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In der Induktorwerkstatt saß an einem klaren Spätsommertag des Jahres 1866 Werkführer Müller und schaute sinnend durch die Glasscheiben seines Verschlages nach der kleinen Hoppeschen Säulendampfmaschine, deren liebevoll gepflegtes Gestänge eilfertig in der Sonne auf und nieder blitzte. Sie war sein besonderer Stolz, diese einzige Dampfmaschine im ganzen Betrieb, aber heute hatte er keinen Sinn für ihre Reize. Er war müde. Trotz seiner 25 Jahre hatte ihm die rastlose Tätigkeit der letzten acht Tage arg zugesetzt. Er dachte daran, wie er vor zwei Jahren mit der »Hammonia« nach Amerika wollte, den Kopf voll hochfliegender Pläne. Die Tränen der Mutter und das eindringliche Zureden eines wohlmeinenden Verwandten hatten ihn aus Hamburg zurückgeholt. War es gut so gewesen?
Bei Siemens u. Halske hatte man ihn mit »Herr Müller« angeredet, so daß er sich nach den Erfahrungen auf seinen früheren Arbeitsstellen wie ein Fürst vorgekommen war. Man hatte ihm auch Vertrauen entgegengebracht, und eines Tages, er wußte selbst nicht recht wie, war aus dem Gehilfen ein Werkführer geworden. –
Vom Fabrikhof her wurde das Geräusch der Werkstatt durch recht ungedämpfte jugendliche Stimmen übertönt; das war das Kriegsspiel der jungen Siemens, das in diesem Jahre zum Werktagnachmittag gehörte, ebenso wie das Surren der Drehbänke und der gleichmäßige Takt der Hämmer beim Dichten des Messinggusses.
Der Krieg war zu Ende. Gott sei Dank! Nun würden auch bald wieder normale Verhältnisse in die Werkstatt zurückkehren. Die Aufträge würden wieder regelmäßig eingehen, und »der Alte« würde seinen unbändigen Erfindungsdrang etwas zügeln müssen. Der unerschöpfliche Ideenreichtum des Fabrikherrn hatte dem jungen Werkführer schon manche schwere Stunde bereitet und sein noch etwas schwankendes Selbstvertrauen auf recht harte Proben gestellt. Namentlich in der letzten Zeit, da die Kriegswirren die normale Werkstattätigkeit etwas eingeschränkt hatten und Werner Siemens sich seinen besonderen Plänen mit mehr Muße widmen konnte, war es mit Müllers Ruhe völlig vorbei gewesen.
Er dachte zurück, wie diese tolle Zeit des ständigen Gehetztseins begonnen hatte: Da stand in der Werkstatt ein großer Ofen, in dem die Stahlmagnete für die Induktoren gehärtet wurden. Zwischen ein paar Fässern mit Wasser, Öl und vielleicht auch noch anderen Flüssigkeiten zum Abschrecken der erhitzten Magnete hantierte der einzige alte Arbeiter, der die Geheimnisse dieses wichtigen Vorganges beherrschte. Aber ein gewaltiger Haufen teils schon verrosteter Magnete, der in einer Ecke hinter dem Ofen ein verachtetes Dasein führte, bewies doch, daß die Kunst dieses alten Hexenmeisters nicht unfehlbar war. Die Magnete wollten noch lange nicht immer so wie er wollte; sie verzogen sich oder waren aus sonst einem nicht immer auffindbaren Grunde häufig nicht verwendbar. So sammelte sich hinter dem Ofen ein Kapital für damalige Begriffe an, so daß es einen gewissenhaften Werkführer jammern konnte. Waren die Magnete einwandfrei aus dem Fegefeuer des Härteofens hervorgegangen, so wurden sie polarisiert. Dazu diente ein großer, schwerer, von einer galvanischen Kette gespeister Elektromagnet, der infolge seiner rätselhaften und gewaltigen Kräfte in der Werkstatt fast ein Gegenstand abergläubischer Verehrung war.
Sollte man nicht einen solchen Elektromagneten auch an Stelle der Stahlmagnete in den Induktoren benutzen können? Bei der ewigen Schererei mit den Stahlmagneten, die so schwierig zu beschaffen und zu behandeln waren, lag dieser Gedanke sehr nahe.
Gerade vor acht Tagen war der Alte zu ihm in die Werkstatt hinuntergestürmt gekommen und hatte ihm in seiner lebhaften Art den Auftrag gegeben, nach einer Handskizze eine solche Maschine so schnell wie möglich zusammenbauen zu lassen. Ein vorhandener Siemens-Doppel-T-Anker konnte verwendet werden; die Eisenkerne für den Elektromagneten, die Polschuhe und die Wicklung mußten neu hergestellt werden. Müller ging mit Feuereifer an die Aufgabe und trieb seine Gehilfen (Arbeiter gab es damals nicht), die dem neuen Experiment wenig Vertrauen und Interesse entgegenbrachten, zur äußersten Eile an. Seine Ungeduld war aber nur gering gegenüber der seines Prinzipals, der schon nach wenigen Tagen seiner Enttäuschung darüber heftigen Ausdruck gab, daß die Maschine immer noch nicht fertig sei.
Heute war es nun so weit. Die Maschine stand bereit in der Werkstatt; ob sie allerdings den Anforderungen des gestrengen Herrn genügen würde . . .? Es war eine tolle Hetzjagd gewesen, und manches hätte in ruhigerer Arbeit sorgfältiger gemacht werden können. Müller hatte auch mehrfach versucht, den Anker der Maschine zu drehen und dabei gefunden, daß dies verdammt schwer ging. Auch die Anker seiner gewöhnlichen Induktoren setzten der Drehung einen gewissen Widerstand entgegen, aber doch nicht in dem Maße. Er hatte die Maschine wieder auseinandernehmen und die Lager nachsehen lassen, aber niemand hatte einen Fehler finden können; so sah Müller mit etwas gemischten Gefühlen dem Augenblick entgegen, in dem Werner Siemens kommen würde, um die neue Maschine zu prüfen.
Ein Gehilfe bat um eine Auskunft, und als sie zusammen in die Werkstatt traten, sah Müller, daß Werner Siemens bereits an der Versuchsmaschine stand. Die Stirnfurche, von der man nie recht wußte, ob sie ein Zeichen von schlechtem Wetter oder nur die Folge von angestrengtem Nachdenken war, schien heute noch tiefer als sonst. Manchmal war ihm recht ungemütlich in der Nähe dieses Feuergeistes, wenn er sich auch immer wieder sagte, daß dieses aufbrausende Wesen nie lange andauerte, und wenn er auch ahnte, daß es nur ein Schild war, hinter dem der »Alte« gegen seine eigene große Gutmütigkeit Deckung suchte.
Werner Siemens hatte kaum bemerkt, daß Müller mit ehrerbietigem Gruß zu ihm getreten war. Die Hände fest in den Taschen verankert, stand er vor der Maschine und ließ seinen scharfen Blick von einem Teil zum anderen gleiten. Dann versuchte er zu drehen. Na, nun geht das Donnerwetter los, dachte Müller; aber nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, die Stirnfalte war zweifellos geglättet. Nun sollte Müller die Drahtverbindungen der Batterie lösen. Das ging dem Alten aber zu langsam, und schon hatte er Müller den Schraubenschlüssel aus der Hand genommen, warf die abgeschalteten Drähte beiseite wie etwas Überflüssiges und verband nun das freie Ende der Magnetwicklung irgendwie mit den Schleiffedern am Kommutator. Das alles ging so schnell, daß Müller kaum die geänderte Schaltung zu erkennen vermochte. Nachdem in den Ankerstromkreis noch ein Galvanoskop eingeschaltet war, mußte Müller drehen. Herrgott, das arme Galvanoskop! Das war nie wieder zu gebrauchen! – Aber Werner Siemens klopfte dem verdutzten Werkführer auf die Schulter und sprach zu ihm wie zu einem Freunde, was er früher nie getan hatte. Er sprach und sprach, und seine Augen leuchteten noch mehr als sonst. Was er eigentlich sagte, verstand Müller nicht recht vor lauter Verwunderung über das veränderte Wesen des Alten. Nur so viel hörte er heraus, daß Werner Siemens dieses Ergebnis erwartet hatte, und daß der natürliche Magnetismus des Eisens bei dem Vorgang eine wichtige Rolle spielte.
Als der Alte nach dem Vorderhaus davongestürmt war, nahm Müller kopfschüttelnd sein ruiniertes Galvanoskop und ging nachdenklich an sein Pult zurück. Es war ihm klar, daß sich soeben etwas Besonderes vor seinen Augen ereignet hatte. Auch das schien ihm sicher, daß man in Zukunft keine Stahlmagnete mehr für Induktoren gebrauchen würde; aber er ahnte nicht, daß er in jenen wenigen Minuten einem Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung beigewohnt hatte; das konnte er erst viel später verstehen.
Das Galvanoskop war das Opfer des ersten in einer Dynamomaschine erzeugten elektrischen Stromes geworden, und Carl Müller war der einzige Augenzeuge der ersten Verwirklichung des dynamo-elektrischen Prinzips gewesen.