Hans Dominik
Die Spur des Dschingis-Khan
Hans Dominik

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Eine drückende Stimmung lastete über Peking. Schon bald war sie auf die Freudentage beim Einzuge des Kaisers gefolgt.

Niemals hatte seit diesen Tagen ein Auge den Herrscher wieder erblickt. Die Bulletins der Ärzte blieben auch jetzt nicht immer günstig, sprachen von Ruhe und Schonung, deren der Sohn des Himmels noch bedürfe. Der abnorme Schneefall am Tage des Einzuges war von Abergläubischen als ein böses Zeichen gedeutet worden.

Die hermetische Abschließung des Kaisers gab vielen zu denken. Ebenso wie die Veränderungen in der hauptstädtischen Garnison. Immer neue mongolische Regimenter zogen in die Residenz ein und lösten die alten chinesischen Besatzungen ab.

Wie damals gleich nach dem Attentat, so wurden auch jetzt wieder von neuem energische Schritte gegen alle republikanisch Gesinnten unternommen. Nachrichten aus dem Süden des Reiches, dem alten Herde der republikanischen Bewegung, erzählten von neuen Verfolgungen.

Wozu? . . . Weshalb? fragte sich die große Menge. Wo war die Gefahr, der man durch solche Maßnahmen entgegentreten wollte?

Im Kaiserpalast hatte der Schanti seit der Rückkehr des Kaisers seinen ständigen Wohnsitz genommen. Wie die Bulletins sagten, war der Kaiser noch nicht so weit erstarkt, um die Zügel der Regierung wieder selbst zu führen.

In dem alten kaiserlichen Arbeitszimmer saß der Regent. Um ihn sein enger Rat.

Mongolisch war hier die Sprache. Ein geübtes Auge konnte wohl auch aus dem Schnitt der Gesichter erkennen, daß kein Chinese dem Kreise angehörte. Nur die treuesten seiner Getreuen, die besten der mongolischen Generale und Staatsmänner hatte der Schanti in diesen Rat berufen.

Damals, als er von Schehol zurückkehrte, den Ring des Dschingis-Khan am Finger, den nahen Tod des Kaisers vor Augen, da hatte er dessen mongolische Paladine zusammengerufen. Er wußte, daß sie ihm nicht alle blindlings folgen würden, daß mancher dem Kaiser treu Ergebene in ihm nur den Rivalen sah.

Mit den Künsten des genialen Staatsmannes hatte er sie für sich zu gewinnen gewußt. Wohl gab ihm der Ring an seinem Finger die Autorität des Regenten, dem sie den Gehorsam nicht verweigern konnten.

Aber Toghon-Khan wollte mehr. Seine Klugheit verbot ihm, diese Macht bedingungslos auszunutzen. Nicht stummen Gehorsam wollte er. Mit Leib und Seele wollte er sie gewinnen, und es gelang ihm. Immer mehr waren sie der Suggestion unterlegen, daß nicht Toghon-Khan es sei, dem sie gehorchten, sondern Kubelai-Khan, der Hwang Ti, der Herr und Kaiser selber. Nur der Träger und Vollstrecker der Pläne und des Willens des kaiserlichen Herrn war der Regent.

Auch wenn der Kaiser von dannen ging, blieben sie alle die Fortführer seiner Gedanken und Absichten, blieben sie ihm nach wie vor Rechenschaft schuldig.

Damals hatte er sie auch mit den Plänen des Kaisers bekanntgemacht. In einer Weise, daß alles, was jetzt auf seine Anordnung geschah, unmittelbar auf den Befehl des Kaisers zu geschehen schien. Jedem von ihnen hatte er große Aufgaben übertragen, die nicht nur Arbeit, sondern auch Ehre und Macht brachten.

Als dann der Tod des Kaisers wirklich eintrat, konnte er es wagen, im Einverständnis mit ihnen jenen ungeheuren Betrug zu unternehmen . . . der Hauptstadt . . . ja der ganzen Welt den toten Kaiser als lebendig . . . als genesen zu zeigen. Dadurch aber hatte er sie noch viel fester an seine eigene Person gefesselt. Die Männer, die jetzt mit ihm zu Rate saßen, waren ihm mit Leib und Seele ergeben.

»Wie weit sind die Truppenbewegungen an der russischen Grenze durchgeführt?« wandte der Regent sich an den Generalstabschef.

»Sie sind noch nicht weit gediehen. Die Umgruppierung nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, weil sie verschleiert durchgeführt werden muß. Sie könnte schneller vonstatten gehen, wenn ich die Vollmacht bekäme, die Verkehrsmittel zu beschlagnahmen. Die Militärschiffe können die Massen nicht so schnell bewältigen.«

Der Schanti wehrte ab.

»Unmöglich! Jede auffällige Maßnahme muß unterbleiben. Es genügt, wenn zuerst die Truppen in Jünnan und Kwangsi ausgewechselt werden. Die anderen Bewegungen können später erfolgen. Die Magazinbestände an den Westgrenzen sind voll aufgefüllt?«

»Es ist geschehen, Herr.«

Der Generalstabschef sprach weiter:

»Leider ist es noch nicht gelungen, hinter das Geheimnis der Kompagnieschiffe zu kommen. Unsere Agenten brachten uns die Nachricht, daß Kreuzer mit Streuvorrichtungen ausgerüstet werden, von deren Zweck man noch keine Kenntnis hat.«

Die Falten auf der Stirn des Regenten vertieften sich.

»Der Ingenieur Isenbrandt! . . . Er ist das Haupt unserer Gegner. Alle technischen Teufeleien kommen von ihm! . . . Jetzt ist es zu spät. Längst hätte er unschädlich gemacht werden müssen.

Geht es einmal vom Ili los, muß Wierny das erste Ziel sein . . . Nein! . . . Wierny muß früher fallen. Den Schiedsspruch beantworten wir sofort mit dem Aufstand der russischen Kirgisen. Wie weit ist er vorbereitet?«

Der Generalstabschef antwortete:

»Es bedarf nur eines Funkens, um ihn auflodern zu lassen. Unsere Emissäre haben die Kirgisen fest in der Hand. Die Irredenta arbeitet gut. Die Sprengung am Terekdamm zeigt, wessen die kirgisischen Brüder fähig sind.«

Die Linke des Regenten ballte sich zusammen.

»Die Schmelzarbeit war schlecht! Sie ist die Scherereien nicht wert, die wir jetzt darum haben . . .

Man verlangt von uns Entschuldigung und Wiedergutmachung. Wir behandeln die Angelegenheit dilatorisch. Ich habe antworten lassen, daß unser Recht, in unserem Gebiet zu schmelzen, unzweifelhaft ist.

Da man uns von der Errichtung des Ilidammes bei Terek offiziell nicht benachrichtigt hat, konnten wir ihn als nicht existierend betrachten. Damit entfällt für uns die Pflicht, allen Schaden zu ersetzen. Ohne den Dammbruch wäre die Katastrophe nicht so bedeutend gewesen . . .«

Ein grimmiges Lächeln huschte über die Züge des Schanti.

». . . Unsere Schmelzarbeiten werden jetzt in einem Maße fortgesetzt, daß der Wiederaufbau des Dammes nur mit größten Schwierigkeiten vonstatten gehen könnte.

Aber vielleicht wird die Kompagnie ihn . . . er war ja nur ein wohlüberlegtes Abwehrmittel dieses Isenbrandt . . . gar nicht wieder aufbauen . . . da sie ihn bei einem für sie günstigen Schiedsspruch nicht mehr braucht.

Das Schiedsgericht . . . das will über unser altes Recht urteilen! . . . Und wird es vergewaltigen . . . allen geschichtlichen Tatsachen zum Hohn.

Uns gehört das Ilital! Zu uns gehört es nach Bevölkerung und Geschichte! In feierlichen Verträgen bestätigte Rußland vor 130 Jahren diese unsere Rechte, die es ein Jahrzehnt vergewaltigt hatte.

Als damals die kurze Herrschaft des Jakub Beg Kaschgarien von uns riß, raubte uns Rußland das Ilidreieck. Ein verräterischer Gesandter Tschung Hu ließ das teure Pfand in den Krallen der Feinde . . . cajoled amid the Capuan delights of Livadia . . . Ein anderer, besserer, Marquis Tseng, brachte es im Frieden von Petersburg zum Mutterland zurück.

Vergeblich hatten die Russen geschworen, daß das Wasser der Newa eher aufwärts fließen würde. Sie mußten es doch zurückgeben. Unser ist das Land, und unser wird es bleiben!

Wir werden es festhalten! Allen Schiedssprüchen zum Trotz . . . und wenn die Götter es wollen, auch alles Land uns vereinigen, in dem unsere Brüder wohnen . . . Unsere Brüder, die zu uns wollen.

Das war das Ziel des kaiserlichen Herrn . . . das sollte sein großes Werk krönen. In seinem Namen rufe ich euch zur Tat. Alles, was sich dem entgegenstellt, muß beseitigt werden. Der Kämpfer im Westen darf hinter sich keine Feinde haben.«

Der Gouverneur von Jünnan gab seinen Bericht:

»Alle wichtigen Plätze des Südens sind mit Regimentern aus dem Norden belegt. Jeder Versuch eines republikanischen Aufstandes wird scheitern. Die Führer werden ständig beobachtet. Wenn nötig, können sie sofort ergriffen werden. Die Umstellung der Fabriken ist bis aufs kleinste vorbereitet. Die Ausrüstung der Häfen ist vollendet.«

Der Regent fragte weiter. Jeder war seiner Aufgabe nachgekommen. Es fehlte nichts, als der Tag.

Ein Dutzend Augenpaare ruhten fragend auf dem Regenten. Der Schanti sprach:

»Sie wissen, daß alle Völker der Welt einen tiefen Haß gegen die weißen Barbaren im Herzen tragen, daß ihre Sympathien aus unserer Seite sind.

Überall hat sich der Weiße hingesetzt als . . . Herr. Überall hat er sich Land und Rechte angemaßt. Überall erntet er von der Arbeit der anderen.

Unser Beispiel hat gewirkt. Unser kaiserlicher Herr machte das Land von seinen Blutsaugern frei. Andere werden dem Beispiele folgen.

Der Streit zwischen den Abendländischen und uns geht die ganze Welt an. Was daraus folgt, wird sich bald zeigen. Im Kampf werden wir nicht allein stehen.

Die schwarze Rasse hat eine alte Rechnung mit den weißen Barbaren . . . in Amerika und in Afrika. Sie werden nicht die Hand dazu bieten, den Europäern Kriegsmaterial zu liefern, wie es zweifellos die ganze weiße Welt tun will . . .

Betreiben Sie ihre Rüstungen und Vorbereitungen so, daß zum 6. Juli . . . erfolgen kann, was will.«

Der Rat war auseinandergegangen. Der Regent saß allein in seinem Zimmer, als ihm Collin Cameron gemeldet wurde. Der Schanti blickte auf ein vor ihm liegendes Aktenstück, das die Telegramme Camerons enthielt.

»Ich habe gesehen, daß Sie die Aufgabe in den Staaten gelöst haben.«

»Es ist geglückt, Hoheit . . . besser als ich zu hoffen wagte. Sogar ein Teil der Führer hat sich bereitfinden lassen, auf meine Vorschläge einzugehen. Es hat viel Mühe gekostet und . . . viel Geld.«

»Das ist ohne Bedeutung . . . Einen Rechenschaftsbericht verlange ich nicht von Ihnen . . . am 6. Juli! . . . Werden Sie drüben sein? . . . Ich lege Wert darauf . . . Haben Sie sonst noch etwas Wichtiges zu dieser Angelegenheit zu sagen?«

»Ja, Eure Hoheit! Es gab Verräter . . . Unser Plan in seiner ersten Form hatte feindliche Mitwisser . . .

»Wieviel?«

»Ich weiß es nicht. Einer der gefährlichsten . . . einer der mir persönlich eifrig nachgestellt hat . . . der zweifellos meine Vermittlertätigkeit ausgespürt hat . . . ist in China gefangen.«

»Wer ist das?«

»Es ist der Freund Isenbrandts, der amerikanische Vertreter der Chikago-Preß, Wellington Fox.«

»Wie wurde er gefangen?«

»Er kam in der Maske eines russischen Teehändlers von Kjachta nach Urga. Wollte dort eine Familie befreien, die der Gouverneur von Kaschgar wegen Konspiration mit der Kompagnie verhaftet hatte. Ich habe alle Personen der größeren Sicherheit halber nach Karakorum bringen lassen.«

»Gut! Haben sie irgendwelche Geständnisse abgelegt?«

»Nein, Hoheit.«

»So müssen sie dazu gebracht werden!«

Collin Cameron erschrak bis ins Innerste. An eine solche Wendung der Dinge hatte er nicht gedacht, als er die Angelegenheit dem Regenten vortrug. Mit Grauen und Entsetzen dachte er an die Mittel der chinesischen Rechtspflege.

Maria in den Händen der gelben Folterknechte. Sein Blut erstarrte.

»Wollen Eure Hoheit mir das übertragen?«

»Ja . . . Sie wissen am besten, was zu fragen ist . . . jedenfalls, die Gefangenen werden Karakorum nie wieder verlassen!«

* * *

Der Streik im Minengebiet des algerischen Atlas kam überraschend. Man hatte nicht erwartet, daß die Erhöhung der Schichten um eine Stunde täglich bei der schwarzen Bevölkerung auf solchen Widerstand stoßen würde. Zwar hatten sich die schwarzen Arbeiter bereit erklärt, die eine Stunde mehr zu verfahren, aber nur gegen doppelten Lohn. Damit hatten sich die Unternehmer nicht einverstanden erklären können.

Die Arbeitsniederlegung war die Antwort der schwarzen Bergleute. Die Belegung des Reviers mit Militär hatte daran nichts ändern können.

Die Unternehmer befanden sich in einer Zwangslage. Statt, wie die Regierung verlangte, erhöhte Förderung zu liefern, standen die Schächte schon seit einer Woche still. Die französische Regierung drängte zu einer Entscheidung. Sie war mit Rücksicht auf die verwickelte Lage in Asien verpflichtet, dem europäischen Staatenbund beträchtliche Mengen afrikanischer Erze zu liefern. Dabei war der Preis so festgesetzt, daß die Unternehmer bei dem verlangten doppelten Lohn ohne Gewinn arbeiten mußten.

Die hatten gehofft, der Widerstand der Arbeiter würde bald in sich selbst zusammenbrechen. Aber zweifellos waren fremde Emissäre unbekannter Herkunft am Werk, die jedes Nachgeben der Arbeiterschaft verhinderten.

Jetzt war es so weit gekommen, daß sogar die Verrichtung der Notstandsarbeiten verhindert wurde. Die Unternehmer sahen darin einen begründeten Anlaß, ein scharfes Vorgehen des Militärs zu verlangen. Wohl oder übel hatte die Regierung diesem Verlangen nachgeben müssen.

Auf dem Jaurèsschacht kam es zum ersten Zusammenstoß.

Der Hauptmann Méchin von den Marokkoschützen ließ seinen Zug anlegen.

Noch einmal eine Aufforderung an die schwarzen Grubenarbeiter, auseinanderzugehen . . . den Platz zu räumen. Die dachten gar nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisten. Sie fühlten sich in ihrem guten Recht und wollten der Forderung der weißen Direktoren nicht nachkommen . . . Das war ein ganz regulärer und reeller Lohnkampf, wie es deren viele Tausende im Laufe der letzten hundert Jahre gegeben hatte.

»Gerechtigkeit! . . . Arbeit! . . . Brot! . . . Keine Ausnutzung!« schallte es der Truppe aus dem Haufen entgegen.

»Feuer!«

Scharf und abgehackt fiel das Kommando von den Lippen des Hauptmannes.

Kein Finger krümmte sich, kein Schuß krachte. Die Eingeborenentruppe stand, als ob das Kommando nicht ihr gegolten hätte.

Der Hauptmann stürzte nach vorn . . . die gespannte Schußwaffe in der Hand, entschlossen, die ersten Meuterer niederzuschießen. Da sah er die Gesichter der schwarzen Soldaten, sah in die Augen der beiden weißen Offiziere und begriff, daß seine Macht hier zu Ende sei.

Von seiner Truppe verlassen . . . als Offizier entehrt . . . mit seiner Karriere fertig . . .

Ein kurzer Augenblick . . . dann richtete er die Schußwaffe gegen sich selber. Ein Knall. Sterbend sank er nieder. Nur die beiden weißen Offiziere eilten zu ihm, bemühten sich um den Verscheidenden.

Aber der kurze scharfe Knall wirkte auch weiter. Auf die Truppe, die jetzt zu begreifen begann, daß das Blut, das dort in den Sand rann, viel anderes Blut fordern würde. Auf die streikenden Grubenarbeiter, unter denen unverkennbar Emissäre tätig waren.

Schon sprang einer von denen auf eine umgestürzte Tonne und hielt eine donnernde Ansprache. Zum Teil an die Arbeiter . . . mehr noch an die Soldaten gerichtet.

»Bravo! . . . Bravo! . . . Der weiße Sultan wollte Hunderte von euch ermorden . . . Eure schwarzen Brüder sind ihm nicht gefolgt . . . zu uns gehören sie . . . in unsere Reihen . . .«

Fahnen wurden geschwungen. Neues Geschrei erscholl aus dem Haufen. Viele hundert Arme streckten sich den Soldaten entgegen.

Im Augenblick kam es zur Verbrüderung. Die einzelnen Soldaten wurden umarmt, auf die Schultern gehoben. Hilfreiche Hände nahmen ihnen die schweren Gewehre, die lästigen Patronentaschen ab, und im Nu waren die Waffen in der Arbeitermenge spurlos verschwunden . . . in die Hände ganz anderer Leute übergegangen.

Ein schwarzer Korporal schwang sich im Augenblick zum Befehlshaber der führerlosen Truppe auf. In einer kurzen Ansprache wies er die Schützen darauf hin, daß ihr Blut nicht den weißen Ausbeutern und deren selbstsüchtigen Zwecken, sondern den schwarzen Brüdern gehöre.

Die klirrenden Fensterscheiben des Verwaltungsgebäudes lenkten die Aufmerksamkeit der Menge von seinen Worten ab. Durch die Fensterhöhle konnte man schon einzelne Arbeiter beim Plündern beobachten.

Unwiderstehlich reizte der Anblick den ganzen Haufen. Ein paar große Schnapsfässer, aus den Kantinenräumen auf den Hof gerollt, taten das übrige.

Eine halbe Stunde später ergoß sich ein johlender und brüllender Haufen von Arbeitern, gemischt mit Soldaten, in das kleine Bergstädtchen. Im Nu waren hier die sämtlichen Läden, soweit sie nicht Schwarzen gehörten, ausgeraubt.

Die Kunde von den Vorgängen auf dem Zechenhofe war bereits vor der Ankunft des Haufens in die Stadt gelangt. Der Major des Schützenbataillons, das auf der Höhe vor der Stadt lagerte, hatte versucht, den Meuterern zwei andere Kompagnien entgegenzuschicken, doch war, wie von unsichtbaren Händen ausgestreut, die Saat des Aufruhrs auch schon unter diesen Truppen aufgegangen. Um es nicht zum Schlimmsten kommen zu lassen, gab der Major den Befehl, zur Garnison zurückzumarschieren.

Er selbst hatte sich an die Spitze des Bataillons gestellt. Er gab das Kommando zum Abmarsch, doch niemand folgte. Ein paar Offiziere, die mit gezogener Waffe die Leute zu zwingen versuchten, wurden selbst niedergeschlagen, sobald sie die Waffe gebrauchten. Andere weiße Offiziere, die ihren Kameraden zu Hilfe kommen wollten, erlitten sofort das gleiche Schicksal.

In diesem Augenblick zog der betrunkene Haufe von der Zeche her in die Stadt ein. Wie sich zwei Ölflecke auf einer Wasserfläche berühren und im Moment eins sind, so fluteten die beiden Massen zusammen. Unter ihren Füßen die zertretenen Leichen der weißen Offiziere.

Drei Tage waren die europäischen Zeitungen mit aufregenden Nachrichten aus dem nordafrikanischen Minengebiet gefüllt. Am vierten Tage meldete der offizielle Telegraph, daß es mit Hilfe weißer Truppen gelungen sei, der Lage Herr zu werden. Schon am ersten Tage hatte die französische Regierung mit Hilfe aller verfügbaren Flugschiffe die nötige Truppenmacht über das Meer geworfen. Mit rücksichtsloser Energie hatte man die Aufstandsbewegung niedergeschlagen und den Streik beendet.

Doch kaum hatten sich die Gemüter beruhigt, als neue Hiobsposten aus Afrika kamen . . . diesmal aus dem Sambesigebiet.

Hier war um die nach Millionen von Pferdestärken zählenden Wasserkräfte der großen Sambesifälle herum seit einem halben Jahrhundert eine gewaltige Industrie entstanden. Mit Hilfe der in unerschöpflicher Menge zur Verfügung stehenden elektrischen Energie wurden die reichen Bodenschätze, die Erze und Edelerden hier an Ort und Stelle durch europäische Syndikate verarbeitet.

Hier war eine der Hauptquellen, aus denen die Wirtschaft des alten Europa neue Kräfte schöpfte. Hier, wo das tropische Klima die Zahl der weißen Bevölkerung von vornherein niedrig hielt, bildeten die Schwarzen naturnotwendig den Hauptträger der industriellen Leitung. Ohne sie wäre die Ausbeutung der Minen, die Verarbeitung der geförderten Schätze trotz aller technischen Fortschritte unmöglich gewesen.

In diesem Gebiet war es bisher nie zu Ausständen gekommen. Das Niveau der dortigen schwarzen Arbeiterschaft war bedeutend niedriger als das der nordafrikanischen. Sie war gewohnt, widerstandslos allen Anforderungen der weißen Herren zu folgen, mochten diese auch nicht immer gerecht sein.

Jetzt war auch hier die Lage bedenklich. Auf eine unerklärliche Weise waren Funken des eben in Algier ausgetretenen Brandes bis hierher geflogen und hatten gezündet.

Jetzt weigerten sich die Schwarzen hier ganz plötzlich, die größere Arbeitszeit, die sie bisher ruhig angenommen hatten, weiter zu leisten. Auch hier wurde das Wirken fremder Emissäre zweifelsfrei festgestellt.

Schon waren die Unternehmer unter dem Druck der Regierungen bereit, den Forderungen nachzugeben, als die Dinge eine schlimme Wendung nahmen. In einer Nacht waren die Fabriken und Werke im Tschotigebiet von Ausständigen besetzt und die weißen Werkleiter massakriert worden. Die Gefahr, daß das ganze dortige Industriegebiet den Weißen verlorenging, war riesengroß. Schon sah man die Lage als hoffnungslos an.

Da zeigte sich die Jahrhunderte alte englische Kunst, Kolonialpolitik zu treiben, in hellstem Lichte. Mit Zuckerbrot und Peitsche, mit vielen Versprechungen und Erleichterungen auf der einen, mit brutalster Energie auf der anderen Seite wurde die Ordnung wiederhergestellt. Doch waren es wieder bange Wochen, die Europa schwer bedrückten. Flammenzeichen waren aufgezuckt. Ein Wetterleuchten hatte plötzlich das Gewölk erhellt. Aber noch konnten es die wenigsten verstehen, ja nur ahnen, was diese vorzeitig losgegangenen Signale zu bedeuten hatten.

Etwas anderes, ganz Unerklärliches ereignete sich in dieser Zeit an den europäischen Börsen. Langsam, aber unaufhaltsam sank der Kurs der Aktien der E. S. C. Die Börsen schienen das gewaltige Unternehmen der Europäischen Siedlungkompagnie plötzlich mit einem gewissen Mißtrauen zu betrachten.

Das Direktorium wurde mit Anfragen bestürmt. Seine Auskünfte vermochten die Sache nicht zu klären, keinen begreiflichen Grund für das Sinken der Papiere zu geben.

Eins stand fest. Der Anstoß zu dieser ganzen Baissebewegung war von Amerika gekommen. Das europäische Publikum war dann mit Angstverkäufen gefolgt. Aus dem Ball drohte eine Lawine zu werden.

Da kam ein Tag, an dem der Sturz zum Stillstand kam und der Kurs sogar einige Punkte gewann, um sich von nun an ganz langsam zu erholen.

Was war geschehen? Am Abend vor diesem Tage hatte um 10 Uhr eine Sitzung des Direktoriums der E. S. C. stattgefunden. Zum allgemeinen Erstaunen der meisten Teilnehmer war kurz nach der Eröffnung der Sitzung Georg Isenbrandt in das Zimmer getreten. Er folgte einer dringenden Einladung des Präsidenten Reinhardt.

Eine knappe Stunde hatte er gesprochen. War im Anschluß daran sofort nach Asien zurückgekehrt. Als die Mitglieder des Direktoriums nach der Sitzung das Gebäude verließen, zeigten ihre Gesichter nichts mehr von der Sorge, die bis dahin auf ihnen gelastet hatte.

Ihre zahlreichen chiffrierten Telegramme, die noch in derselben Nacht hinausgingen, zeigten, wie anders die Lage jetzt von ihnen angesehen wurde. Der Besuch Isenbrandts wurde streng geheimgehalten.

* * *

Mittagsglut lastete auf den Ruinen von Karakorum. Unbarmherzig brannte die Sonne auf die tausendjährigen Überreste der alten Mongolenstadt nieder. Zerfallen waren die alten Paläste, in Trümmern lagen die Häuser. Nur noch wenige ärmliche Ansiedler hausten in den Überbleibseln der einstigen großen Hauptstadt.

Außerdem noch die Gefangenen Collin Camerons.

Als damals Wellington Fox in Urga auftauchte, wußte Cameron sofort, daß der Aufenthalt der Witthusens entdeckt sei, daß Freunde am Werke wären, sie zu befreien. Ein anderer sicherer Ort mußte für sie gefunden werden, und Cameron verfiel auf die alte Thingstätte der Mongolen auf Karakorum. Hier, in der Schamowüste, fern von allen Städten, von allem Verkehr . . . des war er sich sicher . . . würde sie so leicht niemand suchen und finden.

Noch in der Nacht nach der Gefangennahme von Wellington Fox war eine Karawane aus Urga nach dem Südwesten aufgebrochen, war viele Tage hindurch nach dem Südwesten gezogen und hatte die Gefangenen nach Karakorum geschafft.

Seit vielen Jahrhunderten war die Stadt ein Trümmerhaufen. Aber unter den Ruinen gab es auch weniger verfallene, unter den weniger verfallenen einige wenige, die noch erhalten und zur Not bewohnbar waren. Einen solchen Bau hatte Collin Cameron für seine Gefangenen bestimmt. Die Wärter, die er ihnen mitgab, die würden sich auch nicht bestechen lassen. Dessen glaubte er sicher zu sein. Hatte er sie zur größeren Sicherheit doch erst noch den schmerzvollen Tod jenes bestochenen Wärters in Urga mit ansehen lassen, bevor die Karawane aufbrach.

Wellington Fox ging mit langen Schritten rastlos in dem von einer hohen Mauer umgebenen Hofe ihres neuen Gefängnisses im Kreise entlang. Er hätte den Weg auch mit geschlossenen Augen finden können, so oft war er ihn in diesen letzten Tagen schon gelaufen.

Hundertfünfzig Schritte in der einen Richtung, wenn er linksherum ging . . . hunderteinundfünfzig Schritte in der anderen Richtung, wenn er den Kreis an den Mauern und Wänden rechtsherum lief.

Diese Differenz von einem Schritt zwischen den beiden Richtungen schuf ihm unaufhörliches Nachdenken . . . und dieses Denken zusammen mit der körperlichen Bewegung des Rundganges hielt ihn frisch, bewahrte ihn vor jener trostlosen Erschlaffung, der Theodor Witthusen zu erliegen drohte.

Heiß und immer heißer brannte die Sonne. In einem schattigen Winkel des Hofes hatte sich Witthusen einen Feldstuhl hingerückt, saß dort und dämmerte vor sich hin.

Wellington Fox spazierte und zählte dabei:

». . . Hundertneunundvierzig . . . hundertfünfzig . . . hunderteinundfünfzig . . . Herrgottshimmeldonnerwetter, wie ist denn das möglich . . . es bleibt bei der unerklärlichen Differenz von einem Schritt . . . All right . . . versuchen wir es noch einmal in der anderen Richtung.«

Auf dem linken Absatz vollführte er eine energische Kehrtwendung. Doch bevor er den Marsch in der anderen Richtung wieder antrat, blieb er erst kurze Zeit stehen, zog das Tuch und trocknete sich den strömenden Schweiß von der Stirn.

Dann ging er wieder los und begann mechanisch die Schritte zu zählen.

». . . Eins . . . zwei . . . drei . . .«

Er blieb nicht lange beim Zählen. Seine Gedanken begannen wieder zu arbeiten. Im Selbstgespräche murmelten seine Lippen:

»Geschieht dir ganz recht, Fox! Warum bliebst du nicht ruhig in deinem Versteck? . . . Warum mußtest du vorzeitig zu dem Hause laufen? . . . Wärst du daheim geblieben, hätte dich der Schuft, der Cameron, nicht gesehen . . . alles wäre geglückt.«

Während er die Worte wütend hervorstieß, kam er auf seinem Rundgang gerade an der Stelle vorüber, an der Witthusen im Schatten saß. Er blieb stehen und trocknete sich von neuem die Stirn.

»Eine schauderhafte Hitze, Herr Witthusen . . . Bessere Vorbereitung für die Hölle . . . Wie erträgt Ihre Tochter die tropische Hitze?«

Mit einer matten Bewegung hob Witthusen den Kopf.

»Sie bleibt fast den ganzen Tag in ihrem Zimmer. Sie leidet und hofft . . .«

»Hofft? . . . Hofft sie auch, daß Isenbrandt uns schließlich auch hier entdecken und dem gelben Gesindel entreißen wird?«

»Sie hofft, Herr Fox . . . wir alle hoffen . . . auch andere Freunde bemühen sich um uns. Mr. Cameron ist in Peking und wird alles tun, um unsere Freilassung . . .«

»Mr. Cameron!«

Scharf und hart war Fox dem Alten ins Wort gefallen.

»Mr. Cameron! . . . Sie glauben, daß er . . .«

Jäh brach Wellington Fox seine Rede ab. Was hatte es für einen Zweck, sich mit Witthusen über Cameron zu unterhalten. Mochte der alte Mann die Hoffnung hegen . . . eine Hoffnung, die ihn immerhin aufrechthielt, den seelischen und damit auch den körperlichen Zusammenbruch zum mindesten aufschob.

»Also hoffen wir, Herr Witthusen! . . . Hoffen wir. Jeder Tag kann schließlich die Befreiung bringen.«

Wellington Fox machte sich wieder auf den Marsch. Er marschierte, er fluchte auf die Hitze, auf die Gelben, auf Collin Cameron, und er erhielt sich durch diese doppelte Bewegung eine gute Elastizität.

Jetzt blieb er stehen und betrachtete kopfschüttelnd den Himmel. Dessen stahlblauer Glanz begann einem verwaschenen Grau zu weichen. Schon schoben sich leichte Schleier vor die Sonne und milderten die Hitze.

Wellington Fox marschierte weiter. Die Viertelstunden verrannen und summten sich zu einer Stunde. Jetzt war der ganze Himmel nur noch ein einziges dunkles Grau. Ein leichter Luftzug bewegte die Zweige der wenigen halbvertrockneten Bäume jenseits der Hofmauer.

Vor Witthusen machte Wellington Fox wieder halt.

»Sehen Sie den Himmel, Herr Witthusen?«

Der Alte blickte empor.

»Ich sehe . . . Regenhimmel? . . . Wolken! . . . In dieser Zeit . . . Wolken über Karakorum . . . Wolken hier in der Wüste, in der es oft jahrelang nicht regnet . . . das verstehe ich nicht, Herr Fox.«

Wellington Fox streckte die Hand aus und wartete. Er wartete, und seine Lippen murmelten. Ich glaube, ich verstehe es . . . Wolken über Karakorum . . . Wolken über der Gobiwüste . . .

Die ersten Tropfen waren ihm auf die Hand gefallen.

»Regen, Herr Witthusen! . . . Dicke Tropfen! Es regnet in der Wüste!«

Verständnislos blickte Witthusen auf die Hand von Fox.

»Regen . . . Regen, hier in der Wüste . . . ich weiß nicht, wie es möglich ist . . . ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat.«

Wellington Fox streckte beide Hände in das stärker fallende Naß. Dann vollführte er einen Luftsprung, der dem alten Kaschgarier Witthusen ein Lächeln entlockte.

»Hat Ihnen der Wüstenbrand so zugesetzt, daß der kühle Regen Sie zu solchen Freudensprüngen veranlaßt?«

Wellington Fox konnte nicht sofort antworten, weil er durch einen neuen Freudentanz vollkommen in Anspruch genommen war.

»Hurra! . . . Bravo!« rief er abwechselnd ein ums andere Mal.

»Der Regen . . .«, sagte er endlich, erschöpft stehenbleibend. ». . . Mann . . . Witthusen! . . . Wissen Sie auch, wo der Regen herkommt?«

Witthusen blickte ihn stumm fragend an.

»Von Isenbrandt kommt er! . . . Isenbrandts Werk ist das!«

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Fox.«

». . . Und ich möchte Ihnen vorläufig nicht mehr sagen . . . Nur das eine noch, Isenbrandt ist auf unserer Spur!«

Stärker rauschte der Regen jetzt hinab. Ein starker strähniger Landregen, wie ihn die Wüste hier seit Menschengedenken kaum gesehen hatte. Er zwang die Männer, das schützende Dach aufzusuchen.

Wellington Fox trat als erster ins Haus.

Maria Witthusen lag auf einem dürftigen Ruhebett. Ihre Gefangennahme . . . der mißglückte Befreiungsversuch . . . der entsetzliche Aufenthalt hier unter den glühenden Strahlen der Wüstensonne . . . das alles hatte ihre Widerstandskraft untergraben. Stunden vollkommener Apathie wechselten mit Ausbrüchen der Verzweiflung.

»Es regnet, Fräulein Maria! Fühlen Sie die wunderbare Frische, die ins Zimmer dringt?«

Einen Augenblick schien Maria Feodorowna aus ihrer Apathie zu erwachen.

»Ja! . . . Es regnet?«

Sie wandte den Kopf und hörte das Rauschen des immer stärker werdenden Regens.

»Es regnet . . . ja . . . es regnet.«

Dann sank sie wieder in ihre alte Teilnahmlosigkeit zurück. Fox überlegte einen Augenblick, wie er ihr die frohe Nachricht beibringen könne. Er fürchtete, daß ein allzu jäher Umschwung der Empfindungen ihr Gefahr bringen könnte.

Die kleine kirgisische Dienerin Marias huschte an ihm vorbei und beugte sich zu ihr.

»Ein gutes Mittel für die kranke Herrin! Ein Mittel gegen die Kopfschmerzen. Ein durchziehender sartischer Händler gab es mir . . . Es wird der Herrin helfen. Er sagte, es muß so gebraucht werden, wie es dabei geschrieben steht.«

Mit einer müden Handbewegung wehrte Maria die Dienerin ab.

Bei der Nennung des sartischen Händlers hatte Wellington Fox aufgehorcht. Er schritt an die Ruhestätte heran und nahm der Kirgisin das Päckchen aus der Hand.

»Geh! Deine Herrin ist müde. Ich werde es ihr später geben!«

Kaum hatte die Dienerin den Raum verlassen, so zerriß er mit fieberhaften Händen die Umhüllung. Eine Tube von der ihm so gut bekannten Form fiel ihm in die Hand. Mit schnellen Griffen löste er den Zettel, der sie umhüllte.

»An Wellington Fox oder die, die es bekommen!

Heute nachmittag um 5 Uhr 30 Minuten müßt ihr den Inhalt der Tube in ein Wassergefäß in eurem Zimmer schütten.«

Der Zettel in Maschinenschrift. Kein Namen darunter.

Schon wollte Wellington Fox seiner Freude in neuen Sprüngen Luft machen, als sein Blick auf Maria fiel. Hallo, alter Fox! Nicht zu stürmisch. Bring es ihr langsam bei.

»Ein vorzügliches Rezept! . . . Ein brillantes Rezept!«

»Was ist's?«

Der alte Witthusen war zu ihnen getreten und ließ sich auf dem Rande von Marias Lager nieder. Er ergriff ihre Hände und streichelte sie leise.

»Was ist Vater? Du schaust so froh?«

»Sprechen Sie weiter, Herr Fox . . . Sie werden es besser sagen können. Ich . . . ich . . . kann nur ahnen . . . die frohe Botschaft . . . die Sie sagen werden.«

»Also, Fräulein Maria! . . . Hier ist das beste Mittel gegen Ihre Kopfschmerzen, das es in der Welt gibt.«

»Sie kennen das Mittel?«

»Jawohl! . . . Ganz genau, Fräulein Maria . . . Es wird hergestellt und vertrieben . . . von meinem Freunde Georg Isenbrandt!«

Maria erhob sich halb von ihrem Lager. Ihre Augen wanderten zwischen Fox und ihrem Vater hin und her.

»Von Isenbrandt? . . . Was ist's«, drängte sie. »Sagen Sie es, Herr Fox! . . . Was schickt uns Georg Isenbrandt?«

Fox lächelte spitzbübisch.

»Das Mittel, um Sie von Ihren Kopfschmerzen und . . . uns aus der Gefangenschaft zu befreien . . . Er selbst ist gekommen.«

Mit einem Ruck erhob sich Maria Feodorowna vollständig von ihrem Lager.

»Er ist gekommen? . . . Georg Isenbrandt ist da?«

Alle Müdigkeit . . . alle Erschlaffung war von ihr gewichen. Sie eilte zur Tür. Ihre Augen suchten forschend durch das fahle Grau. Mit gierigen Atemzügen zog sie die frische Kühle in ihre Brust ein.

»Sein Bote! . . . Der Regen!« sagte Witthusen.

Maria drehte sich um und schaute ihren Vater fragend an.

»Wann kommt er selbst?«

Ein freudiger Glanz lag in ihren Augen. Ein leichtes Rot bedeckte die blassen Wangen.

»Bald, Kind! . . . Bald kommt er und bringt uns Freiheit.«

Ein Zittern ging durch Marias Gestalt. Witthusen nahm sie in seinen Arm und führte sie zu ihrem Lager zurück.

»Zuviel des Guten! Mut, Kind! . . . Mut!«

Wolkenbruchartig strömte jetzt der Regen herab. Schon bildete der ganze Hof eine einzige Lache. Immer düsterer, jetzt nicht mehr grau, sondern fast schwarz, ballten sich massige Wolken und gossen den schweren Sturzregen auf das Land.

»O Gott, was für ein Unwetter!«

»Ein Unwetter, das uns die Rettung . . . die Freiheit bringt.«

». . . Kann ein Mensch Sturm und Wetter senden, wie er will? Wind und Wetter schicken? . . . Erinnern Sie sich, Herr Fox. Wir sprachen auf der Fahrt von Orenburg nach Ferghana darüber. Es war der Punkt, an dem die Künste Ihres Freundes versagten.«

»Damals Fräulein Maria!«

»Und heute?«

»Und heute ist es . . . vielleicht anders.«

Eine kurze Pause des Schweigens. Unterbrochen durch schwere Donnerschläge und zuckende Blitze. Inmitten der strömenden Regengüsse kam ein Gewitter von unerhörter Stärke zum Ausbruch. Es gab Minuten, in denen ein Blitz dem anderen fast unmittelbar folgte, in denen das Rollen und Grollen nicht zur Ruhe kam und jede Rede unmöglich war.

In einer Pause des Tobens der Elemente sprach Maria:

»Das Blatt in dem Päckchen trägt keine Unterschrift . . . keinen Namen . . . sind Sie so sicher, daß es von Ihrem Freunde kommt?«

»Kein Zweifel, Fräulein Maria.«

»Warum hat Ihr Freund seinen Namen nicht daruntergeschrieben?«

»Weil es nicht gut . . . nicht klug ist, den Namen Isenbrandt in das Land der Gelben zu tragen . . . Nicht gut für den Träger der Botschaft . . . auch nicht gut für die, an die die Botschaft gerichtet wurde . . .«

Ein neuer Donnerschlag unterbrach seine Rede und ließ das ganze Gebäude bis in die Grundfesten erzittern. Erschreckt drängte sich Maria an ihren Vater. Die kleine Kirgisin kam wieder in den Raum. Verstört und hilfesuchend. Das Unwetter schien den Weltuntergang einzuleiten.

Jetzt war es ganz dunkel in dem Zimmer. Nur die Blitze warfen durch die kleinen, hoch unter der Decke liegenden Fenster ihre jähen bläulichen Reflexe.

Wellington Fox allein blieb ruhig und äußerlich wenigstens unbewegt. Wieder zog er die Uhr.

»Zwanzig Minuten nach Fünf.«

In einer Pause zwischen zwei Donnerschlägen klangen die Worte durch den Raum.

Der Regen begann jetzt milder zu fallen. Aus dem Wolkenbruch wurde ein einfacher Landregen.

Ging das Unwetter seinem Ende entgegen? Sollte der Aufruhr der Elemente ebenso jäh zur Ruhe kommen, wie er ausgebrochen war?

Seltener wurden die Donnerschläge, seltener die zuckenden Blitze. Aber die Helligkeit im Raume wurde nicht geringer. Auch jetzt noch fiel Licht durch die Fenster.

Der Himmel selbst schien zu leuchten.

Wellington Fox lief bis an die Hoftür. Er streckte die Hände in den Regen und zog sie mit einem Aufschrei zurück. Kochendes Wasser war ihm darauf gefallen und hatte ihn verbrüht.

Er kehrte in das Zimmer zurück und rieb sich die schmerzende Hand. Spürte dabei, wie die Wärme auch im Zimmer zunahm.

Nach der Sonnenglut des Tages hatte der erste schwere Wolkenbruch angenehme Kühlung gebracht. Jetzt begannen die Fluten zu sieden und zu kochen.

Wellington Fox sah auf die Uhr.

»Halb sechs!«

Mit schnellem Griff löste er den Verschluß der Tube, schüttete den ganzen Inhalt in den Krug, warf auch die Tube nebst Deckel hinein. Trat dann wieder zu den Witthusens.

Es war jetzt hell im Zimmer. Wie Feuer leuchtete der Himmel durch die Fenster. Soweit das Firmament durch die kleinen Öffnungen zu übersehen war, schien es in Flammen zu stehen.

Noch einmal wagte Wellington Fox den Gang bis zur Hoftür. Schon auf dem Flur vom Zimmer bis zum Hofe schlug ihm drückende Hitze entgegen.

Dann stand er einen Augenblick an der geöffneten Tür und sah . . . wie aus dem Wasserregen ein Feuerregen geworden war.

Nicht mehr Wassertropfen . . . auch nicht mehr kochendes Wasser . . . das klare Feuer fiel in Regenform vom Himmel herab. Solchen Anblick mochten die Bewohner Pompejis gehabt haben, als der Vesuv ihre Stadt begrub. Solchen Anblick die Bewohner von Sodom und Gomorra, als ihre Städte im Schwefelregen zugrunde gingen.

Die brennende Hitze trieb Wellington Fox zurück. Er schlug die schwere Bohlentür hinter sich zu und eilte über den Flur wieder in das Zimmer.

Erfrischende Kühle umfing ihn hier. Er blickte nach dem Tisch.

Wo er vor kurzem noch den Krug gesehen hatte, lag jetzt ein gewaltiger massiver Eisblock. Graue Nebel umwallten ihn, liefen über die Tischplatte, fielen schwer zu Boden und wogten durch das Zimmer, um an den Wänden langsam emporzusteigen. Nebel, die eine herbe Kälte durch den ganzen Raum verbreiteten.

Wellington Fox gedachte des Tages, an dem er Georg Isenbrandt vor einem ähnlichen Frostblock in Wierny angetroffen hatte. Er dachte an die Erklärung Isenbrandts damals, daß hier nicht nur das Wasser, sondern die Luft selbst gefriert. Daß Weltraumkälte von dieser Stelle aus ging . . . und er begann den Plan des Freundes zu begreifen. Da draußen tobte die Wut des Dynotherms, ließ Feuer vom Himmel fallen und vernichtete alles Leben, soweit es in den Ruinen vorhanden war. Hier drinnen bei ihnen in diesem kleinen Raume arbeitete die Macht des Antidynotherms der Glut entgegen und schützte ihr Leben.

Er trat an die Fensterwand und berührte sie. Sie war brennend heiß. Von außen her drang die Glut durch die starken Mauern, bis sie hier durch die Frostschleier gebrochen wurde.

Mit wunderbarer, genau abgemessener Genauigkeit vollzog sich das Spiel und Gegenspiel der Riesenkräfte und ließ in der brennenden und verglühenden Ruinenstadt hier allein einen Ort, an dem das Leben dauern und den allgemeinen Untergang überstehen konnte.

Mit Staunen und Grauen sahen die Eingeschlossenen das furchtbare Schauspiel. Ihre Lippen waren längst verstummt. Auch dem sonst nie um Worte verlegenen Fox fehlte die Sprache.

Hätte das Blatt mit Isenbrandts Worten nicht vor ihnen gelegen, sie hätten geglaubt, der Jüngste Tag bräche herein.

Sie saßen und sahen wie gelähmt das Furchtbare sich vollziehen.

Wann würde es enden?

Unablässig fiel das Feuer . . . bis es nach langer Zeit schwächer wurde.

Nur noch matt glänzten jetzt die Fensteröffnungen. Ganz allmählich ging dort der gelbe Schimmer in einen grünlichen über. Tiefer wurde das Grün und spielte ins Blau hinüber.

Eine Viertelstunde . . . und dann noch eine.

Ein Geräusch schreckte sie aus ihrer Erstarrung empor.

Ein Rasseln an der Außentür. Ein Poltern, als ob sie in Trümmern zusammenstürzte.

Dann Schritte auf dem Flur.

Die Tür zum Zimmer wurde aufgerissen. Rotgolden flutete das Licht der Abendsonne in den Raum. Vor ihnen stand Georg Isenbrandt.

»Hurra! Gerettet!« schrie Wellington Fox.

Mit erhobenen Armen eilte Theodor Witthusen auf den Retter zu.

Doch der sah sie beide nicht. Seine Augen waren auf Maria gerichtet, die jetzt wie unter einem inneren Zwange auf ihn zuschritt.

Ihre Hände verschlangen sich. Ihre Blicke versenkten sich sekundenlang ineinander.

»Maria!«

»Georg!«

* * *

Mr. Garvin streifte nachdenklich die Asche von seiner Zigarre. Sein Blick glitt über die Abhänge des Matteostocks und die blaue Flut des Stillen Ozeans, um dann an der Gestalt von Wellington Fox haften zu bleiben, dessen Profil sich scharf gegen den azurfarbenen Himmel abhob.

Anders als damals in Wierny blickte Francis Garvin heute auf den Journalisten, der in lässiger Haltung auf der schmalen Balustrade saß und vergnügt mit den Beinen schlenkerte, als hätte er eben irgendeine Belanglosigkeit zum besten gegeben. Schon der gute Humor, mit dem Fox seine Abenteuer in Urga und Karakorum erzählte, hatte dem kühlen Geschäftsmann gefallen. Ein Mann, der mit solchem Gleichmut von schwersten Lebensgefahren sprach, mußte doch etwas anderes sein, als Garvin bei dem ersten Hören von dessen Namen gefürchtet hatte.

»Und niemand hat außer Ihnen beizeiten die schwere Gefahr erkannt und entdeckt, die unser Land bedroht?«

»Keine Seele! Als ich dem Meister unseres Weißen Ordens hier in Frisko die nötigen Mitteilungen machen wollte, feierten sie gerade das hohe Fest des Holundermarks . . .«

Garvin schaute ihn fragend an.

»Was? . . . Was ist das?«

»Was das ist, Mr. Garvin? Ein Humbug in Reinkultur, der aber von der an sich guten und gesunden Organisation nicht zu trennen ist. Der Meister hatte gerade die Zeremonie beendet, als ich ihn um eine Unterredung bat.

Ich habe selten ein so erstauntes Gesicht gesehen wie das von . . . pardon, ich darf Ihnen den Namen nicht nennen, da Sie nicht Mitglied sind . . . Ein so erstauntes Gesicht bei einem Manne, der doch sonst als kluger und energischer Politiker bekannt ist.«

Garvin lachte.

»Und weiter?«

»Ich mußte es bewundern, wie schnell und richtig er dann aber die Sache anfaßte und seine Maßnahmen traf. Da war es im Augenblick mit all dem komischen Beiwerk aus.«

»Wurden Sie nicht daraufhin um dreizehnundeinenhalben Grad hinaufbefördert?«

»Stopp, Sir! Wenn Sie heut in sechs Wochen noch sind, was Sie heute sind, werden Sie es nicht in letzter Linie dem Weißen Orden und seinen Holundermännern verdanken. Wer unseren Orden mit den alten Ku-Klux-Klan-Leuten vor hundertfünfzig Jahren verwechselt, der befindet sich in einem schweren Irrtum. Die Parole: ›Reinhaltung der weißen Rasse‹ ist dieselbe geblieben. Auch viele von den mittelalterlich anmutenden Gebräuchen und Zeremonien haben sich noch erhalten. Aber der Geist ist ein ganz anderer geworden . . . und andere Wege verfolgt er zu seinem Ziel. In den kommenden Wochen wird er die Feuerprobe bestehen . . .«

Garvin wiegte in leisem Bedenken das weißbuschige Haupt.

»Ich bezweifle die Richtigkeit Ihrer Mitteilungen nicht, lieber Fox. Doch möchte es mir scheinen, als ob Sie die Gefahr als zu groß ansehen . . .«

Wellington Fox deutete mit der Hand auf die blaue Küste.

»Meine Ansicht ist die, Mr. Garvin, daß es sich empfehlen dürfte, Ihre Jacht fahrbereit Tag und Nacht hier unten zu Ihrer Verfügung liegen zu haben . . . Es sei denn, daß Ihre Liebe zu Helen nicht so groß wäre als meine . . .«

»Was ist mit Helen? . . . Was soll Helen?«

Mit einem Sprunge war Helen über den Marmorboden hin auf die beiden zugeeilt. Fox glaubte, sie wolle ihm um den Hals fallen, fühlte sich aber mit einem energischen Ruck nach vorn gezogen, daß er beinahe mit der Nase den Boden berührte. Ein kräftiger Klaps von Helens kleiner Hand bewies ihm noch näher, daß er mit seiner ersten Vermutung im Irrtum gewesen war.

»Wellington! . . . Was bist du für ein fürchterlicher Mensch! . . . Du sitzt da auf der Balustrade wie in einem Klubsessel, während es hinter dir fünfzig Meter in die Tiefe geht. Und du, Pa, siehst das mit an?!«

Der alte Garvin schmunzelte.

»Ich halte Mr. Fox für viel zu klug, um hier herunterzufallen . . . Und wenn er's täte, würde es ihm wahrscheinlich auch nichts schaden.«

»Pa . . .«, klang es vorwurfsvoll aus Helens Mund. »Du bist häßlich! Wie kannst du so etwas sagen. Ich meine, du solltest doch jetzt anders über Wellington denken.«

»Tue ich auch, mein liebes Kind! Meine Hochachtung ist, das gestehe ich offen, immer mehr gestiegen, je länger ich ihn kenne. Jetzt bin ich schon beinahe so weit, daß ich auch das große Geschäft, das er mir damals in Aussicht stellte, nicht mehr für eine Fata Morgana halten würde.«

»Oh, wie freue ich mich darüber, Pa! Einen Kuß für dich und zwei für Wellington!«

»Helen, gib deinem Vater auch noch den zweiten und bitte auch du ihn, das zu tun, um das ich ihn gebeten habe.«

»Was war das?«

»Nichts für dich, kleine Helen!«

»Oh, schon Geheimnisse vor mir? Aber Helen ist nicht neugierig. Pa, du wirst es tun, um was Wellington dich bat.«

»Ich werde es tun!«

Helen fiel ihrem Vater um den Hals.

»Liebster, bester Pa, dafür bekommst du noch zwei Küsse.«

* * *


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