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Dinnerstunde im Splendid-Hotel. Im großen Speisesaal an kleinen Tischen ein internationales Publikum. Die Nachrichtengeber auf den Tischen in unablässiger Arbeit. Immer neue leuchtende Schrift auf den Mattscheiben.
Die wenigsten achteten darauf. Da! Erstaunte Ausrufe! Sie pflanzten sich im Nu durch den weiten Saal fort: Nachrichten aus Spanien. Neuer Aufstand dort? . . .
Plötzlich aller Blicke auf die Nachrichtengeber gerichtet:
Jeder telefunkische, telegraphische Verkehr mit Spanien gesperrt! Briefzensur! Verbürgte Nachrichten leider nicht zu erlangen. Aus mündlichen Berichten von Reisenden folgendes ohne Gewähr zusammengestellt:
In der Nacht vom 6. zum 7. um 1 Uhr morgens gleichzeitig eine Reihe schwerster Attentate!
Die Arsenale in Burgos und Valladolid in die Luft gesprengt! Die großen Pulvermagazine in Badajoz und Lerida explodiert. Das riesige Munitionsdepot bei Villa Nueva in die Luft geflogen, die Stadt selbst durch die Gewalt der Explosion in Trümmer gelegt.
Aus anderen Städten wird ähnliches gemeldet.
Ein Stimmengewirr wie das Summen eines aufgestörten Bienenschwarmes in dem großen Saal. Meinungen hin und her . . . Vermutungen . . . von Tisch zu Tisch ausgetauscht.
Einzelne verließen ihre Plätze. Gruppen bildeten sich. Die Speisen blieben unberührt. Auch das Personal, fast ausschließlich europäisch, vergaß des Dienstes, servierte nicht weiter, besprach die ungeheuerlichen Neuigkeiten.
In dem allgemeinen Aufruhr achtete keiner darauf, daß an dem einen Tisch in der Ecke vier Menschen saßen, die sich wortlos mit verstörten Mienen anschauten.
Iversen, der erste, der die Stille unterbrach. »Sie sind's! . . . Sie sind's!« Leise, mit heiserer Stimme stieß er es hervor. »Der erste Streich!«
Harder nickte stumm. Seine Finger trommelten nervös auf der Tischplatte. Mette, erblaßt, ließ ihre Augen von dem einen zum anderen wandern. Jetzt sah sie Iversen bedeutungsvoll an, legte heimlich mit einem Blick auf Modeste den Finger auf den Mund. Gab unter dem Tisch ihrem Vater ein Zeichen, aufzustehen.
Der verstand. Gewaltsam zwang er seine Stimme zu gleichgültigem Ton. »Ich glaube kaum, daß das Dinner weitergehen wird. Gehen wir nach oben. Diese Nachricht hat meinen Hunger gestillt. Hoffentlich geht alles zu gutem Ende.«
Mit Mühe bahnten sie sich den Weg durch die aufgestörte Menge. Im Foyer dasselbe Bild. Auch hier alles in wirrem Durcheinander.
Modeste hatte sich wohl über das so ganz andere Benehmen ihrer Freunde gewundert, folgte langsam denen, die mit sonderbarer Eile nach oben zu ihren Zimmern strebten.
»Baronin Modeste von Karsküll!« Sie drehte sich um. Ein Hotelboy stand da, hielt ihr einen Brief hin, schaute sie fragend an.
»Ja, ich bin es.«
»Hier ein Brief für die gnädige Baronin.«
Ein Brief ohne Marke an sie. Ah! Sie blieb stehen, stutzte. Das war doch Jolanthes Handschrift.
Die hier? Sie ging zu einem Sessel, ließ sich nieder, riß den Brief auf. Ihre Augen flogen in Eile über die wenigen Zeilen . . .
Im Belvedere des Parks um fünf Uhr? . . . Ihre Blicke suchten den großen Chronometer im Foyer. Fünf Uhr. Schon hatte der Zeiger die Zahl überschritten. Sie schaute sich nach den anderen um, sah sie nicht mehr.
Ihnen nacheilen? Iversen? . . . Nein, vielleicht war es besser, wenn sie gar nichts davon erfuhren. Sie erhob sich und eilte in den Park. Hastig durchschritt sie die breiten Wege.
Das Belvedere . . . sie kannte es . . . im Hintergrunde des Parks auf einer kleinen Anhöhe erbaut . . .
Bald sah sie es vor sich. Noch ehe sie es erreicht . . . »Modeste!« Der Ruf aus einem Boskett zur Seite ließ sie stillstehen.
»Jolanthe, du bist's!« Die zog den Schleier, den sie beim Anruf gelüftet, hastig wieder herunter.
»Nicht so laut, Modeste! Sprich leise! Ich möchte . . .« ihre nächsten Worte verklangen undeutlich hinter dem dichten Schleier. Sie legte ihren Arm in den der Schwester, zog sie weiter in den Park hinein.
»Ich glaube, Modeste, wir haben uns vieles zu sagen. Wollen wir in meinem Wagen . . . er steht draußen auf der Straße . . . ein Stück spazieren fahren? Wir wären da ganz ungestört.«
Während sie nach dem hinteren Ausgang des Parkes schritten, sprach Jolanthe weiter. »Dein Brief erreichte mich gestern. Ich wollte ihn beantworten . . . du schriebst so gut, so lieb. – – –
Mein letzter Brief . . . ich war an dem Tage in starker Aufregung, hatte viele Unannehmlichkeiten gehabt. Als er fort war, bereute ich schon, was ich geschrieben.«
»Sprich nicht davon, Jolanthe, wir wollen das alles vergessen sein lassen . . .«
Sie waren am Parkausgang angekommen. Da stand der Wagen. Sie stiegen ein, fuhren fort. – – –
Kaum, daß Mette und Iversen eingetreten, als Harder die Tür seines Zimmers hinter ihnen abschloß. Als er sich umdrehte, sah er, daß Iversen Mette um die Schultern gefaßt hatte und in ausgelassenster Lustigkeit ein paar Tanzschritte mit ihr versuchte. Dabei schien er, nach den unartikulierten Lauten zu schließen, die aus seinem Munde kamen, nur mit Mühe ein lautes Jubelgeschrei zu unterdrücken.
Schon unten im Saal hatte Harder sich über die Art und Weise gewundert, in der Mette und Iversen diese Nachrichten aufnahmen. Als er jetzt den Freudentanz Iversens sah, wurde sein Staunen noch größer. Er trat auf sie zu. »Was tut ihr da, was wißt ihr denn?«
»Was wir wissen? Mein teuerster Onkel, wir wissen das, was Sie auch wissen.«
»Herr von Iversen, die Sache ist zu ernst zum Scherzen. Ich selbst habe Ihnen nichts gesagt, bin auch überzeugt, daß Herr Eisenecker Ihnen«, er betonte das Wort etwas sehr, »nichts gesagt hat.«
»Mein verehrtester Herr Generaldirektor . . . Sie beliebten eben das ›Ihnen‹ zu betonen, meinten ›ausgerechnet Ihnen‹. Hm . . . Gewiß, Herr Eisenecker würdigte mich nicht seines Vertrauens. Die Gründe dafür – liegen bei Ihnen. Aber ich habe manchmal einen recht guten Riecher für solche Sachen. Und meine in scharfer Detektivarbeit geschulte Kombinationsgabe erlaubt es mir, den Schluß zu ziehen, daß . . . ich das weiß, was Sie auch wissen, ohne daß mir's jemand gesagt hat . . .
Nämlich, daß Herr Friedrich Eisenecker im Verein mit einigen spanischen Patrioten den löblichen Versuch macht, diese ganze schwarze Gesellschaft aus Spanien rauszuschmeißen.«
»Iversen!« Der Generaldirektor eilte auf ihn zu, hielt ihm die Hand vor den Mund. »Leise, leise, ich bitte Sie um Himmels willen. Es steht da unendlich viel auf dem Spiel . . . das Leben Eiseneckers nicht zu vergessen.«
»Wie, was sagst du, Vater, Eisenecker ist in Gefahr?«
Harder zuckte die Achseln. »Wie ich ihn kenne, wird er, wenn Not am Mann, seine Person nicht schonen.«
Mette war bleich geworden. Ihre Blicke gingen zu Iversen. Der klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Keine Angst, Mette. Es wird schon alles gut gehen. Eisenecker dürfte der letzte sein, der sich so ohne weiteres von jemand an den Wagen fahren läßt.« – – –
Und dann setzten sie sich zusammen. In eifrigem Gespräch tauschten sie die Gedanken aus, die ihre Herzen bewegten, konnten dabei kein Ende finden. Wohl schon eine Stunde war vergangen, da erinnerte sich Iversen Modestes.
Ja, wo war sie geblieben? Sie waren zusammen aus dem Speisesaal fortgegangen. In ihrem Eifer hatten sie gar nicht darauf geachtet, daß sie nicht mit heraufgekommen.
»Sie wird in ihrem Zimmer sein,« meinte Mette, »ich werde nach ihr sehen . . . Leider sind wir gezwungen, in ihrer Gesellschaft vorsichtig im Gespräch über diese Dinge zu sein. Malte!« sie legte den Finger auf die Lippen. »Vergiß es nicht!«
Sie ging hinaus, kam bald darauf wieder. »Ihr Zimmer ist leer, Modeste ist nicht da.«
»Nun!« Harder warf es ein. »Sie wird im Foyer oder im Garten sein. Iversen, die Pflicht ruft.«
»Sofort, mein teuerster Onkel, ich eile, ich fliege.«
Geraume Zeit war verstrichen, als er wieder in das Zimmer trat. Unruhe lag in seinem Wesen. »Ich kann sie nicht finden, . . . war überall, auch im Speisesaal, habe den ganzen Garten durchstreift, war auch nochmal in ihrem Zimmer, nirgends ist sie.«
Harder unterbrach ihn. »Keine Angst, Iversen! Hier kommen keine Kinder weg. Modeste wird schon wiederkommen.« Der Generaldirektor hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt, die Karte von Spanien aufgeschlagen und studierte dort mit großem Interesse die Lage der Orte, an denen Eiseneckers Hand tätig gewesen.
»Suchen wir zusammen, Malte!« Mette hatte Iversen beim Arm genommen, verließ mit ihm das Zimmer. – – –
Harder, in seine Arbeit vertieft, merkte kaum, wie die Stunden verrannen. Endlich schob er die Karte zurück, zog die Uhr. »Was, schon so spät! Wo bleiben sie?« Er stand auf, ging nach unten.
Da standen Mette und Iversen am Eingang des Hotels. »Nun, habt ihr ihn gefunden, den Ausreißer?« Das Wort blieb ihm im Munde stecken, als er die erregten Gesichter der beiden sah. Mette legte den Arm in den seinen, führte ihn ein Stück in den Park hinein.
»Wir haben sie nicht gefunden, Vater. Malte wollte gerade mit dem Hoteldirektor sprechen, da brachte ein Boy diesen Brief.«
»Ein Brief von Modeste?« fragte Harder.
»Ja, er ist von Modeste, es ist ihre Handschrift.«
»Nun und, was schreibt sie?« Mette reichte ihm das Schreiben.
Harder las, ließ dann den Brief sinken und starrte einen Augenblick sinnend in die Weite. »Hm! . . . Ich finde doch, das ist eine sonderbare Sache. – Modeste hat da anscheinend jemand Bekanntes getroffen, ist mit dem fortgefahren oder fortgegangen, schreibt aber gar nicht, wer das ist . . . Sie will bei dem oder den Bekannten ein paar Tage bleiben? . . . Dann wiederkommen. Rätselhaft, höchst rätselhaft.«
»Ja, du sagst es auch, Vater. Wir sind recht beunruhigt. Das alles so geheimnisvoll! . . . Ist doch sonst nicht Modestes Art.«
»Nun, Angst braucht ihr nicht zu haben. Es ist doch wohl ausgeschlossen, daß ihr etwas Ernstliches passiert ist . . . außerdem, du kennst doch ihre Handschrift. Sie hat doch, wie du sagst, den Brief selbst geschrieben, also«, er stemmte die Hände in die Hüften. »Ich sehe keinen Grund, sich große Sorgen zu machen. Selbstverständlich ist das Ganze nicht sehr erfreulich. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten. Sie schreibt ja, sie wird in den nächsten Tagen wiederkommen. Also warten wir, ehe wir da etwa Schritte bei der Polizei oder sonstwo tun.«
Iversen, der bisher geschwiegen hatte, schien in den Worten Harders einen gewissen Trost zu finden. Seine verdüsterten Mienen hellten sich auf. »Ja, Mette, vielleicht hat dein Vater recht, wir sorgen uns unnötig. Warten wir erst einmal die nächsten vierundzwanzig Stunden ab!«
* * *
»Du wirst es bereuen, Modeste, wenn du nicht diese törichten Sentiments beiseite lässest und Vernunft annimmst. – Du willst fort, ich lasse dich nicht fort. Ich kann es, will es nicht glauben, daß du auf deinem eigensinnigen Kopf weiter bestehst. Ich geb' dir noch eine letzte Bedenkzeit.« Mit diesen Worten warf Jolanthe die Tür zu, schloß sie ab.
Beim Knarren des Riegels hatte Modeste den Kopf erhoben. Die Hand mit dem Taschentuch, das sie bis dahin vor die Augen gedeckt, sank herab.
Was . . . was hatte Jolanthe da eben gesagt? Sie wollte sie nicht fortlassen . . .? Wollte die sie mit Gewalt hier halten? Hatte sie nicht eben den Riegel vorgeschoben?
Sie eilte zur Tür, drückte den Knopf nieder – die Tür war verschlossen. Dieser Schlag . . .! Wie vernichtet sank Modeste auf einen Sessel nieder. Diese Enttäuschung, diese ungeheure Enttäuschung über Jolanthe . . . ihre Schwester! Die Schwester war's, die eigene Schwester, die ihr das antat!
Sie konnte es nicht fassen. Ihre Gedanken flogen nach dem Hotel . . . zu den Freunden zurück. Harder, Mette, Iversen, was würden sie denken? Stunden waren schon vergangen, seitdem sie fort. Die würden sich sorgen und . . . sie preßte die Hände gegen die Brust . . . wie lange würde sie hier festgehalten werden?
Sie kannte Jolanthe wohl, kannte ihren starken Willen. Sie, wenn sie nicht nachgab, – – – Jolanthe, was würde die? . . . aber . . . war Jolanthe auch jetzt die Stärkere . . . sie wollte versuchen, hier einen Ausweg zu finden . . .
Wie hier fortkommen? Modeste sprang auf. Das alte Karsküllsche Blut in ihr wallte auf.
Weg von hier! . . . Fort aus dieser unwürdigen Gefangenschaft!
Die Tür war verriegelt. Sie blickte sich in dem Gemach um. Das einzige Fenster mit einem leichten kunstvollen Gitter versehen. Kräftige Männerarme würden es wohl zerbrechen können. Für sie war's unmöglich.
Sie preßte die Hand vor die Stirn. Wie war sie hierhergekommen? Unterwegs hatte Jolanthe sich beklagt: »Die Fahrt ist nicht angenehm, der Staub, den der Wind mit sich führt, belästigt mich. Fahren wir zu dem Schlößchen am Nil dort drüben.«
Modeste hatte gefragt, ob sie dorthin könnten? Hatte mit Verwunderung die Antwort der Schwester vernommen.
»Das Schlößchen gehört der königlichen Familie in Kairo. Durch Vermittlung meines Oheims, des Fürsten Iraklis, ist es mir für meinen Aufenthalt hier zur Verfügung gestellt worden.«
Hatte dann die eigenen Gedanken unterdrückt und dem Wunsche Jolanthes nachgegeben.
Sie waren in den Schloßhof eingefahren. Mit Staunen hatte sie die verschwenderische Pracht bewundert, die sie beim Eintritt empfing.
Sie waren in diesen Raum gekommen und die . . . bei der Erinnerung zuckte sie zusammen, schloß die Augen . . . Jolanthe, die Schwester, wie hatte die sich plötzlich verändert!
Während der Fahrt war kein Wort über den Prinzen Ahmed Fuad über ihre Lippen gekommen. Hier hatte sie plötzlich ganz unvermittelt begonnen, von dem Prinzen zu sprechen. Hatte nochmals die Vorzüge seiner Person, seiner hohen Stellung ins hellste Licht gesetzt. Sie darauf hingewiesen, welche glückliche Zukunft ihr an des Prinzen Seite blühen würde.
Und als Modeste es wiederum kurz abgelehnt . . . da hatte sich das schöne Gesicht Jolanthes plötzlich in Haß und Wut gewandelt. Mit den heftigsten Vorwürfen hatte die Schwester sie überschüttet, sie schließlich als Gefangene hier zurückgelassen.
Gefangen? . . . Gefangen hier!
Es wallte in ihr auf. Da, die Tür zum Nebenzimmer! . . . Die vielleicht offen? Sie eilte darauf zu, das Schloß gab nach.
Es war ein mit üppigster Pracht eingerichtetes Schlafzimmer. Sie trat hinein. Ein hoher Pfeilerspiegel zeigte ihr ihre Gestalt. Sie sah ihr verweintes Gesicht, tauchte ein Handtuch in das Becken, wusch sich die Augen. Da war's ihr, als hätte sie die Tür des Nebenzimmers gehen gehört.
Jolanthe? Sie eilte hinein. Da! Der Schrei, den sie ausstoßen wollte, blieb ihr in der Brust stecken.
Prinz Ahmed stand vor ihr. Abwehrend streckte sie die Arme gegen ihn. Da war er schon bei ihr, ergriff ihre Hände, sank in die Knie, bedeckte die Hände mit Küssen.
Vergeblich suchte sie, sie ihm zu entreißen. Wie mit eisernen Klammern hielt er sie fest.
»Modeste! Ich kann es . . . will es nicht glauben, daß Sie meine Liebe verschmähen. Es kann ja nicht sein!
Modeste! Ich ertrage es nicht! Ich dürste nach dir! . . . Was soll ich tun! Eine Antwort aus deinem Munde! Alles, was du willst, soll geschehen . . .«
Modeste rang vergeblich nach Worten, vermochte nur abweisend das Haupt zu schütteln.
»Du willst mich nicht hören! . . . und doch! . . . Ich lasse dich nicht!«
Er führte die Wankende zu einem Sessel, ließ sie sich niedersetzen. Durchmaß den Raum mit großen Schritten. Mit letzter Kraft überwand Modeste die Schwäche, der sie zu unterliegen drohte. Fand die Sprache wieder.
»Prinz Ahmed! Unmöglich . . . Nur eine Bitte . . . Lassen Sie mich! . . . Lassen Sie mich! . . . Niemals! . . . Niemals werde ich die Ihre sein.«
Der Prinz trat dicht auf sie zu, streckte ihr bittend die Hand entgegen.
»Modeste! . . .«
Die wandte sich zur Seite. Mit ruhiger, gefaßter Stimme sprach sie.
»Mein Prinz! Ich habe Sie stets als offenen, edlen Charakter geschätzt . . . geachtet. Auch noch . . .« hier deckte eine leichte Röte ihre Wangen . . . »nachdem ich von Madrid abgereist. Ich kann auch nicht glauben, daß meine Schwester mit Ihrem Einverständnis handelte, als sie mich hierherlockte . . . hinterlistig . . .«
Prinz Ahmed legte beteuernd die Hand aufs Herz.
»Ich weiß nicht! . . . Sie hierhergelockt? . . . Sie kennen mich . . . ich schwöre es Ihnen . . . Jolanthe? . . . mit keinem Wort hatte sie zu mir . . .«
»Ich will es Ihnen glauben, Prinz Ahmed . . . Dann aber bitte ich Sie, mir Gelegenheit zu geben, dies Haus sofort zu verlassen und zu meinen Freunden zurückzukehren.«
Prinz Ahmed atmete schwer, schloß sekundenlang die Augen.
»Modeste! Sollen wir so scheiden? . . . Scheiden auf immer?«
Seine Blicke glitten über sie hinweg, umfaßten das liebe Gesicht, den blühenden Leib. Er wollte sprechen. Die Stimme verschlug ihm.
Nicht er! . . . Ein anderer sollte das Köstliche da vor ihm besitzen? Der Gedanke raubte ihm die Sinne.
»Modeste! . . .« Seine Stimme klang heiser, das Weiße seiner Augen schien blutunterlaufen. Keuchend sein Atem.
Er stürzte auf sie zu, sank vor ihr nieder, umschlang die zitternde Gestalt mit seinen Armen.
»Ich lass' dich nicht! Du! . . . Mein bist du jetzt! Mein wirst du bleiben . . .!«
Er riß sie an sich. Vergeblich suchte sie ihn abzuwehren. Ein letzter weher Schrei aus ihrem Munde. Dann verließen sie die Sinne.
Wie lange sie so gelegen, sie wußte es nicht. Als sie wieder zu sich gekommen, lag sie auf einer Ottomane. Jolanthe saß neben ihr, besprengte ihr die Stirn mit Kölnischem Wasser.
»Modeste! Verzeih mir, daß . . .«
Bei dem Klang der Stimme wandte sich Modeste ab. Ein Ausdruck unsäglicher Verachtung auf ihrem Gesicht.
Jolanthe sprach weiter. Modeste schüttelte abweisend den Kopf.
»Geh! Geh! Verlaß mich! . . . Ich kann dich nicht sehen.«
Sie kehrte das Gesicht der Wand zu, schloß die Augen. Noch eine kleine Weile, dann hörte sie, wie die Tür ging . . . wie dann leise ein Schlüssel gedreht wurde.
Einen Augenblick . . . sie raffte sich auf, ging zur Tür, schob den inneren Riegel vor. Nur gewaltsam war jetzt der Eintritt zu ihr zu erzwingen. Sie eilte in den Nebenraum.
Da! Eine kleine Tapetentür, die von dem Schlafzimmer in einen anderen Raum führen mußte. Sie prüfte das Schloß. Die Tür war verschlossen. Doch . . . Ein Gedanke! Die leichte Tür . . . das Schloß konnte nicht allzu schwer zu öffnen sein.
Sie sah sich um. Auf dem Toilettetisch dort ein silbernes Necessaire. Sie faßte den Metallspiegel. Ein langer Griff daran. Vorsichtig stemmte sie ihn in die Fuge der Tapetentür, bog über. Das Schloß gab nach, die Tür war offen.
Sie schaute in den anderen Raum. Anscheinend eine Bibliothek, der Boden mit einem dicken Teppich bedeckt. Behutsam schritt sie darüber hin, einer anderen Tür zu, die durch eine Portiere verhängt war. Schon beim Näherkommen glaubte sie Stimmen dort drüben zu hören. Jetzt stand sie an dem Vorhang, hielt lauschend das Ohr an einen Spalt.
Die Stimmen Jolanthes und des Prinzen! Schon wollte sie sich zurückwenden, da hörte sie ihren Namen fallen. Wieder näherte sie ihr Ohr dem Vorhang, horchte mit gespannter Aufmerksamkeit. Verstand sie auch nicht alle Worte, so genügten doch die Bruchstücke, um ihr den Inhalt des Gesprächs klarzumachen.
»Es ist unmöglich, sie jetzt zu ihren Freunden zurückkehren zu lassen. Ich werde versuchen, morgen noch einmal mit ihr zu sprechen . . . sie zu beruhigen . . .«
Der Prinz schien damit nicht einverstanden . . . sie verstand die Worte nur schlecht . . . schien andere Vorschläge zu machen. Jetzt wieder Jolanthes Stimme.
»So hoffen Sie immer noch, Prinz Ahmed? . . . Sie mit uns nach Madrid nehmen? . . . Wenn die zwölf Apparate fertig . . . wir sie dem Kalifen bringen . . .?«
Die Antwort des Prinzen war so leise gesprochen, daß Modeste kein Wort davon verstand. Jetzt wieder Jolanthe.
»Gut so, Prinz Ahmed! . . . Ich bin damit einverstanden . . . vielleicht, daß wir den Trotzkopf doch noch brechen . . . Doch jetzt genug davon! Vergessen wir über all dies nicht den Zweck Ihres Kommens . . .
Sie brachten die beiden Patronen, die man dem Attentäter in Barcelona abgenommen. Ich möchte vorschlagen, noch in dieser Nacht zu Ibn Ezer zu fahren und sie ihm vorzulegen . . .«
»Ich habe da wenig Hoffnung, Baronin. Aber wir müssen alles tun, jede Möglichkeit ergreifen, um diesen Schuften ihren Plan zu verderben.«
»Wir werden es! Es wird uns gelingen, mein Prinz! Die zwölf Apparate, die Ibn Ezer nach Montgomerys Apparat baut . . . morgen abend sollen sie fertig sein! . . . Spätestens übermorgen früh . . . dann wir damit nach Madrid . . . und dann . . .
Das Schreiben des Kalifen an Gonzales und seine Genossen geht in dem Augenblick ab, in dem die zwölf Apparate hier fertig sind . . .«
»Und dann . . . sagten Sie eben, Baronin Jolanthe . . . und dann möchte ich sehen, ob diese Verbrecher es wagen werden, ihre Untaten fortzusetzen . . . wenn sie den Brief Abdurrhamans gelesen, in dem er Drohung gegen Drohung setzt.«
»Ich denke, die werden sich hüten, mein Prinz. Unsere zwölf Apparate, über Europa von unserem Flugschiff abgeworfen . . . zwölf Warnums . . . in hundertfacher Größe . . . halb Europa ein Trümmerhaufen . . .« Sie lachte laut auf. ». . . da werden die Herren das bessere Teil der Tapferkeit wählen. Ihr kühner Mut wird dahinsinken. Der Deutsche! . . . Ich sehe ihn schon bleich werden . . . mit zitternden Knien zurückfliehen, woher er gekommen.
Keiner, der es wagen wird, gegen uns zu sein. Der Einsatz wäre zu groß!«
»Jolanthe!« Die Stimme des Prinzen klang laut. »Gott selbst gab Sie uns . . . Sie unvergleichliches Weib! Nach Ihren Worten kein Zweifel mehr für mich! Wir werden siegen!«
* * *
»Nein! Du mußt mitfahren, Malte! Ich kann nicht begreifen, weshalb du dir solche Sorge um Modeste machst. Gewiß, die Sache ist etwas dunkel und nicht geeignet, ganz sorglos darüber hinwegzugehen.
Aber Modeste hat mir doch selbst geschrieben. Du sahst den Brief . . . es war ihre Handschrift . . . daß es ihr wohlgehe . . . wir uns keine Sorge um sie zu machen brauchen . . . sie würde in wenigen Tagen wieder bei uns sein.«
»Ach Mette, ich weiß nicht . . . ich kann nicht so leicht darüber hinwegkommen. Ich sehe Modeste in schwerer Gefahr.
Ich will es dir auch jetzt sagen. Ich habe es bisher verschwiegen, um nicht von dir ausgelacht zu werden. Ich war heute morgen in Kairo auf der Polizei und sprach mit einem höheren Beamten. Ich weiß nicht . . . dieser Besuch, dieser Besuch . . . er hat keineswegs beruhigend auf mich gewirkt.
Der Mann versuchte mich mit tausend Redensarten zu beruhigen. Verwahrte sich energisch dagegen, daß hier in Ägypten etwa Menschenraub oder so etwas vorkommen könne. Dazu in einer von tausend Fremden besuchten Gegend am hellen, lichten Tage . . . Um es kurz zu machen, alles, was er mir sagte, war recht schön und richtig, aber ich wurde den Eindruck nicht los,« hier machte Iversen eine kurze Pause, fuhr dann mit leiser Stimme fort, »den Eindruck . . . als wüßte der darum.«
»Malte, du siehst am hellen Tage Gespenster. Unmöglich, ein solcher Verdacht. Modeste . . . wer kann was von ihr wollen? Sie berauben? Ausgeschlossen! Sie hat keine Wertsachen bei sich. Sie entführen? . . . irgendein verschmähter Liebhaber?«
»Mette!« Malte schrie plötzlich auf, so laut, daß Mette erschrocken zurückfuhr. »Jetzt weiß ich's, weiß ich alles! Deine Worte führten mich auf die richtige Spur.«
»Aber Malte, du sprichst in Rätseln, was habe ich denn gesagt? Entführt! Ja, glaubst du denn wirklich?«
Iversen hatte sich abgewandt, stand am Fenster, schwer atmend.
»Malte! Ich bitte dich, diese Rücksichtslosigkeit, mich so in Schrecken zu versetzen. Du mußt mir mehr sagen! Ich bin jetzt natürlich selbst auch aufs höchste um Modestes Schicksal besorgt.«
Mit leisem Zwang führte sie ihn am Arm zu einem Stuhl. Rückte ihren neben ihn. Als sie ihn anschaute, erschrak sie. Das Gesicht aschfahl, die Augen verstört, der Mann nicht wiederzuerkennen.
Endlich hatte er sich in der Gewalt, zu sprechen, und dann erzählte er ihr alles, was er bisher Mette verschwiegen. Den Inhalt von Jolanthes Brief. Als er geendet, fand sie selbst auch lange nicht die Sprache wieder. Was sie da gehört, hatte sie tief erschüttert.
Das ungeduldige Hupen des Autos, in dem der Vater schon unten wartete, riß sie aus ihren Gedanken. Sie stand auf.
»Malte, ruhig Blut. Keine Übereilung. Ist es so, wie du argwöhnst, ist allergrößte Vorsicht geboten, wenn von unserer Seite etwas unternommen werden soll. Ich weiß, du denkst jetzt an nichts anderes, als sofort irgend etwas, wahrscheinlich recht Dummes, zu tun, um Modeste zu suchen, zu befreien. Nein, erst machen wir die gemeinsame Fahrt. Sie wird uns beruhigen. Wir werden Gelegenheit haben, dabei darüber nachzudenken, was du tun könntest. Komm!« Sie nahm den fast Willenlosen beim Arm, führte ihn hinunter zum Wagen, wo Harder schon ungeduldig wartete. – –
Schon mehrmals hatte Harder, der neben dem Chauffeur saß, die beiden im Fond des Wagens gefragt, ob sie nun nicht zurückfahren wollten. Die Fahrt durch die Wüste war ihm schon nach kurzer Zeit überdrüssig geworden. Immer dasselbe Bild . . . Sand, Dünen, Felsen, ein paar verlumpte Beduinen. Doch die beiden hatten anscheinend mehr Gefallen daran, wollten die Fahrt immer weiter ausdehnen.
Schließlich war es Harder über. Er sah sich um. Sie waren weit nach Westen abgekommen. Da drüben die Spitzen der Pyramiden kaum noch über dem Horizont.
»Richtung die Pyramiden! Fahr zu!«
Er überschlug die Entfernung. Eine Stunde Fahrt mindestens. Er schloß müde, geblendet von dem hellen Schein des gelben Sandes, die Augen. Als er nach längerer Zeit erwachte, schien er zunächst gar nicht zu wissen, wo er sich befand. Er schaute sich um. Sein Blick fiel auf die Magnetnadel, die neben dem Steuer eingebaut war.
»Du fährst ja falsch! Du fährst ja nach Norden! Auf die Pyramiden sollst du zufahren!«
Der Chauffeur wandte erstaunt den Kopf. »Herr Generaldirektor, wir fahren doch auf die Pyramiden zu. Da liegen sie vor uns.«
»Was, da wären wir also im Süden? Und vorher glaubte ich doch, wir wären nach Westen abgekommen. Sonderbar! Sollte ich mich so getäuscht haben. Ah, da ist ja die Sonne, ah, natürlich, da ist doch Westen. Was ist da nun passiert? Entweder sind die Pyramiden verrückt geworden oder der Kompaß. In dubio muß es schon der Kompaß sein, denn ich wüßte nicht, weshalb die Pyramiden Lust gekriegt hätten, nachdem sie fünf Jahrtausende da stehen, ihren Platz zu wechseln. Wenn wir nach Haus kommen, wirst du sofort einen neuen Kompaß kaufen und diesen wegwerfen.«
Sie näherten sich den Pyramiden. »Nimm den Weg nach Splendid-Hotel links herum! Er ist zwar schlechter, aber kürzer. Diese alberne Absperrung zwingt uns zu dem Umweg.«
Und dann waren sie an den Pyramiden, die jetzt zu ihrer Rechten lagen.
»Nanu! der Kompaß ist ja nun ganz verdreht! Jetzt zeigt er gar nach Süden.« Er griff nach der Metallkapsel, versuchte daran zu rütteln, schlug mit der Faust gegen die dicke Glasscheibe. Die Nadel zeigte unentwegt nach Süden.
»Das ist ja, als wenn jemand in den Pyramiden den Nordpol installiert hätte! So was ist denn doch unbegreiflich! Und doch, das muß richtig sein.« Denn sie waren inzwischen um die Pyramiden umgebogen, hatten sie im Rücken, der Kompaß, immer noch hatte er die blaue Spitze der Nadel nach den Pyramiden gerichtet, zeigte jetzt nach Westen.
Der Chauffeur, der den Ausführungen seines Herrn bisher mit stillem Vergnügen gefolgt war, sah nicht, wie plötzlich das Gesicht Harders ernster und immer ernster wurde. Wunderte sich nur, wie der ihm zurief:
»Fahr nach Süden und dann im großen Bogen um die Pyramiden herum nach Norden, wieder auf den Weg nach Splendid-Hotel.« Achtete auch nicht, daß Harders Augen unverrückt wie gebannt an dem Kompaß hingen.
Die Magnetnadel. Ständig der blaue Teil des Zeigers auf die Pyramiden gerichtet. Jetzt kommandierte er: »Fahr so nah als möglich an den Truppenkordon heran.«
Der tat, wie ihm befohlen.
»Ah! Die Cheopspyramide!« Harder stieß das Wort zwischen den Zähnen hervor. Da ein starkes, überstarkes magnetisches Feld! Keine andere Erklärung! Aber ein Feld . . . von welcher übergroßen Stärke mußte es sein, das seine Kraftlinien so weit in den Raum streute, daß die Magnetnadel hier davon irre wurde.
Er schloß die Augen. Die Stirn zog sich kraus. Die Erklärung hierfür, wo lag sie?
Und dann . . . der Chauffeur sah sich erstaunt um. Harder war halb aufgesprungen, schaute mit wirren Augen um sich, schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
»Ha . . . das ist's! – – – Nach Hause sofort, höchste Geschwindigkeit!«
Der Chauffeur war bestürzt . . . der Generaldirektor mußte wieder krank geworden sein . . . Er riß den Hebel um, in sausender Fahrt ging es zum Splendid-Hotel.
Ohne sich um die beiden zu kümmern, die in ihrem Gespräch nicht geachtet, wie sie gefahren, stürmte er die Treppe empor zum Sender.
* * *
Als Jolanthe mit dem Prinzen Fuad in die Felsenkammer der Pyramide trat, war Ibn Ezer am Werk, die neuen Elektroden durchzuprüfen. Bläulich-magisch schimmerte es um die blanken Metallkörper. Das neue Material gab die verlangte Elektronenemission. Als er die Schritte der Nahenden hörte, richtete er sich von seiner Arbeit auf. Wollte unwillig werden über diese Störung. Erkannte dann die Nahenden.
»Noch ist die Frist nicht verstrichen! Bezähmt eure Ungeduld! Oder warum kommt ihr jetzt?«
»Verzeih die Störung, Meister,« rief Prinz Fuad, »wir wissen, jede Minute deiner Arbeit ist kostbar. Doch nicht ohne Grund kam ich von Madrid hierher.
Du hörtest schon von jenen Gewalttaten, die unsere Feinde gestern nacht verübten.
In Barcelona gelang es unserer Polizei, das Attentat im letzten Augenblick zu verhüten. Der feindliche Agent, ein früherer spanischer Offizier, wurde gefangen, das Instrument, mit dem er den Anschlag vollbringen wollte, ihm weggenommen.«
»Ah!« Ibn Ezer war auf den Prinzen zugetreten, höchste Überraschung, Spannung malte sich in seinen Zügen. »Und du hast das mitgebracht?«
»Ja,« erwiderte der Prinz, »die Waffe ist eine gewöhnliche Armeepistole. Doch die Munition . . .« Er öffnete ein festes Holzkästchen, in dem wohlverwahrt zwei Patronen lagen. »Hier ist sie!«
Mit unverhohlenem Eifer trat Ibn Ezer näher, griff eine der Patronen. In der Überraschung wäre sie ihm fast aus der Hand geglitten . . . diese außergewöhnliche Schwere. Wie wenn er den kostbarsten Schatz in den Händen, vorsichtig trug er sie zum Arbeitstisch. Besah das Stück von allen Seiten.
Wär's möglich! Immer wieder schüttelte er den Kopf. Dann wäre der ja den anderen Weg gegangen . . . den anderen Weg . . . ungangbar noch für unsere Wissenschaft . . . für die Wissenschaft der Welt heute . . .
In einem Menschenalter, vielleicht, daß dann die Wissenschaft es wagen kann . . . der Deutsche . . . Gott oder der Teufel mußte geholfen haben!
Mit einem raschen Entschluß zog er das Geschoß aus der Hülse, legte es auf die Wage. Warf ein paar Zahlen auf Papier. Das spezifische Gewicht dreimal das des Platins, des schwersten aller bekannten Stoffe.
Er nahm eine Lupe, beschaute lange das Geschoß. Kratzte vorsichtig mit einer feinen Lanzette daran. Ein Isoliermantel umgab den eigentlichen Kern des Geschosses.
Wer da hineinschauen könnte! . . . Die Blicke des Greises flogen zu der Röntgenröhre dort auf dem Arbeitstisch.
Nein . . . nein, zu gefährlich. Die Röntgenstrahlung konnte das entfesseln, was dort in der Hülle gebannt lag . . . Doch anders konnte es gehen. Die Rechnung mußte zum Ziele führen. Wieder bedeckte er das Blatt da vor sich mit Zahlenreihen. Machte einen Ansatz. Rechnete nochmals . . . Das Resultat, eine Million Coulombs . . . eine Million Coulombs komprimiert auf den knappen Raum eines Kubikzentimeters. Nochmals rechnete er, immer wieder das gleiche Ergebnis.
Da ließ er die Feder fallen, sank wie geschlagen auf einen Stuhl nieder.
»Es ist kein Zweifel.« Die Worte stockend, gepreßt aus seinem Munde. »Das Geschoß . . . kondensierte Elektrizität . . . nichts anderes! Wehe über die Welt, wehe über die Menschheit! Die schrecklichste, furchtbarste Naturgewalt in ihre Hände gelegt . . . die Hände von Kindern! Nicht Allah . . . Iblis, der Böse, tat das, um sie zu verderben . . .
Doch . . .« die gekrümmte Gestalt richtete sich auf. Die Augen blitzten in jugendlichem Feuer, »ist's Allahs Wille, daß wir dieses Unheil abwenden . . . wir sie und ihr teuflisches Werk zerstören?! . . . Ich selbst werde mit euch nach Spanien fahren, euch helfen in dem schweren Kampf.«
Die beiden schauten sich an. Keiner sprach ein Wort. Was der Alte da gesagt, lastete schwer auf ihnen. Jolanthe trat zu dem Arbeitstisch, nahm das von der Hülse befreite Geschoß in die Hand, wog es ein paarmal auf und ab. Dann ließ sie es in die Tasche ihres Gewandes gleiten, war sich unter dem Druck, der auf ihr lastete, dessen gar nicht bewußt, was sie tat.
Prinz Ahmed stand vor dem Kästchen, in dem das andere Geschoß lag. Kondensierte Elektrizität?! Sein Geist faßte es nicht. Er schaute zu Ibn Ezer, der schon wieder an den Apparaten beschäftigt war. Eine Frage schwebte dem Prinzen auf den Lippen. Er wollte den Alten nicht stören. Endlich, er konnte nicht länger an sich halten. Er nahm das Kästchen, trug es zu Ibn Ezer.
»Verzeih, Ibn Ezer! Was ich dir sagen will, es wird dich beleidigen. Doch ich ertrage die Pein dieser Zweifel nicht länger. Gewiß, ich weiß, daß der Kern eines Atoms in höchstem Maße verdichtete Elektrizität ist . . . aber, daß ein Mensch mit diesen Kernen arbeitet, sie zu größeren Massen zusammenballen kann, ohne dabei hundertmal getötet zu werden . . . das kann ich nicht begreifen. Kann es nicht glauben, daß der Inhalt dieses Geschosses kondensierte Elektrizität ist. Daß solche unscheinbaren Dinge die Unheilbringer waren, die jene ungeheuren Zerstörungen anrichteten.«
Ibn Ezer schüttelte sein Haupt. »Ich weiß nicht, wie ich dir deinen Unglauben nehmen soll . . . Eine Probe? . . . Die Kräfte entfesseln? Du würdest dich entsetzen, sähest du, welche höllischen Gewalten dabei aus dieser unscheinbaren Hülle entspringen.«
»Eine Probe! Du hast recht. Was ich mit eigenen Augen geschaut, das will ich glauben«, rief der Prinz.
Ibn Ezer, selbst von dem Gedanken gepackt, nickte. »Hätten wir eine Waffe . . .«
»Ich habe eine Armeepistole im Wagen liegen,« unterbrach ihn der Prinz Ahmed, »ich werde sie holen.«
Gefolgt von Ibn Ezer und Jolanthe verließ er die Pyramide – – –
Und dann stand der Prinz wieder bei ihnen, öffnete die Kammer der Waffe, lud die Patrone vorsichtig ein.
Ein Ziel? Jedem schwebte die Frage auf den Lippen. Sie schauten sich um. Um die Pyramide im Mondlicht die unendliche Wüste. Ein Ziel? Hier keins zu sehen. Nichts, das geeignet, die Wirkung des Geschosses in vollem Umfange zu zeigen.
Prinz Fuad stampfte ungeduldig auf den Boden. »Wo ein passendes Ziel suchen, finden – – – dort drüben, die kleinste der Pyramiden. Der Truppenkordon noch weit außerhalb derselben. Wo wäre ein besseres Ziel?«
»Die Pyramide, Prinz Ahmed? Was Jahrtausende hier steht, um einer Laune willen vernichten? Frevel wär's!«
»Und doch!« Prinz Ahmed war ein paar Schritte von ihm fortgeeilt, hob die Waffe. Noch ehe Ibn Ezer bei ihm, hatte er abgeschossen.
Einen Augenblick die Spitze der Pyramide in bläulichem Feuer. Dann . . . Minuten mußten vergangen sein, ehe sie wieder zur Besinnung gekommen, ehe ihre Glieder ihnen wieder gehorchten . . . Von der Gewalt der ungeheuren Explosion zu Boden geworfen, hatten sie betäubt dagelegen, nicht vernommen, nicht gesehen, was da weiter geschah. Jetzt, mühsam gewöhnten sich ihre geblendeten Augen an das schwache Mondlicht.
Die Pyramide?! . . . Ein Torso! In zwei Dritteln der Höhe die Spitze wie abgemäht.
* * *
Schon seit vierundzwanzig Stunden hatte Harder vergeblich versucht, Radioverbindung mit Eisenecker aufzunehmen. Immer wieder hatte er auf der verabredeten Wellenlänge angerufen. Keine Antwort. Je länger es dauerte, desto unruhiger wurde er.
Sollte dem und seinen Freunden doch etwas zugestoßen sein? Trotz ihrer ungeheuren Machtmittel waren sie bei einem überraschenden Überfall mit Feuerwaffen doch stark gefährdet.
Dazu das, was ihm seit der Fahrt um die Pyramiden auf der Seele brannte.
Als er zurückgekehrt war, hatte er sich in sein Arbeitszimmer verschlossen, hatte in angestrengtester Konzentration noch einmal überdacht, was er da wahrgenommen, versucht, das Rätsel zu lösen. Tausend Kombinationen, alle verworfen, nur die eine blieb, wurde in ihm zur unumstößlichen Gewißheit.
Nach dem Stand der physikalischen Wissenschaft mußten die elektromagnetischen Felder, deren Ursprung in der Cheopspyramide war, auf Arbeiten basieren, die sich mit der Atomenergie beschäftigten.
Wer konnte das sein, welcher Gelehrte? Ohne Zweifel konnte es nur einer von größter Bedeutung, von höchstem Wissen sein. Ein Fremder? Kaum anzunehmen. Hier im Lande konnte nur Ibn Ezer, der berühmte Physiker an der Universität in Kairo, in Frage kommen. Der allein!
Er hatte sofort Iversen nach Kairo geschickt mit dem Auftrag, sich unter der Hand zu erkundigen, wo Ibn Ezer zurzeit weile. Der war zurückgekommen, hatte ihm gemeldet, daß Ibn Ezer schon seit längerer Zeit von Kairo abwesend, nur hin und wieder mal vorübergehend in seinem Laboratorium in Kairo gewesen sei.
Jetzt bestand für ihn kein Zweifel mehr. Ibn Ezer! Kein anderer konnte es sein.
Aber . . . er, Harder war doch genau informiert darüber, welche bedeutenden Gelehrten der Welt sich etwa mit der Atomenergie beschäftigten. Von Ibn Ezer hatte er in dieser Beziehung nie etwas gehört. Und – der arbeitete schon mit Feldern von unfaßbarer Stärke. Er schätzte die Kenntnisse Ibn Ezers sehr hoch . . . aber das war ausgeschlossen, daß Ibn Ezer, der sich seit so kurzer Zeit mit diesem Problem beschäftigte, jetzt schon solche Feldstärken erreicht haben könnte. Hier eine Antwort zu finden, hatte er lange vergeblich versucht.
Endlich! Blitzartig war die Erleuchtung gekommen. Der verschwundene Apparat Montgomerys! . . . Er mußte hier in der Pyramide sein! Mit ihm mußte Ibn Ezer arbeiten!
Er überdachte nicht weiter, wie der Apparat in die Pyramide gekommen, dachte nur mit einem Gefühl der Bewunderung, das nicht ganz frei von Neid, daß dem in so kurzer Zeit gelungen, was die Blüte der englischen physikalischen Wissenschaft nicht vermocht.
Jetzt, wo er das alles als sicher annahm, war er sich auch über die Tragweite klar . . . Eisenecker! Er mußte unverzüglich davon benachrichtigt werden. – – –
Doch unmöglich, die Verbindung mit ihm herzustellen. Harder fand keine Ruhe. Gepeinigt von innerer Ungeduld, wich er nicht von dem Sendeapparat – – –
Es war schon spät in der Nacht. Von Müdigkeit überwältigt, war er auf seinem Schreibstuhl eingeschlummert.
Da plötzlich . . . ein Gewitter? . . . Eine ungeheure atmosphärische Entladung? Er taumelte empor. Das Gemach von bläulichem Schimmer erfüllt. Jetzt ein Donner . . . ein Prasseln, als stürzten schwere Felsmassen zu Tale.
Er griff zum Feldstecher, riß das Fenster auf. Suchte die Cheopspyramide. Sie mußte in die Luft geflogen sein, Montgomerys Apparat explodiert, ein zweites Warnum . . . doch nein . . . Wie das? . . . Da stand sie unversehrt. Scharf hob sich ihre Silhouette vom dunklen Nachthimmel ab.
Sein Auge suchte weiter. Ah! Die kleinste der Pyramiden im Hintergrunde. Welch sonderbare Veränderung! Die Spitze wie abrasiert? . . . Die Spitze? . . . Die Spitze? Ein neues Rätsel.
Er achtete nicht des Klopfens an seiner Tür, antwortete nicht auf Mettes Ruf . . . Das ganze Hotel ein aufgeregter Bienenschwarm . . .
Er stürzte zum Sender. Jubelte beinahe laut auf, als die Antwort kam. Eiseneckers Stimme. Der fragte zunächst allgemein, erkundigte sich nach seinem Befinden, nach Mette.
Harder überhörte alles, unterbrach den, erzählte ihm mit fliegenden Worten, was er inzwischen gesehen . . . gedacht – – – Kam dann zum Geschehnis der letzten Minute.
Und dann hatte er geendet, wartete ungeduldig auf die Antwort Eiseneckers. Hörte nur, wie der in erregtem Gespräch mit anderen war. Jetzt, Eiseneckers Stimme klang wieder im Hörer, »Morgen bin ich da.«
* * *