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Der Höhepunkt der Festlichkeiten war überschritten. Eine Reihe von rauschenden Tagen, während der kochende See unaufhörlich unendliche Wolkenmengen nach Nordwesten entsandte.
Die offiziellen Gäste waren abgereist, die Siedler zu ihren Farmen zurückgekehrt. Das sportliebende Reisepublikum benutzte die Gelegenheit, Hochgebirgstouren zu unternehmen und Schneesport an den Hängen der Kogartberge zu treiben.
Die Mitglieder des Direktoriums der E. S. C. und die diplomatischen Vertreter der europäischen Staaten weilten noch in Wierny. In den letzten Maitagen traten die Direktoren hier zusammen. Es war ein besonderer Wunsch Isenbrandts gewesen.
Isenbrandt sprach in dieser Sitzung. Er knüpfte an die Salzung des Balkaschsees an. Überzeugend wies er nach, daß dies Unternehmen nur teilweise Wirkung haben könne, solange die politische Grenze die Schmelzungen im oberen Ilitale unmöglich mache.
Georg Isenbrandt sprach weiter:
»Die Dämpfe, die der See jetzt hergibt, reichen eben aus, um ein Gebiet von zehntausend Quadratmeilen dauernd zu befruchten. Ganz anders wäre es, wenn wir im ganzen Quellgebiet des Ili schmelzen könnten. Viele tausend Quadratmeilen Landes würden dann für Siedlungen neu gewonnen werden.
Ich berühre damit ein Ihnen wenig angenehmes Thema . . . Die Besitzfrage des Ilidreieckes . . .«
Ein nervöses Summen ging beim Fallen dieser Worte durch die Versammlung. Einen Augenblick war es still. Dann sprang der französische Direktor mit romanischer Lebhaftigkeit auf:
»Ich begreife nicht, wie diese Frage gerade jetzt aufs Tapet gebracht werden kann, da sie doch dem Schiedsgericht unterliegt, das in nächster Zeit seinen Spruch fällt. Nach meinen Informationen ist ein für uns günstiges Ergebnis zu erwarten.«
»Letzteres ist mir neu«, sagte Isenbrandt. »Wäre es wahr, würde die Frage noch viel dringender sein.«
Mit unverhohlenem Erstaunen blickten die Teilnehmer auf Georg Isenbrandt. Wie war das gemeint?
»Sie sehen mich fragend an, meine Herren. Wie der Schiedsspruch auch ausfallen mag, gutwillig wird China diese starke Position nicht aus den Händen lassen.«
»Aber der feierlich beschworene Vertrag?«
Von verschiedenen Seiten klang der Einwurf.
»Der Schiedsgerichtsvertrag wurde zwischen Europa und dem Kaiser Schitsu geschlossen.«
»Und weiter?« schallte es ihm entgegen.
»Er wird keine Geltung haben . . . für des Kaisers Nachfolger!«
Einen Augenblick herrschte absolute Stille. Dann kamen die Fragen von allen Seiten.
»Was? . . . Was? . . . Was geht uns des Kaisers Nachfolger an, da er selbst lebt . . . in voller Gesundheit lebt?«
»Der Kaiser Schitsu ist tot. Schanti . . . Toghon-Khan von Dobraja ist Regent!«
Der Eindruck der Worte auf die Versammlung war nicht zu beschreiben. Einige fuhren überrascht auf. Ein anderer und nicht der kleinste Teil gab seinem Unwillen, ja seiner Entrüstung über die Äußerung Isenbrandts lebhaften Ausdruck.
»Wie können Sie es wagen, uns solche Märchen aufzutischen?«
Über das Stimmengewirr erhob sich die schneidende Stimme des Franzosen:
»Wie können Sie ableugnen, was tausend Augen gesehen haben?«
Wieder trat Stille ein. Man wartete auf die Rechtfertigung Isenbrandts.
»Tausend Augen haben gesehen, daß ein Mann von Schehol in einem Glaswagen nach dem Kaiserpalast in Peking gefahren wurde.«
Isenbrandt hielt einen Augenblick inne. Mit einem Lächeln sah er auf die Gesichter, die gespannt zu ihm aufblickten.
»Ich leugne nicht, daß dieser Mann der Kaiser Schitsu war . . . aber . . .«
Hier vertiefte sich der lachende Zug um seinen Mund.
»Der Mann war tot! . . . Komödie war alles!«
Wie eine Bombe wirkten die Worte Isenbrandts. Keiner blieb auf seinem Platz. Von allen Seiten umströmten sie den Sprecher und bestürmten ihn mit Fragen.
»Meine Herren,« begann Isenbrandt nach einer kleinen Weile, »die Zeichen Ihrer Verwunderung kommen mir nicht überraschend. Was die Welt, was ganz China geglaubt hat, weshalb sollten Sie es nicht auch geglaubt haben?«
Wieder die schneidende Stimme des Franzosen:
»Unmöglich! Eine derartige Blasphemie! Das wäre der gröbste Betrug, den die Welt je gesehen!«
»By Jove!« kam es lachend aus dem Munde des Engländers. »Eine Komödie der Weltgeschichte, die ich den gerissensten aller Schauspieler, den Gelben, wahrhaftig zutraue . . . ha ha . . . das Stückchen wäre nicht übel!«
Er schlug sich behaglich lachend auf seine prallen Schenkel und brachte auch einen Teil der Gesellschaft zum Lachen.
»Meine Herren« – die Stimme des Präsidenten durchbrach das Stimmengewirr – »ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen. Herr Isenbrandt wird seine Behauptungen begründen.«
Der stand einen Augenblick sinnend da.
»Begründen? . . . Wie soll ich das begründen? Den toten Kaiser kann ich Ihnen nicht vorführen. Ich kann Ihnen nur folgendes versichern. Bei meiner Ehre . . . Meine Gewährsleute zu nennen ist unmöglich . . .
Am 5. Mai um die sechste Abendstunde ist Kaiser Schitsu in Schehol an seiner Schußwunde gestorben. Am 4. Mai ernannte er den Herzog von Dobraja, den Schanti, zum Regenten. Der ominöse Ring des Dschingis-Khan ist am Finger des Schanti.
Glauben Sie mir . . . ober glauben Sie mir nicht! Für mich stehen diese Tatsachen fest.«
»Für mich auch!« bekräftigte der Engländer. »Nur noch eine Frage, Mr. Isenbrandt. Zu welchem Zweck wurde diese göttlichste aller Komödien in Szene gesetzt?«
»Die Erklärung ist einfach. China ist schweren inneren Erschütterungen ausgesetzt, wenn der Tod des Kaisers bekannt wird, bevor eine kräftige Faust die Zügel der Regierung fest in den Händen hat. Vergessen Sie nicht, der todbringende Schuß wurde von der Hand eines Republikaners, eines Südchinesen, abgefeuert. Die Herrschaft des Kaisers war zu jung, der Einheitsgedanke noch nicht allgemein genug geworden. Ehrgeizige Machthaber der früheren Zeit sind noch am Leben, ihre Hoffnungen nicht begraben. Alles dessen ist sich der Schanti bewußt. Ich kenne den Mann! Sein Ehrgeiz ist unermeßlich. Er war in jeder Beziehung die rechte Hand des verstorbenen Kaisers. Mein Interesse hat sich ihm deshalb besonders zugewandt, weil er gerade unseren Unternehmungen vom Kaiser als Gegenpart an der chinesischen Westgrenze entgegengestellt war. In mancher Beziehung ist der Schanti vielleicht sogar vorausschauender und großzügiger, als es der tote Kaiser gewesen. Mit Entsetzen wird einst die weiße Welt seine furchtbare Gegnerschaft erkennen.«
Georg Isenbrandt schwieg. Zum Zeichen, daß er nicht gewillt sei, noch weitere Erklärungen zu geben, nahm er auf seinem Stuhl Platz. Wie in Erz gegossen lehnte er ruhig in seinem Sessel, unbewegt von den vielen fragend auf ihn gerichteten Blicken.
Wieder ein Durcheinander von Reden und Gegenreden. Dann der Präsident:
»Meine Herren! Mag der Kaiser oder der Regent in China herrschen. Ich für meine Person bin geneigt, den überraschenden, aber gutbegründeten Mitteilungen des Herrn Isenbrandt Glauben zu schenken. Aber ich kann nicht glauben, daß eine neue chinesische Regierung nicht die von der alten unterzeichneten Verträge halten sollte. – Der Spruch des Schiedsgerichts ist bestimmt in kurzer Zeit zu erwarten. Wir müssen ihn abwarten, bis dahin die Grenzen respektieren. Ich bitte die Herren, die meiner Meinung sind, aufzustehen.«
Die bei weitem größere Anzahl der Anwesenden erhob sich. Isenbrandt war überstimmt.
»Cowards!« murmelte der Engländer, der sitzengeblieben war. »Auf die Manier hätten wir das englische Weltreich nie zusammengebracht.«
* * *
Der Basar in Wierny zeigte unter dem Einfluß der Festlichkeiten ein besonders lebensvolles Bild. Seit Menschengedenken hatten die Kaufleute, die hier mit den Erzeugnissen Asiens handelten, nicht solchen Umsatz gehabt. Fast jeder Bewohner glaubte, von hier ein Andenken mitnehmen zu müssen.
In buntem Strom zogen Fremde und Einheimische durch die schmale Basargasse.
Vor einer Auslage mit seinem chinesischen Porzellan stand Helen Garvin mit ihrer Freundin Florence.
»O sieh, Florence, da, die wundervollen, zarten Muster! Noch schöner als die von Kaschgar, die mir Pa in einer bösen Laune verdarb.«
»Noch nicht genug, Helen? Du kaufst ja, als ob du eine Ausstattung kaufen müßtest. Dein armer Diener keucht bereits unter seiner Last. Kann dein Vater so böse werden, daß er . . . das Eigentum seines Lieblings zerschlägt?«
»Ach, Florence, nur dann, wenn der Name Wellington Fox fällt. Dann kann er sehr, sehr böse werden.«
»Wer ruft hier Wellington Fox?« klang es hinter ihnen.
»Ach . . . du? . . . Sie?« . . . Mit einem kleinen Schrei drehte Helen Garvin sich um.
»Sie? . . . Herr Fox! . . . Wenn man den Fuchs ruft, sitzt er hinter der Hecke.«
Mit einem freundlichen Lächeln begrüßte Florence Dewey den Journalisten.
»Es bedarf wohl keiner Vorstellung mehr, meine Gnädige. Miß Helen wird Ihnen von mir erzählt haben, wie sie mir von Ihnen sprach. Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich die Gelegenheit benutze, einige Worte mit Miß Helen zu sprechen. Über das Prekäre unserer Lage dürften Sie wohl genügend unterrichtet sein.«
»Oh, sehr wohl, Mr. Fox. Meine Sympathien sind ganz bei Ihnen beiden. Doch ich glaube, aus den paar Worten werden viele werden. Du wirst verzeihen, liebe Helen, wenn ich mich eine Weile entferne. Am Ende der Straße sahen wir einen kleinen stillen Park. Dort kannst du mich später wiedertreffen.«
Mit flüchtigen Schritten eilte Florence ihrem Ziele zu. Tief aufatmend trat sie in das kühle Grün. Die Stille, die in dem parkartigen Garten herrschte, legte sich beruhigend auf ihr erregtes Herz. Das Liebesglück der Freundin hatte die alten Wunden ihrer Seele schmerzlich berührt.
In einem stillen Seitenweg fand sie eine Bank, auf der sie sich niederließ. Seltsame Schauer liefen über ihr Herz.
Kämpfen um das Glück? fragte sie sich bang. Ein leises, aufschluchzendes Stöhnen kam aus ihrer Brust.
War's nicht auch der tiefverwundete Stolz der Florence Dewey gewesen, der ihr den letzten Brief an Averil Lowdale diktierte? Sie suchte in den verstecktesten Falten ihres Herzens.
Nein! Der Spiegel ihrer Seele war rein. Die Liebe zu Averil war größer als alles gewesen.
Sie schloß die Augen und versank in unruhiges Träumen . . . Plötzlich war's ihr, als sei ein Schatten vor sie getreten. Noch zögerte sie, die Augen zu erheben, da klang das Wort »Florence« an ihr Ohr.
Mit einem leichten Aufschrei taumelte sie empor. Ihre Hände griffen an die Schläfen.
»Averil!«
Halb ohnmächtig sank sie auf die Bank zurück, die Arme wie zur Abwehr von sich gestreckt.
»Ich bin's, Florence.«
»Nein! . . . Nein, Averil! Laß mich gehen, gehe fort!«
Ein tödlicher Schrecken klang aus ihren Worten.
»Oh, sei nicht so grausam, Florence. Höre mich an . . . was tat ich, daß du meine Liebe zurückwiesest? . . . Soll ich büßen, was mein Vater dir antat? Florence, bei der Erinnerung an die seligen Stunden unseres Glücks . . . war es Wahrheit, was du in deinem Brief schriebst . . . oder war es gekränkter Stolz, der dich so schreiben ließ? Sprich, Florence! Antworte mit!«
Er beugte sich nieder und berührte ihre Hand. Sie zuckte vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Sie sah ihn an mit weitgeöffneten Augen. Dann senkte sie die Lider.
»Averil!«
Sie hatte den Namen kaum hörbar geflüstert, und doch lag in diesem sterbenden Hauch aus den bleichen Lippen mehr als in dem lautesten Schrei.
Mit der Berührung ihrer Hände schien sie sich umgewandelt zu haben. Jedes Hemmnis sank auf den Grund, verschwand in endlosem Dunkel. Eine Vorstellung des Glücks glitt durch ihre Seele, ein unbeschreibliches Lächeln ging über ihre Züge. Rückhaltlos gab sie sich in diesem einen hingehauchten Wort.
»Florence!«
Averil kniete nieder und küßte die Hände, die sie ihm willenlos überließ.
»Kann Liebe so grausam sein?«
Ein Wunsch schien sich in ihr zu regen, den sie nicht ausdrücken konnte. Mit zager Bewegung nahm sie seinen Arm und legte ihn um ihren Hals . . . schlang ihre Arme um seinen Nacken. Da zog er sie an sich und küßte sie auf ihren Mund.
»Alles ist versunken . . . alles ist verschwunden. Nur unsere Liebe ist geblieben . . . Daß ich ihn je wieder küssen würde, deinen süßen, reinen Mund!«
Ein Schauer rann durch ihre Glieder.
»Das ist er nicht mehr . . . der reine Mund«, sagte sie mit leisem Klagelaut.
»Florence! Du . . .«
Averil war aufgesprungen. Keuchend kamen die Worte aus seiner Brust.
»Willst du mich wieder aus dem höchsten Himmel in die tiefste Hölle stürzen?«
Er stand da . . . in dem gebrochenen Schatten des Baumes, jeder Kraft beraubt . . . verirrt wie in einer Wüste.
Florence hatte das Gesicht in den Händen vergraben . . .
Der Kies knirschte unter einem Schritt.
Mit jähem Ruck blickte sie auf.
»Du willst gehen? . . . Ja, gehe . . . gehe. Es ist zu spät, zu spät. Ich bin einem anderen versprochen!«
Sie taumelte und wäre zu Boden gestürzt, hätte er sie nicht in seinen Armen aufgefangen.
»Florence! Es ist nicht wahr. Ich bitte dich, sprich!«
Er schrie es fast. Zitternd lag Florence an seiner Brust. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Ihr war, als versänke sie in einem eisigen Strom.
Da fühlte er die Wahrheit. Es war kein leeres Wort, das in sein Ohr geklungen.
Regungslos stand er, sog mit bebenden Atemzügen den Luftstrom ein und starrte in den weiten Raum. Zerbrochen, zerschellt lag alles am Boden.
»Du liebst ihn . . . den anderen? . . . Nein! Du liebst ihn nicht . . . Kannst ihn nicht lieben. Und doch willst du ihm folgen! . . . Und ich?«
Er löste ihre Arme und drängte sie zurück.
»Und ich? . . . Ich soll zugrunde gehen?!«
»Averil!«
Flehend kam es von ihren Lippen. Alle Kraft schien von ihr gewichen. Schwach und gebrochen sank sie auf der Bank zusammen.
Unendliches Mitleid wogte im Herzen Averils. Er hätte sie in seine Arme nehmen, sie trösten, sie hegen mögen. Und trotzdem bewegte er sich nicht, sprach er nicht, machte er keinen Versuch, diese Qual zu kürzen, an der sie beide litten.
Der Klang einer Glocke, der aus weiter Ferne zu ihm drang, ließ ihn aus seiner Erstarrung erwachen. Er hob die Hand und fuhr ihr mit linder Bewegung über das Haar, die Wange, das Kinn. Und als ob diese Hand ihr das Herz zerspalte, brach sie in haltloses Schluchzen aus.
Er setzte sich zu ihr, hob ihr tränenüberströmtes Gesicht und legte es an seine Brust.
»Erzähle, Florence!«
Mit schmerzlicher Anstrengung entwand sie sich seinen Armen.
»Averil . . .«
Ihre bebenden Lippen suchten vergeblich nach Worten.
»Wenn ich dir weh tat, Florence, verzeihe mir!«
Averil versuchte ihre Hand zu nehmen, sie durch die Berührung zu beruhigen.
Da plötzlich erhob sie den Kopf. Ihre Augen blickten mit totenhafter Starrheit ins Weite, als sähen sie etwas, was nicht da war. Ihre trockenen Lippen begannen zu sprechen.
»Ich war krank . . . ich hatte nur den einen Wunsch zu sterben, um die Qual zu kürzen. Ich hatte dich von mir gewiesen und sah und dachte nichts anderes als dich. Du warst in mir, wie eine Qual . . . ein Feuer . . . ein Wahnsinn . . . Ein mexikanischer Geschäftsfreund meines Vaters besuchte uns. Ich kannte Don Manuel Oregon seit meiner frühesten Jugend. Oft hatte ihn mein Vater als meinen ältesten und treuesten Verehrer geneckt . . . Ich sah in ihm nie mehr als einen liebevollen väterlichen Freund. Es war kurz vor meiner Abreise mit Helen Garvin . . . Er warb um mich . . . Er sah meine Seelennot und schaute hinein in mein zuckendes, sich abringendes Herz, als ob es offen vor seinen Blicken läge. Er nahm meine Hände und sprach liebevoll . . . demütig zu mir. Und doch lag in seinen Worten der Wille und die Kraft, mich zu befreien . . . mir das Glück zu geben, für das mein Herz noch Raum bot. Und . . . ich gab ihm meine Hand.«
»Und du wirst ihm folgen . . . diesem Manne? . . . Liebelos?«
Alles heiße Wünschen, alle Leidenschaft, Empörung und Klage sprach aus Averils Worten.
»Florence, ich lasse dich nicht. Mein bist du allen zum Trotz. Dir selbst zum Trotz!«
Er preßte sie an sich und küßte auf ihre Augen, ihre Stirn, küßte die Tränenspur auf ihren Wangen und verschloß die widerstrebenden Lippen mit glühenden Küssen.
Sie versuchte ihn zu beruhigen, sich loszumachen. Gewaltsam befreite sie sich aus seinen Armen, sprang von der Bank empor und wich vor ihm zurück.
»Sei gut zu mir, Averil! Schone mich. Es kann nicht sein . . . Du mußt nun gehen, vergiß mich!«
»Ich dich vergessen? . . . Ich gehen, wo ich weiß, du liebst mich . . . liebst mich noch!«
»Ja, Averil! . . . Gehe, ich bitte dich. Was uns damals trennte, trennt uns heute auch.«
»Und weißt du, wohin du mich schickst? Ich gehe zugrunde ohne dich! . . . Florence!«
Seine Augen rangen mit ihr in stummer Verzweiflung. Da schritt sie auf ihn zu und legte die Hände auf seine Schultern.
»Averil! Ich habe dich lieb . . . bis in den Tod.«
Eine schmerzlich-selige Milde lag auf ihrem Gesicht.
»Wenn meine Liebe dich bittet, zu gehen, wirst du es tun?«
Ein Beben ging durch die Gestalt des Mannes. Alles Blut wich aus seinem Gesicht. Kaum verständlich, nur ein rauhes Flüstern war sein: »Leb wohl!«
* * *
Kaum hatte Wellington Fox seinen Namen genannt, als ihn der Diener in das Arbeitszimmer Garvins führte. Ein großes, von angenehmer Kühle durchwehtes Gemach. Schwere Vorhänge verhüllten die Fenster und schufen ein leichtes Dämmerlicht.
An einem kleinen Schreibtisch saß Francis Garvin, von Kopf bis zu Fuß in blendendes Weiß gekleidet. Das Gesicht verschlossen und eisig kühl.
Mit einem kurzen Kopfnicken beantwortete er die achtungsvolle Verbeugung von Fox. Noch ehe dieser auf einem Sessel Platz genommen hatte, begann er die Unterhaltung.
»Ich habe Sie zu einer Unterredung gebeten, um Ihnen das mündlich zu sagen, was Sie sich bei einiger Überlegung selbst hätten sagen können.«
Er hielt einen Augenblick inne. Seine harten, grauen Augen sahen Fox durchdringend an.
»Daß ich meine Einwilligung zu einer Verbindung zwischen Ihnen und meiner Tochter Helen nicht geben werde.«
Fox nickte leicht zustimmend.
»Sehr wohl, Mr. Garvin. Ich habe darüber keinen Zweifel gehabt.«
Garvins Brauen zuckten fragend empor.
»Dann darf ich wohl fragen, weshalb Sie sich meiner Tochter Helen in so unzarter Weise genähert haben? Helen ist ein Kind. Sie haben eine schwere Schuld auf sich geladen, als sie Helens Dankbarkeit für die Errettung aus dem Schneesturm in einer Weise . . . in einer Weise ausnutzten, die den Seelenfrieden meines Kindes tief stören muß.«
Wellington Fox schlug behaglich ein Bein über das andere und lehnte sich bequem in seinen Sessel zurück.
»Ihr Vorwurf trifft mich nicht, Mr. Garvin. Zunächst ist Helen kein Kind mehr. Sie ist seit einem Jahr volljährig. Ihre Einwilligung zu unserer Verbindung ist daher ohne Belang. Wenn Helens Natur viel von der Unbefangenheit und Fröhlichkeit eines Kindes behalten hat, so sehe ich darin ein Geschenk Gottes, für das ich ihm von ganzem Herzen dankbar bin . . . aber Ihre Einwilligung . . . die brauche ich nicht, Mr. Garvin.«
Es schien einen Augenblick, als wolle Garvin aufspringen, um dem unverschämten Gast die Tür zu weisen. Doch er beherrschte sich schnell. Seine stahlharten Augen bohrten sich drohend in das gleichmütige Gesicht Wellingtons. Er schluckte einige Male. Bevor er reden konnte, sprach Fox mit unerschütterlicher Ruhe weiter:
»Ich bin Ihrer Einladung gefolgt, weil ich mich, wenn irgend möglich, mit dem Vater meiner Frau gut stellen möchte.«
Francis Garvin lehnte sich tiefatmend in seinen Stuhl zurück. Er preßte die Hände ineinander und schaute zur Decke empor. Seine Züge blieben unbewegt, und doch sah man an dem Flackern der Augen, wie schwer der Kampf war, der in ihm tobte.
Wellington Fox sah mit einem gewissen Mitleid auf den Vater Helens.
Armer alter Kerl, dachte er bei sich, meine letzten Worte haben dir den Knockout gegeben.
Francis Garvin sprach: »Sie wollen also, Mr. Fox, ohne meine Einwilligung eine Ehe mit Helen eingehen?«
»Das zweite ganz gewiß. Ob auch das erstere, hängt von Ihnen ab.«
»Haben Sie auch darüber nachgedacht, wie Sie Helen standesgemäß ernähren und kleiden werden? Ich taxiere, daß Helens Hutbudget Ihr Jahresgehalt beträchtlich übersteigt.«
Wellington Fox zuckte die Achseln. Während er mit seiner Antwort zögerte, ging es ihm klar durch den Kopf: Aha, alter Freund! Dein Widerstand läßt nach. Es fällt dir nur zu schwer, dich offen geschlagen zu bekennen.
Dann sprach er: »Den Luxus von Garvins Palace Helen zu bieten, bin ich selbstverständlich nicht in der Lage. Doch mein Einkommen genügt durchaus, einer Frau ein behagliches, glückliches Heim zu bieten, die ihre Ansprüche nicht allzu hoch stellt, die sich zu schicken weiß . . .«
»Glück ist in der kleinsten Hütte«, warf Garvin ein, doch der Hohn, der darin liegen sollte, war matt.
»Unser zukünftiges Heim wird im Vergleich zu Garvins Palace eine Hütte sein, gewiß, Mr. Garvin. Aber es stände schlimm um die Menschheit, wenn das Glück nur in den Schlössern der Reichen zu finden wäre.«
Francis Garvin machte eine wegwerfende Gebärde.
»Verliebte Leute sehen den Himmel voller Geigen. Der Katzenjammer bleibt nicht aus. Ich will mein Kind davor bewahren. Ich möchte unsere Unterredung damit beenden, Mr. Fox, daß ich Ihnen für Ihre aufopfernde Tat bei der Rettung Helens meinen herzlichsten Dank ausspreche. Ich wollte Sie zum Besitzer der Chikago-Preß machen, um meinen Dank auch tatkräftig zum Ausdruck zu bringen. Sie haben mein Angebot zurückgewiesen. Wir sind quitt!«
»Ich nicht!«
Wie ein Wirbelwind war ein weißes Etwas aus dem Nebenzimmer hereingeflattert. Mr. Garvin war plötzlich unter einer Wolke von hellem Batist verschwunden.
Ein Flüstern und Raunen, so zärtlich, so innig, drang an das Ohr von Fox, daß er die Zähne aufeinanderbeißen mußte, um seine Bewegung zu unterdrücken. Er sah den grauen Kopf Garvins über Helens blonde Locken gebeugt, sah, wie dessen Arme sein Kind fest umschlossen, und verließ leise das Zimmer.
Im Vorraum schritt er ruhelos auf und ab. Tausend Ideen schossen durch sein Hirn. Eine Welt von Feinden wünschte er zu haben, nur um Helen schützen zu können. Knirschend preßten sich seine Zähne auseinander, seine Fäuste ballten sich gegen andere noch unsichtbare Fäuste.
Alle Strafen des Himmels und der Hölle mögen mich treffen, wenn ich dich, mein Liebling, nicht ehren und schützen werde bis zum letzten Atemzug.
Und dann ging es ihm plötzlich wie Mr. Garvin. Wie durch einen Schleier sahen seine Augen eine weiße Gestalt auf sich zueilen. Zwei liebevolle Arme umschlossen seinen Hals, und ein tränenüberströmtes Gesichtchen lehnte sich an seine Brust.
Ein Stammeln . . . ein Weinen . . . ein Lachen.
»Wie glücklich bin ich, Wellington!«
Nach einer Weile drang die Stimme Garvins in den stillen Raum.
»Mr. Fox, Sie haben gesiegt. Helens Wille war stärker als der meine . . . Es fällt einem alten Mann schwer, sein einziges Kind . . . sein alles wegzugeben . . . Ich werde alt, ihr müßt Geduld mit mir haben . . . Der Gedanke quält mich, daß Helen in den veränderten Verhältnissen ihres neuen Lebens doch gar manches Liebgewonnene aus dem Vaterhaus vermissen wird . . .
Ich bitte Sie, Mr. Fox, mir zu erlauben, Ihre Stellung in irgendeiner Weise zu verbessern. Der Gedanke ist mir unerträglich, daß . . . Mr. Fox, Sie dürfen nicht weiter ein einfacher Berichterstatter bleiben . . . Ich werde Ihnen entsprechende, ich hoffe, Ihnen auch zusagende Vorschläge machen. Sie müssen Ihre Position verbessern.«
Francis Garvin war bei den letzten Worten auf Wellington Fox zugetreten und drückte ihm die Hände. Wellington Fox hatte seine volle Selbstbeherrschung wiedergewonnen.
»Daß Sie mir Ihre Helen nicht gern geben, weiß ich . . . will es Ihnen auch nicht verdenken, obwohl Sie als freier Amerikaner von den Vorurteilen von Rang und Reichtum unabhängiger sein sollten. Meine Position zu verbessern? . . . Ich habe schon lange daran gedacht . . . und daran gearbeitet. Ich kenne das alte Wort, daß man bei der Presse alles werden kann, vorausgesetzt, daß man nicht dabei bleibt. Unsere Wünsche begegnen sich also. Doch die Vorschläge für eine Verbesserung überlassen Sie, bitte, mir. Ich habe ein Geschäft im Auge . . . ein Geschäft? . . . Nein! . . . Mein Geschäftssinn ist alle Zeit schwach genug gewesen, Gott sei's geklagt.
Ein Werk . . . Eine große Tat habe ich vor. Zur Ausführung gehört Geld . . . viel Geld. So viel, wie vielleicht auch Sie nicht haben. Aber das Werk wird gelingen, und das Geld wird hundertfache Zinsen bringen. Wenn die Zeit gekommen ist . . . bald . . . sehr bald wird sie kommen . . . werde ich Ihnen meine Pläne entwickeln, werde Ihnen das Geschäft antragen.«
Francis Garvin hatte der langen Rede ruhig zugehört. Nun sprach er: »Ihre Hoffnungen nehmen einen kühnen Flug, Mr. Fox. Sie gestatten, daß ich Ihrem Geschäftssinn, den Sie selbst als schwach bezeichneten, sehr skeptisch gegenüberstehe.«
»Ich nehme es Ihnen nicht übel, Mr. Garvin. Sie haben mich bisher nur als einfachen Journalisten kennengelernt. Sie wissen nichts . . . weniger als nichts von meinen sonstigen Plänen und . . . Unternehmungen, Mr. Garvin.«
»Unternehmungen?«
Fragend und zweifelnd war das eine Wort von den Lippen Garvins gekommen.
»Unternehmungen, Mr. Garvin. Sie werden anders von mir denken, wenn einige Wochen ins Land gegangen sind. Ich möchte Sie bitten, Mr. Garvin, meine Verlobung mit Helen nicht vor dem August bekanntzugeben.«
Verwundert und fragend blickte Francis Garvin auf Fox. Eben erst hatte der mit Gewalt seine Verlobung durchgesetzt, hatte den Widerstand des Vaters gebrochen, und jetzt bat er selbst, diese so mühsam erkämpfte Verlobung bis zum August noch geheimzuhalten.
»Ich verstehe Sie nicht, Mr. Fox.«
»In wenigen Wochen werden Sie mich um so besser verstehen. Sie werden dann, das hoffe ich sicher, die Veröffentlichung unserer Verlobung nicht mehr wie jetzt unter Bedenken und Zweifeln, sondern mit willigem Herzen vornehmen. Sie werden an diesem Tage wissen, Mr. Garvin, daß der Verlobte Ihrer Tochter etwas mehr ist als der einfache Berichterstatter, für den Sie ihn jetzt nehmen . . . für den die Welt ihn vorläufig noch nehmen muß.«
* * *
Georg Isenbrandt befand sich in seiner Station zu Wierny. Seit jener letzten Sitzung des Direktoriums der E. S. C., seitdem die maßgebenden Herren der E. S. C. den Beschluß gefaßt hatten, den Spruch des Schiedsgerichtes abzuwarten, die strittige Ilifrage bis dahin in der Schwebe zu lassen, war er in gedrückter Stimmung.
Die Ereignisse des heutigen Tages waren in ihrer Gesamtheit nicht geeignet, einen Stimmungsumschwung bei ihm hervorzurufen. Zwar der Vormittag hatte ihm eine große, kaum erwartete Freude gebracht: Ein Telegramm in verabredeter Sprache von Wellington Fox. Georg Isenbrandt hatte es Wort für Wort dechiffriert, hatte tiefaufatmend die gute Nachricht gelesen, daß der treue Fox die Vermißten, Theodor Witthusen und Maria Feodorowna, in Urga entdeckt habe. Das Telegramm war nur kurz. Die erste knappe Nachricht von der glücklichen Entdeckung des Aufenthaltes der Vermißten. Wer aber Wellington Fox und seine Art so genau kannte wie Georg Isenbrandt, der konnte noch mancherlei zwischen den Zeilen herauslesen.
Nun beschäftigte Isenbrandt eine ganze Reihe von Fragen. In wessen Gewalt waren die Verschleppten? Wie wurden sie gehalten? Würde es Fox gelingen, mit ihnen in Verbindung zu treten? Würde es ihm glücken, sie zu befreien?
Die wenigen Worte des Telegramms klangen zuversichtlich. Isenbrandt kannte Fox als einen entschlossenen, tatkräftigen Mann, dem in kritischen Lagen auch List und Erfindung in weitgehendem Maße zu Gebote standen. So durfte er wohl hoffen, daß Wellington Fox bald weitere gute Nachrichten senden würde, und jenes Telegramm aus Urga wäre wohl geeignet gewesen, die Stimmung Isenbrandts zu heben.
Aber andere Nachrichten waren geeignet, sie wieder hinabzudrücken. Seit zwölf Stunden liefen unaufhörlich Hochwassermeldungen aus dem oberen Ilital bei seiner Station ein. Von Stunde zu Stunde stiegen die Zuflüsse des Stroms aus dem chinesischen Gebiete. Das ganze Quellgebiet des Flusses schien in Aufruhr geraten zu sein.
Die Sonne sank hinter die Berge. Dämmerung schlich durch den Raum, in dem Georg Isenbrandt an seinem Arbeitstische saß. Der Telegraphenapparat zu seiner Rechten begann zu ticken. Neue Meldungen von der Terekstation.
Die Vermutung, die ihm schon in den Nachmittagstunden durch den Kopf gegangen war, wurde jetzt zur Gewißheit. Das war nicht mehr ein zufälliges Naturereignis. Gewiß war im Frühjahr mit vorübergehendem Hochwasser zu rechnen. Aber die Wassermengen, die hier von allen Seiten des Quellgebietes gemeldet wurden, überstiegen das normal zu Erwartende in einer gewaltigen und unerklärlichen Weise.
Er verband sich direkt mit der Station von Terek. Dort hatte er den gewaltigen Staudamm anlegen lassen, um plötzlich einbrechende Wassermengen sicher auffangen und speichern zu können. Durch die Unfähigkeit eines Bauleiters hatten die Arbeiten sich stark verzögert. Erst in den letzten Wochen hatte Georg Isenbrandt mit eiserner Hand dazwischengegriffen, hatte die tüchtigsten Ingenieure an diese Stelle gesetzt und die Vollendung des riesigen Betondammes mit allen Mitteln betrieben.
Erst gestern hatte er die Baustelle besucht. Der Damm war jetzt fertig. Aber die letzten Teile der gewaltigen bergehohen Staumauer waren erst vor 48 Stunden in die Holzformen eingestampft worden. Diese Zeit war viel zu kurz, um den Beton schon erhärten zu lassen. Kamen jetzt plötzlich die schwersten Hochwasser, preßten die gestauten Mengen mit vollem Druck auf den noch frischen Teil der Mauer, so war ein Dammbruch, eine schwere Katastrophe zu gewärtigen.
Er fragte durch den Apparat und erschrak über die Antwort. Das Wasser schon zwei Meter unter dem frischgestampften Teile. Stieg die Flut in dem bisherigen Tempo weiter, mußte sie in kürzester Zeit die frischen Teile erreichen, und dann begann die schwere Gefahr.
Georg Isenbrandt sprang auf und lief unruhig im Raume hin und her. Einen Augenblick erwog er den Gedanken, selbst nach der Terekstation zu fahren, um ihn dann sofort wieder zu verwerfen. Etwas anderes . . . etwas Größeres mußte geschehen. Während er hin und her wanderte, fiel sein Blick auf die Apparatur, in der ihm neulich das Helium erstarrt war. Da . . . greifbar vor ihm lag das Mittel, alles zu verhindern, was er befürchtete. Mußte er es nicht auf jeden Fall anwenden? Ganz abgesehen von dem gewaltigen, mit Sicherheit zu erwartenden Materialschaden – waren nicht auch Hunderte von Menschenleben auf das schwerste bedroht, wenn die Hochwasser des Dammes von Terek Herr wurden?
Die Verantwortung war fürchterlich schwer. Ruhelos lief er durch den Raum.
Was tun? Was waren die Menschenleben, und wären es auch Hunderte, gegen die Tausende und aber Tausende, die ihr Leben lassen mußten, wenn er sein Spiel zu früh aufdeckte? Dann war alle Wirkung seiner wohldurchdachten Pläne verloren.
Das Mittel einmal anwenden, hieß eine vollkommen veränderte Lage schaffen, hieß die besten Waffen vorzeitig schartig werden lassen.
Einen Ausweg! Das Übel kam von den chinesischen Bergen . . . Das Unheil an der Quelle verstopfen . . . Sollte das möglich sein, ohne das Geheimnis preiszugeben?
Vielleicht! . . . Fox war der einzige, der außer ihm um das Mittel wußte. Wäre er hier, wäre es leicht auszuführen gewesen. Wen jetzt senden? . . . Wen einweihen? . . .
Der alte Schmelzmeister Franke trat ein. Der hauste jetzt seit einigen Wochen unten am Balkaschsee. Er kam, um sich Instruktionen zu holen. Die gewaltigen Wassermengen, die der Ili seit zwölf Stunden in den See trug, beeinflußten dort die Dampfentwicklung. Der Alte wollte wissen, ob neues Dynotherm in den See gegeben werden solle. Er meldete, daß die Rohrhorste am südlichen Seeufer schon zum Teil überflutet seien, und er fluchte grimmig auf die Gelben. Ebenso fest wie Isenbrandt war er davon überzeugt, daß diese plötzliche Flut nur auf Schmelzungen im chinesischen Iligebiet zurückzuführen sei.
Schon immer hatte er ihnen einen solchen Streich zugetraut. Es war ja bekannt, daß auch die Gelben über große Dynothermvorräte verfügten, wenn sie auch das neueste Präparat Isenbrandts noch nicht besaßen. Seit langem puderten sie auf ihren Bergkämmen herum. Bisher war das aber immer nur in kleinem Maßstabe geschehen und immer so, daß die erschmolzenen Wassermengen den chinesischen Strömen zugute kamen und die Nachbarn jenseits der Grenze nicht gefährdeten.
Isenbrandt war noch im Zweifel, ob das Unheil mit Absicht verursacht oder ob es durch einen unglücklichen Zufall, durch eine unvorsichtige Dosierung des Schmelzpulvers hervorgerufen worden sei. Der alte Franke war unerschütterlich davon überzeugt, daß es ein purer Schabernack der Gelben sei.
Isenbrandt unterbrach den Redefluß des Schmelzmeisters:
»Ob der Damm noch zu retten sein wird, ist fraglich. Aber die Möglichkeit besteht, den Schrecken zu kürzen, die Zeit der Furcht und der Gefahr zu verkleinern.«
Verständnislos blickte ihn der Alte an.
»Wie sollte das möglich sein, Herr Isenbrandt? Die Gelben haben in ihren Bergen gepudert. Das ist mir absolut klar . . . und da muß es im Laufe der nächsten Stunden und Tage doch immer noch schlimmer werden.«
Georg Isenbrandt ging zur Tür und schloß sie ab. Dann ging er zu dem Alten und legte ihm die Hände auf die Schultern.
»Hören Sie, alter Freund! Es gibt ein Mittel, um das Unheil zu bekämpfen. Ich habe es! . . . Aber ich kann es nicht selbst tun, und ich weiß keinen anderen und besseren als Sie, der sich schon so lange Jahre als treu und zuverlässig im Dienste der Gesellschaft erwiesen hat. Ich weiß keinen besseren als Sie, dem ich das Geheimnis dieses Kampfmittels anvertrauen könnte. Mein Geheimnis ist es! Kein Mensch, auch keiner der Herren von der E. S. C. weiß darum. Ihnen will ich es in dieser Stunde der Not zu treuen Händen geben. Ehe ich Sie aber frage, ob Sie bereit sind, die Tat zu tun, will ich Ihnen sagen, was zu tun ist . . . welche Gefahren damit verbunden sind. Es muß jemand mit einem Flugschiff, das er selbst steuert, die chinesischen Kämme abfliegen und an allen, wenigstens an den Hauptstellen, wo die Gelben gesalzen haben, das Gegengift streuen.«
»Gegengift? Gegen unser Dynotherm?«
»Ja, Franke! Es gibt ein Mittel, und ich habe es. Wird es auf die Puderstellen gestreut, so wird die Wirkung des Dynotherms gebunden . . . Aber die Sache ist nicht ohne Gefahr. Sie müßten noch jetzt in dieser Nacht mit einem Schiff, von dem alle Kennzeichen der E. S. C. entfernt sind, den Flug unternehmen . . .
Sie dürfen keine Lichter führen . . . Sie müssen sehr tief fliegen . . . Schon das ist nicht ohne Gefahr . . . Dazu kommt, daß von gelber Seite . . . vielleicht auf Sie geschossen werden wird . . . Überlegen Sie in aller Ruhe . . .«
»Da ist nichts zu überlegen, Herr Isenbrandt. Was sollte ich da noch überlegen? Schon das freut mein altes Herz, daß Sie mir so viel Vertrauen schenken, mir Ihr Geheimnis sagen. Und dann noch das Vergnügen, den verdammten Gelben einen Streich zu spielen . . . Daß ich denen ihr Handwerk legen kann . . . das macht mir einen Höllenspaß . . . da kommt's mir keinen Augenblick darauf an, meine alten Knochen zu riskieren.«
»Ich wußte, lieber Franke, daß ich mich auf Sie verlassen kann, und danke Ihnen von ganzem Herzen . . .
Er schüttelte die Hand des alten Gefährten mit kräftigem Druck.
»Nehmen Sie meine Maschine! Die Veränderungen, die an dem Flugschiff zu treffen sind, machen Sie am besten selber. Sie werden das am besten einzurichten wissen. Ich mache Ihnen inzwischen den Streutank fertig. Den wollen wir dann zusammen unter die Maschine hängen.«
Eine knappe halbe Stunde später schoß die schnelle Maschine, von dem alten Schmelzmeister gesteuert, in den dunklen Abendhimmel und verschwand nach Osten zu.
Georg Isenbrandt hat die Maschine und den Alten nie wiedergesehen. Der blieb von dieser Stunde an verschollen. Es ist auch niemals bekannt geworden, ob der Alte bei der Schleichfahrt durch die dunklen Berge gegen eine Felsschroffe rannte oder ob er mit seiner Maschine das Opfer chinesischer Kugeln wurde. Niemals auch wurden irgendwo irgendwelche Spuren von ihm gefunden. Aber es muß ihm doch gelungen sein, den Auftrag Isenbrandts zum weitaus größten Teile auszuführen. Erst ganz am Ende seiner abenteuerlichen Fahrt muß er zugrunde gegangen sein, denn schon am übernächsten Tage ließ der plötzliche Zustrom aus den chinesischen Bergen nach, und bereits am Ende der Woche herrschten wieder normale Wasserverhältnisse im Ilital.
In jener ersten Flutnacht ging es freilich desto stürmischer zu.
Der Staudamm bei Terek bot ein wildromantisches Bild. Brüllend und gurgelnd stauten sich die Wildwasser hinter ihm zu einem Riesensee. Die mächtigen, millionenkerzigen Scheinwerfer der Bauleitung beleuchteten die brodelnde Wasserfläche von den Ufern aus.
An eine so schnelle und plötzliche Inanspruchnahme jenes großen, eben erst vollendeten Staubeckens hatte niemand gedacht. Noch waren die jetzt schon überfluteten Flächen mit Baugerät, mit Häusern, ja mit ganzen, wenn auch noch unbewohnten Dörfern besetzt.
Das alles hatten die wilden Wasser aufgewühlt und wirbelten es in gigantischem Spiel durcheinander. Hier trieben abgerissene Schindeldecken . . . da Prähme . . . dort Rüstzeug aller Art. Und zu dem, was hier schon gewesen, kam das, was die Fluten unterwegs mitgenommen hatten.
. . . Ganze Herden von ertrunkenem Vieh . . . Teile zertrümmerter Brücken . . . zerstörte Behausungen . . . und dazwischen in erschreckender Menge die Leichen von Menschen. Die Wasser mußten schon auf chinesischem Gebiet furchtbar gehaust haben.
Jetzt stand die Oberfläche dieses höllischen Wirbels kaum noch einen Meter unter der Dammkrone. Stieg das noch weiter, so mußten die Fluten über die Krone hinweg in breitem Schwall zu Tal stürzen . . . Vorausgesetzt, daß der Damm hielt.
Hier lag die Gefahr. Der Damm war in den zuletzt gefertigten Teilen noch nicht fest abgebunden. Die Möglichkeit war vorhanden . . . war nur allzu groß, daß der gesteigerte Druck der aufgestauten Wassermengen diese neuen Teile aus dem Damm herausbrach . . . und dann . . .
Schon auf die ersten Nachrichten von dem bedrohlichen Steigen der Fluten hatte Georg Isenbrandt die Siedler im unteren Ilital telegraphisch warnen lassen. Sobald ihn der alte Schmelzmeister verlassen, bestieg er selbst ein Flugschiff und fuhr nach den Terekanlagen.
Er kam, sah . . . und fand seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Die Dammkrone war menschenleer. Das hatte die Bauleitung in Terek bereits aus eigenem angeordnet, denn unmöglich konnten die frischen Dammteile dem enormen Wasserdruck noch lange standhalten. Jeder Augenblick konnte die Katastrophe, den Dammbruch bringen.
Schnell gab Isenbrandt seine Befehle. Er ließ alle Sirenen talabwärts aufheulen . . . er gab nochmaligen dringenden telegraphischen Alarm, den ganzen Ili stromabwärts bis zum Balkaschsee . . . aber Isenbrandt sah noch weiter. Nur ein Mittel gab es noch, der drohenden Katastrophe zuvorzukommen. So schnell wie möglich mußte man die neuen, noch weichen Teile des Dammes von dem Wasserdruck entlasten, den Stausee absenken.
Das war nur möglich, wenn man einen Einschnitt von gehöriger Tiefe und Breite in den alten, gesunden Teil der Staumauer einsprengte. Dort mußte es geschehen, denn der neue, noch schwache und schon überlastete Teil der Mauer hätte die Beanspruchung einer Explosion nicht ertragen. Er wäre sicherlich sofort in seiner ganzen Ausdehnung zu Bruche gegangen.
Nur mit den schärfsten Sprengmitteln und mit großen Mengen davon ließ sich aber die Sprengung in den granitharten Dammassen des alten Teiles bewerkstelligen. Gelang sie, so würden sich freilich sehr gewaltige Wassermengen durch die gesprengte Lücke talabwärts ergießen. Sie würden sicherlich beträchtlichen Schaden anrichten. Aber dieser Schaden und diese Gefahr blieben immerhin in übersehbaren Abmessungen. Und der Spiegel des Stausees mußte sich dann schnell senken. Der Druck auf den schwachen Teil des Dammes mußte sofort nachlassen. Das Schlimmste war dann überwunden, die schwerste Gefahr vermieden.
Nach den Anordnungen Isenbrandts lief das Sprengkommando über die Dammkrone nach der anderen Berglehne hinüber. Im mittleren Teil war die frische Stelle. Am Nordufer, im harten alten Teil, sollte die entlastende Scharte ausgesprengt werden.
Im taghellen Lichte der Scheinwerfer sah man vom Ufer aus die Mannschaft über die Dammkrone eilen. Sie mochte etwa die Mitte erreicht haben, als ein Blitz an dieser Stelle aufzuckte, ein krachender Donner das Toben der Elemente übertönte.
An der schwachen Stelle des Dammes war eine schwere Sprengladung explodiert. Einen Moment noch stand die Mauer dort zitternd im Strudel. Dann riß sie breit auf, neigte sich zu Tal und brach in Riesenbrocken auseinander. In wütendem, stoßendem Schwall stürzten die entfesselten Fluten wie ein einziger starrer Block zu Tal.
Verschwunden war an dieser Stelle der Damm . . . Verschwunden die Leute des Sprengkommandos auf ihm.
Ein Schrei des Entsetzens aus vielen tausend Kehlen.
Isenbrandt selbst stand unter der Wucht der Katastrophe wie erstarrt.
Wie war das möglich gewesen? . . . Wie konnte das geschehen? . . . Der Sprengstoff trug noch keine Zündung. Auch wenn einem der Träger eine Kiste entglitt, konnte sie doch nicht explodieren.
Ein Verbrechen? . . . Nur ein Verbrechen konnte es sein. Von wem? . . . Es bedurfte keiner Frage.
Mit schweren Schritten wandte er sich zum Ufer und begab sich in das Bureau der Werkleitung.
»War unter dem Sprengkommando ein Gelber?«
Einer der Ingenieure beantwortete die Frage.
»Jawohl! Alibeg! Ein kirgisischer Vorarbeiter . . . Einer, der sich durch besondere Anstelligkeit auszeichnete.«
Ein Held! dachte Isenbrandt bei sich . . . sicher ein gelber Ingenieur, der sich hier unter falscher Flagge als Werkmann verdingt hat.
Dann wandte er sich an den Stationsleiter.
»Ich kehre nach Wierny zurück. Alle Nachrichten für mich bitte dort hin! Hier ist Menschenhilfe vergeblich. Vertrauen wir auf Gott.«
Noch einmal warf er einen Blick auf das Tal, in dem das entfesselte Element dahinschoß.
Wehe alle denen talabwärts, die unsere Warnung nicht befolgten!
In dieser Nacht flogen die Telegramme zwischen Wierny und Berlin hin und her.
* * *
In Urga, der alten heiligen Hauptstadt der Chalka-Mongolen, hatte Wellington Fox mit Hilfe des getreuen Ahmed die Witthusens ermittelt. Viele Wochen hindurch war Ahmed in der Maske eines sartischen Händlers durch das mongolische Land gezogen. Hatte mit großem Geschick und noch größerem Glück hier gefragt und dort geforscht, bis er endlich die Spur hatte, die nach Urga wies.
Dann war Wellington Fox zu ihm gestoßen. Der kam als russischer Teehändler mit einer großen Handelskarawane aus dem nahen Kjachta über die russische Grenze. Vorzüglich hatte er es verstanden, sein Äußeres der Rolle, die er hier spielen mußte, anzupassen. Den Mangel seiner russischen Sprachkenntnisse verbarg er geschickt unter einem freilich recht holperigen Chinesisch. Solange aber kein allzu scharfes Auge ihn beobachtete, kein allzu scharfes Ohr ihn hörte, konnte er hier wohl unbehelligt seinen Plänen nachgehen.
In einer der großen Herbergen der Stadt, in der die Karawane Quartier nahm, hatte er sein Unterkommen gefunden. Daß er hier häufig mit einem sartischen Händler zusammenkam, fiel bei der Mannigfaltigkeit und Unübersichtlichkeit asiatischer Kaufmannsgeschäfte nicht weiter auf.
Es war um die Zeit der Abenddämmerung. Wellington Fox saß in dem primitiv einfachen Raum, der ihm in der Karawanserei als Unterkunft diente.
Ein leises Klopfen an der Tür. Die einzelnen Schläge in der verabredeten Folge. Wellington Fox schob den schweren Holzriegel zurück. Der Sarte trat in den Raum.
»Bist du da, Ahmed? . . . Wie steht's?«
»Gut, Herr! Euer Papier ist in den Händen des alten weißen Herrn.«
»Will er es tun?«
»Ja, Herr . . . er machte das verabredete Zeichen . . .«
»So wirst du also um neun Uhr mit den Gefangenen das Haus verlassen. Bist du sicher . . . ganz sicher, daß der Wärter keinen Verrat übt?«
»Er hat geschworen . . . bei den Seelen seiner Ahnen . . .«
»Ein Schwur?«
»Er wird seinen Schwur halten, Herr. Wirst du ihn aber auch im Flugschiff mitnehmen, wie du versprochen? Er fürchtet die Strafe, wenn die Flucht entdeckt ist.«
»Ich werde ihn mitnehmen . . . samt seinen fünfhundert Dollar. Er mag sie in Frieden in Kjachta verzehren.
Der Weg vom Haus bis zum Brunnen ist kurz. Um neun Uhr werde ich dort unter dem Schein einer Notlandung niedergehen.«
»Wenn du da bist, wird alles gut sein, Herr!«
Ahmed verließ den Raum. Wellington Fox blieb mit seinen Gedanken allein. Im Geiste sah er das Glück der Geretteten . . . die Freude Isenbrandts, wenn er mit ihnen in Wierny landen wurde. Noch einmal überlegte er alle Chancen. Es mußte gelingen.
* * *
Es waren ein paar helle, freundliche Räume, in denen die Witthusens die Tage ihrer Gefangenschaft verbrachten. Der alte Herr saß seiner Tochter gegenüber. Ein Schachbrett, das ihnen die endlosen Stunden ihrer Haft kürzte, stand zwischen ihnen. Aber seitdem das Papier des sartischen Händlers durch den bestochenen Wärter in ihren Händen war, standen die Figuren unberührt auf den Feldern.
Die lange Haft . . . die Ungewißheit über ihr Schicksal hatten die blühenden Farben Maria Feodorownas gebleicht. Jetzt hatte die Erregung der Erwartung das alte Rot auf ihre Wangen zurückgezaubert. Auch Theodor Witthusen hatte die Lethargie verloren, die bisher auf ihm lag. Es war mehr die Sorge um Maria, sein einziges, so sehr geliebtes Kind, als die um ihn selbst, die ihn niedergedrückt hatte.
Mit gedämpfter Stimme . . . fast flüsternd sprachen sie.
»Die Freunde, Maria, an die ich zuerst gedacht, haben nichts für uns getan . . . vielleicht nichts tun können . . . Der Konsul . . . wie oft war er in unserem Hause . . . nichts . . .
Collin Cameron . . . am Tage vor unserer Gefangennahme suchte er mich noch zu beruhigen . . . rühmte sich seiner guten Beziehungen . . . auch er . . . nichts . . .
Die beiden jungen Deutschen . . . eine flüchtige Reisebekanntschaft von dir . . . an die hätte ich zuletzt gedacht . . . Die Not zeigt, wo die wahren Freunde sitzen. Herr Fox kommt ja zweifellos im Einverständnis . . . mit Unterstützung seines Freundes Isenbrandt.«
»Glaubst du, Vater« – das leichte Rot auf Marias Wangen vertiefte sich – »daß Herr Isenbrandt bei seinen vielen großen Arbeiten noch Zeit hat, sich um uns zu kümmern?«
»Würde sonst sein Diener mit hier sein? . . . Ihn selbst mögen seine Arbeiten festhalten, aber er denkt auch an uns.«
»Er hat uns früh genug gewarnt . . . Du ließest dich durch Mr. Cameron beschwichtigen. Ich weiß nicht, Vater . . . ich kann dein großes Vertrauen in Mr. Cameron nicht teilen . . . sein ganzes Wesen . . . sein überfreundliches Benehmen stoßen mich ab.«
»Ach, Kind, das sind unkontrollierbare Gefühle . . . Ich kenne ihn seit Jahren und habe nie Anlaß gehabt, an ihm zu zweifeln.«
Er zog die Uhr.
»Noch zwei Stunden . . . wie langsam die Zeiger schleichen! . . . Heute noch langsamer als sonst.«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihr Gespräch. Sie glaubten, es wäre der Wärter, der ihnen um diese Zeit die Abendmahlzeit zu bringen pflegte.
Collin Cameron stand vor ihnen.
»Ah, Herr Cameron! . . . Wo kommen Sie her? . . . Bringen Sie Gutes?«
Witthusen war aufgesprungen und reichte dem Besucher die Hand.
»Soeben noch tat ich Ihnen unrecht. Wir sprachen von den Freunden, auf deren Beistand wir vergeblich hoffen . . . und darunter waren auch Sie.«
»Auch ich . . . und was waren es sonst noch für Freunde?«
»Oh, alle aus Kaschgar . . . Der russische Konsul . . . die Upharts . . . viele andere . . . auch sonst noch . . .«
Er brach seine Rede jäh ab, unterdrückte die Namen Fox und Isenbrandt, die ihm schon auf der Zunge lagen. Eine Spur jenes Mißtrauens, das Maria vorhin geäußert, hatte sich ihm mitgeteilt.
»Bringen Sie gute Nachricht?«
»Wenn nicht heute, so doch bald! Ich freue mich, daß Sie mich unter Ihre Freunde zählen . . . Auch Ihnen, Fräulein Maria, meinen Dank, daß Sie meiner in Freundschaft gedacht haben.«
Collin Cameron nahm auf dem Stuhle Witthusens am Schachtisch Platz.
»Oh, Fräulein Maria, Ihr Spiel steht gut. Der arme König . . . ein Zug von Ihrer Hand, und er muß sich Ihnen ergeben.«
Theodor Witthusen wiederholte seine Frage:
»Bringen Sie gute Nachrichten, Herr Cameron?«
»Gute Nachrichten? . . . Fräulein Maria . . .«
Seine Augen versenkten sich brennend in diejenigen Marias.
»Ich hoffe, daß es meinen guten Beziehungen bald gelingen wird, Ihre Freilassung durchzusetzen.«
»Weshalb sind wir überhaupt gefangen?«
Witthusen unterstützte und verstärkte die Frage Marias.
»Wie konnte man es wagen, uns bei Nacht und Nebel wie Verbrecher aus unserem Hause zu holen und wegzuschleppen?«
»Ich erfuhr Ihre Verhaftung leider erst am anderen Morgen . . . Konnte nicht sofort feststellen, wohin Sie gebracht worden waren. Mit vieler Mühe brachte ich heraus, daß Sie verdächtigt sind, mit Chinas Feinden in Verbindung zu stehen.«
Witthusen fiel ihm erregt ins Wort.
»Feinden? . . . Wer sind Chinas Feinde? . . . Mit wem liegt China im Krieg?«
»China liegt im Krieg . . . freilich nicht im offenen, sondern im geheimen Krieg mit der E. S. C. Ihr Verkehr mit dem Ingenieur Isenbrandt hat Sie in den falschen Verdacht gebracht.«
»Deshalb diese Gewalttat!« Marias kleine Faust schlug kräftig auf den Tisch . . . »Ich kann es nicht glauben! Die gelben Spione arbeiten nicht so schlecht, daß sie aus einer flüchtigen Reisebekanntschaft eine Verschwörung machen.«
»Und doch ist es so, Fräulein Maria . . . doch Geduld! Der Tag wird kommen, an dem Sie, gereinigt von allem Verdacht, in das alte Haus in Kaschgar zurückkehren können.«
»Nach Kaschgar!«
Maria erhob sich und warf mit einer brüsken Handbewegung die Schachfiguren durcheinander.
»Nach Kaschgar? . . . Nie wieder kehre ich nach Kaschgar zurück! Verhaßt ist mir die Stadt. Verhaßt das Land, wo solche Gewalttat geschehen konnte!«
»Oh, nicht doch, Fräulein Maria! Seien Sie nicht so schroff! . . . Beruhigen Sie sich! . . . Volle Genugtuung wird Ihnen gewährt werden.
Ihr Heim in Kaschgar wartet auf Sie, so wie Sie es verlassen haben. Als ich Ihre Verhaftung erfuhr, ließ ich mir Vollmacht geben, über Ihr Eigentum zu wachen. Die Schlüssel des Hauses sind in meiner Hand. In Ihrem Stübchen steht alles, wie Sie es verlassen haben. Nichts entfernt . . . nichts gerückt! Der große Mandelbaum vor Ihrem Fenster steht wie alle Jahre um diese Zeit in einem Blütenmeer. Gedenken Sie der schönen Stunden, die Sie dort verbracht. Werfen Sie nicht alle erfreulichen Erinnerungen um eine Unerfreulichkeit von sich!
Fast möchte ich bedauern, wenn Sie, nun wieder frei, statt nach Kaschgar zurückzukehren, das Land verlassen. Dann wäre auch mir Kaschgar verleidet. Wie öde würde es mir vorkommen, wenn ich Ihr verlassenes Haus dort sehen . . . Sie entbehren müßte . . .«
»Nein! Maria hatte recht! Nie wieder kehren wir in das alte Haus nach Kaschgar zurück! Wer gibt uns Gewähr, daß wir nicht jederzeit auf irgendeinem unsinnigen Verdacht hin neue Leiden erdulden müssen?«
Collin Cameron biß sich auf die Lippen. Unverwandt hatte er Maria mit den Augen verschlungen.
»Wäre es nur das Haus? . . . Würde es auch so sein, wenn sie es mit einem anderen vertauschten, Fräulein Maria?«
Er warf einen Seitenblick auf Witthusen, der am Fenster stand und in die Nacht hinausblickte. Auch Collin Cameron erhob sich jetzt und trat dicht an Maria heran.
»Mit einem anderen?« fragte sie.
»Ja, mit dem meinen!«
Er hatte ihr die Worte ins Ohr geflüstert. Jetzt beugte er sich vor und suchte in der wachsenden Dämmerung den Eindruck seiner Worte aus ihren Zügen zu lesen.
Einen Augenblick sah ihn Maria verständnislos an.
»Unter Camerons Schutz wäre jeder geborgen.«
»In Ihrem Haus? . . . Ich in Ihrem Hause?«
»Als mein Weib!«
Ein jäher Schreck zuckte über Marias Züge. Eine tiefe Blässe zog über ihre Wangen. Mechanisch wich sie vor Collin Cameron zurück.
»Oh, Fräulein Maria . . . lassen Sie unsere Worte ungesprochen sein! . . . Ich vergaß die Lage, in der Sie sich befinden. Verzeihen Sie mir! Es war töricht, von Liebe zu sprechen, wo es sich um die Freiheit handelt.«
Er trat auf sie zu und versuchte ihre Hand zu fassen.
»Verzeihen Sie mir, bitte, verzeihen Sie mir. Fräulein Maria. Nur um ein Kleines möchte ich Sie bitten. Lassen Sie mich nicht ohne jede Hoffnung von hier gehen. Sie wissen nicht, was Sie für mich und mein Leben bedeuten. In besseren Tagen werde ich wieder zu Ihnen kommen . . . Und wäre es dann nur Kaschgar . . . ich würde es verlassen . . . zur selben Stunde, zu der Sie es wünschten.«
Witthusen trat vom Fenster zurück an die beiden heran. Maria drängte sich an ihn, schob ihren Arm unter den seinen.
»Und wann denken Sie, Mr. Cameron, daß wir Urga verlassen . . . wieder frei sein dürften?«
»Was an mir liegt, soll geschehen, um Ihnen die Freiheit zu verschaffen. Ich komme morgen nach Peking. Alle Verbindungen, die mir dort zur Verfügung stehen, werde ich für Sie ausnutzen. Wenn es das Glück will, bin ich in wenigen Tagen wieder hier und hoffe von Ihnen frohen Empfang . . . auch von Ihnen, Fräulein Maria.«
Er ergriff ihre Hand und drückte einen Kuß darauf.
Vater und Tochter waren wieder allein. Sie sprachen über den unerwarteten Besuch Camerons. Aber das Gespräch schlich mühselig dahin. Keiner zeigte die Freude, die der Besuch doch eigentlich machen mußte. Es blieb etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen, das jede freudige Regung zurückhielt.
Langsam verschlichen die Viertelstunden. Der Wärter brachte die Mahlzeit. Sie blieb unberührt stehen.
Die Erregung des Kommenden nahm sie ganz gefangen. Sie stieg aufs höchste, als die Uhr die neunte Stunde zeigte.
Minute auf Minute verrann. Maria sprang nervös auf und trat ans Fenster. Sie wollte den Gang der Zeiger nicht mehr sehen.
Regungslos verharrten sie beide.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie auffahren. Der Wärter trat ein. Das Licht seiner Kerze fiel auf ein verstörtes Gesicht.
»Was ist?«
Von zwei Seiten scholl ihm die Frage entgegen.
». . . Ahmed ging soeben vorbei . . . er winkte verstohlen . . . nichts! . . . Nichts! . . . Heute nichts . . .«
Maria sank auf ihren Sessel. Sie ließ den Kopf auf das Schachbrett fallen. Verhaltenes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Der Alte trat auf sie zu und legte den Arm um sie.
»Sei gefaßt, Maria! . . . Wenn nicht heute, dann morgen! . . . Gib die Hoffnung nicht auf. Die Freunde werden uns nicht im Stich lassen . . .«
So suchte er ihr Trost zuzusprechen und verbarg seine eigene starke Befürchtung, daß der Plan von Fox entdeckt sein könne.
Witthusens Befürchtung war leider nur allzu begründet. Durch eine einzige Unvorsichtigkeit . . . ein unnötiges Wagnis hatte Wellington Fox den so gut vorbereiteten Plan in der letzten Stunde gestört und die eigene Freiheit verloren.
Wellington Fox saß gut und sicher verborgen in dem Zimmer seiner Herberge. Wäre er dort bis unmittelbar zur Ausführung der Flucht geblieben, so wäre alles gut gegangen.
Die Ungeduld hatte ihn aus seinem sicheren Versteck vorzeitig in die Nähe des Hauses getrieben, in dem die Witthusens gefangengehalten wurden.
So geschah es. Als Collin Cameron das Haus verließ, erkannte er Wellington Fox trotz dessen Verkleidung. Im Augenblick war Cameron in den Schatten getreten. Wellington Fox hatte ihn nicht erkannt. Der war ganz mit der Ausführung des Fluchtplanes beschäftigt. Er umschlich das Haus von allen Seiten, erwog und prüfte die Möglichkeiten, die Gefangenen auch dann noch zu befreien, wenn der Wärter in letzter Stunde versagen sollte.
Die Zeit verstrich darüber. Während er hier noch spähte, waren die Häscher, die ihn fangen sollten, bereits auf dem Wege.
Endlich begab er sich in die Herberge zurück, um Ahmed die letzten Befehle zu geben. Kurz vor der Karawanserei in einer engen dunklen Gasse fühlte er sich von einem Dutzend starker Arme umschlungen. Ein Tuch preßte sich auf seinen Mund, das jeden Schrei erstickte . . . seine Sinne betäubte. Im Augenblick war er gefesselt und verschwunden.
* * *