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Die Geschichte von der Intoxikation – auf deutsch Betrunkenheit – war eine schnöde Verleumdung des braven alten Zacharias. Stocknüchtern war der nach seinem Schöppchen Bier aus dem Heidekrug gegangen und gemächlich die Dorfstraße entlang gebummelt. Erst als er Turner mit seinem Auto abbrausen und an der andern Seite des Dorfes verschwinden sah, machte er halt und kehrte langsam in den Krug zurück. Dort hatte er den Wirt allerlei zu fragen, was ihn interessierte, und auf manche Frage bekam er auch Antwort. Wer zum Beispiel außer dem Amerikaner noch in der Wirtschaft gewesen wäre? Das war schnell gesagt. Nur zwei Lastwagenchauffeure mit ihren Beifahrern: Krischan Jürgen aus Hildesheim und Hannes Schulte aus Nienburg. Schon seit Jahren rollten sie mit ihren Lastzügen zwischen der Reichshauptstadt und dem Rheinland hin und her und pflegten, wenn es irgendwie paßte, in dem Heidekrug Station zu machen.
Wohin sie jetzt führen, wollte Zacharias weiter wissen. Genau konnte der Wirt es ihm nicht sagen. Etwa nach Düren oder Aachen, glaubte er gehört zu haben. Und dann – der Wirt schien großen Wert darauf zu legen, dem Alten gefällig zu sein – ließ er einen Ratschlag einfließen:
»Gewöhnlich machen die beiden auf ihrer Tour in Strömen Mittag. In zwei bis drei Stunden könnte man sie da vielleicht telephonisch erreichen.« –
Turner fuhr auf der breiten spiegelglatten Landstraße nach Westen. Öfter als einmal unterlag er der Versuchung, den Fuß auf den Gashebel zu setzen, und in wenigen Sekunden kletterte sein Tachometerzeiger dann über die hundert Kilometer herauf, aber jedesmal zog er ihn bald wieder zurück. Es hatte keinen Sinn, so zu jagen, wenn er die Lastwagenchauffeure bei ihrer nächsten Rast treffen und nach Möglichkeit ausholen wollte. Die machten mit ihren schweren Zügen höchstens sechzig Kilometer, und es war angebracht, sich auf diese Geschwindigkeit einzustellen, wenn er seinen Plan vernünftig und vor allen Dingen unauffällig durchführen wollte.
»Pfut, pfut!« sagten die Straßenbäume jedesmal, wenn sein Wagen an ihnen vorüberschoß. »Pfit, pfit!« sagten die schmaleren Masten der Telephonleitung, welche die Landstraße begleiteten.
Hätte Mister Turner ahnen können, was sich in den blanken Drähten, auf den weißen Isolatoren da oben abspielte, so wäre er seines Sieges vielleicht etwas weniger sicher gewesen. Bei aller sonstigen Gerissenheit fehlte Turner doch noch einiges technische Material für seinen Beruf. Hätte er zum Beispiel ein Paar Steigeisen besessen und einen kleinen Telephonapparat, den man in jeder Brusttasche bequem unterbringen konnte, so hätten diese Dinge ihm im Augenblick recht nützlich sein können. Er hätte sich dann mit Leichtigkeit in die Straßenleitung einschalten und hören können, was Meister Horn, der Wirt des Heidekrugs, gerade mit dem Rautenwirt in Strömen zu verhandeln hatte, und er wäre zweifellos in einiges Staunen darüber geraten.
»Hör mal tau, Krischan!« sagte Klas Horn in diesem Augenblick in seiner Krugstube, und der elektrische Strom trug seine Worte getreulich hundertfünfzig Kilometer weiter nach Westen. »So gegen drei Uhr herum werden wohl die beiden Lastwagenchauffeure – du weißt ja, der dicke und der lange –, bei dir Mittag machen. Rop mi an, wenn se da sind!«
»Wird gemacht, Klas«, sagte der Rautenwirt und hängte den Hörer wieder an den Haken.
Mister Turner konnte aus dem bereits erwähnten Grunde von dieser Unterhaltung nichts hören. In einem für seinen schnellen Personenwagen mehr als gemütlichen Tempo fuhr er weiter nach Westen, bis nach geraumer Zeit der Kirchturm von Strömen sichtbar wurde. Enge winklige Straßen nahmen ihn auf. Vielleicht, daß die Leute, hinter denen er her war, hier Rast gemacht hatten. In der Tat brauchte er nicht allzulange zu suchen. Vor der einzigen Kirche des Fleckens war ein größerer Platz, und auf ihm parkten mehrere Lastzüge. Woanders hätten sie in dem reichlich verbauten Städtchen kaum eine Gelegenheit dazu gefunden. Gegenüber dem Platz stand ein alter Gasthof. »Zum Rautenkranz« war auf dem Schild zu lesen, und die Umrahmung bildete das sprechende Wappen dazu.
Also wollen wir's hier mal versuchen, dachte Turner, während er sein Auto neben den Lastwagen abstellte, und ging in die Wirtsstube.
Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. Da saßen seine vier Freunde, auf die er aus war, mit noch einigen andern von der gleichen Branche an einem langen Tisch zusammen. Offenbar waren die vier letzten erst ganz vor kurzem in die Wirtschaft gekommen, denn sie hatten noch nicht einmal Getränke vor sich stehen, während die andern sich bereits mit ihrem Mittagsmahl beschäftigten. Mister Turner nahm dicht nebenan Platz, versuchte hier und dort eine Bemerkung aufzuschnappen und wartete auf eine Gelegenheit, sich selber ins Gespräch zu mischen.
Allzulange dauerte das nicht. Am andern Tisch kamen sie auf den Heidekrug zu sprechen. Für Mister Turner war das ein gegebener Anlaß, in die Unterhaltung einzuhaken und den Krug über den grünen Klee zu loben. Das wollten die andern aber nicht wahrhaben und ließen allerlei absprechende Bemerkungen über den Kaffee des Heidekruges fallen. Wie von selbst kam das Gespräch dann auf andere Stammlokale der Chauffeure, und ganz unmerklich wußte Mister Turner das Gespräch so zu drehen, daß man dabei immer weiter nach Westen geriet, ins Rheinland hinein. Über Essen und Köln kam man allmählich nach Düren, denn da wollte Mister Turner, wie er zur Erklärung angab, jetzt gerade hinfahren, um einen alten Freund aufzusuchen.
Nun, da konnten die Chauffeure ihm reichlich mit guten Hinweisen dienen. Düren war ja eine ganz ansehnliche Stadt, und sie überstürzten sich mit Ratschlägen, soweit es sich um Wirtshäuser und Hotels handelte. Auch die früher gekommenen Fahrer beteiligten sich lebhaft an dieser Unterhaltung. Offenbar machte es ihnen Vergnügen, Mister Turner, den sie an seinem Akzent schnell als Ausländer erkannt hatten, nützlich zu sein.
Aber dem Agenten Mr. Headstones lag viel weniger an Wirtshäusern als an Industriewerken, und auch darüber hörte er bald manches, was ihm höchst nützlich und wichtig erschien. Aufschreiben konnte er sich's hier nicht, denn dazu saß er zu sehr in Sicht der anderen, aber in seinem Gedächtnis verankerte er es sich. Das große Leichtmetallwerk besonders, von dem aus der eine Chauffeur die Kabeltrommeln nach dem AE-Werk gebracht hatte. Er wußte, als er den Namen hörte, Bescheid. Es war das gleiche Werk, das auch den deutschen Luftschiffbau mit Bauteilen aus einer besonderen Aluminiumlegierung belieferte.
Nur auf eine Sache konnte er sich keinen rechten Vers machen. Die Leute waren nicht nur mit voller Ladung von Düren in die Heide gefahren. Sie hatten auch volle Trommeln dorthin gebracht und später wieder nach Düren zurücktransportiert. Turner versuchte gerade noch etwas Näheres über diesen Vorgang herauszubekommen, als der Rautenwirt auftauchte und einen der Chauffeure anrief: »Hinrich, du sollst mal ans Telephon kommen!«
»Hol der Deibel die Firma!« knurrte der Angerufene ärgerlich. »Wir werden uns bald mal eine andere Kneipe suchen müssen, wenn wir ungestört Mittag essen wollen.«
Damit verschwand er in einem Hinterraum, in dem das Telephon hing, fest überzeugt, daß seine Firma ihm irgendwelche Aufträge wegen Übernahme neuer Ladung geben wollte.
Aber nicht die Firma war am Apparat. Dafür hörte er die ihm wohlbekannte Stimme des alten Zacharias, und was der ihm erzählte, stimmte ihn ziemlich nachdenklich.
»Na, was will der Alte?« fragte sein Mitfahrer, als er an den Tisch zurückkam.
»Dumme Sache! Natürlich wieder unbequeme Zuladung. Werden eine Schleife einlegen und unsere Tour ändern müssen«, knurrte er den Frager unwillig an. »Ja, Peter, ich muß dir das genau verklaren.« Damit zog er ihn zum Fenster und tuschelte ein paar Minuten mit ihm. Als sie wieder an den Tisch zurückkamen, warf der Mitfahrer seinem Nachbar ein paar Sätze in breitestem Platt zu, von denen Mister Turner auch nicht ein einziges Wort zu verstehen vermochte. Der so Angeredete sprach wieder mit dem nächsten, und von diesem Augenblick an wurde die Unterhaltung für Mister Turner höchst unergiebig.
Nicht etwa, daß sie eingeschlafen wäre. Im Gegenteil bemühten sich seine Tischgenossen mehr denn je, dem Amerikaner mit guten Ratschlägen betreffend Unterkunft und Verpflegung zu dienen, und man mußte es ihnen lassen, daß sie auf diesem Gebiet wohlbeschlagene Fachleute waren.
Nur über Industriewerke vermochte Turner nichts mehr in Erfahrung zu bringen. Da glitten alle seine Bemühungen ab wie von einer geölten Wand, und wo er doch einmal etwas erhaschte, konnte er aus seiner eigenen Kenntnis schnell feststellen, daß es wenig Wertvolles und zum Teil sogar Unzutreffendes war.
Mister Turner war zu lange im Fach, um sich nicht seinen Vers auf die veränderte Situation zu machen. Wahrscheinlich hing die Sache mit dem Telephongespräch zusammen, aber daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Jedenfalls war ihm auch das, was er vor diesem Fernruf gehört hatte, den Aufenthalt hier reichlich wert. Ein Weilchen beteiligte er sich noch an der allgemeinen Unterhaltung, dann empfahl er sich und stieg in seinen Wagen. Düren war jetzt das Ziel, das er sich gesetzt hatte. Bis zum Abend konnte er es bei scharfer Fahrt erreichen. Am nächsten Tage wollte er weiter sehen, was es dort für ihn zu holen gab.
*
Ein Brief mit dem Poststempel »Crippel-Creek, Kolorado« war auf den Tisch von Mister Headstone in New York geflattert. Ein Schreiben, das die Zustimmung Headstones zu den Vorschlägen Fosdicks und außerdem einen angemessenen Scheck enthielt, ging nach Kolorado zurück, und daraufhin traf Mister Fosdick seine Maßnahmen.
Die Aufgabe, um die es sich drehte, hatte es, wie man so zu sagen pflegt, in sich. Das gefundene Netz aus den Rocky Mountains zu bergen, klang zunächst sehr einfach. Wer es aber einmal miterlebt hat, was ein Stahldrahtseil, von Zug und Zwang befreit und sich selber überlassen, alles anzurichten vermag, der hätte die Aufgabe wohl mit andern Augen angesehen. Daß solch ein Seil sich in den verrücktesten Windungen und Schleifen wie eine tollgewordene Riesenschlange krümmt, ist vielleicht noch das Harmloseste. Im vorliegenden Fall tat die Gegend, in der das entflohene Netz gelandet war, noch das ihrige hinzu. In der hohen Lage von etwa zweitausend Meter gab es Zacken und Felsnadeln von phantastischen Formen, und wo dazwischen einmal ein ebener Hang lag, da war er mit verkümmertem Kieferngestrüpp bewachsen, das seinerseits Verwirrung in das früher einmal so schöne und regelmäßige Netz brachte.
Nach einigen Bemühungen hatte Mister Fosdick einen deutschstämmigen Weißen aufgegabelt, der seit längerer Zeit arbeitslos war und sich in Ermangelung von etwas Besserem für diesen Job anheuern ließ. Der Mann hatte früher einmal Schmidt geheißen, nannte sich jetzt natürlich Smith und war seines Zeichens ein Schmied, paßte also einigermaßen für das Geschäft, das hier zu erledigen war. Außerdem bestand die Mannschaft Fosdicks aus zwei Mischlingen, die wenigstens an das Hochklima gewöhnt waren, während man über ihre Arbeitswilligkeit billig Zweifel hegen konnte, und schließlich gehörten zu der Expedition noch sechs kräftige Mulos, die wohl als die zuverlässigsten Mitglieder des Trupps gelten durften.
»In einem Stück bekommen Sie das Ding bestimmt nicht zu Tal«, behauptete Mr. Smith mit Entschiedenheit, als man ihn in die Einzelheiten der Aufgabe einweihte. »Sie werden das Drahtgeflecht in passende Stücke zerschneiden und in einzelnen Maultierlasten abtransportieren müssen.«
Auf seinen Rat hatte man sich denn auch reichlich mit kräftigen Blechscheren und anderem Handwerkszeug versehen, dessen Zweckmäßigkeit Fosdick und Cowper nur anerkennen konnten. So ausgerüstet war man aufgebrochen und hatte die Vorberge verhältnismäßig bequem überwunden. Eins der Maultiere trug bei diesem Vormarsch die Ausrüstung, auf den fünf anderen saßen die Mitglieder der Expedition; sie brauchten keine besonderen Reitkünste zu entwickeln, um sich im Sattel zu halten.
Übel wurde es erst, als man am vierten Tage in das eigentliche Hochgebirge kam. Zwar schritten die Mulos auch hier sicher in ihrem Zottelgang weiter, aber der Blick in die dicht neben den schmalen Saumpfaden liegenden Abgründe war für Leute aus der Ebene wenig erfreulich, und den Herren Fosdick und Cowper wurde dabei grün und blau vor Augen. Sie zogen es vor, von nun an zu Fuß weiterzugehen und die Tiere frei hinter sich hertrotten zu lassen.
Es folgte eine Übernachtung im Freien in reichlich zweitausend Meter Höhe, bei der Fosdick sowohl wie Cowper trotz ihrer Wolldecken und trotz eines kräftigen Feuers, das sie die ganze Nacht hindurch brennen ließen, jämmerlich froren.
Als man dann am nächsten Tage einige Stunden weiter gestiegen war, sah man das Netz in ziemlicher Nähe blinken; aber der Anblick, der sich ihnen dabei bot, war alles andere als herzerfrischend.
Gewiß, Fosdick und Cowper hatten es schon vor einer Woche entdeckt und daraufhin ihr Telegramm an Mister Headstone geschickt. Aber damals hatten sie es nur aus einer Entfernung von vielen Kilometern durch ein gutes Fernrohr erblickt und waren nicht näher herangegangen. Jetzt hatten sie es dicht vor sich und konnten sofort feststellen, daß es in einer recht unerfreulichen Art und Weise mit dem Untergrund verwickelt war. Auch hier im Hochgebirge mußten noch wirbelartige Luftströmungen aufgetreten sein, denn anders ließ es sich kaum erklären, daß nicht nur die kurzen Reste der Tragseile, welche noch an den Ballonen hingen, Dutzende von Malen um die Felszacken geschlungen waren, sondern auch das Netz selber an vielen Stellen zusammengedreht war und mit dem Gestrüpp ein fast unentwirrbares Durcheinander bildete.
Mister Smith griff in die Seitentasche und fühlte nach seiner Blechschere. »Es ist genau so, wie ich's mir dachte, Gentlemen, wir kriegen das Zeug nur zu Tal, wenn wir's kurz und klein schneiden«, bemerkte er mit einem Blick auf das Bild vor sich. »Ob Ihr Auftraggeber – Headstone heißt der Mann wohl; scheint mir auch so ein richtiger Steinkopf zu sein – ob der viel Freude an dem Kram haben wird, den wir ihm bestenfalls abliefern, ist mir ziemlich zweifelhaft. Na, die Hauptsache ist, daß wir wöchentlich pünktlich unsern Scheck bekommen. Für den Betrag soll er ja gut sein. Na, dann hilft es nichts, dann wollen wir uns mal an die Arbeit machen, das Zeug in passende Traglasten für die Mulos zurechtschneiden und aus dem verdammten Kieferngestrüpp 'rausholen. Schöne Hände wird das geben! Das Zeug ist harzig und sticht ziemlich unangenehm, wenn man unvorsichtig herankommt. – Halt, du Kamel!«
Mister Smith versetzte dem einen Mischblut einen Rippenstoß, daß er der Länge nach hinschlug. »Paß doch auf, Mensch, mit so einer Blechschere kannst du dir den Finger abschneiden, ehe du dich's versiehst! Guck erst ein bißchen zu, wie wir damit umgehen.« Damit warf Mister Smith sich auf den Boden und begann einen langen Schnitt durch das Drahtnetz zu führen, wobei er das Gestrüpp, das ihm dazwischenkam, mit der Schere dicht über dem Erdboden kappte.
»Ich denke mir so ungefähr hundert mal hundert Meter, Gentlemen«, bemerkte er dazu, »das wird nach meiner Taxe gerade eine richtige Maultierlast abgeben.«
Fosdick und Cowper standen dabei und beteiligten sich vorläufig noch nicht an der Arbeit.
Smith bemühte sich, die beiden Mischlinge in dem Gebrauch der Blechscheren anzulernen. Öfter als einmal hatte er dabei Veranlassung, ihnen auf die Finger zu klopfen, weil sie allzu sorglos mit den gefährlichen Werkzeugen hantierten.
»Na, Gentlemen! Jetzt mal 'ran an die Gewehre!« wandte er sich an die beiden Ingenieure. »Wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit sechs Maultierlasten zu Tal bringen wollen, müssen wir uns ein bißchen 'ranhalten.«
Zweifellos war der Plan von Smith ganz zweckmäßig, nur nahm er keine Rücksicht auf die Tragballone. Drei von ihnen waren bei dem Anprall an die scharfen Felsen zerfetzt und hoffnungslose Wracks. Die vier andern aber standen noch prall gefüllt in der Luft, und die Idee, mit ihrer Hilfe einen größeren Teil des Netzes direkt zu Tal zu schleppen, über die Fosdick und Cowper jetzt eifrig debattierten, war an und für sich gar nicht so unvernünftig. Blieb nur die Aufgabe, den dazu bestimmten Teil des Netzes so abzupassen, daß sein Gewicht mit der Tragkraft der Ballone richtig in Einklang stand. Dann konnte es wohl in der Tat so gehen, daß sie mit ihren Maultieren munter zu Tale trabten und den größeren Teil der hier gestrandeten Anlage in der Luft hinter sich herschleiften.
Fosdick war mehr für den Plan von Smith. Er spielte mit dem Gedanken, auch die unversehrt gebliebenen Ballone zu entleeren und das ganze Netz mit allem Drum und Dran auf den Rücken der Tragtiere nach unten zu bringen. Cowper hielt an seiner Idee fest, und da er ein ziemlich gewandter Alpinist war, kletterte er erst mal zu dem zackigen Grat hinauf, an dem die Ballone mit den Resten der Tragseile sich verfangen hatten.
Vergeblich schrie Smith ihm Warnungen nach; sie verhallten in der dünnen Gebirgsluft.
Schon hatte Cowper den Felsgrat erreicht und versuchte, die um die Zacken geschlungenen Ballonseile zu entwirren. Sehr bald mußte er einsehen, daß das nicht so einfach ging, wie er sich's gedacht hatte. Er mußte zur Blechschere greifen und Draht um Draht der schweren Trossen einzeln abkneifen.
Bei der unbequemen Stellung, die er dabei in dem halsbrecherischen Felsgelände einnehmen mußte, war es eine mehr als schwierige Arbeit. Der Schweiß lief in Strömen vom Körper, und auch ein paar tüchtige Blutblasen hatte er sich bei dem ungewohnten Hantieren mit der schweren Blechschere schon zugezogen, als er endlich Erfolg hatte. Der erste Ballon kam frei und riß einen Teil des Netzes aus dem Gestrüpp mit sich empor.
Smith, der mit den beiden Mischlingen inzwischen unentwegt große Quadrate aus dem Netz geschnitten hatte, sah es mit Besorgnis und schrie mit voller Lungenkraft über die dazwischenliegende Schlucht nach dem Felskamm hinüber, aber ebenso wie das erste Mal verhallten seine Warnungen ungehört. Anders stand es mit Fosdick. Der begann jetzt dem Vorgehen Cowpers Geschmack abzugewinnen. Wenn sich die Angelegenheit so erledigen ließ, daß sie einen großen Teil des Netzes mitsamt den Ballonen einfach unzerschnitten abschleppen konnten, war ihm das naturgemäß viel sympathischer als das zwar sichere, aber auch ziemlich umständliche Verfahren von Smith. Nur die Frage, ob der Auftrieb der vier unversehrten Ballone und das Gewicht des noch an ihm hängenden Netzteiles einigermaßen im Gleichgewicht wären, machte ihm noch Sorge, und in diesem Sinne schrie er seinerseits Ratschläge und Warnungen zu Cowper hinüber, die jedoch ebenso vom Bergwind verwischt wurden wie die massiven Flüche von Smith.
Mit der Wut eines Besessenen arbeitete Cowper unentwegt weiter. Stolzerfüllt malte er sich dabei aus, wie er bald mit den vier Ballonen und dem nicht mehr allzu großen Teil des Netzes, der nach der Zerstücklungsarbeit von Smith noch an den Ballonen hing, munter zu Tal traben würde. Deutlich konnte er ja jetzt schon bemerken, wie die Ballone ein Stück Netz nach dem andern vom Boden frei machten. Was Smith da unten mit seinen Mischlingen mühsam Schnitt um Schnitt schaffte, das besorgte der immer kräftiger werdende Zug der Ballone hier ganz von selber. Schon waren etwa tausend Quadratmeter des Netzes bis zu der Stelle hin, wo Smith mit seinen Leuten arbeitete, frei geworden und über das Gestrüpp herausgehoben – da vollzog es sich ganz plötzlich und war bereits geschehen, bevor Fosdick und Smith noch recht begriffen, was passiert war.
Die letzten Schnitte, welche die Mischlinge eben in dem Drahtgewirr vollführten, mochten wohl den Anstoß gegeben haben. Die vier Ballone erhoben sich schnurgerade in die Höhe und nahmen ein gutes Stück Netz mit, in dessen weiten Maschen wie eine Spinne Mister Cowper hockte. Fünfhundert Meter schätzungsweise stiegen sie empor, dann trieben sie unter der Wirkung einer frischen Brise schnell nach Westen ab. Klein und immer kleiner wurden von Minute zu Minute die Ballonkugeln. Nur noch wie ein Punkt sah Cowper aus, der in dem Netz klebte, das sie durch die Luft entführten.
Fosdick stand mit aufgerissenem Mund da und schaute der Erscheinung sprachlos nach. Jeden Augenblick fürchtete er, Cowper aus dem Netz abstürzen und auf den Felsen zerschellen zu sehen. In Wirklichkeit war seine Befürchtung unbegründet, denn die Maschen des starkdrähtigen Netzes der ehemaligen amerikanischen Versuchsstation in Kansas hatten reichlich Schenkelweite. Cowper steckte mit beiden Beinen in zwei Maschen, saß verhältnismäßig sicher und blickte mit maßlosem Erstaunen auf die immer kleiner werdende Bergwelt unter sich.
Smith hatte sein Werkzeug fortgeworfen und war aufgesprungen; er fluchte aus vollem Halse, was er an deutschen und englischen Flüchen auf Lager hatte. Es war bemerkenswert und wäre der Aufzeichnung zu Nutz und Frommen späterer Geschlechter würdig gewesen, was er an Kraftausdrücken grobsträhnigster Art zutage förderte, aber an dem Verlauf der Dinge hier in den Rocky Mountains konnte es auch nichts ändern.
Immer winziger, immer filigranhafter wurde das Netz, zu immer kleineren Pünktchen im Äther schrumpften die tragenden Ballone zusammen. Längst war von Cowper, der diese Luftreise unfreiwillig mitmachte, nichts mehr zu sehen, und nun wurden auch die letzten Spuren des Ganzen im blauen Äther undeutlich, lösten sich in nichts auf und waren verschwunden.
Jetzt erst stoppte Smith seine Schimpfkanonade ab, und jetzt endlich fand auch Fosdick wieder Worte. Was er in breitestem Yankee-Englisch vorbrachte, läßt sich auf deutsch wohl am besten durch zwei Sätze wiedergeben: »Da haben wir den Salat! Was nun, Mister Smith?«
Smith war jetzt verhältnismäßig ruhig geworden.
»Wenn Mister Cowper sich in dem Netz hält – das sollte er nach meiner Meinung ganz gut können –, wird er bei der Sache glimpflich davonkommen. Hauptsache, daß er gesund über den Kamm der Rocky Mountains wegkommt. Wenn ihm das glückt, wird er vermutlich ein paar hundert Meilen weiter westlich glücklich landen und höchstens ein paar Schrammen von dem Abenteuer davontragen. Helfen können wir ihm im Augenblick nicht, Mister Fosdick. Ich möchte vorschlagen, daß wir wieder an unsere Arbeit gehen und vor Einbruch der Dunkelheit möglichst viele Maultierlasten fertigmachen. Oder haben Sie Lust, hier noch einmal zu übernachten?«
Schon bei dem bloßen Gedanken an diese Möglichkeit fröstelte es Fosdick.
»Sie haben recht, Smith, wir wollen hier kräftig weiterarbeiten«, meinte er, und in der nächsten Minute waren wieder vier Blechscheren an der Arbeit, das gestrandete Netz in passende Stücke zu zerschneiden.
*
Mister Turner setzte sein Programm in die Tat um. Noch am Abend des gleichen Tages, an dem er im Gasthof »Zum Rautenkranz« einige für ihn wissenswerte Dinge erfahren hatte, erreichte er Düren, und am nächsten Vormittag ließ er sich dort bei Direktor Kämpf von den Metallwerken melden. Der Amerikaner war in der angenehmen Lage, gewichtige Empfehlungsbriefe auf den Tisch legen zu können: ein Einführungsschreiben von Mr. Headstone und ein anderes von Direktor Brooker. Das waren Namen von gutem Klang in der internationalen Industriewelt und wohl geeignet, jedem, der sich auf sie berufen konnte, Tor und Tür zu öffnen.
Daß Direktor Kämpf außerdem noch vor vierundzwanzig Stunden ein Schreiben von Geheimrat Bergmann bekommen hatte, das sich gleichfalls mit der Person von Mister Turner befaßte, war eine durchaus private Angelegenheit, von der Mister Turner nichts wußte und die zu erwähnen der Direktor aus triftigen Gründen sich wohl hütete.
Der Empfang war so freundlich, wie es sich bei einem wohlakkreditierten Mann von selbst verstand, und Kämpf wurde noch um einige Nuancen liebenswürdiger, als Turner damit herausrückte, daß er bei den Metallwerken einen größeren Einkauf tätigen wolle.
»Gewiß, Mister Turner, aber mit dem größten Vergnügen«, beeilte sich der Direktor auf Turners Mitteilung zu erwidern, und in Kürze war der Tisch, an dem sie saßen, mit Mustern der verschiedenartigsten Seile und Litzen bedeckt. Aber nun begann Turner seinerseits zu mäkeln. Einmal paßte ihm dieses und bald jenes nicht. Hier war ihm das spezifische Gewicht der Leichtmetall-Legierung zu hoch, und dort hatte er wieder an der Festigkeit allerlei auszusetzen. Der Direktor ließ alle Einwände über sich ergehen. Mit unverringerter Bereitwilligkeit ließ er immer neue Muster und Proben heranschaffen, aber nach wie vor war Turner damit nicht zufrieden. »Alles recht gut und schön, Mister Kämpf«, meinte er schließlich, »aber das, was ich suche, ist es immer noch nicht.«
Direktor Kämpf beugte sich für eine kurze Weile tief über den Tisch, um sein Gesicht nicht sehen zu lassen. Nach den Mitteilungen Bergmanns wußte er genau, was der Amerikaner bei ihm suchte, aber er durfte sich nichts anmerken lassen und dem anderen die Sache nicht unnötig leicht machen.
»Ja, um's Himmels willen, was wollen Sie denn eigentlich haben, Mister Turner?« fragte er endlich, als er seine Mienen wieder in der Gewalt hatte. Turner entschloß sich, mit offenen Karten zu spielen.
»Well, Mister Kämpf«, platzte er unvermittelt heraus, »ich suche Leichtmetallseile mit einer Zerreißlänge von hundert Kilometer.«
»Hundert Kilometer?! Sie haben sich wohl versprochen, Mister Turner?« Der Direktor ließ sich in seinen Sessel zurückfallen und markierte ein naturechtes Staunen.
»Ich habe mich keineswegs versprochen«, fuhr Turner unentwegt fort. »Ich bin mir wohl bewußt, daß es sich um einen außergewöhnlich hohen Wert handelt – aber es ist mir auch bekannt, Herr Direktor, daß Sie solche Seile bereits hergestellt und geliefert haben. Gerade die Sorte suche ich, gerade die will ich von Ihnen haben. Kasse bar auf den Tisch, Mister Kämpf!« Er machte die Bewegung des Geldzahlens.
Direktor Kämpf fuhr sich mit beiden Händen in die Haare, wobei sein Scheitel schwer in Unordnung geriet, und dachte eine ganze Weile intensiv nach. Erst nach einer etlichen Zahl von Minuten schien ihm die Erleuchtung zu kommen. »Bei Gott, Mister Turner, wo Sie's jetzt so bestimmt behaupten, fällt's mir auch wieder ein. Sie haben recht: Wir haben solche Seile vor einiger Zeit einmal geliefert, aber –«
»Bitte kein Aber!« fiel ihm Turner ins Wort.
Direktor Kämpf drehte und wendete sich wie ein Aal. »Ja, mein verehrter Mister Turner, ich muß es leider sagen: Das war ein Zufallstreffer. Es ist uns seitdem nicht wieder gelungen, Seile von ähnlicher Qualität herzustellen. Unsere Leute in den Laboratorien arbeiten natürlich fieberhaft daran, aber bis jetzt haben wir den großen Erfolg nicht wieder gehabt.«
Turner hatte Mühe, seinen Verdruß zu verbergen. Da saß er nun glücklich an der Quelle, und jetzt sah es so aus, als ob sie versiegt wäre.
»Haben Sie denn gar nichts mehr auf Lager?« fragte er, ohne eigentlich viel Hoffnung zu haben.
Direktor Kämpf drückte auf einen Klingelknopf und ließ sich Lagerbücher bringen. In hohen Stapeln häuften sie sich auf seinem Tisch, und eifrig suchte er darin, obwohl das eigentlich besser von dem zuständigen Lagerbuchhalter als von dem leitenden Direktor des Werkes besorgt worden wäre.
Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte. Sein Finger blieb an einer Aufzeichnung haften, während er sich wieder zu seinem Besucher wandte:
»Tatsächlich, Mister Turner! Wir haben von dieser Fabrikation hier noch einen Posten auf Lager. Ich weiß aber –«, er sprach zögernd weiter, »nicht, ob es sich mit den Grundsätzen unseres Werkes vereinbaren läßt, Ihnen diesen Restbestand abzulassen . . .«
Jeder, der den Brief von Geheimrat Bergmann an Direktor Kämpf kannte, hätte dem letzteren in diesem Augenblick zweifellos das Zeugnis eines vorzüglichen Schauspielers ausstellen müssen, so schön malten sich Zögern, Abwehr und doch wieder Begehrlichkeit, ein Geschäft abzuschließen, in seinen Zügen.
»Wenn Sie nicht allzuviel davon brauchen, Mister Turner . . .«, hub er nach einigem Zögern vorsichtig an.
»Wieviel von dem Zeug haben Sie noch vorrätig, Mister Kämpf?« antwortete Turner mit einer Gegenfrage. Wieder schaute der Direktor in das Buch, als ob er sich genau vergewissern müsse. Dann kam seine Antwort:
»Es sind noch dreitausend – nein, zweitausendneunhundertfünfundvierzig Meter, Mister Turner.«
»Von diesem Seil mit hundert Kilometer Zerreißlänge, Herr Direktor – ist das wenigstens sicher?«
Direktor Kämpf nickte: »Ganz sicher, Mister Turner. Die Daten stehen hier im Lagerbuch verzeichnet. Wollen Sie sich selber überzeugen?«
Turner zog das Buch mit einem Ruck zu sich herüber und starrte auf die Zahlen, auf die gleichen Zahlen, um die es in seiner Korrespondenz mit Headstone nun schon seit Wochen ging. Diese Zahlen, die er nachgerade im Schlaf auswendig hersagen konnte, standen hier mit guter schwarzer Aktentinte ausgeschrieben.
»Ich nehme den Posten! Ich nehme den ganzen Posten! Mister Kämpf, was soll er kosten?« Turner schrie die Worte heraus.
Wiederum blickte Direktor Kämpf in das Buch, notierte sich einen Hundertmeterpreis, machte eine kurze Multiplikation und nannte schließlich eine Summe, die Turner ohne Gegenrede anerkannte.
»Das Geschäft ist gemacht, Herr Direktor Kämpf!« rief er und streckte dem andern die Rechte hin.
Der schlug ein. »Gewiß, Mister Turner, der Preis gilt ab Werk. Verpackung, Fracht und Zoll gehen zu Ihren Lasten.«
»Abgemacht!« nickte Turner.
»Ich freue mich, daß ich Ihnen behilflich sein konnte«, sagte Direktor Kämpf geschmeidig. »Wir wissen die United Electric als Kundschaft zu schätzen.«
Er machte eine halbe Anstrengung, sich zu erheben, als wolle er andeuten, daß die Besprechung nun zu Ende sei, aber Turner war noch nicht fertig. Im Gegensatz zu Kämpf machte er es sich in seinem Sessel bequem, als sollte die eigentliche Besprechung nun überhaupt erst losgehen.
»Ich brauche sehr viel mehr von diesem Seil, Herr Direktor«, nahm er die Unterredung wieder auf. »Alles in allem werde ich ungefähr sechzig Kilometer davon nötig haben.«
Direktor Kämpf gab sich Mühe, überrascht auszusehen. Geheimrat Bergmann hatte ihm diese Zahl bereits in seinem Schreiben genannt und auch den Preis festgesetzt, zu dem man dem Amerikaner die gewünschte Menge im Laufe der nächsten vier Monate liefern könne.
»Wir werden unser möglichstes tun, Mister Turner«, erwiderte Direktor Kämpf dienstbeflissen, »immer vorausgesetzt, daß es uns gelingt, im Laboratorium die Bedingungen wiederaufzufinden, unter denen uns die Fabrikation einmal geglückt ist.«
»Ich hoffe doch, daß das möglich sein wird«, sagte Turner. »Die Leistungen der deutschen Wissenschaftler haben in der ganzen Welt einen guten Ruf. Es müßte ja mit dem Teufel zugehen, wenn es Ihnen nicht gelingen sollte.«
»Ich hoffe es auch, Mister Turner«, beeilte sich Kämpf zu erwidern. »Seit einigen Tagen habe ich sogar bestimmte Gründe, es mit einer ziemlichen Gewißheit zu erwarten. Die letzten Wochen haben uns Fortschritte gebracht, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigen. Aber seine Zeit wird es dauern; mit etwa vier bis fünf Monaten Lieferfrist werden Sie sich wohl oder übel abfinden müssen.«
Turner schlug sich ärgerlich auf das Knie.
»Verflucht lange, Mister Kämpf! Läßt sich die Sache nicht beschleunigen?«
Kämpf zuckte die Achseln. »Wissenschaftliche Arbeiten subtilster Art . . . Sie wissen selbst, Mister Turner, daß so etwas seine Zeit braucht. Man darf nicht scharf antreiben. Es könnte dadurch mehr geschadet als genützt werden. Ich gab Ihnen den Termin an, zu dem ich Ihnen das Gewünschte bestimmt zu liefern hoffe.«
»Der Kilometerpreis wird doch der gleiche sein wie bei dem heutigen Abschluß?« fragte Turner weiter, und wiederum gab es von seiten Kämpfs ein Achselzucken.
»Das kann ich Ihnen heute beim besten Willen noch nicht sagen, verehrtester Herr. Wir müssen neu kalkulieren, müssen die langwierige Entwicklungsarbeit wenigstens zum Teil mit einrechnen; aber Sie dürfen überzeugt sein, daß wir unser möglichstes tun werden, um die United Electric kulant zu bedienen.«
Mehr konnte der sonst so tüchtige Turner trotz aller Bemühungen aus dem Direktor nicht herausbekommen; davon, daß der ihm blauen Dunst vormachte und der Preis für die künftige Lieferung neben vielem anderen bereits in dem Schreiben von Geheimrat Bergmann angegeben war, konnte er ja nichts wissen. Ziemlich unbefriedigt verabschiedete er sich endlich. Die Bilanz, die er aufmachte, als er die Treppe des Verwaltungsgebäudes hinabschritt, ging nur teilweise auf. Zwar war es ihm gelungen, ein gehöriges Stück dieses Wunderkabels zu einem annehmbaren Preis zu erwerben, aber die restliche Lieferung schwebte doch noch recht sehr in der Luft.
Als er über den Werkhof zu seinem Wagen ging, erblickte er einen schweren Lastzug, der mit Kabeltrommeln beladen war. Den Chauffeur, der neben dem Zug stand, kannte er noch nicht, und auch der wußte noch nichts von Mr. Turner und daß diesem gegenüber Vorsicht in jeder Beziehung geboten war.
»Na, wo soll die Fahrt denn hingehen?« fragte Mister Turner, während er sich an seinem eigenen Wagen zu schaffen machte.
»Nach Osten 'raus. Mal wieder ins Lüneburgische!« antwortete der Chauffeur.
»Viel Vergnügen, Mister!« meinte Turner, während er seinen Motor anspringen ließ und losfuhr.
Erst unterwegs kam ihm zum vollen Bewußtsein, was er in den letzten Sekunden alles gesehen und gehört hatte. Die Kabeltrommeln auf dem Lastzug waren nur mit einem Draht feinsten Kalibers bewickelt. Um ein verkaufsfertiges Fabrikat aus diesem Draht herzustellen, mußte er nach Mr. Turners Ansicht – der Amerikaner verstand etwas von dieser Technik – erst auf großen Kabelmaschinen, wie sie hier in dem Metallwerk zur Genüge vorhanden waren, zu stärkeren Trossen versponnen werden. Warum fuhr man diese dünnen Drähte jetzt Hunderte von Kilometern ostwärts, bis nach Lüneburg?
Während Mr. Turner noch über die Frage nachgrübelte, erinnerte er sich an eine andere Bemerkung, die er an dem Chauffeurtisch im »Rautenkranz« aufgeschnappt hatte, bevor dort die telephonische Warnung eintraf. Hatte dort nicht einer der Fahrer davon gesprochen, daß er häufiger Trommeln mit dünnen Drähten von Osten nach Düren gefahren hatte?
Wie reimten sich diese beiden Sachen zusammen? Mit Draht – dünnem Litzendraht höchstwahrscheinlich – erst von Westen nach Osten, dann mit dem Zeug wieder nach Westen zurück, wo die Drähte nun erst zu den fertigen Seilen versponnen wurden. Daß die Halteseile für die deutsche Station tatsächlich von Düren her angeliefert worden waren, hatte der fachtüchtige Amerikaner inzwischen sicher herausbekommen. Wozu aber vorher das Hin und Her mit dem halbfertigen Material? Ein Verfahren, das zweifellos auf das Endergebnis verteuernd wirken mußte!
Je länger Mr. Turner seine Beobachtungen hin und her überlegte, um so klarer wurde er sich darüber, daß da ein Geheimnis dahinterstecken mußte und daß die Lösung dieses Geheimnisses in der Heide zu suchen war. Als er zu diesem Schluß gekommen war, gab er Vollgas und ließ seinen Wagen mit höchster Geschwindigkeit nach Osten sausen. Einen genauen Plan hatte er im Augenblick nicht. Nur im großen und ganzen schwebte ihm vor, sich vorerst mal im Heidekrug ins Quartier zu legen und von dort aus seine Nachforschungen zu beginnen.
*
Es mochte etwa um die dritte Nachmittagsstunde sein, als Mr. Turner mit seinem Kombinieren und Überlegen so weit gekommen war. In New York zeigten die Uhren zu diesem Zeitpunkt die neunte Morgenstunde an, und das geschäftliche Leben und Treiben der Riesenstadt fing eben erst an, richtig in Schwung zu kommen. So konnte es geschehen, daß Mr. Headstone, als er mit dem Glockenschlag neun die Redaktionsräume des »Electric Engineer« betrat, den Hauptschriftleiter noch nicht antraf; ein Umstand, der seine an sich schon nicht rosige Laune noch um ein paar Punkte tiefer sinken ließ. Um so eifriger bemühte sich der Zweite Redakteur Mr. Walker, die Wünsche des Gefürchteten zu erfüllen und alle Steine des Anstoßes aus dem Wege zu räumen; denn Mr. Walker wußte ganz genau, was die Persönlichkeit Headstones für die Zeitschrift zu bedeuten hatte: wirtschaftliche Informationen aus den Forschungsstätten der allmächtigen United Electric, die für den redaktionellen Teil von unschätzbarem Wert waren, und außerdem – auch das wußte Mr. Walker sehr genau, obwohl jedermann im Hause sich hütete, es offen auszusprechen – Inseratenseiten, die das wirtschaftliche Rückgrat des Blattes recht wesentlich stärkten. Was hatte Mr. Headstone zu dieser frühen Morgenstunde in der Redaktion des »Electric Engineer« zu suchen? Die Ursache dazu bildete eine kurze, aus einem früheren Heft des »Electric Engineer« herausgeschnittene Notiz, schon reichlich zerknittert und unansehnlich geworden, die Headstone gleich zu Beginn seines Besuches seiner Brieftasche entnommen und dem ratlosen Zweiten Redakteur vor die Nase gehalten hatte.
Wer der Kerl wäre, der diese Notiz der Zeitung geschickt hätte, wollte Mr. Headstone in einem ziemlich unfreundlichen Ton wissen. Eine Verschanzung hinter das Redaktionsgeheimnis war einem Manne wie Headstone gegenüber vollkommen ausgeschlossen, und so bemühte Mr. Walker sich denn, allerlei Bücher und Listen herbeizuschleppen, in denen die Chiffren und Pseudonyme der verschiedenen Mitarbeiter des Blattes verzeichnet standen. Aber vergeblich blätterte er sie von A bis Z durch – die Chiffre J. Z., die unter jenem kleinen Aufsatz stand, befand sich nicht darunter.
Headstones Gesicht wurde von Minute zu Minute roter, und er war dicht daran, zu explodieren, als glücklicherweise Mr. O'Brien, der Chefredakteur des Blattes, auftauchte und die weitere Leitung der Verhandlungen übernahm. Er erinnerte sich denn auch sehr schnell der Einzelheiten, die dem Vorfall zugrunde lagen. Die betreffende Notiz stammte von einem ständigen Mitarbeiter des Blattes, dessen Name in wissenschaftlichen Kreisen einen guten Ruf hatte. Im allgemeinen pflegte er seine kürzeren Beiträge mit der Chiffre Z. V. zu zeichnen.
Warum eine andere Chiffre unter dieser Notiz stünde, wünschte Headstone zu wissen und war dicht daran, aufzubrausen, als er das verlegene Gebaren des Chefredakteurs bemerkte.
Erst nach längerem Hin und Her kam der mit der vollen Wahrheit heraus. Die Notiz war dem Mitarbeiter wissenschaftlich so bedeutend erschienen, daß er sie nicht einfach unter den Tisch fallen lassen wollte, andererseits aber doch wieder so unglaubbar, daß er es ablehnte, sie mit seiner in Fachkreisen wohlbekannten Chiffre zu decken. Schließlich hatte er sich mit Mr. O'Brien darauf geeinigt, sie mit den Anfangsbuchstaben seines deutschen Gewährsmannes zu zeichnen. So war es gekommen, daß die Buchstaben J. Z. unter der Notiz standen.
Die Adresse dieses Deutschen wollte Headstone haben. Mister O'Brien wußte sie nicht und mußte dafür ein paar giftige Bemerkungen über den mangelhaften Betrieb seiner Zeitschrift von seiten des Leiters der United Electric einstecken. Dann wenigstens die Adresse jenes anderen Mitarbeiters mit der Chiffre Z. V.! Die konnte ihm Mr. O'Brien schnell geben. Hinter den beiden Buchstaben steckte Professor Voucher vom Carnegie-Institut in Lander im Staate Wyoming. Das waren immerhin etwas mehr als viertausend Kilometer von New York gerechnet. Durch ein Kabelgramm überzeugte sich Headstone, daß der Professor zur Zeit in seinem Institut war, und bestieg das schnellste Flugzeug, das er in New York auftreiben konnte.
Als die Sonne im Westen versank, saß er Voucher in dessen Studierzimmer gegenüber. Und nun begann eine Unterhaltung, die für Professor Voucher weit eher ein scharfes Verhör als eine einfache Unterredung war. Jene ominöse Notiz, die der gefürchtete Leiter der United Electric vor langen Wochen einmal in Kansas aus einem Heft des »Electric Engineer« herausschnitt, hatte er vor sich auf dem Tisch liegen und außerdem ein kleines Notizheft, in dem er alles Wichtige aufschrieb, was er Wort für Wort aus dem Professor herauspreßte.
Ob Voucher das Wunderseil gesehen hätte, wollte Headstone wissen.
Der Professor mußte es verneinen.
»Wenn ich es gesehen hätte, Mister Headstone, hätte ich gar keine Bedenken gehabt, die Notiz mit meiner Chiffre zu zeichnen«, versuchte er sich zu entschuldigen.
»Hm, so«, knurrte Headstone gereizt. »Da weiß ich ja mehr als Sie. Ich habe das Seil sogar in der Hand gehabt. Hier ist es! Sie können es selber besehen.«
Bei diesen Worten griff er in die Tasche und warf jenes kleine Knäuel, das nun schon seit so vielen Wochen zu beiden Seiten des Atlantik Verdruß und Arbeit machte, mit einer schroffen Handbewegung auf den Tisch.
Das interessierte Professor Voucher nun wieder höchstlich. Er griff danach, begann es abzuwickeln, zerrte daran, holte eine starke Lupe herbei und stand im Begriff, wieder ganz in ein wissenschaftliches Fahrwasser zu geraten.
Aber Headstone ließ es dazu nicht kommen, denn seine Wünsche lagen in einer andern Richtung. Von wem der Professor die Mitteilungen über das Seil bekommen hätte, wünschte er jetzt zu erfahren und wies jeden Versuch Vouchers, abzuschweifen, energisch zurück. Auch hier im Carnegieinstitut hatte der Name Headstones Gewicht, und so blieb dem schwergeprüften Professor nichts anderes übrig, als Farbe zu bekennen.
Wahrheitsgemäß begann er zu erzählen, wie er bei seinem letzten Aufenthalt in Europa in der norddeutschen Heide einen Mann getroffen hätte . . . Schon bei den ersten Worten spitzte Headstone die Ohren. Da war schon wieder von dieser deutschen Heide die Rede, in der sein Agent Turner das Wunderseil erwischt hatte und in der er sich bereits wieder seit Wochen herumtrieb, ohne rechte Gründe dafür angeben zu können.
Professor Voucher fuhr in seiner Erzählung fort, und je weiter er kam, desto verdrehter erschien Headstone die ganze Geschichte. Was mußte das für ein wunderlicher, um nicht zu sagen verschrobener Kerl sein, mit dem der Professor dort zusammengetroffen war und von dem er seine Weisheit bezogen hatte!
Ein Mensch, der wie ein alter Heidebauer oder Schäfer aussah und sich auch so benahm, ein alter Kerl, dem man allenfalls fünf Cents schenkte, um ihn loszuwerden. Rein zufällig hatte Professor Voucher ihn in seinem reichlich rostigen Deutsch nach einem Weg gefragt, und der Mann hatte ihm in einem guten glatten Englisch Antwort gegeben. Die verwunderte Frage Vouchers nach dieser Sprachkenntnis hatte der alte Mann mit einer nicht ganz unwahrscheinlichen Bemerkung abgetan. Er wäre mehrere Jahre drüben als Farmer gewesen und hätte es dabei gelernt.
Der Professor hatte sich mit der Antwort zufrieden gegeben. Beim Weitergehen waren sie dann ins Gespräch gekommen, und zu seiner großen Verwunderung mußte der amerikanische Gelehrte feststellen, daß dieser merkwürdige Heidebauer in technischen Fragen, die ihn selber zu dieser Zeit beschäftigten, in einer geradezu unvorstellbaren Art und Weise Bescheid wußte. Der alte Mann, dem Voucher bestenfalls zutraute, hinter einer Schafherde herzugehen, hatte über die modernsten Leichtmetall-Legierungen und ihre weiteren Entwicklungsmöglichkeiten geredet, daß dem Professor einfach die Sprache wegblieb. Unwillkürlich waren sie dabei auch auf Zukunftsmöglichkeiten gekommen, und der Alte hatte von einem Seil mit der Zerreißlänge von hundert Kilometer gesprochen. Er hatte nicht nur die Möglichkeit, solch ein Seil zu schaffen, angedeutet, sondern sogar auch behauptet, daß es bereits vorhanden wäre.
Als sie sich nach einer guten halben Stunde trennten, war Professor Voucher von der Unterhaltung noch völlig benommen. Erst später war er dazu gekommen, sich aus dem Gedächtnis Aufzeichnungen zu machen; und so war eben jene Notiz im »Electric Engineer« entstanden, die Mister Headstone zu dem langen Fluge nach Wyoming veranlaßte.
Die letzten Minuten hatte Headstone den Professor reden lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Nun griff er wieder in die Unterhaltung ein. Den Namen dieses deutschen Wundermannes wünschte er zu erfahren. Das war nun nicht ganz einfach, denn Professor Voucher hatte ihn als nebensächlich erachtet und dementsprechend vergessen. Erst als ihm Headstone die Chiffrebuchstaben der bewußten Notiz unter die Nase hielt, kam ihm die Erinnerung langsam wieder.
J. Z. – ja, John oder Jonny mußte der Mann wohl mit seinem Vornamen geheißen haben. Z – hm, das mußte irgend etwas Alttestamentarisches gewesen sein, Zabakuk – oder Zacharias. Eine ganze Weile sinnierte Professor Voucher hin und her, während Headstone vor Ungeduld zitterte. Endlich entschloß sich Voucher für den Namen Zacharias. Ja, gewiß, jetzt wäre es ihm so gut wie sicher – Zacharias hätte der Mensch geheißen.
Mit dieser Auskunft nahm Headstone Abschied, um noch in der Nacht nach New York zurückzukehren.
*
Während Turner seinen Wagen über die endlose Landstraße ostwärts laufen ließ, versuchte er seine Gedanken zu sammeln und ruhiger zu werden. Aber im Gegenteil wurde er immer aufgeregter. Instinktiv witterte er eine Spur, die, richtig aufgenommen und weiterverfolgt, vielleicht zur Aufdeckung recht wichtiger Dinge führen konnte. Fast hätte er darüber vergessen, was ihm kurz vorher in dem Metallwerk in Düren glückte, und so ganz unwesentlich war das schließlich nicht: Erstens einmal der Kauf von drei Kilometer dieses Wunderseiles, hinter dem der Leiter der United Electric seit zwei Monaten her war wie der Teufel hinter einer armen Seele. Und dann weiter die feste Zusicherung der Metallwerke – in diesem Augenblick lebte Mister Turner in der Überzeugung, daß es tatsächlich eine feste Zusicherung war –, ihm weitere sechzig bis siebzig Kilometer im Laufe der nächsten Monate zu liefern. Das waren auf jeden Fall Erfolge, wert, nach New York gemeldet zu werden.
Im nächsten größeren Ort machte Turner vor dem Postamt halt und ließ ein Kabelgramm an Headstone abgehen. Als nächsten Ort, in dem ihn eine Rückantwort erreichen konnte, gab er Kassel an, wo er zu übernachten gedachte. Bei einbrechender Dunkelheit erreichte er die alte Hessenstadt und gab sofort Auftrag, ihn auch in der Nacht zu wecken, falls etwa ein Telegramm aus Amerika kommen sollte. Dann erst gab er sich der verdienten Entspannung hin und fand, daß die Bilanz des Tages, die er jetzt bei einer guten Mahlzeit und einer Flasche Rheinwein aufmachte, im großen und ganzen ziemlich rosig aussah. Unbedingt würde Mr. Headstone ihn für seine Leistungen loben müssen, und mit Ungeduld sah er dessen Antwort entgegen.
Sie kam schneller, als er es erwartete. Schon bei Tisch wurde sie ihm gebracht, und ihr Inhalt war geeignet, die gute Laune Turners zu zerstören. Da war wenig von Lob drin zu lesen. Um so mehr klang gereizte Ungeduld aus den Worten der Depesche, und schließlich kam der bündige Auftrag, allerschnellstens Material über die Persönlichkeit eines gewissen John Zacharias zu sammeln, der irgendwo in der deutschen Heide hausen müsse.
Mr. Turner gewann aus dem Schriftstück den Eindruck, daß Mr. Headstone wieder einmal maßlos schlechter Laune wäre und daß es ein wahres Kreuz sei, für so einen Menschen arbeiten zu müssen. Die Gründe für den augenblicklichen Gemütszustand Headstones konnte er ja nicht ahnen. Die Tatsache beispielsweise, daß ein Teil des Netzes der amerikanischen Station mit vier Tragballonen und, was das unangenehmste war, mit einem der Ingenieure der Station sich in den Rocky Mountains selbständig gemacht hatte und mit unbekanntem Ziel davongeflogen war, war ihm begreiflicherweise noch unbekannt, während Headstone sie fast gleichzeitig mit der Drahtung Turners erfuhr.
An und für sich hätte ein derartiger Zwischenfall Headstone wenig geschert. Wenn so ein dreifacher Narr wie dieser Cowper in seiner Ungeschicklichkeit mit den Ballonen davonflog, dann mochte er eben selber zusehen, wie er mit heilen Knochen wieder zur Erde zurückkam. Das Üble, das Headstones gallige Laune verursachte, war vielmehr der Umstand, daß die New-Yorker Zeitungen den Fall aufgriffen und mit knallenden Überschriften weidlich ausschlachteten. Headstone schäumte vor Wut, als er die Schlagzeilen hörte, welche die Zeitungsboys am Broadway ausriefen.
»Ingenieur Cowper bei Bergungsarbeiten der AE-Station mit Ballon abgetrieben. Wahrscheinlich verloren!« oder »Ingenieur Cowper von der AE-Versuchsstation ein Opfer seines Berufes; vom Tornado mit in die Luft gerissen; Leiche noch nicht gefunden!« Das mochte immerhin noch angehen. Im stillen bedauerte Headstone, als er es hörte, mehr die verlorenen Ballone und Netzteile als diesen Esel von einem Ingenieur. Aber die Sache wurde noch schlimmer.
In dem Bestreben, die Konkurrenz zu übertrumpfen, hatten einige Sensationsblätter das Rührungsregister gezogen, und da wurden die Überschriften für Mister Headstone mehr als peinlich, da machte man Cowper – Headstone wußte zufällig, daß der Ingenieur sieben sehr lebendige Geschwister hatte – zum einzigen Ernährer seiner armen alten Mutter, der nun durch die Herzlosigkeit eines Multimillionärs in den Tod gejagt worden war, und trug auch sonst noch allerlei für die Tränendrüsen der Leser Erfundenes zusammen, das geeignet war, die Stimmung Headstones tief unter den Nullpunkt sinken zu lassen.
Keinen Augenblick hätte sich James Headstone bedacht, ein von Anfang bis zu Ende erfundenes Dementi von einer wunderbaren Rettung Cowpers in die Welt zu funken, aber er kannte die New-Yorker Presse zur Genüge, um zu wissen, daß es im Augenblick wirkungslos verpuffen würde. Die Nachricht von dem in die Lüfte entführten Ingenieur war viel zu sensationell und nutzbringend auszuschlachten, als daß auch nur eine Zeitung darauf verzichtet hätte. Infolge dieses Umstandes aber fiel die Depesche Headstones an Turner in einer Form aus, daß dem der Wein nicht mehr schmecken wollte, nachdem er das Telegramm gelesen.
Ärgerlich zerknitterte er das Papier mit der unwillkommenen Botschaft und schob es in die Tasche, oder genauer gesagt: er wollte es in die Tasche schieben. Der Umstand, daß es danebenrutschte und zu Boden glitt, entging ihm bei seiner augenblicklichen Gemütsverfassung. Mit einem Ruck stürzte er das letzte Glas Wein hinunter und begann zu überlegen.
Auf Anerkennung für seine Leistungen war seitens der Herren der United Electric nun einmal nicht zu rechnen. Nun gut, man mußte sich eben damit abfinden, daß sie ihn trotz aller, nach seiner Meinung recht wichtigen, Dienste wie einen Schuhputzer behandelten. Dann sollten sie aber für das, was sie zu wissen wünschten, wenigstens tüchtig zahlen. Über diesen alten Tramp – diesen Zacharias – geruhte Mister Headstone jetzt möglichst Ausführliches erfahren zu wollen. Bei dem Gedanken, was er über den Mann bereits alles wußte, wurde Turner beinahe wieder vergnügt. Was er etwa noch brauchte, konnte doch schließlich nur eine Kleinigkeit sein. Wieder in den Heidekrug fahren, sich dort wenn nötig ein paar Tage vor Anker legen und den Wirt und die Gäste systematisch ausholen. Dann sollte Mr. Headstone bald Berichte erhalten, die ihn vielleicht zu einer etwas umgänglicheren Tonart veranlaßten. Vor allen Dingen aber sollte er diesmal dafür tief in den Beutel greifen. Das nahm der Agent sich fest vor, und er sah auch schon ungefähr einen Weg, wie er's anfangen müsse, als er sich erhob, um in sein Zimmer zu gehen.
Am nächsten Morgen stieg Turner beizeiten in seinen Wagen und fuhr auf der großen Landstraße nach Osten weiter. Er beabsichtigte es so einzurichten, daß er schon am frühen Nachmittag den Heidekrug erreichte und dort noch am gleichen Tage mit seinen Nachforschungen beginnen konnte. Verschiedentlich hatte er unterwegs Gelegenheit, schwere Lastkraftwagen zu überholen. Daß sie auf ihren Nummernschildern zum großen Teil das Zeichen der Rheinprovinz trugen, brauchte schließlich nichts Besonderes zu bedeuten. Daß sie aber zu einem beträchtlichen Teil große, mit feinem Draht bewickelte Kabeltrommeln geladen hatten, gab ihm allerlei zu denken. Immer wieder kam ihm, wenn er sie beim Überholen genauer ansah, blitzartig jene Spur in die Erinnerung, die ihm zum erstenmal im Hof der Metallwerke aufgeleuchtet war. –
Zu der gleichen Zeit ungefähr, zu der Mr. Turner von Kassel aufbrach, befand sich Zacharias zusammen mit Dr. Frank in dessen Arbeitsraum. Laboratorium konnte man es schon nicht mehr nennen, denn fast fabrikationsmäßig vollzog sich hier ein Vorgang, bei dem eine weit über die üblichen Maße hinausgehende Blitzröhre die Hauptrolle spielte, eine Röhre, die, gut zehn Meter lang und mehr als einen Meter stark, von einem schimmernden, glitzernden Licht erfüllt, den Hauptteil des saalartigen Gemaches ausfüllte.
Zur einen Seite ihres Fußes stand eine jener Kabeltrommeln, über die sich Mr. Turner schon seit achtundvierzig Stunden den Kopf zerbrach. Unablässig lief, von einem Motor getrieben, der feine Draht von ihr ab, passierte das in blendendem Licht leuchtende Feld unter der Röhre und wurde auf der andern Seite wieder auf eine Holztrommel gleicher Art aufgewickelt.
Die Behandlung war einfach und ging verhältnismäßig schnell vonstatten. Es handelte sich nur darum, den mit großer Geschwindigkeit unter der Röhre vorbeilaufenden Draht dem Bombardement der mit annähernder Lichtgeschwindigkeit aus der Blitzröhre tretenden Elektronen auszusetzen. In Bruchteilen von Sekunden erlangte er dadurch jene extreme Festigkeit, um die sich die Herren von der Aluminum Corporation bisher immer noch vergebens bemühten; aber auf die Geschwindigkeit der Elektronen kam es sehr genau an, wenn das wunderbare Ergebnis erreicht werden sollte. Man konnte nicht daran denken, die Anlage einfach automatisch laufen zu lassen. Unablässig stand Dr. Frank vor der Schalttafel und betätigte die Regler, sobald die Spannung auch nur um winzige Bruchteile von dem vorgeschriebenen Wert abwich. Neben ihm stand Zacharias und schaute ihm ohne ein Wort zu sprechen zu.
»Eine schöne Aufgabe habt ihr mir da aufgehalst, Sie, Zacharias, und Geheimrat Bergmann«, brach Dr. Frank das Schweigen. »Sind Sie sich klar darüber, was das bedeutet, die Litzendrähte für siebzig Kilometer Kabel elektrisch vorzubehandeln? Wenigstens vierzehn Tage lang werde ich damit zu tun haben, bloß damit die Amerikaner ihre Seile bekommen – und dabei ist anderes, viel Wichtigeres zu tun. Längst sollten die kalten Kathoden für unsere Station fertig sein, aber vorläufig ist gar nicht daran zu denken.«
»Die vierzehn Tage werden vorübergehen, Doktor«, meinte Zacharias trocken.
Sein Widerspruch reizte Dr. Frank noch mehr: »Und das andere, Zacharias! Das Letzte, das Größte. Sie wissen es; zu Ihnen habe ich davon gesprochen, nur zu Ihnen, Zacharias. Zu keinem anderen bisher. Die deutsche Hochspannungstechnik wird unschlagbar sein, wenn es gelingt – aber jetzt . . . Die neue große Röhre steht ungenutzt da, um den Kram hier bin ich noch nicht einmal dazu gekommen, sie auszuprobieren. Offen gesagt, alter Freund, ich verstehe den Geheimrat nicht, daß er uns mit solchem Quark belastet, wo wir wirklich Besseres zu tun haben.«
Bis jetzt hatte der Alte Dr. Frank ruhig reden lassen. Jetzt hielt er es an der Zeit, einzugreifen.
»Es ist unmöglich, der United Electric Lizenzen zu geben, Doktor. Wir dürfen sie nicht in das Verfahren einweihen und es ihr überlassen, sich die Seile selber herzustellen. Ich habe mit Bergmann lang und breit darüber gesprochen, und wir waren uns vollkommen einig, daß wir die Amerikaner dadurch auf eine Spur setzen würden, und schneller vielleicht, als wir dächten, würden sie auch hinter die andern Dinge kommen, die wir noch vorhaben. Mister Headstone soll die Seile, die er braucht, zu einem erträglichen Preise von uns kaufen, aber in die Karten wollen wir uns von ihm nicht sehen lassen. Er ist ohnehin schon neugieriger, als uns lieb ist. Seine Agenten treiben sich hier in der nächsten Umgebung herum.«
Zacharias hatte es ruhig und leidenschaftslos gesagt, aber seine letzten Worte brachten Dr. Frank in Erregung.
»Agenten von Headstone, hier bei uns?! Wie ist das möglich, Herr Zacharias? Warum verhaftet man diese Menschen nicht und macht sie unschädlich?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Glauben Sie, daß es danach besser würde, Doktor Frank? Die neuen Leute, die Headstone dann schicken würde, müßten wir erst allmählich kennenlernen. Die alten sind uns bekannt, und wir wissen genau Bescheid um sie. Was zum Beispiel Mister Turner, die beste Kraft Headstones, hier im Lande tut und treibt, kann ich Ihnen so ziemlich auf die Stunde genau sagen – und wenn man das weiß, Doktor, dann ist es leicht, sich dagegen zu schützen.«
»Ich weiß doch nicht, Herr Zacharias«, warf Dr. Frank zweifelnd ein, »das scheint mir ein reichlich gefährliches Spiel zu sein, das Sie da treiben.«
Das faltige Gesicht des Alten verzog sich zu einem Lächeln.
»Gefährlich kaum, Doktor, aber zuweilen recht amüsant. Sehen Sie mal –« Er griff in seine Tasche. »Da habe ich zum Beispiel ein ganz lesenswertes Telegramm, das Mister Turner gestern nachmittag in Kassel von Headstone bekam. Sehen Sie mal 'rein, es wird auch Sie interessieren. Turner ist daraufhin schon wieder von Kassel her unterwegs nach dem Heidekrug.«
»Ja, um's Himmels willen, Zacharias –« Erschrecken malte sich in den Zügen des Doktors, während er dem Alten das Papier abnahm. »Wie sind Sie in den Besitz dieses Telegramms gekommen?«
Zacharias lachte. »Sehr einfach, Doktor. Der Inhalt ist für Turner nicht sehr erfreulich. In seinem Ärger hat er es neben die Tasche gesteckt, und da ist es unter den Tisch gefallen, ohne daß er's merkte. Einer meiner Leute, der schon von Düren aus hinter Turner her war, sah es, nahm es auf, sobald der Amerikaner den Raum verlassen hatte, und hat es mir noch in dieser Nacht gebracht. Sie sehen, die Geschichte erklärt sich sehr natürlich. Man muß nur die Augen offenhalten.«
»Und dabei bekommt man dann so etwas zu lesen!« Trotz seiner Erregung mußte Dr. Frank lachen, während er die Depesche überflog. »Niedlich hat Mister Headstone Sie darin geschildert. Ein alter Tramp ohne richtigen Beruf, ein abgerissener Heideläufer, der einem Vertreter des ›Electric Engineer‹ in fließendem Englisch wichtige Aufklärungen gibt . . . Wie soll man das verstehen, Herr Zacharias?«
Der Alte wurde einen Augenblick verlegen. »Ich gebe zu, Doktor, daß ich damals einen Fehler gemacht habe. Ich hätte wahrscheinlich besser getan, mich dumm zu stellen, aber der Yankee war zu neugierig. Da konnte ich nicht widerstehen und habe ihm das Blaue vom Himmel vorgelogen. Ich denke, allmählich wird auch James Headstone die faulen Eier merken, die in dem Kuchen stecken. Dann werde ich für ihn ein simpler Wichtigtuer und wieder ein einfacher Heideläufer sein, und die Geschichte wird damit ihr Ende finden. Das sind Zwischenfälle, mit denen man bei unserm Spiel rechnen muß. Aber lassen wir das, Doktor, ich möchte jetzt etwas anderes mit Ihnen besprechen.«
»Bitte, reden Sie, lieber Zacharias!« sagte der Doktor.
Der Alte machte es sich in einem Stuhl bequem und fuhr sich ein paarmal durch seinen grauen Bart. »Wissen Sie, Doktor«, begann er nach kurzem Überlegen, »ich möchte mich bei Ihnen vierzehn Tage ins Quartier legen.«
»Nanu?!« Dr. Frank fuhr erstaunt auf. »Selbstverständlich sind Sie mir jederzeit als Gast willkommen. Aber was soll inzwischen aus Ihren Blumen und Bienen werden?«
Zacharias winkte mit der Hand ab. »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich habe hier einen tüchtigen jungen Menschen im Ort, der das übernehmen wird.« Der Alte verlor sich bei den Gedanken daran in Einzelheiten. »Ein prima Gärtner, sage ich Ihnen, Doktor, und ein Imker – einfach erstklassig. Außerdem spricht der Mensch ein Heideplatt, daß Mister Turner sicher kein Wort davon verstehen wird, wenn er auf die Idee verfallen sollte, mich während meiner Abwesenheit zu besuchen. Nur daß ich für längere Zeit nach Braunschweig verreist bin, wird er mit Not und Mühe aus ihm herausbekommen können.«
»Kein schlechter Einfall, Herr Zacharias«, stimmte ihm Frank lachend zu. »Also betrachten Sie sich für die nächsten Wochen als mein Gast. Räume sind reichlich vorhanden. Meine Bibliothek steht Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Hoffentlich werden Sie sich ohne Ihren geliebten Garten nicht allzusehr langweilen.«
»Kein Gedanke daran, Doktor. Ich beabsichtige hier intensiv zu arbeiten.«
»Arbeiten, mein lieber Zacharias?« Dr. Frank schüttelte verwundert den Kopf. »Ich denke, Sie haben Ihrer alten Berufsarbeit ein für allemal abgeschworen?«
»Wenn Not am Mann ist, gilt der Schwur nichts, Herr Doktor Frank. Ich halte es in der Tat für verkehrt, daß Sie hier vierzehn Tage mit der Präparation der Drähte vergeuden, die jeder einigermaßen geschickte Laborant ebensogut besorgen könnte. Da wird's der alte Zacharias am Ende wohl auch noch können. Diesen Nachmittag möchte ich Ihnen noch assistieren. Dann können Sie mir die Sache überlassen und sich Ihren wichtigeren Aufgaben widmen.«
Dr. Frank zögerte eine Weile. Er wußte sehr wohl, daß kaum ein anderer es besser machen könnte, aber er wollte nicht recht daran glauben, daß Zacharias nur zu ihm kam, um sich vor Mr. Turner unsichtbar zu machen, und glaubte das Opfer zu fühlen, das der Alte der guten Sache brachte. Erst nach einigen sehr deutlichen Worten von Zacharias entschloß er sich, das Anerbieten anzunehmen, und der Pakt wurde mit einem kräftigen Händedruck besiegelt.
*