sollte er vor den französischen Behörden wiederholen? Bigot verzog den Mund, als er daran dachte. Gerichtsbehörden waren nicht nach seinem Geschmack. Bei einer Unterhaltung mit denen konnten allzuleicht Dinge zutage kommen, die besser verborgen blieben . . .

Noch einmal ließ Bigot die Ereignisse der letzten Wochen in Gedanken an sich vorüberziehen. Sein Fiasko mit den amerikanischen Millionären . . . die schauderhaften Prügel im Markthallenviertel . . . die Treulosigkeit Hartfords . . . gewalttätige Gläubiger . . . und jetzt hatte er sogar die Polizei zu erwarten.

Als Bigot mit seinen Überlegungen so weit gekommen war, hielt es ihn nicht länger in seinem Sessel. Er sprang auf und begann unruhig im Zimmer hin und her zu laufen. Es war hohe Zeit, von hier wegzugehen, allerhöchste Zeit wahrscheinlich . . . Die letzten Ratschläge von François kamen ihm wieder ins Gedächtnis. Er ging zum Schreibtisch, blätterte in einem Adreßbuch und wählte danach eine Telephonverbindung. Eine Speditionsfirma meldete sich am anderen Ende der Leitung und nahm seine Wünsche entgegen.

Befriedigt legte Bigot den Hörer wieder auf. In einer halben Stunde würde ein Vertreter der Firma bei ihm sein. Noch heute würde alles gepackt werden. Morgen früh könnte es schon auf der Achse sein.

Monsieur Bigot selbst war entschlossen, dieses »morgen früh« nicht mehr in der Rue St. Antoine abzuwarten. Ich werde schon etwas zeitiger »auf der Achse« sein, dachte er, während er den Besuch des Spediteurs erwartete.

*

Wie Dr. Bruck richtig vermutet hatte, waren Eisenlohr und Professor Braun nach dem Essen zunächst mit Holthoff zu den Öfen im Keller gegangen, um die Herstellung einiger neuer Karbide zu verfolgen, aber allzulange hielten sie sich dort nicht auf. Nach dem Abstich der ersten Schmelzen gab Eisenlohr dem Professor einen Wink, ihm zu folgen, und führte ihn in sein Arbeitszimmer.

»Nun, wie gefällt Ihnen der Kollege aus Amerika?« eröffnete er die Unterhaltung und schob Braun Zigarren und Feuerzeug hin.

»Ich muß gestehen, Herr Eisenlohr, ich bin angenehm enttäuscht«, meinte Braun, während er sich sorgfältig eine Zigarre auswählte. »Nach dem, was mir so gelegentlich über ihn zu Ohren gekommen war, erwartete ich, einen – nun, sagen wir mal, einen von seinen eigenen Leistungen sehr überzeugten Herrn zu treffen. Um so angenehmer hat mich seine Zurückhaltung heute bei Tisch berührt. Kaum, daß er ein Wort über seine eigenen Arbeiten und doch zweifellosen Erfolge verlor. In der Hauptsache ließ er uns sprechen und hielt mit seiner Anerkennung nicht zurück. Ich bin überzeugt, daß ein gutes kollegiales Arbeiten mit ihm möglich sein wird.«

Während Braun sprach, wiegte Eisenlohr den Kopf leicht hin und her. »Sie haben den Kern der Sache getroffen, Herr Professor«, erwiderte er, als Braun mit seinen Ausführungen zu Ende war. »Er hat uns sprechen lassen. Ich möchte fast sagen, er hat uns durch geschickte Fragen veranlaßt, manches zu sagen, was wir sonst vielleicht nicht gesagt hätten. Wenn ich mir das jetzt nachträglich überlege, so gibt es mir doch etwas zu denken.«

»Ich kann mich Ihrer Ansicht nicht unbedingt anschließen, Herr Kollege«, meinte Braun. »Als die Rede auf die Verwertung des strahlenden Stoffes kam, ist er doch mächtig aus sich herausgegangen und hat Ihnen ein ganzes Finanzprojekt entwickelt. Nach meinem Geschmack freilich etwas zu großspurig. Ich fand, da sprach er mehr wie ein Geschäftsmann aus Wallstreet als wie ein Wissenschaftler, aber vielleicht haben die amerikanischen Kollegen das so an sich.«

»Das stimmt«, pflichtete Eisenlohr ihm bei, »aber der Plan, den er uns da entwarf, hatte durchaus Hand und Fuß. Der Mann versteht eine ganze Menge von finanziellen und wirtschaftlichen Sachen, und sehen Sie, Herr Professor, das mahnt mich, etwas vorsichtig zu sein.«

»Wie meinen Sie das, Herr Eisenlohr?« fragte Braun ein wenig verwundert.

»Es ist vorläufig nur ein unbestimmtes Gefühl, Herr Professor. Ich könnte Ihnen im Augenblick keinen Beweis dafür geben. Aber nehmen wir einmal das Schlimmste an, dann könnte es etwa so sein: Der Amerikaner hat uns bei Tisch – ohne daß wir es recht merkten – ausgehorcht und alles erfahren, was ihm noch fehlte. Wie uns Michelmann vorhin sagte, hat er sich nach dem Essen in sein Zimmer zurückgezogen . . .«

». . . weil er von der Reise ermüdet war«, fiel ihm Braun ins Wort. »Sogar Ihrem alten Faktotum ist seine Ruhebedürftigkeit aufgefallen.«

»Kann sein, mein verehrtester Herr Professor, kann aber auch nicht sein«, fuhr Eisenlohr fort. »Vielleicht schläft Herr Professor Hartford jetzt wirklich den Schlaf des Gerechten, Vielleicht aber sitzt er auch am Schreibtisch und entwirft nach dem, was er bei Tisch erfuhr, neue Patente, um sie baldmöglichst per Blitzfunk an das amerikanische Patentamt zu spedieren – wir wissen es nicht, Herr Professor«, schob er einen Einwand Brauns beiseite, »aber es könnte jedenfalls so sein. Wir müssen damit rechnen, und deshalb bat ich Sie vorhin, mit mir zu kommen.«

»Ja, was wollten Sie dagegen tun?« fragte Braun.

»Zunächst wollen wir eben noch einmal unsere Patentanmeldungen durchgehen, vielleicht lohnt es sich auch für uns, das eine oder andere noch per Funk anzumelden.«

Professor Braun schüttelte energisch den Kopf. »Das wird nicht notwendig sein, Herr Eisenlohr. In Erwartung des amerikanischen Kollegen, den ich mir ja etwas anders vorstellte, habe ich das in den letzten Tagen schon sehr gründlich besorgt. Da wird schwer eine Lücke zu finden sein, wo ein Dritter noch einhaken kann.«

Braun stand auf und holte von einem Wandregal her einen Stapel von Schriftstücken. »Hier haben Sie alle Anmeldungen, die während der letzten zwei Wochen herausgegangen sind«, sagte er, während er den Stoß vor Eisenlohr hinlegte. »Ohne Rücksicht auf eine etwaige wirtschaftliche Verwertbarkeit habe ich für alle unsere Entdeckungen den Schutz beantragt, von der ersten in der Gelatine gelungenen Urzeugung an bis zu den Verwendungsmöglichkeiten des Strahlstaubes, und sogar noch bis zu jenen biologischen Umwandlungen hin, die Sie in letzter Zeit mit der Strahlröhre am Teich erreichten.«

»Wie steht es mit den Mitteilungen für die Fachpresse?« fragte Eisenlohr weiter.

Braun deutete auf ein anderes Schriftbündel in dem Regal. »Dort liegen die Kopien. Die Originale sind vorgestern und gestern abgegangen, sowie ich vom Patentamt die Bestätigung bekam, daß unsere Anmeldungen dort richtig eingetroffen seien. Wir dürfen uns auf einiges Rauschen im deutschen Blätterwald gefaßt machen. Ich bin überzeugt, daß sich auch die Tagespresse diesen Stoff nicht entgehen lassen wird.«

»Nach den Erfahrungen mit unsern beiden ersten Veröffentlichungen können wir das wohl mit Sicherheit erwarten«, stimmte ihm Eisenlohr bei und machte sich daran, die Patentmeldungen Stück um Stück durchzulesen. Professor Braun legte sich bequem in seinem Sessel zurück und beobachtete ihn bei der Lektüre. Zwar hatte er alle Hauptpunkte vor der Abfassung der Anmeldungen mit Eisenlohr durchgesprochen, aber er hatte später aus eigenem noch manches hinzugefügt und war neugierig, was der Doktor dazu sagen würde.

Vorläufig beschränkte sich Eisenlohr darauf, nur hin und wieder zustimmend zu nicken, während er eine Seite nach der anderen umblätterte. Erst beim Studium der siebenten oder achten Anmeldung begann es in seinen Mienen zu arbeiten. Er ließ das Schriftstück sinken und sah Braun nachdenklich an.

»Wissen Sie, was ich glaube, Herr Professor?«

»Ich bin gespannt, Ihre Meinung zu hören, Herr Eisenlohr.«

»Ich glaube, das Patentamt wird jemand herschicken.«

»Selbstverständlich, Herr Kollege! Bei so absolut neuen, ich möchte sagen, revolutionären Entdeckungen verläßt sich das Amt nicht auf die Anmeldung allein. Es wird sicher einen seiner Sachverständigen schicken, der sich mit eigenen Augen überzeugen soll.«

Eisenlohr schüttelte den Kopf.

»Das meine ich nicht, Herr Professor. Ich glaube, daß sie uns erst einmal einen Psychiater herschicken werden, um uns beide auf unsern Gesundheitszustand zu untersuchen. Es ist ja wahr!« Er ließ seine Rechte auf das vor ihm liegende Schriftstück fallen. »Es ist alles buchstäblich wahr, was Sie hier geschrieben haben. Aber mir selber erscheint es fast unglaublich, wenn ich es jetzt wieder lese . . . die erste Urzeugung . . . das schon ein Wunder an sich . . . hier die Wirkung der Röhrenstrahlung auf das Urleben im Wasser . . . eine Wiederholung des natürlichen Stammbaumes in einem millionenfach beschleunigten Tempo . . . die Entstehung von Lanzettfischen . . . Mein lieber Herr Professor, die Leute im Patentamt müssen uns ja für heillose Phantasten halten, wenn nicht gar für etwas Schlimmeres!«

Braun lachte. »Ich sehe, daß ich's richtig getroffen habe, Herr Eisenlohr. Wenn Sie schon stutzig werden, der Sie die Entwicklung Schritt für Schritt miterlebt haben, werden die Herren in Berlin erst recht Mund und Nase aufsperren. Mögen Sie nur hierherkommen! Wir werden ihnen mit den nötigen Beweisstücken dienen.«

In die letzten Worte Brauns klang ein abgerissener kurzer Glockenschlag. Eisenlohr blickte zu der Wand hinter dem Schreibtisch hin, wo der Zeiger eines Meßinstrumentes über die Skala zuckte, um gleich wieder in die Nullstellung zurückzufallen.

»Was war das?« fragte Braun.

»Rückmeldung von der Teichleitung her, Herr Professor. Nur eine momentane Störung; ich vermute, daß ein Vogel die Drähte im Fluge gestreift hat. Es ist schon wieder alles in Ordnung. Wir brauchen uns nicht weiter darum zu kümmern. Kehren wir wieder zu unseren Patenten zurück.« –

Eisenlohr wäre wohl kaum so ruhig geblieben, wenn er geahnt hätte, was für eine Art von Vogel das war, der die Glocke der Alarmanlage aufklingen ließ. Eben jener Hochspannungsfunke war die Ursache, der in diesem Moment von der Strahlröhre her zu Dr. Bruck übersprang und ihn niederstreckte. Percy Hartford hatte den Bewußtlosen auf festes Land geschleppt und mühte sich dort um ihn.

Er öffnete ihm die Kleidung und rieb ihm die Brust. Er feuchtete ein Tuch an und legte es ihm auf Stirn und Schläfen. Er versuchte die schlaffen Glieder Brucks zu massieren, doch vergeblich blieben alle seine Bemühungen. Die Minuten verstrichen und summierten sich zu Viertelstunden, während Hartford ratlos vor dem Ohnmächtigen stand.

Eines war ihm klar: Man durfte Bruck und ihn hier nicht finden. Entschlossen packte er zu, um den vom Strom Getroffenen fortzuschleppen, doch schon nach kurzem gab er es auf. Für ihn allein war es unmöglich, den schweren Körper den steilen Pfad emporzutragen. Wieder legte er ihn auf den Rasen nieder, sann verzweifelt auf einen Ausweg und bemerkte dabei eine geringfügige Veränderung an dem vor ihm Liegenden. Weniger starr schienen ihm die Augen Brucks jetzt zu sein, weniger krampfhaft verzerrt sein Gesicht. Ein leichtes Röcheln drang aus der Kehle.

Hartford kniete nieder, um sich über Bruck zu beugen, und spürte dabei, wie der Stoff seiner eigenen Kleidung sich an einer Stelle spannte. Er schlug sich vor die Stirn. Daß er daran nicht früher gedacht hatte! Er faßte mit schnellem Griff hin und zog etwas aus der Hüfttasche, das äußerlich etwa ein Zigarrenetui sein konnte. Aber in Wirklichkeit war es etwas wesentlich anderes: ein kunstvoll aus feinem Silberblech gearbeiteter Behälter, der sich der Körperform anschmiegte, ohne stark aufzutragen, und der gut und gern einen Viertelliter faßte.

Während seines Aufenthaltes in Schenektady hatte dies nützliche Gefäß es Hartford so manches liebe Mal erlaubt, bei der Arbeit unauffällig einen ordentlichen Schluck Whisky zu nehmen. Es hatte ihn auf seiner Fahrt über den Atlantik begleitet, und jetzt war es von Paris her noch mit französischem Kognak gefüllt. Er schraubte den Verschluß ab, hob den Oberkörper Brucks empor und brachte das Gefäß an dessen Lippen. Vorsichtig mühte er sich, ihm etwas von dem Inhalt einzuflößen. Es war nicht ganz einfach, doch schließlich gelang es. Die zusammengepreßten Kiefer Brucks gingen auseinander, und er begann von selbst zu schlucken.

Die Wirkung des scharfen Branntweins zeigte sich schnell. Bruck schlug die Augen wieder auf, blickte zuerst noch etwas verstört um sich, machte dann eine schwache Bewegung, sich aufzurichten, versuchte etwas zu stammeln. Noch einmal griff Hartford zu, zwang ihn von neuem, zu schlucken, und ruhte nicht, bis Bruck den letzten Tropfen getrunken hatte.

Dann bettete er ihn wieder und blieb mit der Uhr in der Hand vor ihm stehen. Erinnerungen an frühere Erlebnisse in Schenektady gingen ihm durch den Sinn, während er den Liegenden betrachtete. Auch dort war einmal der eine oder andere der Hochspannung zu nahe gekommen, und immer war es das Nervensystem, welches den Herzmuskel steuerte, das bei solchem Unfall in Unordnung geriet. Gelang es aber, dem elektrischen Schock durch einen anderen Schock entgegenzuwirken, so konnte der Verunglückte gerettet werden. Alkohol nahm man dazu in Schenektady, und Hartford hatte hier das gleiche getan. Hatte er das Mittel rechtzeitig genug angewandt? War die Dosis genügend groß? Die nächsten Minuten mußten darüber entscheiden.

Er verfolgte den Gang des Uhrzeigers auf dem Zifferblatt, während er Bruck nicht aus den Augen ließ. Kräftiger fing dessen Atem an zu gehen; eine leichte Röte kehrte in seine bleichen Züge zurück. Ein tiefes Aufseufzen jetzt. Er richtete sich mit eigener Kraft halb auf, blickte um sich, erkannte Hartford, fragte: »Was war das? – Was ist geschehen?«

»Ruhe, Herr Kollege!« Hartford zwang ihn, sich wieder niederzulegen und zu entspannen. »Bleiben Sie liegen, atmen Sie ruhig und tief! Sie hatten einen Unfall, er wird vorübergehen . . .«

». . . wird vorübergehen«, wiederholte Bruck die letzten Worte, schloß die Augen und fiel in leichten Schlummer. Hartford ließ sich auf einen Stein neben ihm nieder, ohne die Uhr aus der Hand zu lassen. »Es geht wie damals in Schenektady«, murmelte er vor sich hin. »Eine Viertelstunde Schlaf, und er wird imstande sein, mit mir weiterzugehen.«

Während die Minuten verrannen, liefen seine Gedanken weiter: Durch den Gang, durch den wir kamen, können wir nicht zurück. Dazu wird er noch zu schwach sein. Große Steigungen kann ich ihm auch nicht zumuten. Wir werden um den Berg herumgehen müssen, bis wir auf den Burgweg treffen. Sind wir erst mal dort, ist das Schlimmste überwunden . . .

Weiter rief Hartford sich noch einmal alles ins Gedächtnis zurück, was er an diesem ersten Tage seines Aufenthaltes hier erfahren hatte, und fing an, Pläne für die Zukunft zu machen. Reichlich kritisch war die Lage für ihn. Jeden Augenblick mußte er bereit sein, von hier zu verschwinden. Immerhin, der Aufenthalt hier hatte sich jetzt bereits für ihn gelohnt. Er hatte neue, für ihn völlig überraschende Dinge erfahren, mit denen sich an einem andern Ort wohl allerlei anfangen ließ. Aber wo sollte das sein? Frankreich und USA waren ihm durch die Maßnahmen seines früheren Chefs verschlossen . . . Mexiko? . . . Südamerika? . . . Er kannte diese Länder von früher her. Sie schienen ihm nicht das Rechte zu sein . . . Kanada vielleicht . . . Je mehr er sich mit dem Gedanken beschäftigte, um so sympathischer wurde er ihm. Kanada, die Zuflucht für alle, die in USA etwas auf dem Kerbholz hatten . . . ein reiches Land mit einer großen Zukunft . . .

Er fuhr aus seinem Sinnen auf, als ein Sonnenstrahl durch die Baumkronen ihn traf, und sah auf die Uhr. Ohne daß er's gemerkt, war bereits eine halbe Stunde verstrichen, und immer noch lag Bruck schlafend neben ihm. Es wurde Zeit, ihn zu wecken und den Heimweg zu versuchen. Er machte sich daran, aber es war ein schweres Beginnen, Dr. Bruck zu ermuntern. War es der elektrische Schlag, war es der Alkohol, der ihn so schläfrig machte: Hartford gab es auf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Er war froh, als er ihn endlich auf den Beinen hatte, und zerrte den Schwankenden auf einem Pfad weiter, der den Berg mit einer geringen Steigung umging.

Öfter als einmal mußte er unterwegs haltmachen, den Schwankenden stützen, selbst neue Kräfte sammeln. Endlich war es erreicht. Sie standen auf dem Burgweg. Einige fünfzig Meter noch, und dann waren sie bei jener Bank, an der sich heute morgen der alte Michelmann mit Hammer und Zange betätigt hatte. Hartford setzte sich neben Bruck. So, das wäre glücklich geschafft, dachte er, während er sich die Stirn trocknete, jetzt könnte jemand kommen und uns weiterhelfen.

Es kam auch jemand. Der alte Postbote war es, der sein Rad unten in der Wirtschaft von Schöne gelassen hatte und zu Fuß den Burgweg hinaufmarschierte. Bei der Bank machte er halt und griff in seine Tasche.

»Ein Brief für Sie, Herr Doktor.« Er reichte Bruck das Schreiben. Apathisch nahm der es in Empfang und brachte kaum ein kurzes »Danke!« über die Lippen.

»Was fehlt Ihnen, Herr Doktor?« fragte der Postbote besorgt. Hartford antwortete für Bruck:

»Dem Herrn Doktor ist nicht gut. Die Hitze heut – ein leichter Schwächeanfall. Ich hoffe, es wird bald vorübergehen.«

Der Postmann nickte zustimmend. »Unverschämt warm heut, meine Herren. Für den September ganz ungewöhnlich . . .« Er holte ein rotgewürfeltes Schnupftuch heraus und begann sich umständlich sein Gesicht damit abzuwischen.

»Haben Sie vielleicht auch für mich etwas?« fragte ihn Hartford. »Für Hartford – Professor James Hartford?«

Der Bote schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Professor. Für Sie ist nichts dabei. Ich habe nur noch einen Brief für Herrn Doktor Eisenlohr.«

Er holte ein zweites Schreiben aus seiner Mappe und sah mißmutig zu der Burg hinauf, deren Mauern einige fünfzig Meter höher zwischen den Waldtannen emporragten. Hartford verstand den Blick.

»Sie können sich den Weg da hinauf sparen«, meinte er, »wir wollen den Brief für Herrn Eisenlohr gern mitnehmen.«

»Sehr freundlich, meine Herren!« Der Bote legte auch den zweiten Brief in Brucks Hand. »Schönen Dank auch!« Er machte kehrt, vergnügt darüber, daß ihm das letzte Stück des Aufstieges bei dem heißen Wetter erspart blieb. Bald war er hinter einer Biegung des Weges verschwunden.

Der Blick Hartfords haftete an dem Schreiben, das Bruck schon wieder halb im Schlaf in seiner Hand hielt. Eine französische Marke, Poststempel Paris . . . Die Adresse auf dem Umschlag . . . die Schrift kannte er doch . . . die charakteristischen Schriftzüge seines früheren Chefs . . . Vorsichtig griff er zu und zog Bruck das Schreiben aus der Hand, ohne daß der es merkte. Er wandte sich zur Seite, öffnete und überflog es.

Der Inhalt war nur kurz. Eine knappe Mitteilung des Professors an Eisenlohr, daß er leider immer noch in Paris aufgehalten sei, aber voraussichtlich in etwa zwei Tagen endlich abreisen könne. Erleichtert faltete Hartford das Schreiben zusammen und steckte es in seine Brusttasche. Zwei Tage Zeit gewonnen! Noch zwei Tage Sicherheit! Er war entschlossen, diese Frist nach besten Kräften zu nutzen, und segnete den Zufall, der ihm das Schreiben in die Hände gespielt hatte.

Sein Interesse wandte sich dem andern Brief in Brucks Hand zu. Aber schnell bemerkte er, daß das nichts von Bedeutung war. Der Umschlag trug den Firmenaufdruck einer chemischen Fabrik in Frankfurt. Offenbar eine Geschäftskorrespondenz, die sich auf den Laboratoriumsbetrieb bezog. Er hielt es für richtiger, das Schreiben ruhig in Brucks Hand zu lassen. Dagegen begann ihn jetzt dessen Zustand wieder zu beunruhigen. Bruck war von neuem in einen tiefen Schlaf gefallen, aus dem Hartford ihn weder durch Anrufen noch durch Schütteln ermuntern konnte.

Sorgenvoll sah Hartford sich nach einer Hilfe um und war froh, als er von der Burg her Eisenlohrs Faktotum Michelmann herabkommen sah. Während er ihm zuwinkte, sich zu beeilen, überlegte er, was er dem Alten sagen sollte, was er ihm sagen durfte. Von dem Unfall bei der Strahlröhre natürlich kein Wort.

»Hallo, Herr Michelmann!« rief er ihn an. Sobald er näher war: »Herr Doktor Bruck hat einen Schwächeanfall! Ich vermute einen leichten Hitzschlag! Wollen Sie mir helfen, ihn hinauf in sein Zimmer zu bringen?«

Michelmann setzte seinen Werkzeugkasten ab, kratzte sich bedächtig hinter dem Ohr und sah bald Bruck, bald den Weg zur Burg hinauf an.

»Wie ist denn das passiert?« fragte er.

»Herr Doktor Bruck fühlte sich im Wald plötzlich schwach und schwindlig«, log Hartford drauflos. »Es gelang mir gerade noch, ihn bis hier zur Bank zu bringen. Dann sackte er mir ganz zusammen.«

»So? Im Wald, Herr Professor?« Merkwürdig, dachte der Alte bei sich. Ich habe die beiden Herren gar nicht über den Hof gehen sehen. Er schüttelte den Kopf und brummelte etwas Unverständliches vor sich hin. Hartford unterbrach ihn ungeduldig:

»Wir müssen den Herrn Doktor möglichst schnell in einen kühlen Raum bringen. Werden wir es zu zweit schaffen?«

»Nur schwer. Ich weiß etwas Besseres, habe ja Gott sei Dank meinen Werkzeugkasten bei mir. Das werden wir schnell haben, Herr Professor. Nur ein paar Augenblicke Geduld.«

Michelmann nahm ein Handbeil aus seinem Kasten und ging damit seitlich in den Wald. Hartford vernahm Beilschläge und hörte Stangenholz krachen. Schon nach kurzem kam Michelmann zurück und schleifte das Geäst, das er eben geschlagen hatte, hinter sich her. Schnell und geschickt nagelte er daraus eine Tragbahre zusammen, auf die sie nun den immer noch fest schlafenden Bruck betteten. So konnten sie ihn zu zweit ohne allzu große Mühe den Weg hinauftragen und brachten ihn mit einiger Anstrengung auch über die Treppen in sein Zimmer. Hartford legte ihn auf das Bett und fing an, ihn zu entkleiden.

»Man müßte an den Arzt telephonieren«, schlug Michelmann, der ihm dabei behilflich war, vor.

»Es wird nicht nötig sein«, wehrte Hartford ab, während er Bruck den Puls fühlte. »Ich bin selbst ein wenig Arzt, Herr Michelmann. Ich fühle, das Herz schlägt voll und kräftig. Unser Patient braucht nur Ruhe und eine kühle Kompresse auf die Stirn. Seine Natur hilft sich selber. Ich denke, er wird sich wieder gesundschlafen.«

Während der Alte der Weisung Hartfords folgend am Waschbecken einen feuchten Umschlag fertigmachte, legte Hartford die Kleidungsstücke Brucks über einen Stuhl. In einer Tasche fühlte er dabei etwas Schweres, Hartes. Ohne daß Michelmann es sah, ließ Hartford es in seiner eigenen Tasche verschwinden. Es war der Schlüssel zu jener Kellertür, die in den unterirdischen Gang führte.

Wer weiß, für was das gut ist! dachte sich Hartford dabei. Schaden kann es auf keinen Fall. Wenn Bruck den Schlüssel vermißt, wird er wohl glauben, daß er ihn unterwegs verloren habe. Mag er später danach suchen, wenn er Lust dazu hat!

»So, mein lieber Herr Michelmann«, wandte er sich an den Alten, der mit der fertigen Kompresse ankam, »nun wollen wir unsern Patienten ruhen lassen. Ich gehe in mein Zimmer und werde von Zeit zu Zeit nach ihm sehen.«

»Gut, Herr Professor«, nickte Michelmann und verließ das Zimmer. –

Noch immer saßen Eisenlohr und Braun in ihrer Besprechung. Längst waren sie mit den Patentanmeldungen und Texten fertig, doch allzuviel anderes gab es noch, über das nun Beschlüsse gefaßt werden mußten. Grundlegende Fragen waren zu entscheiden; ein Arbeitsprogramm für die nächsten Monate mußte aufgestellt werden.

Das Gesicht Eisenlohrs war leicht gerötet, Energie und Unternehmungslust sprachen aus seinen Zügen, während der Professor etwas erschöpft zu sein schien.

»Ars longa, vita brevis, lang ist die Kunst, nur kurz das Leben«, sagte Braun mit einer müden Bewegung. »Wir haben viel Glück bei unsern Untersuchungen gehabt, Herr Kollege; eine klare Arbeitshypothese haben wir bis heute noch nicht. Manchmal komme ich mir vor wie ein Sonntagsjäger, der mit seiner Schrotspritze auf einen Taubenschwarm geschossen und durch Zufall ein halbes Dutzend Treffer gemacht hat.«

»Ein etwas drastischer Vergleich, verehrtester Herr Professor«, stimmte ihm Eisenlohr lachend bei. »Aber leider ist er nicht ganz unbegründet. Wir haben noch eine Riesenarbeit vor uns, wenn wir das, was uns bis jetzt – sagen wir ruhig: ein glücklicher Zufall – finden ließ, in ein wissenschaftliches System bringen und weiter ausbauen wollen.«

Braun seufzte. »Es gibt zu viele veränderliche Größen in den Gleichungen, die wir noch lösen müssen. Bedenken Sie: die Frequenz der Strahlung und ihre Stärke – hundertfach werden wir sie noch variieren und aufeinander abstimmen müssen, wenn wir der Natur wirklich ihre letzten Geheimnisse entreißen wollen. Zahllose Versuche werden dazu nötig sein. Ich zweifle, ob ein einzelnes Menschenleben dabei hinlangen wird.«

»Oh, Herr Professor Braun! Ein kleiner Anfall von Entmutigung?« Eisenlohr sah Braun so durchdringend an, daß der seinen Blick senkte, sprach dann weiter: »Ich kenne diesen Zustand. Ich habe auch Stunden und Tage gehabt, Herr Professor, in denen ich, von Zweifeln bedrückt, an den Erfolg nicht mehr glauben wollte, bis er dann doch unverhofft kam. Es geht uns Wissenschaftlern wohl ähnlich wie den Soldaten. Wenn man den Berichten der Historiker glauben darf, haben die großen Feldherren am Vorabend bedeutender Aktionen solche Stunden der Kleinmut durchlebt, aber es hat sie nicht gehindert, ihre Heere am nächsten Tage zum Siege zu führen. Ich denke, Herr Professor, wir wollen es auch so halten.«

Waren es die Worte, war es der Blick Eisenlohrs? Braun raffte sich wieder zusammen und faßte neuen Mut.

»Sie haben recht, Herr Eisenlohr!« Fester und energischer als vorher klang seine Stimme. »Wir wollen weiter arbeiten und nicht verzweifeln. Was ist das nächste, was geschehen soll?«

Eisenlohr zeichnete mechanisch Arabesken auf einen Schreibblock, während er antwortete. »Ich denke daran, am Berghang . . . vielleicht in der Nähe unseres Teiches, ein Urmeer im kleinen anzulegen. Es wird Sommer und Winter auf einer gleichmäßig hohen Temperatur gehalten werden müssen . . . man wird es wie ein Treibhaus mit Glas überdachen müssen. Das alles wird beträchtliche Summen erfordern . . . mehr Geld, als ich aus meinen laufenden Einkünften nehmen kann . . .«

Braun stutzte, als das Wort »Geld« fiel. Bisher hatte Eisenlohr zu ihm niemals über wirtschaftliche Fragen gesprochen, und der Professor hatte sich auch noch nie den Kopf darüber zerbrochen.

»Was soll geschehen, Herr Doktor?« fragte er unsicher.

»Zuallererst und vor allen Dingen die Gründung einer großen Verwertungsgesellschaft für das Strahlpulver. Die Ideen unseres amerikanischen Kollegen waren nicht übel. Schon während er sie uns heute entwickelte, fiel mir auch ein passender Name dafür ein. Wie denken Sie über eine Radiating Powder Company?«

»Nicht schlecht, Herr Doktor. Der Name klingt! Aber warum wollen Sie in USA gründen? Ich meine, Deutschland läge uns näher.«

»Man kann das eine tun, Herr Professor, und braucht das andere nicht zu lassen. Selbstverständlich will ich meine Entdeckung auch in den Ländern Europas verwerten und hier an erster Stelle in Deutschland. Aber das große amerikanische Geschäft will ich mir unter keinen Umständen entgehen lassen. Die Namen, die Professor Hartford heute bei Tisch nannte, sind gerade die richtigen dafür. Ich denke, in USA wird sich eine Gesellschaft am schnellsten und leichtesten auf die Beine stellen lassen.«

Braun nickte. »Ich verstehe, Herr Doktor Eisenlohr. Sie wollen den amerikanischen Kollegen mit hereinnehmen, die Beziehungen, die er ja offenbar hat, für die Gründung nutzbar machen . . .«

Eisenlohr schüttelte den Kopf. »Das wäre nicht nötig, Herr Professor. Beziehungen zu den Firmen und Gruppen, die Herr Professor Hartford anführte, habe ich selber und außerdem noch einige andere. Es ist lediglich eine Frage – sagen wir mal – der Courtoisie, ob wir den amerikanischen Kollegen mit hereinnehmen. Ich möchte es fast tun, um selbst entlastet zu sein . . .«

»Hoffentlich ist er zuverlässig«, warf Braun ein.

»Dafür wird eine scharfe Kontrolle zu sorgen haben, Herr Professor. Für uns ist es die Hauptsache, daß wir durch die amerikanische Gesellschaft sofort neue Gelder in die Hand bekommen und uns hier mit ganzer Kraft unseren biogenetischen Arbeiten widmen können. Ich werde heute beim Abendtisch mit Professor Hartford darüber reden. Mit ein wenig Glück und Geschick kann die ganze Sache in vier Wochen ins Lot kommen, und dann geht's hier mit Volldampf an die neuen Arbeiten. Der Teichbau muß unter Dach und Fach sein, bevor der erste Frost kommt. Wir werden zu tun bekommen, mein lieber Herr Professor.«

Eisenlohr stand auf, ging ein paar Schritte hin und her und reckte die vom langen Sitzen steif gewordenen Glieder.

»Ich habe über unsere lange Unterhaltung eine trockene Kehle bekommen, Herr Braun. Michelmann soll uns etwas zum Trinken bringen.« Er ging zum Schreibtisch, griff nach dem Haustelephon und gab einen Auftrag.

Wenige Minuten später kam das alte Faktotum mit dem Gewünschten ins Zimmer. Er stellte eine Kanne und Gläser auf den Tisch und machte sich daran, einzuschenken.

»Was ist mit Ihnen los, Michelmann?« fragte ihn Eisenlohr. »Sie machen ja heut ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.«

»Ach Gott, Herr Doktor«, Michelmann gab sich einen Ruck, »das ist bloß noch von wegen dem Schreck von vorhin.«

»Schreck . . . von vorhin? Was soll das heißen, Michelmann?«

»Na, weil Herr Doktor Bruck doch vorhin ohnmächtig geworden ist, Herr Doktor.«

»Wie? Was? Herr Doktor Bruck ohnmächtig?«

»Ja, Herr Doktor. Aber der Herr Professor aus Amerika, mit dem zusammen er im Wald war, hat gesagt, es ist nur ein leichter Hitzschlag, und der Herr Doktor wird sich schnell wieder gesundschlafen.«

Eisenlohr und Braun warfen sich einen Blick zu. Im gleichen Augenblick hatten sie denselben Gedanken: Was haben Bruck und der Amerikaner miteinander im Wald zu suchen?

Michelmann hatte eingeschenkt und war schon wieder an der Tür, als Eisenlohr ihm nachrief: »Gehen Sie zu Herrn Professor Hartford. Ich lasse ihn bitten, zu mir zu kommen, wenn seine Zeit es gestattet.«

»Die Sache will mir nicht gefallen«, sagte Braun, sobald Michelmann die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Was haben Sie vor, Herr Doktor?«

»Ich will mit ihm sprechen, Herr Braun. Das Weitere wird sich dabei finden.« –

»Sehr liebenswürdig, Herr Professor Hartford, daß Sie meiner Bitte so schnell gefolgt sind«, empfing Eisenlohr seinen Gast. »Wollen Sie bitte Platz nehmen. Ich höre eben zu meinem Bedauern, daß Herr Doktor Bruck sich nicht wohl fühlt – hoffentlich ist es nichts Ernstes?«

Percy Hartford hatte eine Frage dieser Art erwartet und sich eine Antwort dafür zurechtgelegt. Er berichtete, daß Bruck zu ihm ins Zimmer gekommen sei und ihn zu einem kleinen Spaziergang durch den Wald aufgefordert habe. Unterwegs sei dem Doktor schwach geworden, so daß er ihn nur mit Mühe hätte wieder zurückbringen können. Zweifellos ein leichter Hitzschlag, aber jetzt befinde sich der Patient schon auf dem Wege der Besserung. Morgen würde er voraussichtlich wieder wohlauf sein. Hartford brachte das alles so überzeugend vor, daß Eisenlohr und Braun ihren Verdacht fallen ließen.

»Hoffen wir, Herr Professor, daß es so verlaufen wird«, sagte Eisenlohr, als Hartford mit seiner Schilderung zu Ende war. »Ich wollte gern noch einmal über den Plan einer amerikanischen Gründung mit Ihnen sprechen. Darf ich Sie um die Patentschriften bitten, Herr Braun?« Braun schob ihm einen Stapel von Schriftstücken hin, der die amerikanischen Anmeldungen enthielt.

»Ich möchte von der folgenden Grundidee ausgehen«, fuhr Eisenlohr fort: »Wir, das heißt die deutsche Gruppe, bringen in die zukünftige Gesellschaft diese Patente hier ein – Sie können sie nachher in Ruhe auf Ihrem Zimmer studieren, Herr Hartford. Außerdem stellen wir gewisse Erfahrungen und Erfolge zur Verfügung, die wir auf kleinen Versuchsfeldern bereits erreicht haben. Ich möchte Sie Ihnen morgen zeigen, nachdem Sie sich über die Patentlage informiert haben.

Das würden die Werte sein, die wir einbringen; Sache der amerikanischen Gruppe wäre es, die erforderlichen Kapitalien zu beschaffen. Die Wege, die Sie uns heute mittag andeuteten, scheinen mir dafür recht gangbar zu sein . . .«

Percy Hartford nickte geschmeichelt, als Eisenlohr diese Worte sagte.

»Sie selbst, Herr Professor«, entwickelte Eisenlohr seinen Plan weiter, »würden wir gern als Wissenschaftler und für die hier vorliegenden Aufgaben besonders kompetenten Fachmann mit in der Gesellschaft haben. Selbstverständlich würde Ihre Mühewaltung entsprechend vergütet werden. Ich will Sie nicht drängen, Herr Professor«, fuhr er fort, als er eine Veränderung in Hartfords Mienen bemerkte, »überlegen Sie sich meinen Vorschlag in aller Ruhe. Es genügt, wenn wir morgen oder übermorgen weiter darüber sprechen. Wir essen erst in einer guten Stunde. Vielleicht benutzen Sie die Zeit, um schon immer unsere Patente einzusehen.«

»Ich werde es tun, Herr Eisenlohr«, sagte Hartford und stand auf. Merkwürdig rauh und gepreßt kamen die Worte aus seinem Munde. –

Kopfschüttelnd wandte sich Braun an Eisenlohr, nachdem der Amerikaner das Zimmer verlassen hatte.

»Es sieht mir nicht so aus, Herr Eisenlohr, als ob unser amerikanischer Kollege zugreifen würde; obwohl er nicht direkt ablehnte, schien er mir doch namentlich zuletzt starke Hemmungen zu haben.«

»Lassen wir ihm Zeit, Herr Professor«, versuchte Eisenlohr Braun zu beschwichtigen. »Es wäre mir lieb, wenn wir ihn gewinnen könnten, aber schließlich würde es auch ohne ihn gehen. Vorerst wollen wir uns mal eine Aufstellung von dem machen, was die amerikanische Gruppe uns einbringen muß.« –

In sich zusammengesunken, zusammengebrochen schon fast saß Hartford in seinem Zimmer am Tisch, den Kopf in beide Hände gestützt. Unberührt lagen vor ihm die Patentschriften, die Eisenlohr ihm mitgegeben hatte. Es lohnte sich für ihn ja nicht, auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Unruhig, flackrig liefen seine Gedanken und kreisten immer wieder um die wenigen Worte: Zu spät! Verspielt!

Hier mit sich allein, wo er nicht mehr Komödie zu spielen brauchte, wo er es nicht nötig hatte, seinen Mienen und seiner Haltung fortwährend Gewalt anzutun, trat die Veränderung gegen früher unverkennbar zutage. Der hier am Tisch saß, war nicht mehr der elegante Abenteurer aus der Rue St. Antoine in Paris, der Kapitalisten mit Taschenspielerkunststückchen bluffte, war auch nicht mehr der energische Draufgänger, der fragwürdiges Edelmetall an eine noch fragwürdigere Kundschaft verschob. Ein Müder, innerlich Verzweifelter war es, der eine große Hoffnung begraben mußte.

Welche glänzende Chance für ihn lag in dem Angebot Eisenlohrs! Mitglied, hochbezahlter wissenschaftlicher Berater einer großen Gesellschaft . . . Ehre . . . Reichtum . . . wie in einer Schale ausgebreitet wurde es ihm angeboten, und er durfte nicht zugreifen, weil . . . weil seine dunkle Vergangenheit ihm nachlief . . . ihm den Weg in eine bessere Zukunft unerbittlich versperrte. Unstet und flüchtig würde er von Land zu Land eilen müssen, immer in der Furcht, daß seine früheren Taten gegen ihn aufstünden. Auch hier jetzt von steter Gefahr bedroht, jeden Augenblick auf dem Sprung, bereit, unterzutauchen, sobald Menschen hierherkamen, die ihn und seine Vergangenheit kannten . . . Erst nach langer Zeit raffte er sich wieder zusammen. Zwecklos war es ja für ihn, Dingen nachzuhängen, die doch nicht sein konnten. Kostbar waren die Stunden, die ein gnädiger Zufall ihm hier noch schenkte; es galt, sie zu nutzen.

Er erhob sich, um nach Bruck zu sehen, aus dem noch alles herauszuholen, was ihm auf seinen weiteren Wegen von Nutzen sein konnte.

*


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