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Zur gleichen Zeit, zu der Percy Hartford von Eisenlohr auf der Eulenburg empfangen wurde, traten Professor Hartford und Reinhard aus dem Gebäude der amerikanischen Legation in Paris. Auf der Straße blieb der Professor stehen, nahm den Hut ab und holte ein paarmal tief Luft.
»Gott sei Dank, Captain, die Sache ist endlich im Rollen! Jetzt befaßt sich die französische Justiz damit, aber wenn ich alle diese Umständlichkeiten vorher auch nur geahnt hätte, hätte ich es vorgezogen, den Menschen einfach laufen zu lassen . . . na, nun ist's ja glücklich überstanden. Jetzt werde ich endlich abreisen können.«
Reinhard zögerte mit der Antwort.
»Oder glauben Sie etwa nicht?« fragte Hartford mißtrauisch.
»Sie könnten es natürlich, Herr Professor, aber für die Sache wäre es vorteilhafter, wenn Sie vorläufig noch hierblieben und sich zur Verfügung der französischen Behörden hielten.«
James Hartford verhielt den Schritt. »Um's Himmels willen, Herr Reinhard, soll das ganze Theater noch einmal losgehen? Ich verliere darüber kostbare Zeit. Sie wissen, daß man mich in Deutschland erwartet!«
Reinhard zuckte die Achseln. »Wenn Sie abreisen, Herr Professor, muß sich die französische Behörde an den Angeschuldigten halten. Sie wird ihn zur Vernehmung vorladen. Er wird das erstemal vielleicht sogar erscheinen, wird selbstverständlich alles abstreiten, wird danach gewarnt sein und schleunigst verschwinden.«
Verstimmung und Mißmut malten sich in Hartfords Zügen. »Und wenn ich wirklich noch länger hierbliebe?« fragte er ungeduldig.
»Dann könnte die französische Justiz auf Grund Ihrer Aussagen ganz anders vorgehen. Fluchtverdacht ist bei einem Ausländer ohne weiteres gegeben. Sie würde den durch Ihre Aussagen genügend Verdächtigten vor allen Dingen erst mal verhaften. Sobald er hinter Schloß und Riegel sitzt, können Sie unbesorgt abreisen. Ich möchte Ihnen doch dringend raten, noch ein paar Tage zu opfern. Die Sache ist es wert, Herr Professor.«
Während sie weitergingen, gab sich Hartford keine Mühe, seine schlechte Laune zu verbergen. Erst vor seinem Hotel kam er zu einem Schluß. »In Gottes Namen denn, Captain«, sagte er beim Abschied zu Reinhard, »ich will in den sauren Apfel beißen und vorläufig noch hierbleiben.«
»Das einzig Richtige, Herr Professor«, meinte Reinhard dazu. »An Doktor Eisenlohr können Sie ja immer noch schreiben, damit er Sie nicht unnütz erwartet.« –
Auch die Laune von Monsieur Bigot war alles andere als gut. Die Beulen und Striemen, die er bei seinem letzten Abenteuer davongetragen hatte, waren zwar im Verschwinden begriffen, nachdem sie die Regenbogenfarben von Blau bis Gelb durchgemacht hatten, aber dafür saß er ohne den doch recht nützlichen Hartford und ohne Geldmittel da, und auch das letzte ihm noch aus einer besseren Zeit verbliebene Glanzstück, der Livrierte, drohte ihn zu verlassen.
Solange der biedere François pünktlich seinen Lohn bekam, hatte er Bigot gute Dienste geleistet, unschätzbare Dienste sogar, wenn es sich um die Vertröstung und Abschiebung zudringlicher Gläubiger handelte. Aber das änderte sich sehr plötzlich, als ihn Bigot nun selber wegen seines Lohnes vertrösten mußte. Da schlug Monsieur François auf einmal einen andern Ton an, und Bigot bekam nicht nur Vorwürfe von ihm zu hören, sondern auch unverhüllte Drohungen.
Vergeblich sprach Bigot davon, daß Mr. Hartford morgen oder übermorgen zurückkommen und viel Geld mitbringen würde. François lachte darüber und meinte respektlos: »Der hat Karl den Großen gemacht«, was aus der französischen Redeweise in die deutsche übertragen ungefähr bedeutet: Der ist mit dem Geld längst getürmt.
So schien die Unterhaltung zwischen Bigot und seinem Diener mit einem unheilbaren Krach enden zu wollen, als François von sich aus einlenkte.
»Wir brauchen Mister Hartford gar nicht«, sagte er unvermittelt, »was der kann, kann ich selber noch lange.«
»Was wollen Sie damit sagen, François?«
»Ich meine die Geschäfte, die Mister Hartford zuletzt für Sie besorgt hat.«
»Was wissen Sie denn davon, François?« fragte Bigot verdutzt.
Der Diener zuckte die Achseln. »Unsereiner hat auch seine Augen im Kopf, Monsieur Bigot. Ich weiß längst, was hier gespielt wird. Als das Geschäft mit den reichen Amerikanern Essig war, haben Sie's andersrum gemacht, haben Ihre Goldbarren durch Mister Hartford verschärfen lassen. Schade um das schöne Geld, mit dem er Ihnen durch die Lappen gegangen ist! Er wird seine Gründe gehabt haben, war wohl höchste Zeit für ihn, zu verduften . . .«
Bigot ließ den andern ruhig weiterreden. Eine neue Möglichkeit, eine Hoffnung entnahm er aus dessen Worten. Schließlich konnte es ihm ja egal sein, wer das Gold an den Mann brachte. Nur Geld mußte endlich wieder ins Haus kommen. Geld – Geld und nochmals Geld! Das war die Parole, um die sich für ihn alles drehte.
»Also kurz und gut!« kam François mit seiner Rede zu Ende. »Ich weiß gute Abnehmer für Ihre Barren, Monsieur Bigot. Wenn Sie mir die Sache überlassen, werden wir schnell in Ordnung kommen.«
Bigot mußte an die Prügel denken, die ihn getroffen hatten, aber zweifellos für Hartford bestimmt gewesen waren.
»Das Geschäft ist nicht ungefährlich, François«, sagte er.
Mit einer verächtlichen Geste schob sein Diener die Warnung beiseite. »Pah! So dumm wie Mister Hartford werde ich's nicht anstellen. Ich weiß bessere Leute!«
Monsieur François dachte dabei an die Bauern seiner normannischen Heimat, welche die vergangenen Inflationsjahre immer noch nicht vergessen hatten und nach wie vor begierig darauf aus waren, Gold zu horten. Mit Leichtigkeit würde er bei denen die Ware Bigots loswerden. Für Jahre, vielleicht für Jahrzehnte würde sie bei denen unberührt im Sparstrumpf stecken. Aber er hielt es nicht für zweckmäßig, Bigot zum Mitwisser seiner Absichten zu machen, und wiederholte nur seine Frage:
»Wollen Sie mir Barren anvertrauen?«
Was blieb Bigot in seiner augenblicklichen Lage anderes übrig, als den Vorschlag anzunehmen? Allzu bedeutend war der vorhandene Vorrat an Barren freilich nicht, jener betrübliche Zufall, der die »Erkrankung« Bigots zeitigte, hatte sich auch störend auf die weitere Goldfabrikation ausgewirkt.
»Für das erste Mal muß es damit gehen«, meinte François, während er die Barren zu sich steckte. »Ich werde drei bis vier Tage fortbleiben. In der Zeit müssen Sie weiterfabrizieren.«
Bigot machte eine hoffnungslose Bewegung. »Wovon? Kein Geld, kein Strom . . .«
»Ach so!« François kratzte sich hinter dem Ohr. Seitdem er die Barren Bigots in der Tasche hatte, war wieder etwas von der alten Dienerbereitschaft und Höflichkeit über ihn gekommen. »Ich werde Monsieur finanzieren müssen!«
Und nun lernte Bigot seinen Diener wieder von einer anderen Seite kennen. François verschwand und kam nach wenigen Minuten mit einigen Tausendfrancscheinen zurück, die er Bigot übergab.
»Eine Anzahlung auf das erhaltene Gold. Darf ich Monsieur um eine Quittung bitten? Es ist der Ordnung wegen, Monsieur.«
Bigot unterschrieb die Quittung. Jedes Schriftstück in der Welt hätte er für dieses Geld unterschrieben, das ihm die Möglichkeit gab, sich wieder einige Zeit über Wasser zu halten. Der Diener François packte sein Köfferchen. Er ging auf eine Geschäftsreise, deren Ziel er für sich behielt. –
Mr. James Kelly war dabei, die Bilanz seines Aufenthalts in Paris zu ziehen. Mit dem Ergebnis konnte er mehr als zufrieden sein. Einen guten glatten Schnitt hatte er bei dem Goldgeschäft gemacht, wenn es auch etwas anders verlaufen war, als Monsieur Bigot es sich gedacht hatte. Eine schöne Summe konnte er auch nach der Abwicklung seiner letzten großen Transaktion in französischen Eisenbahnaktien zugunsten der Firma Kelly & Company verbuchen. So war seine Stimmung die allerbeste, als Spranger in sein Zimmer kam.
»Ich denke, wir sind hier fertig«, begrüßte er ihn zwischen zwei Rauchwolken aus der unvermeidlichen Pfeife. »Es wird Zeit, daß wir uns wieder um unser Geschäft in New York kümmern. Wir könnten Plätze auf der ›Ville de Paris‹ belegen. Sie geht in drei Tagen von Le Havre ab.«
Spranger zog sich einen Sessel heran und machte sich's darin bequem; für Kelly ein untrügliches Zeichen, daß sein Partner allerlei zu sagen hatte und wahrscheinlich nicht seiner Meinung war. Er brauchte nicht lange zu warten.
»Ist mir eigentlich noch etwas zu früh, Kelly«, begann Spranger. »Ich wäre erst gern noch mal nach Deutschland gefahren.«
»Was wollen Sie in Deutschland?« fragte Kelly. Seine gute Laune war im Absinken.
»Ich möchte meinen Freund Eisenlohr noch einmal besuchen. Sie wissen ja, Kelly, den Doktor, den Physiker. Es gibt da allerhand zu sehen, was mich recht interessiert.«
»Lassen Sie mich mit Doktoren und Physikern ungeschoren!« wehrte Kelly ab. »Ich habe genug von der Sorte. Die Bekanntschaft mit Bigot genügt mir!«
»Sie dürfen Eisenlohr und Bigot nicht in einen Topf werfen!« verteidigte Spranger seine Ansicht. »Der eine ist ein ernster Wissenschaftler, der grundlegende Entdeckungen gemacht hat, der andere ein Scharlatan . . .«
»Ein dreimal verdammter Schwindler!« unterbrach ihn Kelly.
»Selbst dieser Schwindler, wenn Sie ihn so nennen wollen, hat eine beachtenswerte Entdeckung gemacht«, setzte Spranger seinen Gedankengang fort.
»Unsinn, Schwindel! – Alles ein aufgelegter Humbug!« fuhr ihm Kelly in die Rede.
»Doch nicht alles, mein lieber Kelly! Erinnern Sie sich noch an das Goldpulver, das Bigot Ihnen gab?«
Kelly ließ seine Pfeife auf den Aschenbecher fallen und warf Spranger einen bösen Blick zu.
»Reden Sie nicht davon! Ich werde die Tage nie vergessen, bis Doktor Harper mich wieder von dem miserablen Zeug erlöste. Mein Kopf wäre ein Kürbis geworden, wenn ich's noch länger in den Zähnen gehabt hätte.«
Spranger konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, denn auch jetzt noch wies der mächtige Schädel seines Partners eine entfernte Ähnlichkeit mit der genannten Gartenfrucht auf.
»Nun stellen Sie sich einmal vor, Kelly«, fuhr er fort, »wenn man einen richtigen Kürbis mit diesem Goldstaub behandelt hätte, wie der erst gewachsen wäre!«
Kelly schlug ärgerlich mit der Faust auf den Tisch.
»Machen Sie keine faulen Scherze, Spranger! Ich verbitte mir das von Ihnen!«
»Ich bin weit davon entfernt, zu scherzen, Kelly. Es ist mir voller Ernst mit dem, was ich sage!«
»Drücken Sie sich, bitte, etwas deutlicher aus!« knurrte Kelly verdrossen. »Aber lassen Sie gefälligst meinen Kopf und überhaupt meine Person dabei aus dem Spiel!«
»Ich will es versuchen, Kelly, aber Sie müssen ein wenig Geduld haben.«
Mit Sorgfalt und Sachverständnis machte sich Kelly daran, seine Pfeife neu zu stopfen. »Schießen Sie los, aber machen Sie's gnädig!« brummte er.
»Haben Sie schon mal etwas von mitogenetischen Strahlen gehört?« fragte Spranger.
»Keine Ahnung, Spranger. Sie wissen doch, daß ich mich um den wissenschaftlichen Schwindel im einzelnen nie gekümmert habe.«
»Nun, das sind Wachstumsstrahlen, Strahlen, die jeden lebendigen Organismus, gleichviel ob Pflanze oder Tier, zu einer lebhafteren Zellteilung und einem verstärkten Wachstum anregen.«
Wie in einer schmerzlichen Erinnerung strich sich Kelly über den Mund, stieß ein paar schwere Rauchwolken aus und knurrte etwas Unverständliches vor sich hin.
»Das bewußte Goldpulver«, fuhr Spranger fort, »sendet unter anderm auch sehr kräftige Wachstumsstrahlen aus. Es könnte daher in einer künftigen intensiven Landwirtschaft eine wichtige Rolle spielen . . .«
Kelly griff sich an den Kopf. »Goldpulver?! In der Landwirtschaft? Als Düngemittel etwa? Ich glaube, Sie sind übergeschnappt, Spranger. Das Gold wollen wir doch lieber in Wallstreet lassen, wo es am besten für uns arbeiten kann.«
»Das echte Gold meinetwegen, aber nicht diese strahlende Abart, die ja doch nur eine instabile Isotope ist.«
»Zum Teufel mit euren Fremdwörtern!« fuhr Kelly auf. »Bleiben Sie mir damit vom Leibe, Spranger! Griechische und lateinische Brocken . . . da weiß ich sicher, daß wieder ein Humbug dahintersteckt. Haben Sie etwa Lust, sich noch einmal von Bigot leimen zu lassen?«
»Sie irren sich, Kelly. Meine Kenntnis stammt nicht von Bigot, sondern von Doktor Eisenlohr. Er schrieb mir in den letzten Tagen darüber, weil er annahm, daß wir vielleicht für seine amerikanischen Patente Interesse haben könnten.«
Kelly wiegte nachdenklich seinen massigen Schädel hin und her.
»Eisenlohr? Von dem hätte ich eigentlich etwas Vernünftigeres erwartet . . . habe früher sogar daran gedacht, mich wegen der Goldgeschichte mit ihm in Verbindung zu setzen. Jetzt läuft der auch solchen überspannten Ideen nach . . . Gold auf die Äcker streuen? Denken Sie doch nur mal nach, Spranger! Wer soll denn das bezahlen?«
»Zuerst selbstverständlich der Farmer, Kelly. Das ist doch vollkommen klar. In zweiter Linie natürlich der Verbraucher, der Korn, Kartoffeln und meinetwegen auch Kürbisse von ihm kauft.«
»Wahnsinn, Spranger! Heller Wahnsinn!« stieß Kelly zwischen den Zähnen hervor. Zum zweitenmal während ihres Gespräches war seine Pfeife am Ausgehen.
Spranger griff in die Tasche und holte ein mit Zahlen bedecktes Blatt hervor. Eine jener Rentabilitätsberechnungen war es, die Eisenlohr vor Tagen zu nächtlicher Stunde aufgestellt hatte. Er reichte sie seinem Partner hinüber.
»Lesen Sie das, und Sie werden Ihre Meinung ändern.«
Kelly überflog das Papier, bis sein Blick an einigen Zahlen länger haften blieb. Kopfschüttelnd prüfte er sie, griff nach Bleistift und Block und begann selber zu rechnen, warf dann den Bleistift hin und stützte den Kopf in beide Hände.
»Nun, was sagen Sie dazu?« fragte Spranger.
»Ich verstehe das Ganze nicht, Spranger. Der Deutsche setzt für sein Pulver einen Preis ein, für den man allenfalls einen guten Mist kaufen kann, aber doch niemals Goldstaub . . . Gold, Spranger!«
»Doktor Eisenlohr würde den Preis nicht einsetzen, Kelly, wenn er sein Strahlpulver dafür nicht liefern könnte . . .«
»Dasselbe Pulver, das Bigot mir gegeben hat?«
»Ungefähr das gleiche, Kelly.«
Kelly dachte an den Preis, den er Bigot dafür gezahlt hatte. »Ich möchte dem Kerl das Genick umdrehen!« knirschte er.
»Lassen wir Bigot«, winkte Spranger ab. »Es ist wichtiger, daß wir zu den Vorschlägen Eisenlohrs Stellung nehmen.«
In Kellys Zügen arbeitete es. Abneigung und Unschlüssigkeit einerseits, Lust, sich ein neues großes Geschäft nicht entgehen zu lassen, andererseits kämpften in ihm.
»Ja!« begann er nach längerem Zögern. »Man müßte vor allen Dingen erst einmal etwas sehen . . . wirklich genaue Unterlagen haben. Das hier –« er schob Eisenlohrs Berechnung beiseite – »das ist zu wenig. Papier ist geduldig.«
»Etwas sehen, Kelly! Jetzt kommen wir uns schon näher. Das ist ja mein Vorschlag. Wir müssen nach Deutschland fahren und die Sache mit Eisenlohr gründlich besprechen. Das ist es, worum ich Sie bitte.«
»Hm, Spranger . . .«
Kelly überlegte hin und her. »Wir müssen dann doch wenigstens eine Woche für unsern Aufenthalt in Europa zugeben.«
»Rechnen Sie lieber mit zwei Wochen, Kelly.«
»Paßt mir schlecht in den Kram, Spranger. Unser Manager in New York ist mir in letzter Zeit zu selbständig geworden. Hohe Zeit, daß der Bursche wieder an die Kandare genommen wird.«
Spranger deutete auf das Codebuch, das neben dem Aschenbecher auf dem Tisch lag.
»Wozu haben wir Kabel und Funk, Kelly? Geben Sie telegraphisch gemessene Anweisungen nach New York, dann wird es da wohl auch noch die nächsten vierzehn Tage ohne uns gehen. Ich möchte nicht, daß uns jemand anders bei Eisenlohr zuvorkommt.«
»Halten Sie das für möglich?«
»Es wäre nicht ausgeschlossen.« Mit einem Seufzer griff Kelly nach dem Codebuch und begann eine Instruktion für den Manager der Firma in New York aufzusetzen. Für Spranger war es das Zeichen, daß sein Partner bereit war, ihn nach Deutschland zu begleiten.
*
»Ihre Anregungen waren für uns recht wertvoll, Herr Professor«, sagte Eisenlohr.
Zum Teufel, was meint er jetzt? dachte Percy Hartford bei sich. »Ich bin erfreut, daß ich Ihnen nützlich sein konnte, Herr Doktor«, sagte er, um Zeit zu gewinnen, während er sich hastig die Mitteilungen, die Bruck ihm an diesem Morgen in Ihlefeld gemacht hatte, durch den Kopf gehen ließ.
»Wir trugen uns allerdings auch schon mit dem Gedanken, von Karbiden auszugehen . . .«, sprach Eisenlohr weiter. Seine Worte brachten Hartford im Augenblick ins Bild. Gott sei Dank! Jetzt wußte er, wovon die Rede war, und lief nicht mehr Gefahr, sich eine Blöße zu geben.
»Gewiß, Herr Doktor«, sagte er geschmeidig. »Nach dem, was wir über die Vorgeschichte unserer Erde wissen, mußte dieser Gedanke für jeden Wissenschafter naheliegen. Immerhin mußte die Anregung einmal gegeben werden, aber ich bin weit entfernt, daraus ein besonderes Verdienst für mich zu konstruieren.«
Einen Moment stutzte Eisenlohr. So bescheiden und selbstlos, wie der Professor jetzt sprach, hatte er sich in seinen Briefen an ihn eigentlich nicht ausgedrückt. Nun, das ist höfliche Zurückhaltung, die er sich hier als Gast auferlegt, suchte Eisenlohr es sich zu erklären. Wenn er dabei bleibt, wird die Zusammenarbeit mit Braun besser gehen, als ich glaubte.
»Sie treffen einen Kollegen bei mir«, fuhr er fort, »Herrn Professor Braun, der Ihnen wohl dem Namen nach bekannt ist.«
Hartford nickte und segnete im stillen die Redseligkeit Brucks. »Herr Professor Braun genießt bei uns in den Staaten einen vorzüglichen Ruf. Ich bin begierig, seine persönliche Bekanntschaft zu machen.«
»Dann schlage ich vor, Herr Professor, daß wir gemeinschaftlich zu Tisch gehen. Wir werden zu fünft sein. Meinen Ersten Assistenten Herrn Doktor Bruck kennen Sie bereits. Außer Professor Braun nimmt noch mein Zweiter Assistent, Herr Doktor Holthoff, an der Mahlzeit teil. Wir werden also in kleinem Kreise sein und zwanglos plaudern können. Ich denke, es wird angerichtet sein. Darf ich Sie bitten, Herr Professor?«
»Mit Vergnügen, Herr Doktor!«
Hartford atmete auf, als er neben Eisenlohr aus dem Empfangszimmer auf den Flur trat, denn das Zusammensein mit Eisenlohr allein bedrückte ihn. Er wurde das Gefühl nicht los, daß der Deutsche ihn durchschaute, und empfand die Aussicht, jetzt in eine größere Gesellschaft zu kommen, wie eine Befreiung.
Die Vorstellung im Speisesaal ging schnell vonstatten. »Eine kleine Überraschung, Herr Braun. Wir haben unvermutet noch einen Gast bekommen, Herrn Hartford aus Schenektady«, führte Eisenlohr den Amerikaner ein.
Professor Braun quittierte mit einer kurzen Verbeugung, murmelte etwas, das wie »Sehr angenehm!« klingen konnte, und ließ sich auf seinem Stuhl nieder. Während er seine Serviette entfaltete, musterte er Hartford durch seine scharfe Brille so eingehend, daß dem von neuem ein Unbehagen aufkam. Dann wurde die Suppe aufgetragen, und zunächst wollte kein rechtes Gespräch in Gang kommen. Als einer der ersten wurde Braun mit seinem Teller fertig. Er legte seinen Löffel hin, sah Hartford noch einmal an und fragte unvermittelt:
»Sie tragen heute kein Glas, Herr Hartford?«
Dem Amerikaner fuhr bei den Worten Brauns ein schwerer Schreck durch die Glieder. Wenn dieser deutsche Professor durch einen verwünschten Zufall seinen früheren Chef James Hartford persönlich kannte, dann mußte die nächste Sekunde unabwendbar die Katastrophe bringen. Und wie leicht kamen solche Bekanntschaften heute zustande! Gab es doch fast in jedem Jahr irgendwo irgendeine internationale wissenschaftliche Tagung, auf der Gelehrte aus aller Welt zusammenkamen, zusammen debattierten und zusammen tafelten.
Dieser Mr. Braun wußte also jedenfalls, daß sein Kollege aus Schenektady ein Glas trug. Auch Percy Hartford war diese Tatsache sattsam bekannt, und obwohl seine Sehschärfe vorzüglich war, hatte er sich in Paris aus einer gewissen Vorsicht heraus eine Brille beschafft, die sich von derjenigen seines früheren Chefs nur dadurch unterschied, daß ihr Gestell simples Fensterglas enthielt.
»Mein Arzt riet mir, die Gläser nicht ständig zu tragen«, sagte er zu Braun, während er diese Brille zur Hälfte aus der Brusttasche zog und mit einer lässigen Bewegung wieder zurückschob.
»Sie Glücklicher!« meinte Braun, der ohne seine scharfen Gläser ziemlich hilflos war, und wandte seine Aufmerksamkeit dem nächsten Gang zu, der soeben von Michelmann aufgetragen wurde.
Als das alte Faktotum den Raum verlassen hatte, begann Eisenlohr von seinen letzten Arbeiten zu sprechen. Professor Braun griff das Thema sofort auf und verbreitete sich, von Holthoff gelegentlich sekundiert, über die von ihren dabei benutzten Karbide mit einer echt professoralen Gründlichkeit. Hartford griff hier und da mit Zwischenbemerkungen ein, in denen er geschickt alles das anbrachte, was er am Morgen von Bruck erfahren hatte, und gewann durch seine Art bei Braun schnell einen Stein im Brett.
Einen wenig umgänglichen, ja bisweilen schroffen Kollegen hatte Braun zu treffen erwartet, und er fand zu seiner Überraschung einen liebenswürdigen Plauderer, der sein eigenes Wissen in konziliantester Weise vorbrachte. Diese Entdeckung veranlaßte ihn selbst, freier aus sich herauszugehen.
Mit stillem Vergnügen beobachtete Eisenlohr die Entwicklung der Dinge.
Nicht ohne innere Besorgnis hatte er dem Zusammentreffen der beiden Gelehrten entgegengesehen, hatte noch vor kurzem zu Holthoff etwas von zwei harten Steinen gesagt, die wohl nur schlecht miteinander mahlen würden, und sah nun eine gediegene wissenschaftliche Aussprache in Fluß kommen. Mit Befriedigung mußte er auch feststellen, daß die Ansichten Hartfords sich fast vollständig mit seinen eigenen deckten.
Genau die gleichen Karbide, von denen er selbst bei seinen letzten Arbeiten ausgegangen war, führte auch Hartford als die für diesen Zweck geeignetsten an, und da Eisenlohr die etwas trübe Quelle, aus welcher der Amerikaner sein Wissen geschöpft hatte, nicht kannte, erblickte er in solcher Übereinstimmung eine erfreuliche Bestätigung seiner eigenen Anschauungen durch einen anderen Wissenschaftler.
Was der verehrte Kollege bereits praktisch auf dem Gebiet getan habe, wünschte jetzt Braun zu erfahren. Hartford drückte sich etwas unbestimmt aus und nannte ein paar Karbide, die er hergestellt und auf ihre Reaktionen auf Stickstoff und Wasser hin untersucht haben wollte. Immer wieder betrachtete er dabei, während er drauflos redete, unauffällig Professor Braun. Nach wie vor kreisten seine Gedanken um die eine Frage, ob er James Hartford persönlich kannte oder nicht. So unerträglich wurde ihm die Ungewißheit, daß er sich schließlich entschloß, von sich aus auf den Busch zu klopfen.
»Ich meine, Herr Braun«, sagte er, als der Professor einen längeren Satz glücklich zu Ende gebracht hatte, »wir müßten uns schon einmal getroffen haben. Ich komme im Augenblick nur nicht darauf, wo es gewesen sein kann.«
Die Frage war heraus; mit Herzklopfen wartete Hartford auf die Antwort. In Schenektady war der Name Braun niemals gefallen. Wenn Braun James Hartford persönlich kannte, mußte diese Bekanntschaft während des letzten halben Jahres gemacht worden sein, nachdem er selbst, Percy Hartford, die Staaten verlassen hatte. Braun sah ihn einen Augenblick an, schien nachzudenken, schüttelte den Kopf, sagte dann:
»Ich kann mich nicht erinnern, Herr Kollege.«
»Vielleicht auf einem der letzten Kongresse?« versuchte ihm Hartford einzuhelfen. »Ich war auf der diesjährigen Elektrikertagung in Detroit . . .«
»Ich wollte auch hin, hatte aber im letzten Moment eine Verhinderung«, nahm Braun die Frage auf. »Aber ich weiß, daß Sie da waren, Herr Hartford. Die ›Electrical Review‹ brachte kürzlich eine Aufnahme der Teilnehmer. Ich fand Ihr Bild darauf.«
Percy Hartford fiel ein Stein vom Herzen. Dieses Bild hatte er ebenfalls gesehen und gefunden, daß es herzlich schlecht war. Eine Blitzlichtaufnahme, die bei der Wiedergabe durch einen groben Raster noch undeutlicher geworden war. Wenn Braun nichts weiter als das von ihm kannte, war die Gefahr nicht mehr groß.
»Oh, dann muß es ein Irrtum sein, vielleicht habe ich Sie mit einem Kollegen verwechselt«, brach Hartford das Thema ab, und für Braun war es der gewünschte Anlaß, auf die Versuche mit den Karbiden zurückzukommen.
Freimütig bekannte Hartford, daß er selber infolge Überhäufung mit anderen Arbeiten nicht dazu gekommen wäre, die Angelegenheit weiterzuverfolgen. Rückhaltlos beglückwünschte er Eisenlohr und Braun zu ihren Erfolgen auf diesem Gebiet, sprach dann wieder von seinen eigenen Arbeiten und versuchte dabei, das Gespräch unauffällig auf das Thema zu bringen, das ihm am meisten am Herzen lag, auf die Metallumwandlung.
Als Bruck es merkte, versuchte er ihn dabei zu unterstützen. Ein paarmal überhörte Eisenlohr die Manöver Hartfords geflissentlich; als der jedoch nicht davon abließ, entschloß er sich, deutlicher zu werden.
»Die Untersuchungen, von denen Sie eben sprechen, Herr Kollege, sind zweifelsohne theoretisch recht interessant«, fing er an. »Aber das praktische Interesse, daß Sie ihnen noch unterzulegen scheinen, haben sie nicht. Das haben wir schon seit längerem erkannt und unseren Arbeiten eine andere Richtung gegeben.«
Begierig sog Hartford jedes Wort, das Eisenlohr sprach, in sich ein. Eine Mitteilung Bigots kam ihm wieder ins Gedächtnis. Achtlos sollte Eisenlohr den Goldstaub, der sich auch bei seinen Versuchen bildete, zum Fenster hinausgeworfen haben. Hartford hatte es damals für ein leeres Gerücht gehalten, hatte es einfach nicht geglaubt; jetzt mahnte es ihn zur Vorsicht. Offenbar hatte Eisenlohr etwas entdeckt, von dem er, Hartford, und Bigot noch keine Ahnung hatten; das jetzt unauffällig herauszubekommen, mußte sein nächstes Ziel sein.
»Gewiß, Herr Eisenlohr. Jener Goldstaub, der sich bei der Bleiumwandlung bildet, ist noch nicht ganz das Richtige«, begann er tastend, »aber doch vielleicht der erste Schritt in einer Entwicklungsreihe zu etwas Vollkommenerem.«
Er gedachte Eisenlohr dadurch zu weiteren Mitteilungen über seine eigenen Arbeiten zu veranlassen, bekam aber zu seinem Erstaunen etwas ganz anderes zu hören.
»Im Gegenteil, Herr Kollege«, erwiderte ihm Eisenlohr, »dieser Goldstaub – ich möchte ihn lieber Pseudogoldstaub nennen – ist gerade das Richtige, weil er bei seinem Zerfall unter anderem auch eine recht wirksame Wachstumsstrahlung aussendet.«
›Bei seinem Zerfall‹ – hatte Eisenlohr nicht eben ›bei seinem Zerfall‹ gesagt?
Während die Worte in Hartfords Hirn nachhallten, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das künstlich erzeugte Gold zerfiel also wieder? In was? . . . Wandelte es sich am Ende wieder in Blei zurück? Kamen daher die ihm bisher unerklärlichen Beschwerden seiner Kunden, denen er in Paris Bigots Barren verkauft hatte?
Er mußte ein paarmal schlucken, um seiner Aufregung Herr zu werden.
»Gewiß, es sind vorläufig noch instabile Isotopen«, meinte er mit gezwungener Ruhe, »aber ein Übergang zu stabilen, nicht mehr strahlenden, nicht mehr zerfallenden Formen müßte sich doch finden lassen . . .«
Eisenlohr machte eine brüske Bewegung. »Was wäre damit gewonnen, Herr Hartford? Für die Zwecke unserer Wirtschaft haben wir genügend natürliches Gold. Es ist besser, wenn es bei dem bleibt. Das andere, das künstliche Gold, würde nur Unheil bringen.«
In sich versenkt hatte Eisenlohr die Worte gesagt, er bemerkte die Blicke nicht, die zwischen Bruck und Hartford hin und her flogen, während er sprach. Ein leichtes, kaum merkliches Achselzucken Brucks, ein ebenso unauffälliges Nicken von seiten Hartfords. Auch ohne Worte verstanden sich die beiden. Mit Eisenlohr war in der Sache nichts zu wollen. Sie würden sich später unter vier Augen darüber besprechen müssen.
»Mit unseren Arbeiten auf dem Gebiete der Metallumwandlung wären wir rettungslos in eine Sackgasse geraten«, fuhr Eisenlohr in seinen Ausführungen fort, »wenn wir dabei nicht glücklicherweise neue strahlende Stoffe entdeckt hätten. Für diese allerdings gibt es Anwendungsmöglichkeiten, die wir heute noch nicht einmal annähernd überschauen können.«
»In der Tat hochinteressant, Herr Eisenlohr!« murmelte Hartford vor sich hin und warf Bruck einen hilfesuchenden Blick zu.
Der beugte sich verlegen über seinen Teller, denn er wußte selber nicht, worauf sein Chef hinauswollte. Hingerissen von dem Thema sprach Eisenlohr weiter:
»Ich habe bereits Verhandlungen mit zwei landwirtschaftlichen Hochschulen in Deutschland angeknüpft. In diesem Jahr ist es für Versuche im Freien leider schon zu spät, aber im nächsten Jahr werden wir Versuchsfelder in großem Stil anlegen, werden sie mit dem strahlenden Stoff impfen und den Einfluß auf die Ernteerträge gründlich studieren.«
Wieder erfuhr Hartford aus diesen Worten etwas vollkommen Neues und ihn aufs höchste Überraschendes, und im Gegensatz zu Mr. Kelly in Paris leuchtete ihm die Durchführbarkeit sofort ein.
»Das könnte in der Tat eine Umwälzung für die Landwirtschaft unserer ganzen Erde bedeuten«, pflichtete er Eisenlohr bei. »Läßt sich die Wartezeit nicht verringern? Ich meine, man könnte hier in Deutschland sofort mit Versuchen unter Glas beginnen, und schließlich, Herr Eisenlohr, sind Sie auch nicht auf Deutschland beschränkt. In den Südstaaten bei uns könnte man es auch jetzt noch im Freien versuchen. Wenn ich Ihnen durch meine Beziehungen dazu behilflich sein kann, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.«
»Sehr liebenswürdig, Herr Hartford, aber ich habe bereits selber Verbindungen nach den Staaten aufgenommen. Einer meiner Studienfreunde, ein Mister Spranger, Teilhaber der New-Yorker Firma Kelly and Company, ist für die Angelegenheit interessiert.«
Hartford spürte ein unangenehmes Gefühl im Magen, als der Name Spranger von Eisenlohrs Lippen fiel. Auf jeden Fall mußte er schleunigst herausbekommen, ob und wann der hier auf der Eulenburg erwartet wurde.
»Kelly and Company? Ich kenne die Firma dem Namen nach. Wenn ich mich recht entsinne, ist ein Mister Spranger der Juniorpartner«, sagte er zögernd, als ob er sich erst besinnen müsse.
»Ganz recht, Herr Hartford. Diese Firma meine ich«, bestätigte ihm Eisenlohr seine Frage.
Immer noch langsam und wie überlegend sprach Hartford weiter. »Die Leute sollen in Paris eine unerfreuliche Sache mit einem zweifelhaften Chemiker oder Physiker, einem gewissen Bigot, gehabt haben, der vorgab, Gold machen zu können. Die Firma soll ein paar hunderttausend Dollar dabei eingebüßt haben. Ich fürchte, die Firmeninhaber werden jetzt gegenüber allen Geschäften, die auch nur entfernt mit Metallumwandlungen zusammenhängen, sehr zurückhaltend sein. Vor meiner Abreise aus Paris hörte ich noch, daß Mister Kelly sich darüber sehr deutlich ausgelassen hätte.«
Lebhaft griff Professor Braun die Worte Hartfords auf und begann, sich über Scharlatanerie in der Wissenschaft im allgemeinen und über Monsieur Bigot im besonderen zu ereifern, bis Eisenlohr sich wieder einmischte:
»Ich weiß natürlich noch nicht, wie sich die Herren Kelly und Spranger zu meinen Vorschlägen stellen werden. Es wird sich erst entscheiden, wenn sie hier sind und sich die Sache angesehen haben. Ich erwarte deshalb jeden Tag Nachricht von Spranger.«
Hartford machte einen Einwand: »Ich weiß nicht, Herr Eisenlohr, ob diese Firma die richtige Verbindung für Sie ist. Soviel mir bekannt ist, betreiben die Leute in der Hauptsache Börsengeschäfte . . . Börsenspekulationen, um es ganz deutlich zu sagen, aber die Firma ist kein Emissionshaus.«
»Alles zugegeben, Herr Hartford«, unterbrach ihn Eisenlohr, »aber es war für mich das nächstliegende, mich an sie zu wenden, weil ich, wie bereits gesagt, mit dem einen Partner seit langen Jahren befreundet bin.«
»Ich begreife das vollkommen, Herr Eisenlohr«, sagte Hartford zustimmend. »Aber für eine Finanzierung großen Stils, die der Bedeutung Ihrer Erfindung entspräche, sollte man besser gleich einen der großen chemischen oder elektrischen Konzerne zu gewinnen versuchen, die bereits auf verwandten Gebieten tätig sind. Ich glaube, das müßte sich wohl erreichen lassen . . .«
Und nun begann Hartford Gründungspläne zu entwickeln und dabei von seinen eigenen Beziehungen zum amerikanischen Großkapital zu sprechen, daß Professor Braun öfter als einmal den Kopf schüttelte. Der Amerikaner jonglierte mit Dollarmillionen und mit New-Yorker Großfirmen, als ob er souverän über sie verfügen könnte. Wenn man seinen Mitteilungen glauben durfte, stand er mit allen Finanzmagnaten von Wallstreet auf du und du und ging in ihren Häusern ein und aus.
Während er weitersprach, schien er sich förmlich an seinen eigenen Worten zu berauschen; dabei aber hatten die Vorschläge, die er entwickelte, durchaus Hand und Fuß. Eine Studiengesellschaft zunächst mit einem bescheidenen Kapital . . . zehn Millionen höchstens . . . eben genug, um die landwirtschaftlichen Versuche durchzuführen und einen sicheren Patentschutz zu nehmen, dann aber, sobald gute Erfahrungen mit Versuchsfeldern vorlägen, eine Großgründung. Mit zweihundert . . . besser gleich mit fünfhundert Millionen könnte sie sofort ins Leben gerufen werden. Spielend würde der amerikanische Geldmarkt Aktien der neuen Gesellschaft in diesem Betrage aufnehmen, wenn man die richtigen Emissionshäuser in der Studiengesellschaft hätte.
Und dann in ganz großem Stile los! In USA allein wenigstens ein Dutzend neuer Werke für die Erzeugung des strahlenden Stoffes . . . eine zuverlässige Verteilungsorganisation über das ganze Land, die jedem Farmer den neuen Stoff billig und zur rechten Zeit auf seinen Hof lieferte . . . Neben dem Riesengeschäft in den Staaten die Gründung von Schwester- und Tochtergesellschaften in allen ackerbautreibenden Ländern der Erde – nicht Millionen, sondern Milliarden würde die neue Erfindung in Bewegung setzen . . .
Wie ein von einer Inspiration Ergriffener sprach Hartford, um dann zu verstummen; als ob der Strom in ihm plötzlich versiegt wäre, schwieg er.
»Ja, so könnte man es wohl machen«, sagte Eisenlohr nachdenklich.
»So könnte man es machen«, wiederholte Hartford eintönig. In sich zusammengesunken saß er da, von Gedanken bewegt und gequält, von denen seine Umgebung an diesem Tisch hier nichts wußte und um keinen Preis etwas ahnen durfte.
»Es wäre gewiß der richtige Weg, Herr Hartford«, nahm Eisenlohr seine eigenen Gedanken wieder auf. »Wenn man die dafür erforderlichen Verbindungen hätte.«
Hartford riß sich zusammen. Er durfte sich auf dem gefährlichen Boden hier keine Blöße geben, mußte die einmal übernommene Rolle zu Ende spielen, so schwer es ihm in diesem Augenblick wurde.
»Die Verbindungen habe ich, Herr Eisenlohr«, sagte er, »sobald ich wieder in den Staaten bin, werde ich die Angelegenheit in die Hand nehmen. Ein bis zwei Wochen werden Sie freilich Geduld haben müssen.«
Eisenlohr strich sich mit der Hand über die Stirn. Mehr zu Braun als zu Hartford gewandt meinte er: »Es ist vielleicht vorteilhafter, die Verhandlungen mit Kelly and Company nicht zu überstürzen, wenn wir eine soviel bessere Möglichkeit haben.«
Braun machte eine unschlüssige Bewegung. »Ich bin kein Finanzmann, Herr Eisenlohr. Auf dem Gebiet habe ich gar keine Erfahrung. Sie müssen die Entscheidung auf Ihre eigene Verantwortung nehmen.«
»Sie riskieren nichts dabei«, meldete sich Hartford wieder. »Halten Sie Ihren Freund Spranger eine kurze Weile hin. Schreiben Sie ihm einfach, daß Sie erst noch ein paar Versuche abwarten müßten. Ich werde inzwischen schon von hier aus durch Brief und Kabel die Verbindung mit New York aufnehmen.«
»So wird es am Ende das beste sein«, schloß sich Eisenlohr seiner Meinung an.
Sie waren mit dem Nachtisch zu Ende gekommen. Es war an der Zeit, die Tafel aufzuheben. Hartford sprach den Wunsch aus, sich zurückziehen und ein wenig ruhen zu dürfen. Es war ihm anzumerken, daß die Reise hierher ihn doch etwas angegriffen hatte; Eisenlohr ließ Michelmann kommen und wies ihn an, dem neuen Gast sein Zimmer zu zeigen. –
Auch dem alten Faktotum entging es nicht, wie abgespannt und elend Hartford aussah.
»Strecken sich Herr Professor ein bißchen«, riet er ihm gutmütig. »Um sieben Uhr wird wieder gegessen. Soll ich Herrn Professor wecken kommen?«
Percy Hartford wehrte matt ab. »Danke, es wird nicht nötig sein. Nur ein wenig Ruhe. Die Reise war sehr anstrengend.«
»Wie Herr Professor wünschen«, sagte der alte Michelmann und zog die Tür hinter sich zu.
Hartford war allein.
Aufatmend ließ er sich auf ein Ruhelager fallen und schloß die Augen. Regungslos wie zu Tode erschöpft blieb er liegen. Erst nach Minuten brachte er die Hände langsam zu seinem Gesicht und preßte sie gegen seinen Kopf, als ob er peinigende Gedanken verjagen wolle. Doch immer kamen sie wieder, diese Gedanken, die ihn vorhin überfallen hatten, als er Eisenlohr die praktische Durchführung seiner Erfindung entwickelte.
Blitzartig war's ihm da durch den Kopf gegangen: Wozu sprichst du, wozu erzählst du das alles? . . . Du wirst es ja doch nie ausführen können. Dein Leben ist verpfuscht, alle Chancen hast du verspielt . . . Mit einer verzweifelten Anstrengung hatte er bei Tisch die Schwäche überwunden, die ihn bei dieser Erkenntnis überfiel, hatte eine leidlich gute Haltung bewahrt, bis Eisenlohr die Tafel aufhob. Jetzt brauchte er sich nicht länger Gewalt anzutun und ließ die Gedankenflut widerstandslos auf sich eindringen.
In wechselnden Bildern zogen die letzten sechs Monate seines Lebens an ihm vorbei. Plastisch deutlich sah er auch mit geschlossenen Augen einzelne Szenen daraus . . . Der Streit mit dem Chef im Laboratorium von Schenektady . . . um eine Kleinigkeit war er entstanden, durch Zufälligkeiten verschärft, immer heftiger geworden, bis er selber plötzlich – er wußte nicht mehr ganz genau, wie es dahin gekommen war – seine sofortige Entlassung forderte. Mit einem Achselzucken hatte Professor Hartford sie ihm bewilligt . . .
Die dunkle Stunde danach im Laboratorium. Der Scheck, den er bekam, war nur klein . . . ungewiß, wo und wann er wieder eine neue Stellung finden würde . . . Wie in einem sinnlosen Taumel, wie in einem bösen Rausch hatte er ein paar der schwersten Platinschalen zu sich gesteckt, bevor er die Stätte einer jahrelangen ehrlichen Arbeit verließ . . . Das Leben verpfuscht! flog's ihm wieder durch den Sinn, als er jetzt daran dachte.
Schon auf der Fahrt von Schenektady nach New York hatte ihn die Tat gereut. Mit der Absicht, die Schalen sofort zurückzusenden, war er dort angekommen; er hatte es aufgeschoben, bis es zu spät war. Teuer war das Pflaster in der Hudson-Metropole. Schnell waren die letzten Dollars verbraucht. Eins nach dem anderen wanderten die kostbaren Gefäße zu Altmetallhändlern, während die Hoffnung, einen neuen Job zu finden, immer tiefer sank . . . bis dann ein Zufall – war's ein übler, war's ein guter? – ihn in einem Lunchingroom an den gleichen Tisch führte, an dem Bigot saß. Ein kurzes Alltagsgespräch, in dem er seine vergebliche Suche nach einem Job erwähnte. Schnell hatte der gerissene Franzose in ihm einen Fachgenossen entdeckt und weiter erkannt, daß er hier einen geeigneten Helfershelfer für seine zweifelhaften Pläne werben könne, hatte ihm eine rosige Zukunft ausgemalt.
Er selber, hoffnungslos, durch seine Tat in USA gefährdet, hatte das Anerbieten Bigots, mit ihm nach Europa zu gehen, wie eine Befreiung empfunden, hatte bedingungslos eingewilligt, ohne zu ahnen, in was für Hände er damit geriet.
Klein und verächtlich hatte er sich seinem neuen Brotgeber gegenüber gefühlt, während der Überfahrt und auch noch wochenlang in Paris, bis der allmählich die Maske fallen ließ. Unvollkommenes Stückwerk waren die großen Erfindungen noch, mit denen der Franzose sich vor ihm gebrüstet hatte. Durch Lug und Trug suchte Bigot sich in Paris neue Helfer zu verschaffen. Durch Taschenspielerkunststücke galt es, vertrauensselige Kapitalisten zu täuschen und einzufangen . . .
Als er es erkannte, hatte Hartford sich dagegen zur Wehr gesetzt, doch zu viel wußte der andere bereits von ihm; mit einem vielsagenden Blick erwähnte Bigot nur eine Platinschale, die er bereits während der Überfahrt in Hartfords Gepäck gesehen hatte, und machte ihn dadurch gefügig.
Lange Wochen hindurch war dann das Gaukelspiel gegangen, in dem der frühere Laborant in der Rolle seines Chefs auftreten mußte. Denn auch dafür hatte Bigot vorgesorgt. Noch in New York hatte er sich jenes falsche Diplom verschafft, das Percy Hartford zum Professor machte. Nur ein kleiner Fehler war ihm dabei unterlaufen: Nicht auf den Namen James, sondern auf Percy lautete dies sonst so prunkvolle Dokument, ein Versehen, das sich folgenschwer auswirken sollte. –
Mit einem Seufzer setzte Hartford sich aufrecht, als könne er dadurch der quälenden Erinnerungen besser Herr werden, doch auch so verließen sie ihn nicht. War er denn wirklich ein Verbrecher von Geburt und Anlage? . . . Hatte er nicht schließlich die unehrlichen Manöver, zu denen seine Partnerschaft mit Bigot ihn nötigte, mit einer gewissen Lust ausgeführt und aus eigenem neue, noch raffiniertere hinzuerfunden? Hatte es ihm nicht geradezu Freude gemacht, den Gesetzen ein Schnippchen zu schlagen und mit der Gefahr zu spielen? . . . Bis jener Überfall auf Bigot ihn den Abgrund erkennen ließ, an dessen Rande er wandelte. Er hatte die Gelegenheit benutzt, sich von Bigot zu trennen, als der zerschunden und zerschlagen daniederlag – aber war seine eigene Lage dadurch besser geworden? Saß er nicht auch hier auf einem Vulkan? Mußte er nicht jeden Augenblick eine Entlarvung fürchten . . . zur Flucht bereit sein, sowie einer von ihnen kam, die er kannte, sein alter Chef oder Mr. Spranger? Waren sie nicht vielleicht schon auf dem Wege hierher?
Er durfte keine Zeit verlieren. Kostbar waren die Stunden, vielleicht sogar die Minuten für ihn.
Er erhob sich, stand eine Weile wie benommen, versuchte, sich zu fassen, zu gesammeltem Denken zu zwingen. Was war das Wichtigste, das Nächstliegende? Mit Bruck mußte er unter vier Augen sprechen, ihn bis zum letzten aushorchen und dabei doch immer auch gegenüber dem in der Rolle des Professors aus Schenektady bleiben. Keine leichte Aufgabe, aber es mußte versucht werden.
Das Zimmer Brucks lag unmittelbar neben dem Raum, der Hartford angewiesen war; das hatte er noch erspäht, als der alte Diener Eisenlohrs ihn hierherauf führte. Ein Geräusch von nebenan verriet ihm, daß dort jemand war . . . vielleicht Bruck. Er beschloß, den Versuch zu wagen, ging hin und klopfte.
»Herein!« antwortete drinnen die Stimme Brucks. Hartford trat ein. Er fand Bruck an einem Tisch sitzend, über Berechnungen und Formeln gebeugt, die ihm von seiner Tätigkeit bei Bigot her nicht unbekannt waren.
Immer noch jagte Bruck in jeder freien Stunde dem Phantom der Metallumwandlung nach. Immer noch träumte er von den Millionen, die Bigot ihm vorgespiegelt hatte. Praktisch konnte er zur Zeit nicht daran arbeiten, weil ihm die Apparatur fehlte, aber wenigstens theoretisch versuchte er es unentwegt, eine Lösung des Problems zu finden.
Im ersten Augenblick schien Bruck unwillig über die Störung zu sein, doch als er den Amerikaner erblickte, den Mann, von dem er für sich eine neue bessere Zukunft erhoffte, begrüßte er ihn mit offensichtlicher Freude.
»Ich sehe, Herr Kollege«, sagte Hartford mit einem Blick auf die Formeln, »daß Sie sich für die Metallumwandlung interessieren, obwohl Herr Eisenlohr nicht viel damit im Sinn zu haben scheint.«
»Leider, Herr Professor, ist es so«, meinte Bruck mit einem leichten Seufzer. »Der Chef geht schon wieder ganz anderen Dingen nach und hält vieles vor seinen ältesten Mitarbeitern geheim. Es ist kein rechtes Vertrauen mehr da. Von seinen Plänen mit dem strahlenden Pulver erfuhr ich zum erstenmal heut bei Tisch etwas.«
»Oh, das ist bedauerlich!« sagte Hartford, ganz in der Rolle eines wohlwollenden Chefs. »Ich halte das in Schenektady grundsätzlich anders, ich weiß, daß Geheimniskrämerei und ersprießliche Zusammenarbeit sich nicht vertragen. Übrigens, im Vertrauen gesagt, Herr Doktor, teile ich die Ansicht Ihres Chefs über die Metallumwandlung nicht. Ich halte das Problem im Gegenteil für recht aussichtsreich und« – Hartford machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach – »unter gewissen Umständen auch für recht lohnend für den, der es löst.«
Dr. Bruck hatte bei den Worten des Amerikaners ein Gefühl, als ob ihm ein elektrischer Schlag durch die Glieder ginge. Dieser Professor aus Schenektady war doch ein anderer Mann als Eisenlohr. Der hielt eine Lösung für möglich, und der sah auch die riesenhaften Gewinnmöglichkeiten, die in ihr lagen. Wie angenehm mußte es sich mit ihm arbeiten lassen!
Als ob Hartford die Gedanken Brucks erraten hätte, sprach er weiter: »Wir werden nach meiner Abreise in Verbindung bleiben, Herr Kollege. Nach Ihren Arbeiten hier«, er deutete auf die Berechnungen und Formeln auf dem Tisch, »möchte ich Sie unter allen Umständen für Schenektady gewinnen, aber Sie begreifen wohl, daß die Angelegenheit diskret geführt werden muß. Ich werde postlagernd Ihlefeld mit Ihnen korrespondieren.«
Bruck gab seiner Freude über das Angebot Hartfords unumwunden Ausdruck. Er sah sich bereits in einer angenehmen, gut dotierten Stellung im National-Laboratorium von Schenektady. Auch Hartford war mit der Entwicklung der Dinge zufrieden. Er glaubte Bruck jetzt sicher genug an sich gefesselt zu haben, um ihn bis aufs letzte ausholen zu können. Eben wollte er damit beginnen, als ihm Bruck noch einmal mit etwas anderem kam.
»Verzeihung, Herr Professor«, fragte er in Erinnerung an die Wechsel Bigots, die er noch immer in seiner Tasche trug, »Sie erwähnten bei Tisch einen französischen Physiker namens Bigot. Wissen Sie zufällig etwas Näheres über ihn?«
Hartfords Miene wurde abweisend. »Ich weiß nur, Herr Doktor, daß er ein großer Schwindler vor dem Herrn ist. So oder wenigstens ähnlich so soll Mister Kelly in einem Brief sich ausgedrückt haben.«
Bruck sah im Geiste die Millionen der Firma Kelly and Company, von denen er so lange geträumt hatte, zerflattern.
»Die Vermögensverhältnisse des Herrn Bigot sind wohl nicht sehr gut?« fragte er unsicher.
»Sehr gut?!« Hartford lachte. »Ich glaube, Monsieur Bigot weiß im Augenblick nicht, wie er sein Zahnpulver und seine Zigaretten bezahlen soll. Soviel ich hörte, sitzt er nach der endgültigen Absage Mister Kellys vollkommen auf dem trockenen.«
Unbewußt fuhr sich Hartford dabei über die Rockseite, unter der die Dollarnoten knisterten, die, wenn Ehrlichkeit auch unter Gaunern gilt, eigentlich Bigot zukamen. Zur gleichen Zeit spürte Bruck, wie Papiere in seiner Rocktasche, die er immer noch für Wertpapiere angesehen hatte, wertlose Papierfetzen wurden.
Für einen Beobachter und Menschenkenner vom Range Hartfords verrieten seine Mienen genügend viel von dem, was in ihm vorging.
Ich habe dir eben eine bittere Pille versetzt, mein Lieber, ging es Hartford durch den Sinn. Du denkst jetzt an die famosen Wechsel Bigots. Ich werde dir einen anderen Trost dafür geben müssen, und laut fuhr er fort: »Ich begreife nicht, wie sich Kelly, der als ernsthafter Geschäftsmann gilt, mit einem Menschen wie Bigot überhaupt einlassen konnte«; er mußte im gleichen Augenblick wieder zwangsläufig denken: Du Narr hast es ja selber getan, sprach weiter: »Seien Sie überzeugt, Herr Doktor, daß Sie bei unserer Zusammenarbeit viel besser fahren werden als mit Bigot.«
Kaum war das Wort heraus, als Hartford seinen Fehler einsah. Das hätte er nicht sagen dürfen. Hier war er aus seiner Rolle gefallen. Wie konnte Professor James Hartford um die dunklen Geschäfte zwischen Bigot und Bruck wissen? Auch Bruck stutzte. Er hatte im selben Moment den gleichen Gedanken und sah Hartford verwundert an.
Eine Gesprächspause entstand und wurde drückend. Hartford fühlte, daß er sie nicht länger währen lassen durfte.
»Nun ja, Herr Kollege«, begann er in leichtem Plauderton. »Man hört so mancherlei, wenn man die Ohren offenhält. Gewisse Gründe . . . es ist nicht nötig, sie hier zu erwähnen . . . veranlaßten mich in Paris, mich etwas genauer um diesen Bigot zu kümmern. Erst hat er versucht, an Ihren Chef heranzukommen. Nachdem ihm das mißglückte, soll er auch versucht haben – ich erfuhr es gerüchtweise –, mit Ihnen in Verbindung zu treten . . .«
»Ein Irrtum, Herr Professor!« unterbrach ihn Bruck. »Es ist mir unbegreiflich, wie solche Gerüchte aufkommen konnten. Ich habe nie an etwas Derartiges gedacht.«
Mit einem freundlichen Lächeln schluckte Hartford die Lüge Brucks. »Ich bin überzeugt davon, Herr Doktor«, meinte er immer noch lächelnd. »Ich hätte es Ihnen aber auch nicht verdacht, wenn Sie sich den Mann angehört und sogar angesehen hätten. Jeder, der heut im Leben vorwärtskommen will, muß alle Chancen, die sich ihm etwa bieten, prüfen . . .«
»Bei einem Menschen wie Bigot hätte ich nicht einmal das getan«, log Bruck weiter.
»Um so besser, Herr Kollege«, lenkte Hartford ein. »Sie sehen, wie leicht Gerüchte entstehen können. Doch lassen wir das. Monsieur Bigot ist erledigt. Wir vertrödeln unnütz die Zeit mit ihm. Sprechen wir lieber von der Zukunft. Ich rechne bei der Metallumwandlung auf Ihre Mitarbeit. Ich denke, ich werde Ihnen Bedingungen bieten können, die Sie voll befriedigen.«
»Sehr liebenswürdig«, murmelte Bruck, und nun konnte Hartford endlich zu seiner eigentlichen Absicht kommen. Restlos und bis aufs letzte quetschte er aus Bruck alles heraus, was der über die Metallumwandlung wußte. Geschickt führte Hartford das Gespräch dabei vom Standpunkt eines Chefs, der für seinen künftigen Mitarbeiter schon alle Apparaturen vorbereiten will und deshalb natürlich genaue Daten und Angaben nötig hat. Als Hartford nach einer guten Stunde sein Notizbuch zuklappte, konnte er befriedigt feststellen, daß sein Besuch auf der Eulenburg schon recht lohnend gewesen war.
»Unsere Arbeiten in Schenektady werden in erster Linie der Metallumwandlung gewidmet sein, Herr Doktor«, beendete Hartford diesen Teil ihrer Unterredung. »Ich halte das zunächst für das wichtigste. Ich will mich von der Linie, die ich mir für meine Arbeiten gesetzt habe, nicht abdrängen lassen; aber trotzdem muß ich Ihnen sagen, Herr Kollege: Ihr Chef hat mir heute bei Tisch mit seinen Plänen imponiert.«
»Sie meinen seine landwirtschaftlichen Ideen?« fragte Bruck.
Hartford nickte. »Jawohl, Herr Doktor, die meine ich. Wenn es ihm gelingt, sich einen guten Patentschutz zu sichern, kann es ein Bombengeschäft für ihn werden. Hat er schon Vorversuche in größerem Maßstab gemacht? Wissen Sie, wie sie ausgefallen sind?«
Bruck sah auf die Uhr. »Herr Eisenlohr und Professor Braun sind um diese Zeit unten bei den Karbidöfen«, sagte er überlegend. »Eine gute Gelegenheit, um Ihnen etwas zu zeigen, Herr Professor. Wir müssen dazu in den Wald hinaus. Es ist nicht unbedingt notwendig, daß man uns fortgehen sieht.«
Hartford nickte verständnisvoll. »Ich verlasse mich auf Ihre Führung, Herr Doktor.« –
Bruck ging voraus, um den Weg zu weisen; durch lange, mehrfach gewundene Korridore zunächst, weiter dann über eine schmale Wendeltreppe nach unten. Winzige Fensteröffnungen in dem meterstarken Zyklopenmauerwerk, das Menschenhand vor mehr als einem halben Jahrtausend gefügt hatte, erhellten zuerst noch den Weg. Dann hörten sie auf, Bruck mußte seine Taschenlampe zu Hilfe nehmen. Am unteren Ende der schmalen Stiege machte er halt.
»Ein romantischer Weg!« murmelte Hartford vor sich hin und wischte sich ein paar Spinnweben vom Ärmel.
»Eine Art Notausgang, Herr Professor«, erklärte Bruck. »Die alten Raubritter waren umsichtige Leute. Sie haben für alle Fälle Vorsorge getroffen; wenn eine Belagerung brenzlig wurde, konnten sie sich immer noch auf französisch empfehlen.«
Gut, wenn man das immer kann, dachte Hartford bei sich, während Bruck einen Schlüssel von vorsintflutlichen Formen und Abmessungen hervorholte und sich damit an einer schmalen Tür aus starken Eichenbohlen zu schaffen machte. Er mußte den Weg wohl schon öfter benutzt und das alte Schloß gut geölt haben, denn lautlos folgte es dem Druck des Schlüssels. Die Tür ging auf, ein enger in den Basalt des Berges gehauener Weg lag vor ihnen.
»Müssen wir hier durch?« fragte Hartford zweifelnd. Bruck nickte. Beim Schein der Taschenlampe schritten sie weiter. Hundert Meter . . . zweihundert Meter . . . Hartford wußte die Weglänge nicht mehr zu schätzen und atmete bedrückt, als ihnen ein frischerer Luftzug entgegenschlug. Etwas Helles wie Tageslicht schimmerte einige Meter voraus. Über zerfallenes Gestein mußten sie nach oben steigen und standen in einem dichten Gebüsch im Freien.
»Eine eigenartige Verkehrsgelegenheit«, meinte Hartford kopfschüttelnd.
»Aber praktisch, Herr Professor, wenn man die Burg unbeobachtet betreten oder verlassen will. Ich habe den alten Gang einmal zufällig entdeckt, Herr Eisenlohr weiß gar nicht, daß er vorhanden ist.«
Bruck hielt es für unnötig, etwas von seinen nächtlichen Ausflügen zu dem Teich zu erwähnen, und Hartford fragte auch nicht weiter; er dachte sich nur sein Teil und folgte Dr. Bruck, der auf einem kaum erkennbaren Pfad ging, bis sie an einen etwas breiteren, talwärts führenden Weg kamen.
»Schöner Wald!« sagte Hartford stehenbleibend und musterte die mächtigen Buchen und Eichen, die hier einen gemischten Bestand bildeten.
»Noch richtiger Urwald, Herr Professor. Seit Jahrzehnten ist hier nichts mehr geschlagen worden. Aber das wollte ich Ihnen nicht zeigen, sondern das da vor uns. Sie werden es gleich aus der Nähe sehen.«
Bruck ging weiter, während Hartford an seiner Seite blieb. Ein wenig breiter wurde jetzt der Weg, zu beiden Seiten trat der Forst etwas zurück, und Hartford sah auf Wiesenstreifen, deren Vegetation ihn verblüffte. Was auf den Waldwiesen Mitteldeutschlands zu wachsen pflegt, stand hier in üppiger Blütenpracht. Gelber und roter Fingerhut, Weiderich und blaue Glocken, Farren verschiedener Art dazwischen, dies alles aber in einer Üppigkeit und Größe, die in Hartford die Erinnerung an die Tropen lebendig werden ließ. Reichlich mannshoch waren die breit ausladenden Wedel des Farnkrautes, weit über Mannshöhe reckte der Fingerhut seine Schäfte empor. Reichlich Faustgröße hatten die Blüten der Glockenblume, einen ähnlichen Riesenwuchs zeigte das Gras dazwischen.
Hartford stand und staunte. Erst nach langem Schweigen fand er Worte. »Das ist phänomenal, Herr Doktor. Ist das . . .«
»Ein Versuchsfeld Eisenlohrs, Herr Professor. Vor einer Woche kam ich das erstemal hierher. Es ist seitdem mächtig weiter gewachsen. Damals glaubte ich noch, daß der Chef hier ebenso wie an einem Teich weiter unten mit Strahlröhren experimentierte. Seit heute mittag denke ich anders darüber. Jetzt bin ich mir sicher, daß er hier den strahlenden Stoff ausgestreut hat. Wann? . . . Wieviel? . . . Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Professor Hartford.«
Percy Hartford ging ein paar Schritte in die Wiese hinein. Bis weit über die Knie reichte ihm das saftstrotzende Gras. Bei einer Fingerhutstaude machte er halt und versuchte, einen ihrer Blütenschäfte mit der Hand zu umspannen. Sie langte nicht, er mußte die andere zu Hilfe nehmen.
»Phantastisch!« stammelte er benommen. »Wenn ich's nicht mit meinen eigenen Händen griffe und mit meinen Augen sähe, ich würde es nicht für möglich halten. Hier ist Eisenlohr ein großer Wurf gelungen. Jetzt kann ich's begreifen, daß er alles andere darüber beiseitestellt . . . solch Riesenwachstum . . .«, er sprach mehr zu sich selbst als zu Bruck weiter, »noch mitten im September . . . es könnte in Zukunft zwei Ernten im Jahre geben . . . Bei Gott, das ist groß . . . wer da mittun könnte . . .«
Sein Blick fiel auf Bruck, er besann sich wieder auf seine Rolle und daß er hier nicht sprechen durfte, wie ihm ums Herz war.
»Hat Herr Eisenlohr noch mehr Versuchsfelder?« fragte er. »Sie sprachen von einem Teich, Herr Doktor.«
Bruck sah wieder auf die Uhr, bevor er antwortete. »Jawohl, Herr Professor. Die Zeit wird langen, wir können noch hingehen.«
Sie folgten dem Weg talwärts und standen nach wenigen Minuten am Teichrand. Hartford musterte die Umgebung und schien enttäuscht.
»Ich hätte hier mehr erwartet«, antwortete er auf eine Frage Brucks. »Das Schilf drüben ist mächtig, aber nach dem, was ich eben sah, kann es mich nicht mehr überraschen.«
Bruck setzte eine überlegene Miene auf. »Die Überraschung steckt im Wasser, Herr Professor. Sie werden es gleich sehen.« Er ging zu dem Gebüsch, holte die Bohle hervor und kippte sie zu dem Stein hinüber.
»Jetzt aber bitte ich um äußerste Vorsicht, Herr Professor!« sagte er, während er auf dem schwankenden Brett voranging. »Hier steht eine Strahlröhre, die unter Hochspannung arbeitet. Sie dürfen ihr nicht zu nahe kommen. Halten Sie sich hier auf dem äußersten Rande des Steines.«
Er griff nach einem Käscher, der im Schilf lag, und ließ sich auf die Knie nieder; Hartford folgte seinem Beispiel. Bruck strich mit dem Käscher ein paarmal durch das Wasser und zog ihn mit allerlei Schleimigem, Undefinierbarem gefüllt wieder heraus. »Sehen Sie hier, Herr Professor«, erklärte er, während er den Inhalt aus dem Stein ausbreitete. Hartford betrachtete kritisch, was Bruck ihm wies.
»Das scheinen Gasträaformen zu sein«, meinte er nach kurzer Prüfung. »Hm, das ist ja eigenartig. Soviel ich davon verstehe, kommen diese Urformen der Hohltiere sonst nur im Meer vor. Merkwürdig, daß sie sich hier in einem Tümpel gehalten haben.«
»Sie haben sich nicht gehalten! Sie sind hier unter dem Einfluß der Strahlung neu entstanden, Herr Professor«, fiel ihm Bruck ins Wort. »Sie wissen, die Urzeugung! Das Steckenpferd Eisenlohrs! . . . Er hat das erste Leben, das sich in seinen Reagenzgläsern bildete, in diesen Teich getan, hat es hier wochenlang weiter bestrahlt . . . was daraus geworden ist, sehen Sie da vor sich . . . höhere Lebensformen. Was die Natur in Hunderttausenden von Jahren bildete, hat sich hier unter der Wirkung der starken Strahlung in wenigen Wochen entwickelt . . . Der Himmel mag wissen, wie das noch weitergehen soll.«
»Erstaunlich!« murmelte Hartford und griff nach dem Käscher, den Bruck neben sich auf den Fels gelegt hatte. Sich vorbeugend zog er ihn durch das Wasser, während seine Augen etwas zu suchen schienen. Mit einem Ruck zog er das Netz wieder heraus. Er hatte darin gefangen, was er soeben erspähte. Glasig zappelte es in den Maschen.
»Was haben Sie? Einen Fisch, Herr Professor?« fragte Bruck. Hartford griff in den Käscher und holte ein zappelndes fischartiges Lebewesen heraus.
»Ein Fisch, der noch nicht ganz fertig ist, Herr Doktor«, sagte er, während er es Bruck hinhielt. »Das Ding hat noch kein Rückgrat, aber immerhin schon ein Bauchgrat. Wenn die Entwicklung in dem Teich hier so weiter geht, dann ist's bis zum Lanzettfisch kein weiter Weg mehr und ein kurzer Sprung nur noch bis zum ersten Wirbeltier, zum wirklichen Fisch. Es ist unfaßbar, was hier geschieht.«
Bruck merkte wohl, wie hingerissen Hartford von dem eben Gesehenen war. Er wurde besorgt, daß der Professor an ähnlichen Seitenwegen der Forschung Geschmack finden könnte wie Eisenlohr.
»Gewiß ist es wissenschaftlich interessant«, begann er tastend, »aber eigentlich doch ziemlich überflüssig. Was hat es für einen Zweck, künstlich nachzumachen, was die Natur schon lange gekonnt hat?«
»Zweck, Herr Doktor?! Wer fragt bei solcher fundamentalen Entdeckung nach dem Zweck?« Ohne es zu wollen, ohne es überhaupt zu wissen, sprach Percy Hartford ganz im Geiste eines echten Wissenschaftlers weiter. »Diese Entdeckung allein würde Eisenlohr für immer einen ehrenvollen Platz in den Annalen der Forschung sichern. Und wer weiß denn, Herr Doktor, wie die Entwicklung noch weiter läuft, wenn die ultrafrequente Strahlung sie millionenfach beschleunigt? Vom kaltblütigen Wirbeltier, dem Fisch, bis zum warmblütigen Säuger ist der Weg kürzer als von der Amöbe zum Fisch . . .«
Immer schneller, immer erregter sprach Hartford. Eine Begeisterung schien über ihn zu kommen. Wie von der eigenen Ideenflut fortgerissen, sprach er weiter:
»Das Ende der Entwicklung, Herr Doktor . . . es könnte die Erfüllung eines uralten Wunschtraumes bringen . . . die künstliche Erschaffung eines uns ähnlichen Wesens, des Homunkulus . . .«
Während er die letzten Worte sagte, wollte er sich aufrichten. Bruck sah die Gefahr, die von der nahen Strahlröhre drohte, griff zu, um Hartford zurückzuziehen, und kam der Röhre dabei selbst zu nahe.
Krachend, blitzartig schlug ein Funke von dem Stativ zu ihm hinüber. Wie vom Schlage getroffen, sackte er zusammen. Nur durch einen festen Griff konnte Hartford verhüten, daß er ins Wasser stürzte. Leichenblaß, die Augen verdreht, lag er regungslos da.
Weg von hier! Weg von der gefährlichen Röhre, die jeden Augenblick aufs neue Tod und Verderben spritzen kann! wirbelte es Hartford durch den Kopf. Vorsichtig kriechend, sich tief duckend, den hilflosen Körper Brucks hinter sich her ziehend, gelangte er über die Bohle wieder auf festes Land. Dort erst vermochte er freier zu denken und seines Entsetzens Herr zu werden. Auf den Waldrasen legte er den von der Hochspannung Getroffenen, öffnete ihm die Kleidung und fühlte nach Herz und Puls. Nur schwach, kaum merkbar gingen sie noch. Jeden Moment drohte das Leben zu erlöschen.
*