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Tredrup sah den Rosenstrauß durch die Arena fliegen. In Bruchteilen einer Sekunde begriff er, was geschehen war. Seine scharfen Blicke fuhren von dem niederfallenden Strauß zurück, dahin, von wo er gekommen war. Schräg vor sich sah er in einer Loge eine weibliche Gestalt, deren Arm eben zurücksank. Er sah das Stutzen des Pferdes . . . und den Sturz.
Er sah, wie die ungeschickte Werferin von der nächsten Umgebung mit Ausdrücken des Unwillens und Tadels bedacht wurde. Sah, wie diese sich unter allen Anzeichen der Bestürzung und Verlegenheit erhob, um den Zirkus zu verlassen. Sie trat aus der Loge in den Kreisgang, wandte dabei ihr Antlitz den höheren Reihen zu.
Ein eisiger Schreck fuhr durch Tredrups Glieder.
Wie kam Juanita hierher? Sie war die Ungeschickte . . . sie.
Tausend Gedanken stürmten auf ihn ein. Verwirrend . . . betäubend.
Mechanisch erhob er sich und folgte der Enteilenden. Verlor sie kurze Zeit aus den Augen. Sah sie dann über den freien Platz vor dem Zirkus auf den Nationalpark zuschreiten. Er folgte ihr. Widerstrebend und doch gezwungen. Als sie in das Dunkel eines Seitenweges einbog, beschleunigte er seine Schritte.
»Juanita!«
Die Gestalt blieb vor ihm stehen und drehte sich mit jähem Ruck um.
»Was ist? Was . . . was wollen Sie? Wer sind Sie?«
Er sah ihre Hand in die Tasche gleiten. Hörte ein leichtes Knacken.
»Nicht nötig, Juanita. Gut Freund!«
»Gut Freund?« Wie ein bitteres Lachen klang das Wort. »Wer sind Sie?«
»Du erkennst meine Stimme nicht wieder? Ja, ja . . . früher sprach sie in anderen Tönen zu dir.«
»Klaus . . . du? Du bist es, Klaus?«
»Ich bin es.«
»Was willst du von mir? Warum verfolgst du mich?«
»Verfolgen? Verfolge ich dich?« Tonlos kam es von seinen Lippen. »Ja! Ich verfolge dich . . . ich folge dir, Juanita.« Tief atmend stand er vor ihr.
»Warum? Was willst du von mir? Wo sahst du mich? Sind unsere Wege nicht geschieden . . . auf ewig?«
»Unsere Wege sind geschieden, Juanita. Du hast recht! Geschieden seit jenem Tage – und doch folgte ich dir jetzt, als ich sah . . . im Zirkus sah . . .«
Mit kurzem Schritt war Juanita auf ihn zugetreten.
»Du warst dort? Und?«
»Ja, Juanita. Ich war dort. Ich kam erst spät. Ich sah dich nicht. Nicht eher, als bis du . . .«
»Was sahst du?«
»Ich sah, wie du den Rosenstrauß dem Pferd vor die Füße schleudertest, daß es den Sprung verfehlte und seine Reiterin unter sich begrub.«
»Das sahst du?«
»Ja, das sah ich.«
»Und was weiter? Folgst du mir deshalb?«
»Deshalb? Ich weiß nicht . . . Ich weiß nur, daß ein Schreck mich faßte, als diese Hand die deine war.«
»Was sagst du? Was willst du damit sagen?«
Er fühlte, wie ihre Finger sich in seinen Arm gruben.
»Nichts, Juanita! Ich will nichts sagen. Als ich dich erkannte, da war es mir, als ob ich dir folgen . . . als ob ich dich sprechen müßte.«
»Du sprichst in Rätseln, Klaus. Was soll das alles?«
Er fühlte, wie ihr Gesicht im Dunkeln sich an das seine heranschob. Er fühlte ihren warmen Atem, der sich stoßweise aus der Brust rang.
»Was das soll? Ich weiß es . . . nicht, Juanita.«
Dann, mit einer brüsken Bewegung, schleuderte er ihre Hände ab.
»Juanita! War das Absicht? Wolltest du das?«
»Klaus! Bist du wahnsinnig oder trunken? Was sagst du da?«
»Antworte! Du! War das . . .?«
Die Fäuste geballt, stand er vor ihr.
»Antworte! Du!«
»Du bist wahnsinnig, Klaus! Was kümmert mich die Fremde? Geh weg! Laß mich! Was kümmere ich dich? Was kümmerst du mich?«
»Juanita!« Es war ein Ton aus tiefstem Herzensgrund. »Juanita! Du! Ich bitte dich . . . Ich bitte dich bei allem, was uns einst verband.«
Ihre Hand hob sich leise . . . bittend . . . abwehrend.
»Klaus! Was ist dir! Was denkst du?«
»Ich weiß nicht, was ich denke, Juanita. Ich fürchte . . .«
»Was fürchtest du, Klaus?«
»Für dich fürchtete ich, für dich.«
»Klaus!« Es war der Ton . . . jener alte, vertraute Klang.
Seine starke Gestalt fiel zusammen, griff, wie nach einer Stütze suchend, nach ihrem Arm.
»Juanita! Ich weiß, du schicktest mir jene Warnung, die das verglommene Feuer wieder anschürte.«
»Klaus!« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Klaus, du bist krank! Ich hörte von dem Unfall, der dich traf. War froh, als ich hörte, daß du vom Schacht weggegangen bist. Wärst du doch meiner Warnung gleich gefolgt. Du bist krank, Klaus! Ich fühle, wie dein Arm zittert. Wir werden jetzt zurückgehen. Ich werde dich begleiten, bis . . .«
»Nein, Juanita! Nein! Ich bin nicht krank. Der Unfall dort . . . keine Bedeutung. Und doch!« Er faßte sie mit beiden Händen an den Schultern. »Du! Sage mir, was tatest du eben? Sag es mir! War das Absicht? Wolltest du das?«
Seine Finger krampften sich in das weiche Fleisch ihrer Schultern, daß sie ächzend niedersank.
»Klaus! Klaus! Du tust mir weh. Was tat ich, daß . . .«
Sie war auf die Knie gesunken. Ein leises Wimmern kam aus ihrem Munde.
Er kämpfte gegen den Drang, sich hinunterzubeugen, sie an sich zu reißen.
»War es Absicht?« Er schrie es. »Sage es! Sage nein! Oder ich muß verzweifeln.«
Tredrup beugte sich hinab und legte seine Hand um ihr Haupt.
»Juanita! Sage es! Sage es . . .«
Und dann fühlte er, wie ihr Haupt sich emporhob. Wie ein Hauch klang es.
»Nein, Klaus!«
»Nein?! O Gott, ich danke dir! Juanita!«
Er riß sie in die Höhe und hielt sie in den Armen.
»Nein! Juanita! Wie danke ich dir für dies kleine Wort. Wenn du wüßtest, was es für mich bedeutet.«
Minuten verrannen. Er spürte am Beben ihrer Schultern die Bewegung, die in ihr stürmte. Er fühlte, wie die Erregung matter wurde, wie sie sich immer schwerer an seine Brust legte, die Arme seinen Nacken umschlangen. Er stand und vergaß . . . vergaß alles.
Eine weiche Hand strich über sein Gesicht. Ein Kuß brannte auf seinen Lippen. Ein verzehrender Brand kam über ihn. Sein Arm preßte sie an sich.
Und dann war sie ihm entglitten. Ein leiser Hauch: »Klaus, Klaus, du . . .« drang an sein Ohr.
Ein leichter Schritt verhallte im Dunkel des Weges, und dann war er allein.
*
Die Sirenen heulten über der Grubenstadt Wibehafen: Zweite Schicht!
Doch was war? Die Menge, die die Schächte umlagerte, dachte nicht an Einfahren. Sie brandete hin und her. Wirre Reden . . . gestikulierende Arme . . . laute Drohworte.
Die Menschenmenge wuchs mit jeder Minute. Alles, was von der ersten Schicht zu Tage fuhr, gesellte sich dazu.
Ein Arbeiter sprang auf eine Lore. Die Massen drängten sich um ihn. Seine laute, gellende Stimme drang weit über den Zechenplatz.
»Kameraden! Keine Stunde länger hier! Lügner, die da drüben . . .« Er deutete mit der Faust nach dem Direktionsgebäude. »Wir wußten es besser, von Anfang an. Der Einbruch auf Sohle vier hat bewiesen, daß wir recht hatten. Was mit Black Island geschah, wird sich hier wiederholen. Spitzbergen wird sich heben. Die Schächte werden zerquetscht werden, die Sohlen zusammenbrechen – ein Grab für die tausend Kameraden, die da drinstecken! Weg von hier! Wie sich die Gelegenheit bietet!«
Tosendes Beifallsgebrüll von allen Seiten verschlang die letzten Worte. »Zu Schiff! Zu Schiff!« schrie die Menge.
Im Verwaltungsgebäude waren die Direktoren versammelt. Blässe lag auf mehr als einem Gesicht. Das Erwartete war eingetreten.
Die Tür öffnete sich. Der Chefingenieur trat herein. Mit einem Ruck wandten sich alle Köpfe ihm entgegen. Er genoß das unbegrenzte Vertrauen der Belegschaft. Sein Eingreifen allein konnte in letzter Stunde noch eine Wendung zum Guten bringen.
Von allen Seiten flogen ihm Fragen entgegen. Ein Kopfschütteln ließ sie verstummen.
»Unmöglich, meine Herren! Keine Macht der Erde, kein Gott bringt die Leute wieder in den Schacht. Das natürliche Einbrechen des Hangenden auf Sohle vier hat ihnen den letzten Rest der Besinnung geraubt.«
Die Bestimmtheit, mit der diese Worte gesagt wurden, ließ jede weitere Frage verstummen. Der Chefingenieur sprach weiter.
»Es heißt sich in das Unabänderliche fügen, meine Herren, und unsere Hoffnung auf eine vielleicht recht ferne Zukunft zu richten. Meine einzige Sorge ist, daß bis dahin die Notstandsarbeiten fortgeführt werden. Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, das dazu nötige Personal halten zu können.
Das wäre die Lage, soweit sie uns betrifft. Es wäre noch die Frage zu erledigen, wie dem zu erwartenden Ansturm auf die einlaufenden Schiffe am besten zu begegnen ist. Bei der Kopflosigkeit der Leute ist zu erwarten, daß sie die ersten ankommenden Schiffe in Massen stürmen werden. Es könnten sich da Szenen abspielen, die zum Chaos führen. Es wird unsere Aufgabe sein, die Flucht zu organisieren.«
Murmeln . . . Fragen . . . Sprechen . . . die Abneigung war deutlich zu merken.
»Jawohl, meine Herren! Unsere Sache ist es . . .« Die Worte, mit Schärfe gesprochen, ließen alle verstummen. »Ich werde die Aufgabe übernehmen und auch die Verantwortung tragen. Mit Hilfe der Besonnenen werde ich den Abtransport organisieren. – Noch einmal, meine Herren«, der Chefingenieur wandte sich zum Gehen, »fügen wir uns in das Unabänderliche. Der Sturm wird sich legen . . . früher oder später . . .«
Als der Chefingenieur aus dem Verwaltungsgebäude auf den Zechenplatz trat, sah er noch eben den Redner von der Lore springen. Sah die Massen in Bewegung geraten und dem Ausgang zudrängen. Sein Auge suchte nach älteren, ihm vertrauten Leuten, mit denen er dem Chaos entgegensteuern könnte.
Da! Was war das? Eine neue Gestalt auf jenem Wagen.
Der Chefingenieur kniff die Brauen zusammen.
Er? Der von da drüben? Vom alten Leuchtturm . . . Was wollte der?
Der Chefingenieur schüttelte den Kopf.
Dafür? Oder dagegen? Was hat der Mann vor?
Er sah von der erhöhten Steintreppe aus, wie die Massen in nächster Nähe des neuen Redners sich wandten, zurückwandten, wie die Köpfe sich zu ihm hoben.
Sah, wie der Blick des Mannes über den Zechenplatz schweifte. Glaubte auch selbst davon getroffen zu sein . . . glaubte auch selbst eine Wirkung zu verspüren . . . unerklärlich . . . rätselhaft . . . bannend . . . zwingend.
Und dann sah er, wie die Massen sich immer dichter um die Lore zusammenkeilten. Sah, wie der da oben die Lippen öffnete. Sah, wie vom Zechentor her ein Rückstrom kam, sah geballte Fäuste sich heben und sich senken. Sah, wie die an seinem Munde hingen und seinen Worten folgten . . . und Stille eintrat . . . und er auch zu hören begann und er auch stand und lauschte.
Was war das? Was geschah hier? War es wirklich jener von da drüben? Ja, er war's! Ein Mensch . . . war's ein Mensch?
Er hielt die Augen zu. Seine Gehörnerven spannten sich zum äußersten. Und er hörte alles, was jener wundersame Mensch da oben sprach. Sein Kopf senkte sich immer tiefer. Die Töne, die von da oben kamen, drangen tief in sein Innerstes ein. Verwirrend . . . betäubend . . . beruhigend.
Er fühlte sich mit allen Fasern des Seins gezogen . . . gepackt. Er fühlte einen Willen, stärker, als er ihn je gefühlt, der ihn zwang . . . fesselte . . . willenlos machte.
Und er stand und hörte . . .
Der Redner schien geendet zu haben. Die Stimme da oben verstummte.
Der Chefingenieur hob den Kopf, richtete seine Augen auf die Gestalt des Redners. Sah, wie jener die Rechte ausstreckte . . . zum Schachtturm wies.
»Und nun geht an eure Arbeit!«
Kein gebieterischer Ton . . . kein Befehl . . . einfach, ruhig . . . fast gelassen klangen die Worte.
Der Chefingenieur stand einen Augenblick starr. Was?
Noch immer die Gestalt da oben auf dem Wagen. Die Rechte nach dem Zechenhaus deutend. Die Blicke langsam im Kreise über die Gesichter der Belegschaft gleitend.
Eine kurze Spanne tiefster Stille und Ruhe. Dann wandten sich die Köpfe. Die Massen gerieten in Bewegung.
Da . . . dort . . . überall lösten sich einzelne Gruppen und strebten dem Förderturm zu.
*
Am nächsten Morgen saß Uhlenkort in der Halle seines Hotels beim Lunch. Eine kurze, fast überall gleichlautende Notiz in allen Zeitungen: Unfall im Zirkus Briggs.
Er legte die Blätter zur Seite und sah nach der Uhr. Noch immer nichts von Tredrup . . . Was war da los? Er ließ den Portier holen und fragte ihn.
»Mr. Tredrup ist erst gegen Mitternacht ins Hotel zurückgekommen und wird vermutlich noch auf seinem Zimmer sein.«
Wieder verging eine Zeit, da sah er Tredrup die große Treppe hinabkommen. Schon von weitem fiel ihm dessen Aussehen auf. War dies verfallene, übernächtigte Gesicht mit den unruhigen, fiebrig glänzenden Augen das des stets heiteren, blühenden Klaus Tredrup?
Mit Besorgnis und Unruhe reichte er ihm die Hand. »Was ist Ihnen, Herr Tredrup? Sind Sie krank?«
»Ich krank? Nein, Herr Uhlenkort. Nicht im geringsten.«
Ein kurzes, stoßweises Lachen begleitete seine Worte.
»Ich bitte Sie, Herr Tredrup, verstehen Sie meine Teilnahme nicht falsch. Ihr Aussehen straft Sie Lügen. Sie sind krank. Diese Veränderung von gestern auf heute ist nicht anders zu erklären . . . oder hängt das noch mit dem Unfall in Mineapolis zusammen?«
»Dieselbe Frage . . .« Tredrup brach kurz ab. Er stürzte eine Tasse Tee hinunter und griff nach den Zeitungen.
»Übrigens . . .« Er wandte sich Uhlenkort zu. »Wir haben mit unseren Zirkusbesuchen ausgesuchtes Pech! Meinen Sie nicht auch?«
Uhlenkort nickte. Sein Auge ruhte mit Sorge auf den so veränderten, nervösen Zügen Tredrups.
»Immerhin brachten wir es bis zur sechsten Nummer des Programms«, sagte Tredrup. »Vielleicht haben wir das nächstemal mehr Glück.«
»Herr Tredrup, ich bitte Sie! Lassen Sie die Scherze. Sie versuchen vergeblich, mich über die Sorge um Sie hinwegzutäuschen. Ich will nicht indiskret sein. Wenn Sie es für besser halten zu schweigen, so schweigen Sie. – Ich selbst möchte Ihnen kurze Mitteilung über mein Verhalten am gestrigen Abend im Zirkus geben. Sind Sie bereit und imstande, mich anzuhören?«
»Oh, gewiß, Herr Uhlenkort. Mein Interesse ist groß . . . vielleicht größer als . . .«
Er rückte seinen Sessel näher an den Uhlenkorts heran.
»So hören Sie mir zu, Herr Tredrup. Es ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, aber ihr Ende wird schließlich in den Zirkus von Kapstadt führen.
War da vor etwa fünfzig Jahren ein Sohn aus dem Hause Harlessen – Sie kennen sicher die Hamburger Firma und vielleicht auch die Familie – nach Amerika ausgewandert. Die Familien Uhlenkort und Harlessen sind von Großvaters Seite her verschwägert. Die Ursachen, weshalb jener Harlessen nach Amerika auswanderte, lagen in pekuniären Differenzen mit seinem Vater. In Differenzen von einer Schwere immerhin, daß – um mich jener Worte zu bedienen – das Tischtuch zwischen beiden zerschnitten wurde.
Jener Harlessen kam nach mancherlei Irrfahrten nach Mittelamerika und kaufte sich in der Nähe des Kanals eine Farm. Seine Frau starb früh. Eine Tochter wuchs ihm auf. Christie Harlessen. Es ist die Schulreiterin, die wir gestern sahen . . .«
Klaus Tredrup fuhr auf. »Flores de Tejada ist Christie Harlessen?« Uhlenkort nickte.
»Ein tragisches Schicksal liegt über dem Mädchen, das ich übrigens gestern abend zum ersten Male sah. Von den Landenteignungen am Panamakanal wurde auch ihr Vater betroffen. Und nun beginnt eine Reihe von dunklen Ereignissen, deren Aufklärung mir bis jetzt noch nicht gelungen ist. Als erstes nenne ich das: Es wurde die durchaus nicht kleine Entschädigungssumme entgegen sonstigen Gepflogenheiten in bar bezahlt.
Am Abend vor der Abreise von der Besitzung kamen Vater und Tochter von einem Abschiedsbesuch zu Pferde zurück. Ich erzähle es Ihnen so, wie es mir von Leuten am Kanal berichtet wurde, als ich vor etwa drei Wochen da unten war.
Jetzt der andere höchst sonderbare Punkt. Der einzige Diener, der noch auf der Farm war, ist verschwunden . . . Christie bringt die Pferde selbst in den Stall, während ihr Vater in das Haus tritt. Während sie noch mit den Pferden beschäftigt ist, hört sie aus dem Hause einen Schrei. Die Stimme ihres Vaters. Sie läuft in das Haus. In dem dunklen Flur – es war nach Sonnenuntergang – stürzt ein Mann an ihr vorbei. Sie eilt in das Zimmer des Vaters. Findet ihn, aus einer schweren Wunde am Hinterkopf blutend, am Boden liegen. Die gepackten Koffer im Zimmer sind aufgebrochen und durchwühlt, Geld und Wertsachen geraubt. Der Vater stirbt, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Christie verläßt die Farm.
Soweit gingen die Mitteilungen, die mir da unten gemacht wurden. In den Staaten wandte ich mich an das Pinkerton Office. Die Auskunft lautete: Christie Harlessen aus Not Zirkusreiterin geworden.
Vor meiner Abreise nach Timbuktu bekam ich die weitere Nachricht, daß sie zur Zeit hier sei. Der Zufall war mir günstig. Ich hatte ja ohnehin die Absicht hierherzufahren.«
»Sie nannten es Zufall, Herr Uhlenkort . . .« Tredrup sagte es wie traumverloren.
»Gewiß, Herr Tredrup, ein Zufall wollte es so . . . oder wollen Sie das für ein Geschick, für eine höhere Fügung halten?«
Tredrup zuckte kurz mit den Achseln. Sein Blick ging zur Seite.
»Zufall . . . Fügung . . . was weiß ich?«
»Aber, Herr Tredrup.« Uhlenkort sagte es lachend. »Ich erkenne Sie nicht wieder. Sie, Herr Klaus Tredrup, belieben über Schicksal und Zufall zu philosophieren. Sie, der Mann der nackten Tatsachen. Sollte Ihnen gestern abend auch so ein mystischer Zufall passiert sein? Beinahe müßte ich es denken.«
»Wenn Sie das denken, Herr Uhlenkort, so denken Sie nicht falsch.«
Er stützte das abgewandte Gesicht in die Hand. Sein Auge schweifte ruhelos durch den Raum. Uhlenkort stutzte. Dieser sonderbare Ton.
»Verzeihung, Herr Tredrup, wenn ich etwas berührte, was . . .«
»Nichts zu sagen, Herr Uhlenkort.« Tredrup lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Man glaubt allen Wind der Welt um die Nase verspürt zu haben, und dann . . . Zufall oder Fügung.« Seine Worte gingen in einem Murmeln unter.
»Lassen wir das.« Mit einem kurzen Ruck richtete er sich auf, als wolle er alles abschütteln.
»Der Unfall im Zirkus gestern ist ja, Gott sei Dank, gut verlaufen. Es hatte Sie anscheinend mächtig gepackt. Sie turnten da mit einer beträchtlichen Fixigkeit in die Manege hinunter.«
Uhlenkort lachte.
»Ich glaube gern, daß Sie sich da amüsiert haben. Aber das war doch schließlich zu erklären.«
»Ganz gewiß. Gewiß, Herr Uhlenkort. Es ist nicht zu leugnen, daß Fräulein Harlessen eins der schönsten Mädchen ist, das mir je vor Augen kam. Ich wundere mich, daß Sie nicht längst auf dem Wege sind, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.«
»Ich warte nur auf die passende Zeit.« Uhlenkort blickte auf die Uhr. »Ich glaube, es jetzt tun zu dürfen.«
»Viel Glück, Herr Uhlenkort. Sie treffen mich hier wieder.«
*
»Geh, Betty. Es hat geklingelt. Es wird der Doktor sein.«
Die Dienerin kam zurück.
»Nein, Fräulein Harlessen. Ein fremder Herr. Hier ist seine Karte.«
Christie richtete sich ein wenig von dem Ruhebett auf. Sie nahm die Karte und las: Walter Uhlenkort, Hamburg. Langsam ließ sie sich wieder zurückgleiten. Ihre Augen schlossen sich.
Hamburg . . . Uhlenkort . . . Harlessen . . . Die Verbindung der drei Namen . . . Was lag darin. Sie sann und vergaß, vergaß Zeit und Raum . . .
»Soll ich den Herrn abweisen, Fräulein Harlessen?«
Die Stimme riß sie aus dem Sinnen.
»Uhlenkort aus Hamburg? Nein . . . lassen Sie den Herrn gehen!« Sie deckte die Augen mit der Hand. »Nein, Betty, führen Sie den Herrn ins Nebenzimmer.«
Sie stützte den Arm auf das Ruhebett und hob langsam den Oberkörper in die Höhe. Ihre Miene verriet, daß die Bewegung ihr Schmerzen bereitete. Sie schritt dem Nebenraum zu. Im Türrahmen blieb sie stehen und schaute prüfend auf die hohe Mannesgestalt, die sich vor ihr verneigte.
»Herr Uhlenkort? Sie wünschen von mir?«
»Gnädiges Fräulein, Fräulein Harlessen. Ich bitte, die Störung zu verzeihen. Ich nehme an, daß mein Name Ihnen nicht unbekannt ist. Harlessen und Uhlenkort stehen seit Menschenaltern in engen verwandtschaftlichen Beziehungen . . . Sie wissen . . .«
»Ich weiß, Herr Uhlenkort. Wollen Sie bitte Platz nehmen. Was führt Sie zu mir?«
Während sie ihm gegenüber Platz nahm, sah er, wie sie mit Mühe einen Schmerz zu verbergen suchte.
»Fräulein Harlessen, ich war gestern abend zufälligerweise Zeuge Ihres Unfalls. Ich sehe soeben, er scheint doch nicht so glücklich verlaufen zu sein, wie man mir sagte. Sie fühlen sich nicht wohl? Sie haben Schmerzen? Ich bin besorgt.«
Die unverhohlene Teilnahme, die aus seinen Worten sprach, schien den abweisenden Zug ihrer Mienen zu mildern.
»Dank für Ihre Teilnahme, Herr Uhlenkort. Doch das dürfte wohl kaum der Grund sein, weswegen Sie zu mir kommen.«
»Nein . . . und doch ja, Fräulein Harlessen. Gewiß! Einer fremden . . . Dame gegenüber . . .«
»Oh, sagen Sie nur Zirkuskünstlerin.«
Uhlenkort richtete seinen vollen Blick auf sie. »Ich glaube nicht, Fräulein Harlessen, Ihnen den geringsten Grund gegeben zu haben . . .«
»Gut, Herr Uhlenkort, gut! Also noch einmal: Was führt Sie zu mir? Lassen wir den Sturz beiseite.«
»Ich komme zu Ihnen, Fräulein Harlessen, als Ihr Verwandter . . . oder wenn Sie wollen, als Beauftragter Ihres Oheims, des europäischen Staatspräsidenten.«
»Ah! Man weiß auch in Hamburg von meiner Existenz? Interessant! Ich vermute, daß das Interesse nicht älter ist als ein halbes Jahr?«
»Ich verstehe nicht, Fräulein Harlessen.«
»Nun, ein halbes Jahr ist es her, daß ich Schulreiterin bin, Zirkuskünstlerin . . .«
»Und?«
»Und von da ab wird wohl das Interesse datieren?«
»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe, Fräulein Harlessen. Sie unterstellen Beweggründe . . .«
»Oh, Herr Uhlenkort, glauben Sie nicht, daß ich, die Amerikanerin von da unten her, so ganz unvertraut mit den europäischen Sitten und Gewohnheiten bin. Mein Vater war ein Deutscher und blieb es bis zum letzten Augenblick. Er erzählte mir viel von Deutschland und vom alten Hamburg . . .« Sie wandte das Gesicht und brach ab. »Was wissen Sie von meinem Vater . . . und . . .«
»Fräulein Harlessen! Ich sehe mit Bedauern, daß die Unterredung Sie anstrengt. Der gestrige Unfall hat Ihre Nerven stark angegriffen.«
»Oh, meine Nerven sind in bestem Zustand, Herr Uhlenkort. Ein Sturz vom Gaul, es war nicht der erste . . . Er wäre schon längst vergessen, wenn . . .«
Sie hob leicht die Schulter, und ein weher Zug ging um ihren Mund.
»Fräulein Harlessen! Eine andere Frage. Hat der Arzt Sie bereits genauer untersucht?«
»Nein! Ich sagte doch schon, daß ich den Arzt erwartete, als ich Ihre Ankunft vernahm. Doch wozu immer wieder abschweifen. Sie kommen zu mir als Verwandter, wie Sie sagen, oder etwa als Bevollmächtigter des Hauses Harlessen?«
»Jawohl, Fräulein Harlessen! Ein ausdrücklicher Auftrag wurde mir zwar nicht gegeben. Aber ich handle im Sinne der Familie Harlessen . . .«
». . . der es wohl nicht angenehm ist – ich kenne, wie ich bereits sagte, die Ansichten der Alten Welt –, daß eine Nichte des europäischen Staatspräsidenten als Zirkusreiterin ihr Brot verdient.«
Uhlenkort wollte sie unterbrechen, doch sie fuhr fort:
»Noch eine Frage, Herr Uhlenkort. Dann mögen Sie ungestört sprechen. Kamen Sie meinethalben nach Kapstadt? Und woher wußten Sie, daß ich hier bin? Ich glaubte, mich unter meinem Künstlernamen, es ist der Name unserer alten Farm, vor den Augen der Welt genügend verborgen zu haben.«
Uhlenkort zögerte. »Ich kam nach Kapstadt, weil mich dringende Geschäfte hierher riefen. Aber ich war kurz vorher benachrichtigt worden, daß Sie hier im Zirkus aufträten.«
»Von wem, bitte?«
»Vom Pinkerton Office!«
Eine leichte Röte huschte über Christies Gesicht.
»Interessant! Und wie kamen Sie dazu?«
»Ich will nicht weit ausholen. Ich könnte Ihnen sonst erzählen von jenen Zeiten, wo . . .«
»Gut, lassen wir das, Herr Uhlenkort«, unterbrach ihn Christie. »Ich kenne jene Zeiten zur Genüge.«
»Wenn Sie damit, Fräulein Harlessen, die Zeiten meinen, in denen sich jene unliebsamen Vorkommnisse abspielten, die zu einem Bruche Ihres Vaters mit der Familie Harlessen führten, so sind Sie gewiß auf falschem Wege. Ich meine die Jahre, die darauf folgten. Damals, als die Firma Harlessen wieder die alte geworden war. Als man vergeben . . . vergessen hatte. Als man alle Beziehungen in Bewegung setzte, um nach dem Verbleib Ihres Vaters zu forschen.«
»Ist das wahr? Tat man das?«
»Man tat es, bis man die Aussichtslosigkeit erkannt hatte.«
Der harte Zug um Christies Lippen wurde weicher.
»Gut, ich will es glauben. Doch wie war das mit dem Pinkerton Office?«
»Ich kam vor einiger Zeit auf einer geschäftlichen Reise in die Kanalzone. Ein Zufall ließ mich dort den Namen Harlessen hören. Ich erfuhr von dem tragischen Tod Ihres Vaters und von Ihrer Abreise nach Milwaukee. Da mich dringende Geschäfte nach Europa zurückriefen, beauftragte ich das Pinkerton Office, weitere Nachforschungen anzustellen.«
Er richtete seinen Blick auf das junge Mädchen, das zurückgesunken in dem Fauteuil lag. Die Augen halb geschlossen, schien sie über seine Worte nachzudenken.
»Und welchen Zweck verfolgen Sie mit Ihrem Besuch? Nehmen wir an, der Sturz wäre gestern abend nicht geschehen.«
Uhlenkorts Blick glitt voll Teilnahme über die schlanke junge Gestalt.
»Ich kam hierher, Fräulein Harlessen, um Sie zu bitten, einen Beruf, dessen Gefährlichkeit der gestrige Abend wieder bewiesen hat, aufzugeben und in die alte Heimat zurückzukehren.«
»Heimat? Das Wort hörte ich so oft aus dem Munde meines Vaters . . . Ich verstand es nie ganz, der Begriff war mir fremd. Ich weiß nur, wie oft ihm die Tränen kamen, wenn das Wort fiel. Meine Heimat . . . wo ist sie? Wir zogen in den Staaten von Stadt zu Stadt, bis wir am Kanal ansässig wurden. Hamburg ist sicher nicht meine Heimat. Wie soll ich dahin zurückkehren, wo ich doch nie gewesen bin? Meine Heimat ist der Zirkus! Die Zirkuswelt . . .«
Er machte eine abweisende Bewegung.
»Fräulein Harlessen, ich kann es nicht glauben. Sie sprachen in der Erregung des Augenblicks. Ihr Gesicht, Ihre Augen – alles verrät das Harlessensche Blut. Das läßt sich nicht verleugnen. Es ist unmöglich, Fräulein Harlessen, daß Sie sich auf die Dauer in dieser Umgebung wohl fühlen können. Ich bin erstaunt, daß Sie diesen Beruf ergriffen haben. Wie kamen Sie zu diesem Entschluß?«
»Oh, sehr einfach. Ich kam nach Milwaukee und fand von meinen Verwandten mütterlicherseits niemanden mehr vor. Meine Mittel waren zu Ende. Ich traf einen früheren Cowboy unserer Farm, der Zirkusreiter geworden war, schilderte ihm meine Lage und folgte seinem Rat, Zirkusreiterin zu werden. Wir gingen zum Direktor. Er erlaubte, daß ich ihm vorreiten durfte. Ich gefiel ihm. Das Engagement war perfekt. Sie sehen . . .«
»Das war ein ebenso schneller wie energischer Entschluß, Fräulein Harlessen. Aber ich glaube, es hätten sich für Sie doch noch andere Möglichkeiten geboten, zum Beispiel . . .«
Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht von Christie Harlessen. »Glauben Sie wirklich, Herr Uhlenkort, daß ich mich etwa als Gesellschafterin in einer Milliardärsfamilie oder als Gouvernante von ungezogenen Kindern besser ausnehmen würde?«
Sie lehnte sich halb belustigt, halb entrüstet zurück.
»Gut! Lassen wir das, Fräulein Harlessen, das, was geschehen. Ich wollte Sie bitten, diesen gefahrvollen Beruf aufzugeben und mit mir nach Hamburg zurückzufahren; die Lösung Ihres Vertrages würde ich übernehmen.«
»Und was soll ich in Hamburg?«
»In Hamburg würden Sie von Ihren Verwandten mit offenen Herzen empfangen werden.«
»Und was weiter . . . was dann?«
»Sie würden als Tochter des Hauses Harlessen leben, alle Vorzüge genießen, die damit verbunden sind.«
»Die arme Verwandte! Das Aschenbrödel aus dem Märchen? Nicht mein Geschmack! Ich ziehe es vor, auf eigenen Füßen zu stehen.«
»Ah«, versetzte Uhlenkort mit einiger Schärfe. »Sie wollen lieber weiter durch die Welt ziehen?«
»Warum nicht? Nehmen Sie an, Herr Uhlenkort, Sie haben ein American Girl vom reinsten Wasser vor sich.«
Uhlenkorts Miene verdüsterte sich. »Ich dachte, ich hätte eine Tochter des Hauses Harlessen aus Hamburg vor mir. Wenn ich mich da täuschte . . . ich bitte um Verzeihung . . .« Er erhob sich. »Noch etwas! Fräulein Harlessen, ich glaube, Sie dahin verstanden zu haben, daß das Gefühl der materiellen Unabhängigkeit Ihre Entschlüsse leitet.«
Christie zuckte die Achseln.
»Bei Ihrer Weigerung sind Sie da von einer falschen Annahme ausgegangen. Sie würden keineswegs das Aschenbrödel aus dem Märchen sein.«
»Sondern?« Christie richtete sich fragend auf.
»Ihr Vater hat nie aufgehört, Angehöriger der Familie Harlessen zu sein, das heißt in diesem Falle, Teilhaber der Firma Harlessen.«
»Ah, ich verstehe, Herr Uhlenkort! Aber . . .«
Uhlenkort trat näher auf sie zu.
»Allerdings, Fräulein Harlessen, es ist, wie ich Ihnen sagte. Zu einem gewissen Teil, dessen Höhe ich nicht genau angeben kann, sind Sie Erbin oder Teilhaberin der Firma.«
Einen Augenblick schaute Christie prüfend auf die hohe ernste Männergestalt, die da vor ihr stand, in das offene, klare Gesicht, aus dem reine Teilnahme sprach. Sie schien unsicher zu werden. Dann, mit plötzlichem Entschluß, reckte sie sich auf. Ihre Hand streckte sie ihm entgegen.
»Ich danke Ihnen, Herr Uhlenkort, für Ihre Teilnahme und Ihr Interesse. Auch wenn ein derartiger Anspruch meinerseits vielleicht rechtlich begründet wäre . . . Ich kenne meines Vaters Schuld . . . Ich weiß, was daraus für die Firma Harlessen entstand . . . und ich weiß, daß ich keinen Anspruch habe. Ich verzichte.«
»Fräulein Harlessen, wissen Sie auch, worauf Sie verzichten?«
»Wie hoch die Summe ist, ist einerlei. Mag sie hoch oder niedrig sein. Nochmals meinen Dank, Herr Uhlenkort.«
Uhlenkort ergriff die dargebotene Hand und beugte sich darüber. Seine Augen hingen an dem blassen, jungen, schönen Antlitz.
»Eine Harlessen sind Sie doch, Fräulein Christie. Ich gehe, aber ich gehe in der Hoffnung, daß Sie eines Tages anders denken werden.«
»Sie hoffen, daß der Harlessensche Dickkopf – ich verstehe wohl, Ihre Gedanken zu lesen – eines Tages sich bessern könnte.«
Uhlenkort lachte.
»Meine Hoffnung wird größer, wenn ich Sie höre.«
»Oh, ich warne Sie! Hoffen Sie nicht zuviel. Es wird vielleicht noch mancher Tropfen Wasser die Elbe hinunterfließen.«
Wieder beugte sich Uhlenkort über die Hand und drückte einen langen Kuß auf die schmalen Finger.
»Wir werden uns wiedersehen!«
Uhlenkort war gegangen. Gedankenverloren schaute Christie Harlessen ins Weite. Dann stützte sie den Arm auf und wollte sich erheben. Mit einem Wehlaut sank sie zurück. Ihre Hand griff zum Herzen. Was war das?
Der Arzt, den die Zofe in den Raum führte, fand sie in tiefer Ohnmacht.
*
Bei Montegna am Panamakanal. Eine Lichtung im tropischen Urwald. Nur mit Mühe halten Axt und Feuerbrand die gerodete Fläche von der üppigen, immer wieder anstürmenden Vegetation frei.
Hier liegt das Hauptquartier der New Canal Company. Das große Verwaltungsgebäude, in massivem Betonguß errichtet.
In diesem Haus waltet James Smith, der Chefingenieur der New Canal Cy., der Herr über hunderttausend Menschen und Millionen Pferdestärken. Von hier aus laufen die Befehle zu den hundert Etappen der neuen Kanalstraße. Von hier aus wird disponiert über Menschen, über Maschinen und über Sprengstoffe, die unerhörte Kräfte bergen.
James Smith ist der Herrscher dieses industriellen Königreichs. Der absolute Herrscher.
Als einfacher Bohringenieur hatte er seine Laufbahn begonnen. Ein außergewöhnliches Organisationstalent, eine vor nichts zurückschreckende Energie, ein Kopf voll genialer technischer Ideen hatten ihn in schnellen Sprüngen zur höchsten Stellung emporsteigen lassen.
James Smith saß an seinem mit Karten und Plänen bedeckten Arbeitstisch. Neben ihm lag ein Schreiben der New Canal Cy., das ihm offiziell vom Beschluß des amerikanischen Parlaments Mitteilung machte.
»Etappenweise Sprengung«, murmelten seine Lippen. »Gut, gut . . . eine geheime Last fällt mir vom Herzen. Offen habe ich es nie zugegeben. Nicht zugeben dürfen, daß ich die Bedenken jener gegnerischen Gutachter teile. Wie mag er diesen Beschluß aufnehmen? Sein Gesicht hätte ich sehen mögen.«
Der Chefingenieur beugte sich über einen großen Plan, der die Lage aller Minen und die Leitungsführung zu ihnen enthielt. Sein Finger folgte den roten Linien, die von jeder Mine zum Direktionsgebäude führten. Seine Augen glitten auf eine Skizze daneben.
»Hier die neuen Schaltungen für Einzelsprengungen in halbstündigen Abständen.«
Befriedigt lehnte er sich in einen Sessel zurück.
»Gut so! Das Schema ist in Ordnung. Kostet zwar einige Milliarden mehr. Es wird schon wieder hereinkommen. Aber er . . . er . . . Das wird ein harter Schlag für ihn gewesen sein. Ich wundere mich, daß er gar nichts von sich hören läßt, daß er nicht schon längst hier ist.«
Er! Einen Moment bedeckte James Smith die Augen mit der Hand. »Ein Rätsel . . . ein Rätsel, und ich glaubte ihn doch zur Genüge zu kennen.«
Seine Hand sank herunter. Seine Augen weiteten sich, als sähen sie kommende Dinge. Er sprang auf und durchmaß erregt den Raum.
Nein! Nein! Er ist nicht einer, der sich so leicht von seinen Plänen abbringen läßt. Er führt etwas im Schilde. Nichts Gutes! Ja . . . wäre es möglich?
Er ging zum Schreibtisch und ergriff das Schaltungsschema. Mit einem düsteren Ausdruck ließ er es wieder sinken.
Ja! Es wäre möglich . . . Man kann Nebenschaltungen machen . . . unsichtbare . . . unauffindbare . . . mit keinen Mitteln nachzuweisende.
Sinnend schritt er auf und ab.
Ja! So ginge es. »Ich werde die schärfste Kontrolle anordnen. Kein Unberufener darf sich den Leitungen nähern. Der Schaltraum muß unter ständiger Aufsicht bleiben. Die Türen werden verschlossen und plombiert, sobald die Schaltung fertig ist.«
*
Von Norden her kam eine Jacht herangebraust, eine große, schnelle Privatjacht. Ein Diener trat in die luxuriöse Kabine.
»Land in Sicht, Mr. Rouse!« meldete er und verschwand.
»Ah, Juanita, kommst du mit zum Bug, wo wir freie Aussicht nach allen Seiten haben?«
»Danke, Guy. In den paar Wochen seit meinem letzten Hiersein wird sich nicht allzuviel verändert haben.«
Blauer Ozean unter ihnen.
»Da hinten taucht das Festland auf. Nun, wie du willst. Übrigens, um zu unserem Gespräch zurückzukehren . . . Kaiser Augustus schrieb einen äußerst schmeichelhaften Brief an mich, worin er auch deiner gedenkt. Die Nachrichten, die du ihm von Kapstadt sandtest, waren ihm natürlich sehr wertvoll. Ich sehe schon die diplomatischen Verwicklungen beginnen, bevor jene getarnte Auswanderung in Fluß kommt.«
»Du sprichst von dem Dank des Kaisers für das Chiffretelegramm. Den müßte ich eigentlich ablehnen. Denn das Verdienst gebührt doch deinen Agenten dort unten. Ich war, ich muß es gestehen, nicht wenig verblüfft, als der Agent mir die inhaltsschwere Unterredung Wort für Wort meldete.«
Ein kaltes Lächeln glitt über die Züge von Guy Rouse.
»Gold öffnet alle Türen! Der Satz gilt, solange es Menschen gibt. Wo ist der, der dem Glanz des Goldes nicht unterliegt?«
»Glaubst du wirklich, daß alle Menschen . . .?«
»Alle? Nein, überall gibt es sogenannte Idealisten, Menschen, die nach meiner Auffassung nicht normal sind, die dem Zauber des blinkenden Goldes nicht unterliegen. Aber diese Leute haben nichts zu bedeuten. Stimmen des Predigers in der Wüste. Sie rennen sich den Kopf an den Mauern der Wirklichkeit ein. Und doch . . .«, sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, » . . .sollte es mir einen ungeheuren Spaß machen, derartige Typen mal zu versuchen. Weißt du, Juanita, wie in der biblischen Sage Freund Satanas ihn mal versuchte?«
»Guy!« Juanita fuhr zurück. »Du gehst zu weit . . . du lästerst.«
Guy Rouse machte ein markiert erstauntes Gesicht.
»Sind doch noch einige Reste uralten Kinderglaubens in dir, Juanita? Ich dachte . . .«
»Guy! Laß das!« Eine tiefe Falte schob sich zwischen ihre Brauen.
»Jeder Mensch hat eine Seele, die . . .« Sie erhob sich und trat zum Kabinenfenster.
»Juanita! Ich staune«, klang es hinter ihrem Rücken. »Wenn ich dich recht verstand – und ich verstehe doch wohl –, wolltest du sagen, die geheime Falten birgt, tief verborgen . . . Wolltest du das nicht sagen?«
Juanita ließ den Fenstergriff los und drehte sich langsam um. Ein prüfender Blick traf das Gesicht von Guy Rouse.
»Ja, das wollte ich sagen! Du errietest es richtig. Versteckte Falten sind in jeder Seele, in jeder, auch in deiner.«
»Auch in meiner? Hm!«
Guy Rouse versenkte seinen Blick in ihren, als wolle er darin lesen. »Und du glaubst einen Blick da hinein getan zu haben?«
Sein Blick bekam etwas Drohendes, das Juanita erschrecken ließ.
»Ich?«
Ein Jachtmatrose trat in den Raum und meldete: »Der Kanal, Mr. Rouse!«
Das Eintreten, so kurz die Unterbrechung auch war, lenkte Guy Rouses Augen von ihr ab und gab ihr die volle Sicherheit wieder.
»Ich werde mit dir nach vorn gehen . . .«
»Gewiß, Juanita.« Es war wieder jenes alte, fatale Lächeln in seinen Mienen, das Juanita so fürchtete und verabscheute. »Für Seelen bietet doch der Anblick der alten Heimat immer etwas Erhebendes. Nicht zu vergessen, daß wir gleich jenen Ort erreichen werden, wo wir uns zuerst sahen.« Er legte seinen Arm auf den ihren und schritt aus dem Raum. Das leise Zucken ihres Armes schien seine gute Laune zu erhöhen. Lüstern und grausam wurde sein Lächeln. Immer wieder neuen Genuß bereitete es ihm, diese Feuerseele zu reizen und zu bändigen.
»Wie gefiel es dir sonst in Kapstadt?« fragte er beiläufig im Hinaustreten. »Sahst du nichts Neues, Interessantes?«
Juanita machte den Arm frei und trat durch die Tür.
»Die kurze Zeit dort war vollständig ausgefüllt mit deinen Angelegenheiten. Ich blieb nur bis zum nächsten Morgen. Am Abend besuchte ich den Zirkus.«
Sekundenlang verschwand das Lächeln vom Gesicht von Guy Rouse.
»Und du amüsiertest dich?« Sein Mund lächelte wieder.
»Nein, ich langweilte mich und ging bald wieder zum Hotel zurück . . .«
»Ah! Da liegen ja schon die Verwaltungsgebäude. Schade! An Montegna sind wir vorbeigefahren, ohne es zu sehen . . . Deine Rolle bei meiner Unterredung mit James Smith kennst du?«
Juanita nickte.
»Hoffentlich spielst du sie gut.«
Ohne den Kopf zu wenden, schritt Juanita an ihm vorbei, das Gesicht fahl, blaß, die Lippen aufeinandergepreßt, die Augen die einer gefesselten Tigerin.
Er sah es nicht. Er lachte laut, als dann die lachende Antwort kam. »Ich werde sie spielen, wie . . . wie neulich die große Sängerin in der Metropolitan Opera die Delila spielte.«
*
Guy Rouse trat in das Kabinett von James Smith. Er schüttelte dem Chefingenieur die Hand.
»Um gleich auf das Wichtigste zu kommen, Mr. Smith, Sie hörten von den Beschlüssen des Kongresses?«
Der Chefingenieur nickte zustimmend.
»Sie wissen vielleicht auch, daß die Stimmung der Länder hinter diesem Beschluß steht?«
»In der Tat, Mr. Rouse, die öffentliche Meinung in den Staaten gibt den Beschlüssen des Kongresses vollständig recht!«
Guy Rouse lehnte sich in seinen Sessel zurück.
»Stimmung der Länder … Öffentliche Meinung, Mr. Smith … ah bah! Wir wissen doch, wie die öffentliche Meinung gemacht wird. Vielleicht hätte ich die öffentliche Meinung in den Staaten dahin bringen können, ganz etwas anderes zu meinen, vielleicht, vielleicht auch nicht, aber warum? Die Sache hätte die Company jedenfalls Millionen gekostet, viele Millionen, die wir uns sparen können. Sie kennen doch die Gutachten, Mister Smith? Viele Gutachter haben gesagt, daß die Explosion sich durch den Gesteinsdruck von der ersten gesprengten Etappe weiter fortpflanzen könne.«
»Mr. Rouse, ich kenne diese Gutachten einiger überängstlicher Gelehrter, aber ich glaube nicht daran; es ist ausgeschlossen, so gut wie ausgeschlossen.«
»So gut wie ausgeschlossen … also Sie geben doch zu, daß eine entfernte Möglichkeit besteht.«
»Gott, ja, Mr. Rouse, eine entfernte Möglichkeit! Gewiß! Es kann auch einer auf ebener Straße fallen und sich das Genick brechen.«
»Es ist mir sehr angenehm, Mr. Smith, daß Sie diese Möglichkeit nicht von der Hand weisen. Es wäre also, wenn . . . eventuell mit dieser Möglichkeit als Entschuldigung zu rechnen.«
Der Chefingenieur blickte ihn fragend an. Guy Rouse fuhr wie im Selbstgespräch fort.
»Die mir noch aus dem Dispositionsfonds zur Verfügung stehende Summe – mein Schwarzbuch – hat noch den Betrag von fünf Millionen Dollar frei. Mit dieser Summe hätte man die öffentliche Meinung, wie ich schon sagte, bearbeiten können, aber ich dachte, auch ohne dies …«
»Ich verstehe nicht, Mr. Rouse.«
»Nun spielen wir mit offenen Karten. Der Beschluß unseres Parlaments ist nun mal da. Ich für meine Person glaube unter keinen Umständen, daß das Gutachten dieses mysteriösen J. H. irgend etwas auf sich hat. Ich habe mich eingehend damit beschäftigt. Unsinn! Solcher überspannter Ideen halber soll unsere Gesellschaft fünf Milliarden Dollar zum Teufel jagen. Das wäre doch über die Maßen dumm. Es bleibt das Vernünftigste, mit einem Male die ganze Kanallänge zu sprengen.«
Smith trat betroffen ein paar Schritte zurück.«
»Gegen den Befehl des Kongresses? Mr. Rouse! Unmöglich!«
Guy Rouse lächelte.
»Unmöglich? Sie selbst sagten ja vorher, daß eine Beeinflussung der Nachbarminen, eine Explosion der anderen Minen, nicht ganz von der Hand zu weisen wäre. Nehmen wir an, es träte etwas Derartiges ein, das heißt, für die Augen der Welt.«
»Ja, aber . . .«
»Der Eintritt dieser Möglichkeit, Mr. Smith, würde unserer Gesellschaft fünf Milliarden Dollar ersparen. Und dieser Schaden wäre mit einem Aufwand von fünf Millionen Dollar abzuwenden.«
»Ich verstehe nicht, Mr. Rouse.«
»Nun gut, Mr. Smith, lassen wir das Versteckenspielen. Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Ich kann mich nicht damit abfinden, daß wir etappenweise sprengen sollen. Ich will, daß im ganzen gesprengt wird.«
»Mr. Rouse!« Der Chefingenieur sprang auf und lief unruhig im Raume hin und her. »Mr. Rouse, es . . . geht nicht . . . es ist . . .«
»Mr. Smith, das will ich, und ich bedarf dazu Ihrer Hilfe, Ihrer Person.«
»Niemals! Niemals, Mr. Rouse. Suchen Sie sich einen anderen, der . . . Ich werde auf keinen Fall Ihren Anordnungen Folge leisten und mich gegen den Beschluß der Regierung stellen.«
»Sie wollen sich an einen Befehl halten, dessen . . .«
»Jawohl! Eine derartige Verantwortung, eine Verantwortung von einer solchen Größe . . . kein einzelner Mensch kann sie tragen, nicht einmal das ganze große amerikanische Volk könnte sie auf sich nehmen. Unmöglich!«
»Mr. Smith, es wird selbstverständlich nach außen hin dem Beschluß des amerikanischen Parlaments Folge geleistet. Es tritt nur durch einen bedauerlichen Zufall jenes Ereignis der Beeinflussung der Nachbarminen ein, welches ja einige Gutachter . . .«
»Trotzdem, Mr. Rouse, ich gebe meine Hand dazu nicht her. Tritt das ein, was J. H. voraussagte, dann würde die Verantwortung dafür nach Ihnen auch auf mir ruhen. Meine Kraft reicht nicht aus, um diese Verantwortung zu tragen.«
»So . . . Sie sagen, Ihre Kraft reicht dafür nicht aus . . .«
Er zog ein Scheckbuch aus seiner Tasche und schrieb einen Scheck aus, schob das Blatt dann dem Chefingenieur zu. Ein Scheck für James Smith, lautend auf eine Million Dollar.
»Würde Ihre Kraft auch dann nicht ausreichen, eine solche Verantwortung . . . wenn überhaupt von Verantwortung die Rede sein kann, denn es tritt ja überhaupt nur das ein, was überängstliche Gutachter befürchten.«
»Nein! Mr. Rouse, ich bin erstaunt, daß Sie etwas Derartiges wagen.«
»Was wage ich, Mr. Smith?«
Eine leichte Röte flog über das Gesicht des Chefingenieurs.
»Ich weiß, Mr. Rouse, daß Sie gewohnt sind, Hindernisse, die Ihnen in den Weg treten, zu überwinden, indem Sie Schecks schreiben. Und ich weiß auch, daß ich nicht dafür . . .« er deutete auf den Scheck . . . »mich von Ihnen kaufen lasse.«
»Ach so, Mr. Smith.«
Guy Rouse nahm den Scheck, riß ihn in viele kleine Teile und warf diese zur Erde. Dann nahm er das Scheckbuch von neuem und schrieb einen zweiten Scheck, während James Smith erregt hin und her lief.
»Mr. Smith!«
Der Chefingenieur trat an den Tisch heran. Guy Rouse hielt den zweiten Scheck hin. Zwei Millionen Dollar, las James Smith. Blässe und Röte wechselten auf seinen Zügen. Einen Augenblick stand er starr. Dann zerriß er das Papier, zerknüllte es und warf es zu Boden.
»Nein! Niemals, Mr. Rouse! Noch einmal, ich bin nicht käuflich! Suchen Sie sich einen anderen für mich! Entheben Sie mich meines Postens!«
Das kalte Lächeln um die Lippen des Präsidenten verschärfte sich.
»Nein, mein lieber Mr. Smith, das geht leider nicht. Ich persönlich würde Sie mit dem größten Vergnügen entlassen. Aber die Folge! Wenn ich Sie wenige Tage vorher, sozusagen fünf Minuten vor zwölf Uhr entlasse und engagiere mir einen anderen, der nach unseren Wünschen sprengt, dann wird die öffentliche Meinung sich erst recht das Maul zerreißen. Sie sehen, Mr. Smith, das geht nicht. Es bleibt kein anderer Weg. Sie werden's machen!«
Minutenlang saß Guy in tiefem Sinnen, die Augen halb geschlossen, die Lippen fest aufeinandergepreßt. Er schien zu überlegen, seine Miene verdüsterte sich. Kein Ausweg . . . kein Ausweg . . .
Seine Augen flogen verstohlen über das Gesicht von James Smith.
Seine Hand griff mechanisch in die Tasche nach dem Scheckbuch. Wieder riß er ein Blatt heraus. Er griff zum Schreibstift, und nun schrieb er mit festen Zügen.
»Fünf Millionen Dollar, Mr. Smith. Lebenslängliche Stellung als Vizepräsident der New Canal Cy. mit einem Jahresgehalt von einer Million Dollar.«
Der Chefingenieur war stehengeblieben. Seine Augen wanderten zwischen dem Gesicht des Präsidenten und dem Scheck hin und her.
Er überlegte. Fünf Millionen Dollar auf einen Schlag . . . Vizepräsident der New Canal Cy.! Seine Lippen bebten. Man sah, wie es ihn gepackt hatte und schüttelte. Mit einer kurzen Bewegung wandte er sich ab und lief von neuem hin und her.
Das alte Lächeln erschien wieder auf den Lippen von Guy Rouse.
»Das Eisen ist heiß«, murmelte er leise. Seine Hand suchte unter der Kante des Tisches nach einem Knopf. Er drückte. Seine Augen richteten sich auf die Tür. Eine Falte der Ungeduld grub sich in seine Stirn.
Er sah, wie James Smith stehenblieb, wie er den Mund öffnete zu einer . . . Abweisung?
Die Tür flog auf.
»Ah! Guy, du hier? Zwei Herren aus New York kamen soeben an, die dich zu sprechen wünschen.«
»Ach, sofort. Bitte um Entschuldigung. Vielleicht leistest du Mr. Smith einen Augenblick Gesellschaft. Ich glaube nicht, daß meine Abwesenheit lange dauern wird.«
Jetzt wandte sich Juanita mit blitzenden Augen dem Chefingenieur zu.
»Ah, guten Tag, Mr. Smith, wie geht es Ihnen? Ich sehe mit Bedauern, daß Ihr Aussehen nicht das alte, gute, gesunde ist. Nun, ich verstehe, die Aufregungen und Anstrengungen der letzten Wochen. Wie ich hörte, mußten Sie Ihre Arbeiten im höchsten Maße forcieren . . . das hat Sie arg mitgenommen. Sie sehen blaß aus, Mr. Smith. Sie fühlen sich nicht wohl.«
Der Chefingenieur zwang sich zu einem Lächeln und beugte sich über Juanitas Hand.
»Ihre Teilnahme, Miß Alameda, berührt mich tief.«
Er strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Gewiß, Miß Alameda, es waren Wochen der größten Anspannung für Geist und Körper. Doch bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen. Ich vergesse ganz, ich bitte um Entschuldigung. Ich bin . . .«
»Oh, gewiß, ich sehe, Mr. Smith, Sie müßten ausspannen. Es dauert ja nicht mehr lange, und der Kanal wird gesprengt sein. Dann werden Sie Zeit haben, hier fortzugehen. Sie werden reisen . . . oh, Sie werden Erholung finden. Bitte, nehmen Sie doch Platz, Mr. Smith. Hier auf diesem Fauteuil zu meiner Seite . . . und plaudern wir, bis Mr. Rouse wieder hier ist.«
Und James Smith tat es . . . und hörte, wie sie zu ihm sprach . . . fühlte, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte . . . fühlte, wie ein Fluidum unbegreiflicher Art auf ihn überging. Er saß mit halbgeschlossenen Augen. Das leise Rascheln eines Papiers . . . Worte . . . schmeichelnd, lockend . . . und Delila schor Samson das Haar.
*
Die kaiserliche Standarte, der rote Löwe auf schwarzem Grunde, wehte vom Turm des Augustus-Schachtes.
»Der Kaiser ist hier«, raunte es von Mund zu Mund.
Mit kleinem Gefolge schritt er unter Führung des Chefingenieurs Grimmaud durch die Anlagen, immer wieder stehenbleibend, fragend . . .
Jetzt wandte er sich zu dem Chef der Genietruppen. Jetzt zu dem Chefingenieur. Lobend . . . tadelnd . . . Es schien, als ob er sich nie mit etwas anderem als mit diesen Arbeiten beschäftigt hätte.
So schritt er durch die von Zauberhand über Nacht geschaffenen Riesenanlagen. Anlagen, die schon jetzt unter Benutzung von Hunderttausenden von Tonnen Karbid Millionen von Pferdestärken erzeugten. Ein Kesselsystem von verwirrender Ausdehnung. Riesenhafte Gasturbinen. Elektrische Generatoren von bisher nie gesehenen Ausmaßen. Ein dichtes Spinnennetz von Hochspannungsdrähten, das sich nach allen Himmelsrichtungen hin verzweigte.
Am östlichen Rande hielten sie an. Ein Riesenwalzwerk war hier entstanden. Doch kein Laut drang aus der mächtigen Halle.
»Immer noch nicht in Betrieb!« sagte der Kaiser.
»Sobald die Motoren angekommen sind, Majestät.«
Die Stirn des Kaisers verfinsterte sich.
»Sie müßten längst hier sein«, fuhr Grimmaud fort, »wenn . . .«
». . . nicht Europa Lieferant wäre«, vollendete der Kaiser.
»Sie schwimmen, Majestät. Das Transportschiff ist unterwegs.«
»Es wird länger schwimmen, als uns lieb ist.«
Augustus machte ein paar Schritte zu dem leeren Gebäude hin, hielt an und drehte sich um, wandte sich zu seinem Adjutanten.
»Diese Maschinen werden von morgen ab in den Kongowerken gebaut. Befehl geht heute ab!«
»Majestät!« wagte Grimmaud einzuwerfen, »so leicht dürfte das nicht sein.«
Ohne Grimmaud zu antworten, wiederholte der Kaiser den Befehl an den Adjutanten. Dann zu Grimmaud:
»Zurück zum Verwaltungsgebäude!«
Um einen Tisch, der mit Karten und Plänen dicht bedeckt war, nahmen Sie Platz. Der Kaiser wandte sich an Grimmaud.
»Ich bin zufrieden, Herr Chefingenieur. Sie haben mehr geleistet, als ich erwartete. Wie steht es mit der Gesundheit der Leute, die im Schacht arbeiten?«
»Auch in dieser Beziehung kann ich Euer Majestät nur Günstiges berichten. Durch unsere eigenen Konstrukteure haben wir im Laufe der Jahre des Schachtbaues die Bewetterungsfrage von Grund auf studiert, mit jedem Kilometer neue Erfahrungen gesammelt. So waren wir in der Lage, auch nach der Erbohrung der Karbidlager tadellos zu bewettern. Die hohe Erdwärme und die Ventilation machen uns keine Schwierigkeiten. Wir arbeiten unter Tag in vier Schichten.«
»Wie arbeitet Ihr Regenschutz? Der Wolkenbruch der vorigen Woche machte mir Sorge.«
»Majestät! Auch hier haben sich unsere Sicherheitsbauten vollauf bewährt. Wasserschwierigkeiten haben wir nicht.«
»Gut! Herr Grimmaud . . . sehr gut. Das Wasser ist Ihr ärgster Feind. Vergessen Sie das niemals! Keine Maßnahme darf hier versäumt werden. – Hiermit, Herr Chefingenieur, komme ich zu dem eigentlichen Zweck meines Besuches.«
Der Kaiser ergriff einen Rotstift und fuhr auf einer geologischen Schichtenkarte die Schachttiefe ab. Hier und dort hielt der Rotstift an und machte ein Kreuz.
»Hier Ihre verwundbaren Stellen, Herr Grimmaud! In dem ersten Kilometer haben Sie mehrere wasserführende Schichten. Auf Kilometer vier haben Sie eine starke Wasserader im zerklüfteten Gebirge. Diese Stelle scheint mir besonders gefährdet.«
Der Kaiser hielt inne. Grimmaud sah ihn an, erstaunt, fragend.
»Ich sehe an Ihrem Gesicht, Herr Grimmaud, daß Sie eine Frage auf dem Herzen haben. Bitte, Herr Grimmaud!«
»Euer Majestät sagten soeben gefährdet. Ich verstehe Euer Majestät nicht. Ich kann Euer Majestät versichern, daß die Schachtmauerung an diesen Stellen mit einer Sorgfalt gemacht worden ist, daß an keinen Wassereinbruch zu denken ist.«
»Herr Grimmaud, Sie sind zweifellos ein hervorragender Ingenieur. Politische oder diplomatische Fragen kümmern Sie weniger. Sie sehen hinter der Anerkennung, die unser Werk in der ganzen Welt findet, nicht den Neid, den Haß, der sich leicht zu Taten verdichten könnte. Besonders leicht dann, wenn politische Hochspannung herrscht. Daß die aber augenblicklich vorhanden ist, dürfte auch Ihnen nicht verborgen sein.«
Auf Grimmauds Gesicht lag tiefer Ernst. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Ich verstehe, Euer Majestät denken an ein Attentat auf den Schacht. Euer Majestät meinen, es könnte jemand die Wasseradern anschneiden . . . Wasser in unsere Karbidgänge da unten! Die Folgen wären nicht auszudenken! Aber ich glaube, Euer Majestät versichern zu können, daß diese Befürchtungen grundlos sind. Nein! Die Mauerung ist zehn Meter Eisenbeton . . . mit Sprengpatronen auch kräftigster Art ist da nichts zu machen!«
Der Kaiser schaute prüfend in das Gesicht Grimmauds. Er kannte ihn als einen unbedingt zuverlässigen, tüchtigen Menschen. Keine Spur eines Zweifels war auf dessen Miene sichtbar. Er wandte sich an den Genieoffizier.
»Was meinen Sie dazu?«
»Ich kann nur wiederholen, was ich Euer Majestät schon in Timbuktu versicherte. Ich halte es auch für ausgeschlossen.«
Der Kaiser blieb ernst.
»Ich verlasse mich darauf, ich muß mich auf Sie verlassen, meine Herren. Die Befürchtungen kamen mir – lächeln Sie ruhig, meine Herren – vorgestern nacht im Traum. Aberglauben! Und doch, welcher Mensch ist ganz frei davon. Der Traum! Er war fürchterlich. Ich sah, wie von verbrecherischer Hand die Schachtwand geöffnet wurde, sah, wie ein Riesenstrom kochenden Wassers sich in die Grubengänge ergoß, wie eine Verbrecherhand den Brand in das aufsteigende Gas schleuderte, sah, wie eine Riesenfackel emporloderte, höher und immer höher, der Sonne entgegen, sie erreichte . . . mit ihr verschmolz . . . sah, wie die Sonne zerschmolz, ein Feuerstrom vom Himmel zur Erde niederging, alles verbrennend, alles vernichtend . . .«
Der Kaiser lehnte sich schweratmend zurück und bedeckte die Augen mit der Hand. Man sah, wie ihn das gräßliche Traumbild wieder ganz gepackt hatte und peinigte.
Drückende Stille . . .
Grimmaud brach das Schweigen.
»Die Befürchtungen Euer Majestät sind grundlos. Es gibt keine Möglichkeiten, daß sich das je verwirklichen könnte. Niemand außer Euer Majestät kann mehr Interesse an dem Schacht haben als ich . . . der ich die Pläne entwarf und durchführte. Keine Mutter kann eine größere Liebe und Sorge um ihr Kind haben als ich um den Schacht. Ein Attentat in der Weise ist völlig ausgeschlossen. Ich wiederhole es.«
Der Kaiser blickte auf. Er reichte Grimmaud die Hand.
»Mein Vertrauen zu Ihnen, lieber Grimmaud, ist groß, riesengroß . . . ich glaube, das des öfteren bewiesen zu haben. Ich werde daran . . . ich werde an Ihre Worte denken, wenn sie mich wieder packen, die Erinnerungen an diesen Traum. Immerhin, wir wollen die Zahl der geheimen Polizeiagenten unter der Belegschaft verdoppeln, die Fremdenkontrolle in Mineapolis verschärfen. Ich betone: Der Attentäter braucht nicht von Kapstadt zu kommen. Er kann auch von Europa, er kann auch von Amerika kommen. Überall gibt es Leute, die . . .«
*
Klaus Tredrup kam über den Glockengießerwall hergeschlendert. Vor dem Gebäude des ›Hamburgischen Kuriers‹ blieb er stehen, nahm die unvermeidliche Pfeife aus dem linken Mundwinkel, klopfte sie sorgfältig aus und ließ das altgediente Gebrauchsstück in der Jackentasche verschwinden. Dann trat er in das Gebäude und fuhr in den zweiten Stock zu den Redaktionen hinauf.
Hier angekommen, wollte er dem Botenmeister, wie er es in diesen Wochen schon so oft getan hatte, ein Manuskript übergeben. Aber heute hatte dieser eine Bestellung für ihn.
»Herr Tredrup, der Chefredakteur wünscht Sie zu sprechen.«
»Hm . . . so . . . na, denn man tau, Klaus!«
Eine Minute später saß er dem Redaktionsgewaltigen in dessen Arbeitszimmer gegenüber.
»Herr Tredrup, Wahrheit und Dichtung zusammen machen den Journalisten. Das haben Sie ja auch richtig erkannt. Ein Journalist sind Sie. Aber hinter das Geheimnis der Mischung sind Sie noch nicht gekommen. Es ist wie die Kunst, eine Bowle zu mischen. Von dem und dem und dem was . . . Das Ganze muß schmecken . . . und bekommen. Das war bei Ihren letzten Artikeln nicht mehr der Fall. Die Zahl der Leser, die protestieren, wurde immer größer. Das C. T. unter Ihren Arbeiten wurde von der Konkurrenz schon ironisch identifiziert mit dem J. H. . . . jenem J. H. . . .«
»J. H.? Ist das . . .« Klaus Tredrup schaute den Chefredakteur verständnislos an. ». . . ist das etwa ein Vorgänger von mir?«
»Vorgänger, Herr Tredrup!? Unter uns gesagt . . . die Ehre wäre, etwas groß . . . für Sie!«
»Wieso? Was? Was?«
»Erinnern Sie sich nicht?«
»Woran?«
»An jenes Gutachten, das vor fünf Jahren . . .«
»Ach so! Ja, ja . . . J. H.! Ja, das. Hm! Und da vergleicht man mich wirklich mit ihm?«
Er strich sich lachend über die Magengegend.
»Hm, hm! Eine große Ehre für mich . . . aber den J. H. hätte ich für längst vergessen gehalten. Fünf Jahre sind es her, daß . . .«
». . . daß sämtliche Redaktionen der Welt sich den Kopf zerbrechen, Tag und Nacht, über die eine Frage: ›Wer ist J. H.?‹«
»Nun, das kann ich Ihnen sagen.«
»Was? Was? Sie wissen?«
»Nun, das ist eben ein Mann, der . . . hm!«
Der Chefredakteur war in höchster Spannung aufgesprungen und starrte den Sprecher an.
». . . der die Ehre nicht voll zu schätzen weiß, von der Geburt bis zum letzten . . . nun, sagen wir mal, Räuspern . . . in einer verehrlichen Presse verewigt zu werden . . .«
»Herr Tredrup!«
»Herr Doktor . . . Ich habe die Ehre . . . Der edle Lord geht fort zu Schiff nach Spitzbergen . . .«
Er war im Begriff, die Tür zu schließen. Aber mit einem Tigersatz war auch der Chefredakteur an der Tür.
»Herr Tredrup! Wohin? Nach Spitzbergen?«
»In der Tat, Herr Doktor, nach Spitzbergen.«
»Einen Augenblick bitte! Wollen Sie wieder Platz nehmen!«
Tredrup setzte sich.
»Jawohl, mein Herr! Meister Tredrup geht nach Spitzbergen . . . aber nicht als Journalist, sondern wieder als ehrlicher Ingenieur, als Bohringenieur der Firma Jacob Jeremias Uhlenkort & Söhne . . . Ihnen gesagt, Herr Chefredakteur.«
»Außerordentlich interessant, Herr Tredrup. Lassen wir alles vorher Gesprochene! Sie kennen doch die letzten Nachrichten aus Spitzbergen?«
»Keine Ahnung, Herr Doktor.«
»Na ja. Aber Sie kennen doch Spitzbergen?«
»Keine Ahnung, Herr Chefredakteur. Bin noch nie dort gewesen. Weiß gerade nur, daß es da oben eine Insel Spitzbergen gibt.«
»Aber Sie wissen doch, wo es liegt. Und Sie wissen vielleicht auch, daß fünfzig Knoten westlich davon auf dem siebenundsiebzigsten Breitengrad Black Island liegt?«
»Herr Doktor, es dürfte, niedrig gerechnet, wenigstens hundert Inseln in der Welt geben, die auf den Namen Black Island hören.«
»Glaube ich Ihnen gern, Herr Tredrup, ohne jede Nachprüfung. Aber hier handelt es sich um jenes Black Island auf siebenundsiebzig Grad acht Minuten nördlicher Breite und zwölf Grad vierzehn Minuten östlicher Länge von Greenwich.«
Tredrup legte die Hand an die Stirn.
»Ah! So. Richtig! Ich erinnere mich, richtig! Wenn ich nicht gleich im Bilde war, Herr Doktor, so muß ich Ihnen sagen, damals, als die wundersame Mär durch die Welt eilte, durchlebte ich gerade Momente, Momente, Herr Doktor, die, wenn ich sie in wohlgebauten Feuilletons Ihren Lesern vorsetzen würde, von diesen vielleicht auch nur für eine Bowle aus Essenzen gehalten würden . . . Was Neues von Black Island, Herr Doktor?«
»Aber ja! Hier das Neueste.« Er griff nach einer noch druckfeuchten Fahne.
»Erscheint heute im Mittagsblatt. Black Island wieder um hundert Meter gestiegen, Herr Tredrup.«
»Hm! Noch mal . . . na ja, Herr Doktor. Aber das ist schließlich nichts besonders Verwunderliches. Das hat man schon tausendmal in der Südsee gesehen. Da steigen die Inseln auf und ab wie die Pfannkuchen im heißen Fett. Allerdings, gesehen hat es selten einer. Es ist eine brenzlige Sache, wenn man nahe dabeisitzt. Ohne Seebeben und etwas Feuerwerk pflegt das gewöhnlich nicht abzugehen. Wie weit waren denn die Leute davon entfernt, als die Insel sich hob?«
»Beim erstenmal kaum fünf Kilometer, Herr Tredrup.«
»A la bonne heure! Alle Wetter! Aus solcher Nähe . . . das ist ja wirklich wunderbar. Und beim zweitenmal?«
»Beim zweitenmal waren Augenzeugen nicht zugegen. Erst nach vierundzwanzig Stunden stellte ein Walfänger die neuerliche Steigung fest. Ist das nicht rätselhaft?«
»Rätselhaft! Was sagen denn die Herren Schriftgelehrten dazu?«
»Nun, eben . . . rätselhaft!«
»Das ist gerade nicht viel. Und Sie meinen, Herr Doktor, die Nuß zu knacken, das wäre etwas für Klaus Tredrup?«
»Ungefähr meine ich das so, Herr Tredrup. Wenn Sie jetzt nach Spitzbergen gehen, so besuchen Sie Black Island und schicken Sie uns Artikel von . . . der richtigen Mischung.«
»Ansehen werde ich mir dieses merkwürdige Eiland jedenfalls, Herr Doktor. Ob ich Ihnen Artikel darüber senden werde . . . senden kann, weiß ich noch nicht.«
»Aber ich bitte dringend darum, Herr Tredrup.«
»Vielleicht, Herr Doktor . . . vielleicht . . . vielleicht auch nicht. Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«
Klaus Tredrup trat aus dem Gebäude wieder ins Freie. Mit stillvergnügtem Lächeln stopfte er die Pfeife und setzte den Tabak in Brand. Vergnügt sah er den blauen Rauchwölkchen nach. Dann vergrub er behaglich die Hände in den Rocktaschen und schlenderte über die Straße. Seine Lippen bewegten sich im Selbstgespräch.
»Wieder mal eine Etappe deines Lebens beendet. Kurz, aber vergnügt! Klaus! Klaus! Nun bist du auch Journalist gewesen. Na . . . Schwamm drüber! Jetzt hin zu Uhlenkort, den Vertrag machen! Dann weiter nach Spitzbergen! Aber . . . Black Island . . . Black Island . . .«
Immer wieder kam der Name von seinen Lippen. »'ne Sache! Das Black Island, 'ne Sache für Klaus Tredrups Nase . . . von der in drei Weltteilen die Sage geht . . . vielleicht nicht mit Unrecht, daß sie sehr wißbegierig und neugierig sei.«
*
»Bitte, Herr Tredrup!« Das alte Faktotum des Hauses Uhlenkort öffnete die Tür zum Chefzimmer.
»Herr Tredrup!« rief er durch den Spalt und ließ den Besucher eintreten. Tredrup kam ins Zimmer. Es war leer. Aus dem Nebenraum hörte er die Stimme Uhlenkorts am Telefon. Ein längeres Gespräch, wie es schien. Er ließ sich in einen Klubsessel fallen und horchte nach dem Nebenzimmer.
Na! Vorläufig kein Schluß abzusehen. Hm! Da auf dem Schreibtisch der ›Hamburgische Kurier‹ . . . mal her damit! Er beugte sich über den Tisch und ergriff das Blatt.
Banausen ihr! Die Ehre, Klaus Tredrup zu eurem Mitarbeiter zu rechnen, wußtet ihr nicht zu schätzen. Möge es euch leid tun! Er wandte die Seiten des Blattes. Olle Kamellen! murrte er und schob das Blatt verächtlich zurück.
Da . . . sein Blick blieb auf einem Blatt heften, das unter der Zeitung gelegen hatte. Gleichgültig glitt sein Auge darüber hinweg. Die Unterschrift J. H. . . . Er prallte zurück. Sekundenlang. Tausend Gedanken durcheilten sein Gehirn. J. H. . . . J. H. . . . Wie Magnetpole zogen ihn die beiden Buchstaben an. Er wehrte sich . . . Er kämpfte. Langsam, wie von einer unwiderstehlichen Macht gezogen, beugte er sich immer mehr nach vorn.
Bei Gott! J. H.! Seine Augen blickten über das Papier nach oben.
»Spitzbergen, den . . .
Lieber Walter! . . .«
Fieberhaft eilten seine Blicke über das Folgende . . . Black Island . . . Wie ein Schlag durchzuckte es ihn. Seine Augen öffneten sich, unnatürlich weit.
Black Island . . . Er suchte das Wort wieder . . . Experiment! . . . Der Beweis?
Sekundenlang saß er so. Die Stimme Uhlenkorts im Nebenraum riß ihn auf. Mit hastiger, zitternder Hand schob er das Zeitungsblatt über den Brief, wie es gelegen. Tiefaufatmend lehnte er sich in den Klubsessel zurück. Unter Anstrengung brachte er ein vernehmliches Gähnen hervor.
»Sie hier, Herr Tredrup?«
»Jawohl, Herr Uhlenkort.« Langsam nahm er die Hand vom Munde. »In diesem Augenblick führte mich Ihr Faktotum herein. Dem einladenden Klubsessel konnte ich nicht widerstehen . . . Halb zog er mich, halb sank ich hin . . . und gähnte . . . Wie geht es Ihnen, Herr Uhlenkort?«
Seine Augen hingen an den halb abgewandten Zügen Uhlenkorts.
Der griff anscheinend zerstreut nach der Zeitung, besah sie einen Augenblick und reichte sie dann Tredrup.
»Ich will hier nur ein paar Papiere zusammenpacken. Vielleicht sehen Sie währenddessen in die Spalten Ihres Leibblattes.«
»Danke! Danke, Herr Uhlenkort. Schon beim Morgenkaffee bis auf die Annoncen verdaut.«
»Nun, es dauert nur einen Augenblick.«
Uhlenkort ergriff den Brief und einige andere Papiere, sortierte sie und legte den Brief in seine Brieftasche.
»Was Neues, Herr Tredrup?«
»Ja, Herr Uhlenkort. Ich habe die Journalisterei satt. Auf die Dauer Journalist! Nee! Nichts für mich. Ich bin jetzt bereit, den Vertrag so, wie Sie ihn vorschlugen, abzuschließen.«
Uhlenkort lachte. »Gut, Herr Tredrup.« Er wandte sich zu einem Schrank und holte ein Schriftstück hervor, legte es vor Tredrup auf den Tisch.
»Der Vertrag liegt hier, braucht nur noch die Unterschrift.«
Die Feder fuhr über das Papier. Da stand in markigen Buchstaben: Klaus Tredrup.
»Bitte, Herr Uhlenkort.«
Uhlenkort nahm die Feder und setzte seinen Namen daneben.
»Die Schrift wie der Mann!« sagte er lachend.
»Wie meinen Sie das?«
»Na! Klaus Tredrup, wie er steht und geht. Für einen Graphologen ein Kinderspiel.«
Tredrup lachte mehr innerlich als äußerlich.
»Wenn es Ihnen paßt, Herr Tredrup, können Sie schon morgen fahren. Eine Fünfzigtausend-Tonnen-U-Boot fährt morgen mittag da hinauf.«
»U-Boot! Famos! Fünfzigtausend Tonnen, das ist prima! Zu meiner U-Bootzeit gab es solche großen Dinger noch nicht. Ich werde eine interessante Fahrt machen. Wahrscheinlich mehr in der Maschine als in der Kajüte stecken . . . aber weshalb U-Boot, Herr Uhlenkort?«
»Nun, das hat seine Gründe. Eis . . . und sonst noch allerlei . . .«
»All right, Herr Uhlenkort. Ich fahre morgen mit. Vielleicht sehe ich Sie da oben mal wieder.«
»Kann sein . . . kann nicht sein.«
Uhlenkorts Blick ruhte einen Augenblick forschend auf Tredrups Zügen. Das lachende, fröhliche Gesicht gab ihm keine Antwort. Tredrup wandte sich um, um zu gehen.
»Einen Augenblick noch, Herr Uhlenkort. Wissen Sie schon das Neueste?«
Uhlenkort zuckte die Achseln. »Neues passiert jede Stunde . . . jede Minute.«
»Nein, etwas Neues, was uns direkt oder indirekt angeht.«
»Sie machen mich neugierig, bitte.«
»Ich komme soeben vom Redaktionsgebäude des ›Hamburgischen Kuriers‹, wo ich mich verabschiedete. Da teilte mir der Chef noch die Nachricht mit, daß Black Island . . .« Er hielt einen Augenblick inne und sah Uhlenkort gerade ins Gesicht. Aber dessen Miene zeigte keine Veränderung.
». . . daß Black Island schon wieder um hundert Meter gestiegen ist.«
»Ah, richtig. Ich vergaß davon zu sprechen. Ein Telegramm der Grubenleitung brachte mir bereits schon heute morgen die Nachricht.«
»Ach so, gewiß! Hätt' ich mir denken können. Ich werde dort die erste sich bietende Gelegenheit benützen, um dieser Insel, diesem Black Island, einen Besuch abzustatten.«
»Tun Sie das, Herr Tredrup. Vielleicht haben Sie Glück und ergründen das Rätsel von Black Island. Gute Fahrt!«
*
Simmons Brothers . . . Transportgesellschaft . . . Land . . . Luft . . . Wasser . . . nach allen Teilen der Welt.
In Riesenbuchstaben glänzte die Inschrift von dem stattlichen Bürohaus in der Coolidge Street in New York. Die Uhr schlug sieben. Ein Schwarm von Angestellten ergoß sich aus dem Gebäude, um nach allen Seiten hin auseinanderzufließen, in den Schächten der Untergrundbahnen zu verschwinden.
»Guten Abend, Miß Harlessen.«
»Guten Abend, Miß Tailor.«
Zwei junge Mädchen, die der Menschenstrom aus dem Hause bis hierher getragen hatte, trennten sich. Christie Harlessen nahm den Superexpreß, der sie nach der 436sten Straße brachte. Sie schlug den Weg zu ihrer Wohnung ein.
»Miß Harlessen!«
Eine Männerstimme traf ihr Ohr. Sie blieb stehen, wandte sich um.
»Ah! Mr. Rouse?«
»Sie sind erstaunt, mich hier zu sehen, Miß Harlessen. Ein Zufall führte mich in dies entlegene Viertel. Ein glücklicher Zufall, der mich Sie hier treffen ließ. Wie kommen Sie hierher?«
»Ich wohne hier, Mr. Rouse.«
»Sie wohnen hier? In dieser Vorstadt? Sind Sie schon lange in New York? Sie verließen damals Tejada und verschwanden, ohne ihren Freunden jemals ein Lebenszeichen zu geben. Wie ist es Ihnen seitdem ergangen? Was treiben Sie seitdem in New York? Viele Fragen auf einmal, Miß Harlessen. Aber mein Interesse an Ihnen ist so groß . . .«
»Ich bin, um es kurz zu sagen, im Hause Simmons Brothers als Angestellte tätig.«
»Oh, Miß Harlessen, das erweckt mein tiefstes Bedauern.«
»Warum bedauern Sie mich? Ich sehe durchaus keinen Grund.«
»Aber, Miß Harlessen! Ein Wechsel der Lebensführung, der doch – ich bitte um Entschuldigung – mit solchem Abstieg verbunden ist, dürfte doch in Wahrheit bedauerlich sein. Blieb Ihnen kein anderer Ausweg nach jenem abscheulichen Verbrechen in Tejada? Hatten Sie keine Freunde und Verwandten, die Ihnen halfen? Warum wandten Sie sich nicht an mich?«
Christine streifte ihn mit einem leichten Seitenblick.
»Warum an Sie, Mr. Rouse?«
»Oh, eine Frage, die mich kränken muß, Miß Harlessen! Waren wir nicht in Tejada, wo ich so häufig weilte, einander so vertraut geworden? Bestand schließlich nicht eine moralische Verpflichtung der Canal Company, für die Folgen dieses Unglücks aufzukommen?«
»Ich wüßte nicht, Mr. Rouse.«
Rouse schien den Doppelsinn der Worte zu überhören.
»Und doch war es damals mein erster Gedanke, nach Tejada zu eilen und Ihnen Hilfe anzubieten. Leider waren Sie verschwunden . . . unauffindbar. Warum taten Sie das? Dachten Sie so gering von den alten Freunden? Von mir?«
Rouse war im Gehen näher zu ihr getreten, so daß seine Schulter die ihre streifte.
»Lassen Sie . . . lassen Sie die Erinnerungen an Tejada, Mr. Rouse!«
Ein zitternder Unterton lag in Christies kühl abweisenden Worten.
»Miß Harlessen!«
Christie schien den Ruf zu überhören. Sie beschleunigte ihre Schritte, um die heller erleuchtete Hauptstraße zu erreichen.
»Sie weisen meine Hilfe ab, Miß Harlessen? Zweifeln Sie an . . .? Wenn Sie wüßten, wie sehr Ihr Schicksal mich interessiert. Der Gedanke, Sie in einer solchen untergeordneten Stellung zu wissen, ist mir unerträglich.«
»Sie machen sich unnötige Sorgen um meine Person, Mr. Rouse. Ich bedarf Ihrer nicht . . .«
»Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, Miß Harlessen, weisen Sie mich nicht ab! Ihre Kühle ist verletzend. Ich ertrage es nicht!«
Die verhaltene Leidenschaft, die aus seinen Worten klang, steigerte ihre Unruhe. Nur mit Mühe zwang sie sich zu einer Antwort.
»Mr. Rouse! Nehmen Sie an, mein Selbständigkeitsgefühl wäre so groß, daß trockenes Brot, selbst verdient, mir besser schmeckt als . . . noch einmal! Ich bedarf fremder Hilfe nicht.«
»Fremd? Miß Christie! Bin ich Ihnen ein Fremder? Bin ich Ihnen so gleichgültig, Christie?«
Sie hörte die Worte dicht an ihr Ohr klingen. Sie fühlte, wie ein Arm sich in ihren legen wollte. Mit einer brüsken Bewegung streifte sie ihn ab. Fast laufend erreichte sie die Hauptstraße.
»Reizen Sie mich nicht, Christie!« stieß er keuchend hervor. »Ich lasse Sie nicht. Wissen Sie jetzt auch, daß ich Sie von Tejada aus auf Schritt und Tritt beobachten ließ? Daß meine Leute mich ständig über Sie auf dem laufenden hielten? Glauben Sie, ein Mann wie ich täte das umsonst? Bedenken Sie, was Sie verschmähen! Ich bin Guy Rouse! Der Sie zur Seinen wünscht . . .«
»Nie! Mein letztes Wort!« stieß sie aus ihrem Munde. Sie trat in die helle Hauptstraße.
»Das letzte Wort werde ich sprechen!« klang es hinter ihr her.
*
Klaus Tredrup schritt über den Zechenhof. Zwei Nachtschichten unter Tage gaben ihm für vierundzwanzig Stunden freie Zeit. Am Zechentor stieß er auf den Chefingenieur. Nach kurzer Begrüßung schlugen sie den Weg zur Stadt ein.
»Wie gefällt es Ihnen bei uns, Herr Tredrup? Sie sind allerdings erst drei Tage im Betrieb.«
»Nun . . . ganz gut. Soweit ich es bisher übersehen kann, werde ich die Mutter Erde hier mit demselben Vergnügen bearbeiten wie früher an den verschiedensten anderen Stellen. Ich hoffe, wir schlagen schon morgen das nächste Flöz an. Die Verhältnisse in Wibehafen sind ja erfreulich großstädtisch. Ich bin sehr überrascht. Man kommt hier auf seine Kosten.«
»Und wie kommen Sie mit Ihren Leuten aus?« fragte der Chefingenieur. »Die rekrutieren sich aus ganz Europa.«
»Sehr gut! Überraschend gut! Ruhige, vernünftige Leute. Beinahe zu ruhig.«
»Wie meinen Sie das?«
Einen Augenblick zögerte Tredrup. Schließlich kam es etwas abgerissen aus seinem Munde:
»Wenn ich von mir auf andere schließe, dann wundere ich mich über die Ruhe.«
»Warum?«
»Black Island . . . Kurz vor meiner Abreise erfuhr ich, daß es da wieder gespukt hat. Die Gedankenverbindung Black Island-Spitzbergen liegt doch nahe . . . sehr nahe. Nicht nur für den Laien, sondern erst recht für den Bergbaumenschen.«
Der Chefingenieur nickte.
»Sie haben recht!« Nach einer Pause fuhr er fort: »Wir haben hier oben im Bergbau viel Schweres durchmachen müssen . . . Aber das Schwerste war das Auftauchen von Black Island . . . Das Rätsel von Black Island.
Wie viele Kommissionen von Gelehrten, von Geologen waren schon hier. Keiner ist es gelungen, das Rätsel zu lösen. Jeder Versuch scheiterte an der Macht der nackten Tatsachen. Ein Vorgang, wie er bisher nie gesehen, nie beobachtet wurde, hat sich vollzogen. Die kühnste Fantasie versagt demgegenüber.
Rätsel . . . Rätsel.
Mein erster Gedanke war der: Was wird unsere Belegschaft tun? Flucht? Selbstverständlich Flucht von hier. Und so kam es . . . wäre es gekommen, wenn nicht ein neues Rätsel . . . ein Mann unter der versammelten Belegschaft erschienen wäre, der . . . ja was . . .?
Er stand plötzlich da auf irgendeinem umgestürzten Wagen. Sein Auge flog über den ganzen Zechenplatz und zwang die Leute zu seinen Füßen, zwang sie, auf seine Lippen zu schauen, die Worte sprachen . . .
Ich hörte die Worte, ich war dabei. Was sprach er? Was war es, was die Tausende, was auch mich zwang, an seinen Lippen zu hängen?«
Der Chefingenieur war stehengeblieben. Er strich sich über die Stirn.
»Ich weiß es nicht. Ich hörte es . . . sah es, was geschah. Ein Rätsel . . . ein Rätsel, größer als das von Black Island war das.
Als er seine letzten Worte gesprochen hatte: ›Nun geht an eure Arbeit . . .‹, nie bis an meine Lebensende werde ich das vergessen. Es geschah. Die zweite Schicht fuhr ein. Stumm, willenlos, wie wenn eine höhere Macht sie gepackt hätte . . . sie trieb. Ein Rätsel, größer als das von Black Island, war es für mich.
Sie wissen von jenem zweiten Auftauchen von Black Island. Wieder fürchtete ich . . .
Nichts geschah. Als ob Black Island auf der anderen Seite am Südpol läge.«
Tredrup war stumm. Immer wieder glitt sein Blick von der Seite her verstohlen über seinen Begleiter. Sein skeptischer Geist wehrte sich gegen das, was sein Ohr aufnahm. Er hatte in diesen letzten Tagen schon mancherlei über jenen mysteriösen Vorgang zu hören bekommen. Das gleiche nun aus dem Mund des Chefingenieurs, eines hochgebildeten, streng wissenschaftlichen Mannes . . . selbst das vermochte seine Zweifel nicht zu zerstreuen.
»Jener Mann, von dem Sie sprachen, er wohnt da unten an der Südspitze in dem alten Leuchtturm? Was ist er? Wie heißt er? Was treibt er hier?«
Der Chefingenieur zuckte die Achseln.
»Er treibt wissenschaftliche Studien. Geologe . . . Physiker . . . Näheres weiß niemand.«
»Und wie heißt er? Wo stammt er her?«
»Wo er herkommt? Ich weiß nicht . . . Augenscheinlich ein Deutscher. Aber er spricht viele Sprachen ebensogut wie Deutsch. Sein Name? Beim Volk heißt er nur ›Der vom Leuchtturm‹ Er heißt – das weiß ich durch Herrn Uhlenkort, der ihn kennt – Johannes Harte.«
»Johannes Harte«, murmelten die Lippen Tredrups nach. »Das ist ja eine interessante Persönlichkeit. Ich brenne darauf, den Mann kennenzulernen. Können Sie mir da einen Rat geben?«
»Er lebt in dem alten Leuchtturm wie ein Einsiedler. Ein invalider Matrose und dessen Frau führen ihm die Wirtschaft, Selten, daß er sichtbar wird. Und wenn, dann fährt er in seinem Motorboot auf die See hinaus. Sein Faktotum und Fischer Klasen, der seine Hütte neben dem Leuchtturm hat, führen das Boot. Diese Fahrten nehmen oft Tage in Anspruch. Was macht er auf diesen Fahrten? fragen Sie . . . Studien . . . Versuche . . .«
Tredrup verhielt unwillkürlich den Schritt.
Zuviel auf einmal! Das war's! War's, kein Zweifel.
Er ging wieder neben dem Chefingenieur her, zitternd vor Erregung.
Des Rätsels Lösung?
Er atmete tief. Mit Gewalt bezwang er sich.
»Allerdings . . . sonderbare Sache das.«
Er zwang seine Lippen zu einem Lächeln.
»Mysteriös, Herr Chefingenieur! Höchst mysteriös. Suggestion, nichts anderes! Suggestion ganz einfach! Und doch, was da drüben im alten Land . . . hier im kalten Norden? Wo alles kühl . . . kühl die Köpfe, die Sinne. Es paßt so wenig hierher. Der Mann, seine suggestive Macht, die Menschen, die ihr unterliegen. Johannes Harte? Ein Deutscher, wie Sie sagten. Ein Deutscher? Ein Naturschauspiel wär's, rätselhaft . . . ja, rätselhaft.«
Der Chefingenieur wandte sich zu ihm um.
»Herr Tredrup, was ist Ihnen? Diese Erregung! Ja, wären Sie hier gewesen, als es geschah. Wie kann das, was ich Ihnen erzählte, Sie so bewegen . . . Sie sind übernächtig. Sie hatten zwei Nachtschichten. Nicht angenehm gleich zum Anfang, aber es ließ sich nicht vermeiden. Nun, Sie haben ja jetzt vierundzwanzig Stunden für sich zum Ruhen. Die Genüsse der Großstadt Wibehafen werden Ihnen Ablenkung geben.«
Der Chefingenieur verabschiedete sich.
Mechanisch lenkte Klaus Tredrup seine Schritte zu seiner Wohnung. Seine Gedanken gingen sprunghaft.
War's die Lösung? Jenes Rätsels . . . jenes Welträtsels? Er stand vor der Tür seines Hauses. Sein Hirn arbeitete wie im Fieber.
Er blieb stehen . . . ein Ruck . . . Er wendete der Südspitze zu.
Und dann stand er vor dem alten Turm, vor dem verwitterten, gedrungenen Bau, und sein Auge ging hinüber nach Nordwesten, wo sich die gigantische Masse des neuen Turmes erhob. Der Weg führte bergab zum Strand. Da lagen auf halber Höhe Fischerkaten. Unten am Strand die Boote. An Gerüsten die großen Netze.
Klasen hieß der, der mit ihm fuhr. Er blieb stehen. Sein Auge irrte über die Hütten dahin.
Weitergehen? Sollte er das? Das Glück schien ihm heute günstig zu sein.
Er ging . . .
Eine Alte kam ihm entgegen, mühsam die Höhe hinauf klimmend.
»Wohnt hier der Fischer Klasen?«
Die Frau stand still.
»Klasen? Ja! Da unten im letzten Haus. Sie wollen zu ihm? Schlechte Zeit heute. Seine Frau ist krank. Ich komme von ihr.«
Wieder zögerte Tredrup. Wieder zog es ihn weiter, bis er vor jener Hütte stand.
Er trat ein . . . er sprach mit dem Fischer und ging wieder hinaus.
Gelungen! Er würde fahren. An dessen Statt fahren, der bei seiner kranken Frau blieb. Auf See fahren . . . mit ihm . . . mit J. H. . . .
*
Das bleiche Licht der Mitternachtssonne spielte um das graue Turmmassiv. Tredrups Schulter stemmte sich gegen das Motorboot, half es mit vom Strand abrücken.
»Ab!« Er sprang hinein.
Der Motor ging an. Der Bootsmann überließ ihm den Griff und ging ans Steuer. Das Boot kam in Fahrt. Schneller, immer schneller schoß es Süd zu Südost durch die grüne Flut. »Volle Kraft voraus!« schrie der Steuermann.
Tredrup befolgte den Befehl.
Stunden vergingen. Sie fuhren . . . sie fuhren Süd zu Südost . . . fantastisch die Schnelligkeit.
Tredrup stand am Motor, die Hand am Griff. Sein Herz pochte im Takt der Maschine.
Da vorn am Stern . . . da saß er . . . der aus dem Leuchtturm, Johannes Harte. Das Gesicht in der Richtung der Fahrt. Tredrups Gedanken gingen zurück. An den Bootssteg. Johannes Harte trat aus der Pforte des Turmes. Stieg die schmale Treppe hinab, kam auf den Bootssteg, stieg ein.
Ein Mensch . . . ein Mann . . . Was war das für ein Mann? Wie hatte seine Fantasie gearbeitet in der Erwartung, diesen rätselhaften Menschen zu sehen? Welche Bilder waren es, die er sich von ihm gemacht hatte? Und dann hatte er ihn gesehen . . . gesehen so ganz anders . . . anders . . . ja wie?
Eine schlanke hohe Gestalt. Ein schmales bleiches Gesicht. Eine hohe, sich weit vorwölbende Stirn. Langes, lockiges Blondhaar darüber.
Aber die Augen . . . die Augen! Was waren das für Augen? Nur mit leichtem Seitenblick streiften sie ihn . . . und doch, was waren das für Augen? Wie war seine ganze gesammelte Willenskraft, sich das Bild dieses Menschen tief einzuprägen, vor einem leichten Blick dieser Augen zerstoben! Sein ganzes Wesen fühlte sich gefangen. Wie ein Gefangener war er ihm gefolgt, wie der Sklave seinem Herrn.
Die rauhen Rufe des Bootsmanns erst hatten ihn aus seiner Betäubung gerissen. Klar zur Abfahrt! hatte der Bootsmann geschrien.
Der Mann vom Leuchtturm hatte sich am Stern niedergelassen, denen im Boot den Rücken zugewandt. Da hatte Tredrup aufgeatmet, wie befreit von den Fesseln jenes Blickes.
Und sie fuhren . . . und fuhren. Wie ein Vogel schoß das Boot über die leichte See dahin. Stille über den Wassern . . . Stille im All. Nichts als das leise Rauschen der Wogen, die der scharfe Kiel durchschnitt.
Im Norden! Ein heller Schein über der Kimme. Dann ein Rot . . . Orange . . . Gelb . . . ein Nordlicht. Ein Farbenwunder in majestätischer Größe erstand da.
Er blickte zu jenem Manne hin, wie dieser sich wendete, wie seine Augen an diesem Schauspiel hingen, sich daran weideten. Klaus Tredrup schaute zur Kimmung, wo der dunkel glühende Sonnenball einzutauchen schien. Mechanisch sah er auf seine Uhr. Die Mitternachtsstunde nahte . . . war da.
Der Mann am Stern war aufgestanden, ging zur Kajüte und kam wieder herauf. Unter dem Arm trug er einen Apparat, einen leichten Kasten, wie es schien. Am Stern setzte er sich nieder, zog einen weiten Mantel um die Schultern. In dessen seidigem Glanze spielten die Lichter des Himmels. Er wandte sein Gesicht der Sonne zu und schaute lange hinein. Dann senkte er sein Haupt. Die Hände zogen den Mantel dichter zusammen, ergriffen etwas. Und wie der Bug sich hob und senkte, glänzte das in den matten Sonnenstrahlen.
Tredrup stand still. Seine Hände umkrampften den Motorhebel. Seine Augen bohrten sich durch das Dämmerlicht zu dem Glitzernden hin.
Ha . . . ein Tokschor? Er griff sich an die Stirn. Hatte er richtig gesehen. Ein Tokschor in jenes Mannes Händen? Ja! Er hatte richtig gesehen.
Die schmalen Finger spielten an dem Knopf der Gebetsmühle. Die Augen starrten auf die Blätter in dem Gehäuse. Die Lippen bewegten sich, als wenn sie läsen . . . beteten . . .
Tredrup starrte. Seine Hand fuhr zum Herzen. Was war das? Was sollte das? Sein Geist zwang sich zur stärksten Willenskraft. Seine Zähne schlugen aufeinander wie im Fieber. Und . . . dann . . . der da oben griff nach dem Apparat . . . nahm ihn zwischen die Knie. Sein Körper senkte sich darüber. Seine Hände legten sich an dessen Seiten. Sie bewegten Hebel . . . Schrauben . . . die Augen des Mannes gingen in die Ferne, als suchten sie eine Richtung im Süden, gingen wieder herunter zu jenem Apparat.
Und dann . . . dann war es Tredrup, als führe ihm eine Hand über die Stirn, über die Augen . . . minutenlang. Und dann sah er wieder auf . . . und war auf einem Schiff . . . einem ganz anderen . . . einem ganz fremdartigen Schiff.
Ein Schiff, eine Kogge, kam von Hamburg, der jungen, aufblühenden Siedlung an der Elbmündung. Vier Wochen schon waren sie unterwegs. Mit Rudern und Segeln hatten sie mit dem Nordost gerungen, bis sie um das Nordkap bei Skagen herum waren.
Kostbare Last hatten sie an Bord. Fränkische Tuche . . . burgundische Weine . . . levantinische Spezereien, Tauschhandel damit zu treiben gegen die Güter des Ostens, die köstlichen Rauhwaren, den begehrten Bernstein . . .
Und sie fuhren durch den Belt, wo Sturm den Sturm jagte . . . und beteten zu dem neuen Christengott, der ihnen gnädig war . . .
Und sie kamen am Boskamp vorbei, wo noch heidnische Feuer rauchten. Und sie fuhren weiter, bis sie hinkamen zu dem Ziel der Fahrt, nach Jumneta, und die Anker fallen ließen.
Da lag es an der äußersten Nordspitze der langen Insel, wo der westliche Oderarm das Meer erreicht. Von hohem Hügel her grüßte die wallumgürtete Wikingerfeste, die trutzige Jomsburg, zu ihren Füßen die reiche Slawenstadt Vineta.
Und sie gingen an Land und staunten über die Größe und den Reichtum der Stadt. Slawen und Sachsen . . . Nordmänner und Franken . . . ein Gemisch aller Völker und Zungen.
Ihre Augen konnten sich nicht satt sehen an den Herrlichkeiten der Meerkönigin Vineta. An die zwei Wochen blieben sie hier und tauschten ihre Waren gegen die Erzeugnisse des Ostens. Und dann lichteten sie wieder die Anker und fuhren nach Westen.
Noch hatten sie die letzten Spitzen der Türme in Sicht, da kam es von Norden herangefahren. Der alte Schiffsführer sah es beizeiten, so daß sie sich ducken konnten, verkriechen in den Buchten der Rugischen Küste. Sie sprangen an Land, schleppten die Kogge an den Strand, banden sie an Klippen und Bäumen fest.
Kaum war das geschehen, da brauste es vom Norden heran. Die Welt wollte untergehen. Turmhoch schäumte das Meer unter Sturmesgewalt.
Und dann . . . entsetzt starrten ihre Augen über die Landzunge nach Osten. Da kam es heran wie eine Mauer. Hochgetürmt wie eine Riesenwand kam das Meer, stürmte vorbei vor ihren Augen . . . raste nach Süden.
Das Land da unten verschwand in wirbelndem Gischt. Darüber hinweg die kochende See! Noch einmal grüßten die Türme der Jomsburg . . . dann . . .
Lastende Stille . . . und dann kam es zurückgefahren . . . mit schwächerer Kraft . . . nach Norden hin. Und als sie wieder nach Süden sahen, suchten ihre Blicke vergeblich die glänzende Stadt, in der sie eben geweilt. An einem kahlen grauen Sandrücken brachen sich die abebbenden Fluten des Meeres . . .
Und dann . . . die Nacht verging unter Schrecken und Schaudern. Der Morgen kam, und eine ruhig stille See glänzte in der ersten Dämmerung. Da machten sie los und fuhren zurück nach Hamburg . . . Und als der Kiel am Elbstrand über heimatlichen Boden knirschte, sprangen sie an Land und knieten nieder . . .
»An Land! An Land, Herr Tredrup!«
Tredrup zuckte zusammen. Er fühlte, wie ein Fuß ihn anstieß. Mit einem Schrei warf er sich empor. Seine Augen starrten im Kreis umher.
»Was war das? Wo bin ich?«
Er fuhr sich mit den Fäusten in die Augen und rieb sie, als ob er ein Schreckensbild herausreiben wolle.
Da stand der alte Bootsmann. Der breite, zahnlose Mund lachte.
»Sie haben geträumt, Herr Tredrup. Wir sind zu Hause. Hier ist der Leuchtturm.«
Mit einem Ruck stand Tredrup auf den Füßen. Seine Augen flogen von dem Alten hinüber zum Leuchtturm, gingen weiter zu den Schachttürmen. Er holte tief Atem.
»Geträumt? Habe ich geträumt, Bootsmann?«
»Na ja!« lachte der. »Sie schlafen schon die halbe Fahrt. Gewiß haben Sie geträumt. Was ist Ihnen?«
Tredrup stand. Er schüttelte den Kopf. Seine Hände bewegten sich wie hilflos fragend.
»Ja . . . ja . . . ich habe geträumt. Ein Traum . . . fürchterlich . . . war über mich gefallen. Und nun sind wir zu Hause . . . ja, zu Hause.«
Mit zitternden Knien betrat er den Bootssteg, klomm er den Uferhang empor . . . und kam nach Wibehafen . . .
»Herr Tredrup! In einer Stunde beginnt die neue Schicht.«
Er erwachte . . . sah um sich. Er lag in seinem Bett. Um ihn herum die vertraute Umgebung. Er stand auf, hängte sich die Kleider um und riß das Fenster auf. Die kühle, frische Luft, die ihm entgegenschlug, legte sich wohltuend um seine Schläfen. Ein paarmal schöpfte er tief Atem.
Die Tür ging auf. Seine Wirtin trat herein, auf den Händen das Kaffeetablett. Er setzte sich an den Tisch. Seine Augen überflogen die Morgenzeitung. Die erste Überschrift: Vineta!
Er taumelte zurück, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Wieder ergriff er das Blatt. Immer größer werdend starrten seine Augen auf die Nachricht, die da stand.
»In der gestrigen Nacht ist der Meeresgrund an der Nordspitze von Usedom in einer Ausdehnung von zwei Quadratmeilen zutage gestiegen. Die Stätte, wo einst Vineta lag, ist wieder erstanden.«
*
Christie Harlessen hatte schon ihre Wohnung betreten. Sie ließ sich an dem einladenden Teetisch nieder und strich sich mit einer müden Bewegung über die Stirn. Die Tätigkeit bei Simmons Brothers war doch zu manchen Zeiten anstrengender, als sie anfangs gedacht und gespürt hatte.
Wie anders doch das freie, abwechslungsreiche Leben in Tejada . . . selbst im Zirkus. Die Eintönigkeit im Büro war allein schon ermüdend . . . und doch, was tun. Jener Sturz, der ihr die weitere Ausübung dieses Berufes unmöglich machte, hatte sie ihn nicht zeitweise für eine Schicksalsfügung gehalten?
Die Unterredung mit Walter Uhlenkort in Kapstadt! Wie oft erinnerte sie sich daran! Etwas Neues, ihr bis dahin kaum Bewußtes schien seitdem in ihr Denken und Fühlen getreten.
War's das Harlessenblut, das sich in ihr regte? Wie hatte Walter Uhlenkort gesprochen?
›Sie sind eine echte Harlessen!‹
Hätte sie ihm damals folgen sollen? . . . Hamburg?
Die Türglocke klang. Sie hörte eine Männerstimme, hörte ihre Wirtin etwas antworten und auf ihre Tür zukommen.
War er es? Mr. Rouse? Der kurze Gedanke trieb sie empor.
»Miß Harlessen, Besuch für Sie! Mr. Uhlenkort aus Hamburg.«
»Herr Uhlenkort?« Befreiung . . . Überraschung lag in den Worten.
»Bitte, führen Sie den Herrn zu mir!«
Sie folgte der Frau und öffnete die Zimmertür.
»Bitte, Herr Uhlenkort!« Sie schüttelte dem Eintretenden kräftig die Hand. »Willkommen in meinem Heim!«
Uhlenkort stand einen Augenblick und hielt ihre Hand fest in der seinen.
»Dank für Ihre freundliche Begrüßung, Fräulein Christie. Ich . . . ich . . .«
»Sie erwarteten eine andere Begrüßung, Herr Uhlenkort.«
Sie lachten beide.
»Ich gestehe, Fräulein Christie, nach meinem letzten Besuch in Kapstadt . . .«
». . . waren Sie auf das Schlimmste gefaßt.«
»Beinahe. Meine Freude ist eine doppelte. Der gute Empfang und dann . . . ich sehe, daß Sie sich wohlbefinden. Sie sind wieder gänzlich hergestellt?«
Christie nickte. »Gänzlich? Dann wäre ich vielleicht nicht hier.«
»So leiden Sie immer noch unter den Folgen des Sturzes?«
Mit Besorgnis blickten seine Augen über die schlanke Gestalt, die anscheinend in blühender Gesundheit vor ihm stand.
»Nein und ja«, erwiderte sie. »Es genügt nicht allein, völlig gesund zu sein, um die Hohe Schule zu reiten. Ich bin es. Aber es fehlt die volle Kraft der Zügelhand, ohne die es nun einmal nicht geht.«
»Dank für die Worte, Fräulein Christie. Ich freue mich. Doch . . .« Er wies auf den gedeckten Teetisch. »Ich störe Sie bei Ihrer Mahlzeit.«
»Durchaus nicht. Machen Sie mir die Freude, den Tee mit mir zusammen zu nehmen!«
Sie saßen sich am Tisch gegenüber.
»Sie müssen vorliebnehmen, Herr Uhlenkort. Die Tischplatte biegt sich nicht unter der Last. Hätte ich bestimmt gewußt, daß Sie kommen . . .«
Uhlenkort blickte fragend auf.
»Bestimmt? Fräulein Christie, wie meinen Sie das?«
»Oh!« Eine leichte Röte glitt über ihr Gesicht. Sie klappte sich mit der Hand auf den Mund.
»Ah! Sie haben mich wohl gesehen, als ich heute morgen bei Simmons Brothers war, obgleich Sie so vertieft in Ihre Manuskripte blickten.«
»Ja, ich sah Sie.«
»Sie sahen mich und haben mich – wenn auch nicht bestimmt – erwartet. Das wollten Sie sagen, Fräulein Christie?«
»Ja, Sie hatten es leicht, Gedanken zu lesen . . . überhaupt wohl leicht, meinen Aufenthalt festzustellen.«
»Wie meinen Sie das, Fräulein Christie?«
»Ich vermute wohl nicht mit Unrecht, Herr Uhlenkort, daß Ihr Wissen aus dem Pinkerton Office stammt.«
»Richtig geraten, Fräulein Christie! Weshalb hinter dem Berge halten. Sie mögen gehen, wohin Sie wollen, ich werde stets wissen, wo Sie sind.«
»Warum diese Mühe, Herr Uhlenkort?«
»Weil Sie zu uns gehören, Christie. Sie sind eine Harlessen.«
»Sie sind aber doch ein Uhlenkort.«
»Harlessen und Uhlenkort gehören zusammen.«
Der Ernst, mit dem er die Worte sprach, ließ sie schweigen. Sie fühlte seinen Blick voll auf sich ruhen. Fühlte, wie ihr Herz bei diesen Worten mitklang.
»Dann weiß ich wohl, weswegen Sie hierherkommen.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, suchte nach Worten und stieß es dann heraus: »Sie kommen wieder, das verirrte Schaf zurückzuholen!«
»Christie! Warum so bitter? Fassen Sie meine Worte so auf? Können Sie sich nicht denken, daß ich aus persönlichen Gründen ein Interesse habe, mich um Sie zu kümmern? Ich verließ Sie damals in Kapstadt in einer schlimmen Lage . . . Auf dem Krankenbett. Wäre es nicht widersinnig, wenn ich Sie danach verlassen hätte? Ich war froh, als ich erfuhr, daß Sie hier in Stellung waren. Als ich hörte, daß Sie aus dem gefährlichen Beruf heraus seien.«
»Nun . . . und wenn schon.«
»Christie, wie kamen Sie dazu?«
»Sie wissen es ja! Und schließlich, wen geht's denn was an?«
»Christie, können Sie sich nicht denken, daß mein Herz . . .«
Christie wandte ihm das Gesicht zu und sah ihm in die Augen. Ihre Blicke senkten sich ineinander.
»Ich glaube Ihnen, Herr Uhlenkort. Ich will Ihnen glauben, trotz allem, was mir geschehen ist . . . meinem Vater geschehen ist.«
»Ihrem Vater, Christie? Wieder der alte Vorwurf! Warum quälen Sie mich? Ich versichere Ihnen, daß man sich in Hamburg die größte Mühe gab, ihn zu finden. Ihn trotz aller Bemühungen nicht zu finden vermochte. Bis ich an den Kanal kam, unglücklicherweise zu spät kam. Eine Woche früher, und ich hätte ihn lebend getroffen, und alles wäre anders geworden.«
»Anders geworden? Vergessen Sie nicht, auch mein Vater war ein Harlessen.«
»Und doch hätte er in diesem Falle die Hand, die sich ihm von Hamburg entgegenstreckte, nicht zurückgewiesen.«
»Sie sagen das, Herr Uhlenkort.«
»Jawohl, Christie! Ich behaupte das, weil ich weiß, daß er eben ein Harlessen war. Sie sagten mir ja, wie oft er an Hamburg gedacht . . . wie oft er Ihnen davon erzählt hat. Ich hätte es auch gewußt, ohne daß Sie es mir berichtet hätten. Gerade weil er ein Harlessen war, fühlte er die Vereinsamung. Wie sehr er die Bitternis, in der Fremde zu leben, empfand, wird er Ihnen nicht offenbart haben. Ich aber sage es Ihnen, nie . . . nie konnte er sich in der Fremde glücklich fühlen. Die zerrissenen Bande . . .«
Er war aufgesprungen und durchmaß mit heftigen Schritten den kleinen Raum. In Christies Zügen wechselten jagend Blässe und Röte. Mit einem Ruck blieb er plötzlich vor ihr stehen.
»Und du! Christie, du . . . du willst es nicht sagen . . . und doch, du . . . du fühlst dich auch als eine Harlessen, fühlst, daß du zu uns gehörst, zu uns hingehörst nach Hamburg . . .«
Schweigen lastete in dem kleinen Raum.
Es drängte sie, ihm die Hand zu reichen. Es schrie in ihr: Ja! Ja! Du hast recht. Ja! Ja!
Sie kämpfte mit sich . . . Ihr Herz schlug, als wollte es bersten . . . und sie bezwang sich.
»Herr Uhlenkort!«
Der Klang seines Namens schien ihn aufzuwecken. Er strich sich über die Augen.
»Ach! Verzeihung, Fräulein Christie . . . Was sprach ich? Ich . . . Verzeihung . . . mein Herz floß über. Ich konnte nicht anders.«
Er streckte ihr die Hand entgegen. Er fühlte, wie ihre Finger sich leicht hineinlegten und darüberglitten. Dann ging er zu seinem Platz zurück.
»Ich vergaß . . . vergaß schon damals in Kapstadt, Sie nach den rätselhaften Umständen jenes Verbrechens in Tejada zu fragen. Ihr Vermögen wurde damals geraubt. Haben die Nachforschungen der Polizei, der Behörden gar nichts ergeben?«
»Nichts, Herr Uhlenkort. Man hat mich verschiedene Male vorgeladen. Man hat auch einige Leute verhaftet. Aber ihre Unschuld erwies sich bald. Es bleibt ein Rätsel, ein Geheimnis, dessen Dunkel wohl niemals gelichtet werden wird.«
»Niemals? Was an mir liegt, soll geschehen, um das Rätsel zu lösen. Wäre es auch nur, um dem Verbrecher seinen Raub abzujagen. Die Verbindung mit dem Pinkerton Office hat mich auf den Gedanken gebracht, die Pinkertons auf die Spur des Verbrechens zu setzen.«
Noch einmal ließ er sich von Christie die Umstände der Tat, soweit sie bekannt waren, berichten. Sah, wie Christie Harlessen durch die Erzählung von neuem ergriffen, wie ihr Bericht immer matter und tonloser wurde.
»Nur noch eine Frage, Fräulein Christie, dann wollen wir dies dunkle Thema verlassen. Haben Sie selbst irgendeinen Verdacht, einen leisen Verdacht? Vielleicht auf irgend jemand . . .«
Er schaute Christie voll an. Sah, wie sie überlegte, wie ihre Augen hin und her gingen, wie sie kämpfte, zögerte.
»Ich habe keinen Verdacht. Habe auch niemals einen Verdacht gehabt . . . irgendein Landstreicher . . . ein entlassener Arbeiter . . . wer hätte sonst am Kanal noch . . . Doch warum noch weitere Nachforschungen nach dem unbekannten Täter anstellen? Sein Raub . . .« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich werde leben. Ich finde mein Brot selber.«
Uhlenkort erhob sich.
Auch Christie war aufgestanden.
»Warum wollen Sie so plötzlich gehen, Herr Uhlenkort?«
»Fräulein Christie . . . ja, Fräulein Christie . . . Sie sagten, Sie werden leben. Ich sehe, daß Ihre Willensstärke, Ihr Selbständigkeitsgefühl größer ist als meine Überredungskraft. In Ihren Worten: Ich werde leben, drückte es sich nur zu deutlich aus. Sie sollten auch für mich gelten.«
»Herr Uhlenkort!«
»Fräulein Harlessen?«
Christis Blick ging zur Erde. Sie trat einen kleinen Schritt zurück.
Das versöhnende Wort auf ihren Lippen erstickte unter dieser Anrede.
»Herr Uhlenkort, noch einen Augenblick, ich habe Ihnen noch eine Nachricht zu geben, die Ihre Niederlassung in Valparaiso betrifft.«
Sie holte von ihrem Schreibtisch ein verschlossenes Kuvert und überreichte es ihm.
»Ich war im Begriff, nach Hamburg zu telegrafieren, als Sie heute mittag zu Simmons Brothers kamen. Als ich Sie sah, änderte ich meine Absicht. Hier ist der Brief, den ich Ihnen, wären Sie nicht zu mir gekommen, in Ihr Hotel geschickt hätte.«
Uhlenkort ergriff das Kuvert.
»Eine Nachricht, die unsere Firma interessiert?«
Sie war hinter den Teetisch getreten und machte sich dort zu schaffen.
»Vielleicht war es überflüssig, was ich tat. Sie werden es zu Hause lesen.«
»Zu Hause? Im Hotel? Nein . . .!«
Er riß den Umschlag auf und überflog die Zeilen.
»Fräulein Christie?« Er trat erregt auf sie zu. »Ist das wahr . . . was Sie uns hier mitteilen?«
Christie sah kurz auf.
»Warum sollte ich Ihnen ein Märchen berichten?«
»Christie! Ich beschwöre Sie! Sind Sie sich der Tragweite dieser Nachricht bewußt? Ipton & Co. vor dem Bankrott? Unser Vertreter im Bunde mit den Inhabern . . . Ein Betrug beabsichtigt, der uns zehn Millionen kosten würde? Und Sie wissen es? Sagen Sie, wie Sie zu der Erkenntnis gekommen sind!«
Christie zuckte die Achseln. »Ich weiß es. Ein glücklicher Zufall. Ich glaubte, Ihrer Firma einen Dienst erweisen zu können. Vielleicht war es auch das Harlessensche Blut . . .« vollendete sie mit Ironie.
»Christie! Christie! Alles, was Sie sprechen und tun, ja! Das ist Harlessenblut. Nie und nimmer war das ein bloßer Zufall, der Sie hiervon in Kenntnis setzte. So offen werden diese Herrschaften ihre Karten nicht spielen. Die Aufdeckung dieser Schurkerei ist Ihr Werk, Ihr Verdienst. Und wie Sie mir das geben, das ist . . .«
Er ergriff ihre Rechte und hielt sie trotz ihres leisen Widerstrebens fest.
»Christie . . . Christie Harlessen! Warum quälen wir uns!«
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie.
»Christie, lassen Sie uns jetzt ganz sachlich reden. Alles Persönliche beiseite. Sie schreiben mir hier, daß unser Vertreter in Valparaiso die große Kobaltlieferung an Ipton & Co. trotz unseres telegrafischen Widerrufes doch zur Ausführung bringt, daß die Dampfer dafür, von Simmons Brothers gechartert, bereits in Valparaiso gelandet sind. Sie wissen auch, daß Ipton & Co. kurz vor dem Konkurs stehen . . . kurz, daß ein Komplott gegen uns im Gange ist, das uns unberechenbaren Schaden bringen muß.«
»Ganz recht, Herr Uhlenkort. Das wollte ich Sie wissen lassen.«
»Wieder der Ton, Christie, der so ganz anders klingt, als . . . Ihr Herz spricht.«
»Mein Herz? Ja! Wir wollen doch sachlich bleiben. Ich denke, jetzt handelt es sich doch darum, was zu tun ist. Fahren Sie nicht sofort dorthin?«
»Gewiß, ich muß es und . . . doch . . .«
»Warum zögern Sie? Gibt es jetzt etwas Wichtigeres für das Haus Harlessen?«
Uhlenkort starrte mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin.
»Wichtiger? Was ist jetzt wichtiger? Wüßte ich es . . . Der Weg nach Süden oder der nach Norden? Nach Norden?«
»Sie könnten einen anderen schicken. Mit Vollmachten versehen.«
»Einen anderen?« Uhlenkort strich sich über die Stirn. ». . . ja, könnte ich den ersten besten nehmen. Aber hier! Den Schurken wird nicht so leicht beizukommen sein. Sie würden dem, den ich schicke, Hindernisse in den Weg werfen. Ehe er sie überwunden hat, wäre es doch geschehen . . . wäre es zu spät! Gewiß habe ich hier in New York Verbindungen. Wen könnte ich da wählen? Wer wäre der energische, vertrauenswürdige Mann, dem ich die Sache . . .?«
»Und wäre es eine Frau?«
»Eine Frau!« Er drehte sich nach ihr um und sah ihr fragend ins Gesicht.
»Eine Frau? Wie? Sie, Christie? Sie wollten? Sie wären bereit, diese nicht leichte Mission zu übernehmen?«
Christie nickte.
Er sprang auf und durchmaß den Raum. Dann blieb er kurz vor ihr stehen. Die Zweifel, die in ihm kämpften, prägten sich auf seinen Zügen aus.
Christie sah es.
»Sie haben kein Vertrauen. Ich sehe es.«
»Vertrauen? Christie. Zu keinem Menschen in der Welt hätte ich mehr Vertrauen als zu Ihnen.«
Eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht.
»Aber das ist eine Aufgabe, welche die Tatkraft eines Mannes von der größten Energie verlangt . . . und . . .«
»Tatkraft und Energie? Was wissen Sie von meinem Lebensweg mehr, als was Ihnen das Pinkerton Office sagte. Es gab da mehr als einmal Situationen, an denen ein Mann vielleicht gescheitert wäre. Meine Kräfte werden sich bei einem Werk verdoppeln, das ich unternehme . . . für die Firmen Harlessen und Uhlenkort.«
Er trat dicht vor sie hin. Seine Hände legten sich auf ihre Schultern.
»Christie! Ja! Du wirst es tun. Dir wird es gelingen. Ich glaube an dich! Und dann wirst du zurückkehren . . . zurück zu uns nach Hamburg.«
*
Unter dem Vorsitz des Staatschefs Harlessen waren die europäischen Ministerpräsidenten in Bern versammelt. Sorge lag auf allen Gesichtern. Wohl hatte der Beschluß des amerikanischen Kongresses die drückende Atmosphäre, die über Europa lagerte, gereinigt. Die Panik, die Europa ergriffen hatte, war gewichen. Die Führenden aber waren damit der Sorge nicht ledig geworden. Walter Uhlenkort war es, der sie auf verborgene Gefahren aufmerksam gemacht hatte.
Er hatte eine Reihe von Verdachtsmomenten gegen die Canal Cy. und gegen deren Leiter Guy Rouse vorgebracht, die, nur den Regierungsmitgliedern bekannt, diese mit neuer großer Sorge erfüllten.
Uhlenkort, der Hamburger Kaufmann, Kaufmann und Diplomat im Nebenberuf? Nein, und doch ja. Seine umfassende Welterkenntnis, durch jahrelangen Aufenthalt im Auslande erworben, seine großen persönlichen Beziehungen in allen Teilen der Welt, sein kaufmännischer Weitblick, seine rücksichtslose Energie, wo es not tat, hatten ihm einen Namen in der Weltwirtschaft erworben, in der Weltwirtschaft, die sich jetzt enger als je mit der Weltpolitik verband. Die europäische Außenpolitik hatte schon öfter als einmal den Nutzen seiner Informationen verspürt. Seine Beziehungen zu dieser Politik waren im Laufe der Zeit immer enger geworden. Mehrfach war ihm eine amtliche Stelle angeboten worden, doch hatte er stets abgelehnt. Abgelehnt mit dem Hinweis, daß er in seiner unabhängigen Stellung dem Staat mehr nützen könne.
Er blieb der freie Kaufmann, aber er war in steter enger Verbindung mit den politischen Geschäften. Eine Stellung, die ihm ohne ausgesprochene Vollmachten eine gewisse Handlungsfreiheit gab. Eine Stellung, die bei den Eifersüchteleien der europäischen Staaten sogar offen oder versteckt manchen Protest veranlaßte, die aber durch die glückliche Hand, die er in so vielen schwierigen Situationen zeigte, immer mehr gekräftigt wurde.
Als Vertrauensmann des Europäischen Staatenbundes hatte man ihn nach Washington gesandt. In Gemeinschaft mit Vertretern der amerikanischen Regierung sollte er die von dieser angeordneten Sicherheitsmaßregeln noch einmal nachprüfen.
Um drei Uhr wurde er erwartet. Die Uhr schlug drei. Uhlenkort trat in den Raum.
Nach kurzer Begrüßung seines Oheims und der Versammlung erstattete er seinen Bericht. Die Mienen der Zuhörer begannen sich zu entspannen. Die umfassenden Vorsichts- und Kontrollmaßregeln, welche die amerikanische Regierung angeordnet und durchgeführt hatte, wirkten beruhigend. Er fuhr fort:
»Formell und äußerlich ist alles in bester Ordnung . . .«
Hier machte er eine Pause. Fragend ruhten die Blicke der Versammlung auf ihm.
»Ich sagte soeben: formell und äußerlich. Anders, meine Herren, ist es mit meiner persönlichen Auffassung der Sachlage.«
Seine Miene verfinsterte sich, seine Stirn krauste sich.
»Trotz allem, ich komme von jenem Verdacht nicht los . . .«
Im Augenblick umschwirrte ihn ein Fragengewirr.
»Es ist die Persönlichkeit des Leiters der Gesellschaft, es ist jener Mr. Rouse, der mich nicht aufatmen läßt. Seine sprichwörtliche Skrupellosigkeit . . . diese geradezu zur Schau getragene Indifferenz bei den Kongreßberatungen . . . Die Äußerung des Kapitäns Wesserton, der mit mir die Kontrollreise machte – er ist mir seit langem persönlich bekannt und machte mir seine Mitteilungen unter vier Augen im Vertrauen –, daß die besten Meßmethoden raffinierte Nebenschaltungen nicht aufdecken könnten . . . das alles, meine Herren, läßt mich nicht zur Ruhe kommen.«
Die Spannung der Versammlung machte sich gewaltsam Luft. Stimmengewirr. Erregte Fragen und Ausrufe. Für und wider.
Gelassen mit leichtem Achselzucken ließ Uhlenkort die Flut abebben.
»Den Vorwurf des Pessimismus, den mir manche von Ihnen gemacht haben, will ich gern auf mich nehmen, ich bin auch bereit, Mr. Rouse alles abzubitten, wenn . . .«
Eine Stunde später saß der Staatspräsident mit seinem Neffen zusammen. Noch einmal hatten sie die Lage besprochen. Dann hatte Uhlenkort über sein Zusammentreffen mit Christie berichtet. Die Affäre in Valparaiso . . . die Abreise Christies dorthin mit weitgehenden Vollmachten. Ruhig hatte er die erregten Einwendungen seines Oheims angehört. Mit den Worten: Sie ist eine Harlessen, eine echte Harlessen, hatte er den Oheim schließlich gewonnen und war schließlich mit den Worten gegangen: »Deine Telegramme erreichen mich für die nächsten Tage in Spitzbergen.«
*
Der Tag der Sprengung war gekommen. Um elf Uhr vormittags sollte der elektrische Funke, von Washington ausgesandt, die Minen zur Explosion bringen.
Es lag in der Natur des amerikanischen Volkes, daß ein solches Ereignis auch äußerlich feierlichen Ausdruck fand. Was da geschehen konnte, war geschehen.
Zuerst der Akt der Sprengung selbst. Nach jenem geschichtlichen Vorbild der Sprengung des Höllentors im New Yorker Hafen sollte er vor sich gehen. Ein Drücken eines Kontaktknopfes durch den Repräsentanten der amerikanischen Nation, den Staatspräsidenten, sollte die Sprengung bewirken. Die Betätigung des Kontakts mußte die Gewalt der Explosion entfesseln. Die feierliche Handlung sollte im Hause der New Canal Cy. in Washington vor sich gehen. Der Staatspräsident Parker mit den übrigen Mitgliedern der Regierung war zu diesem Zweck in der zehnten Vormittagsstunde vom Weißen Haus herübergekommen.
Eine ungeheure Spannung lag über ganz Amerika . . . über der ganzen Welt. Der große Hauptsender der New Canal Cy. war in den letzten Wochen um hundert Kilometer von der Kanalstraße weg nach Westen verlegt worden. Aber Hunderte von Leitungen führten von ihm bis zur eigentlichen Sprengzone und waren dort mit ebenso vielen Mikrofonen verbunden. Der Donner der Explosion mußte die Membranen dieser Apparate erschüttern, mußte auf diesem Wege die große Sendestation steuern. Die Millionen Radio- und Fernsehgeräte der Welt waren in der kritischen Zeit auf die Wellenlänge der Kanalstation eingestellt.
In allen Städten, an allen Verkehrspunkten waren Riesenlautsprecher aufgestellt. In allen Großstädten war von elf Uhr fünfundfünfzig Minuten bis zwölf Uhr fünf Minuten eine Verkehrspause angeordnet, um Unfälle zu vermeiden. Ein Moment, wahrhaft historisch! Denn tatsächlich mußte diesmal das ganze Erdenrund gleichzeitig Zeuge eines weltbewegenden Vorgangs werden.
In den Staaten war die Erregung besonders groß. Sie stieg von Stunde zu Stunde. Schon lange vor dem Beginn der Verkehrspause ruhten alle Hände. Je näher die bedeutungsvolle Minute heranrückte, desto mehr verstummte jegliches Geräusch . . . jeder Alltagslärm. Alle Sinne waren auf das Kommende gerichtet.
»Noch fünf Minuten!« Der Staatssekretär des Äußeren hatte es mit einem Blick auf die astronomische Uhr gesagt.
Einen Augenblick schwieg alles. Die Augen flogen zu dem Präsidenten, der in ein Gespräch mit Guy Rouse vertieft war. Er drehte sich um.
»Ja! Jawohl! Meine Herren . . . es ist soweit . . .«
Geleitet von Guy Rouse trat er zu dem Tisch unter der Uhr. Ein kleiner goldener Knopf harrte dort des Druckes. Alle Augen hingen an den Zeigern der Uhr. Elf Uhr neunundfünfzig Minuten. Die Blicke folgten dem Sekundenzeiger. Alle Anwesenden drängten zusammen.
Fünfundfünfzig Sekunden . . . neunundfünfzig Sekunden . . .
Guy Rouse nickte dem Präsidenten zu. Ein Zucken ging durch Austin Parkers Gestalt. Seine Augen flogen zu Guy Rouse. Eine Sekunde des Zögerns. Die Hand fuhr zum Knopf.
Ein Druck darauf!
Mit kurzem Aufatmen trat er zurück. Ehe noch ein Menschenwort die Stille gebrochen, erfüllte ein brüllender Schrei den Raum. Der Lautsprecher heulte auf, überschrie sie, ließ alle zusammenfahren.
Tobendes Krachen unaufhörlich! Machtlos jede Menschenstimme dagegen.
Unbeschreiblich die Szenen, die das Krachen der Explosion auf Straßen und Plätzen auslöste. In das Heulen der Sirenen, in den Klang der Glocken, die von allen Türmen schwangen, mischte sich das Jubeln und Schreien der Menge. Im Wettstreit damit das Brüllen von Tausenden und aber Tausenden von Lautsprechern. Die Fernsehgeräte zeigten nur eine ungeheure Staubwolke, so daß zunächst niemand wußte, was tatsächlich geschehen war. Ein Hexensabbat . . . ein dämonischer Chor aller Töne, deren Menschen- und Naturstimmen fähig sind. Nur langsam ebbte die Flut ab. Stunden vergingen, bis das Leben wieder den gewohnten Gang zeigte.
Die Morgensonne des fünften April lag strahlend auf den Wäldern und Bergen der Landenge von Panama. Der Morgen jenes bedeutungsvollen Tages, an dem menschliche Tatkraft und menschlicher Erfindungsgeist dem Weltverkehr einen neuen Weg eröffnen wollten, die Fluten zweier Weltmeere in breiter Front zusammenströmen sollten.
Die Patrouillenflugzeuge der nordamerikanischen Wehrmacht umsäumten die ganze Kanalroute von Panama im Südosten bis nach Colon im Nordwesten. Seit den frühesten Morgenstunden waren über der fünfundsiebzig Kilometer langen Kanallinie fünfhundert Regierungsflugzeuge stationiert und hatten von Stunde zu Stunde einen immer schwereren Stand gegen die allmählich unabsehbar werdende Menge der Flugzeuge, die aus allen Teilen der Welt hier zusammenkamen.
Da waren die gigantischen Passagiermaschinen von New York, Chikago und San Francisco, von denen jedes einzelne mehrere tausend Schaulustige an Bord hatte, die nach Hunderten zählenden Flugzeuge der südamerikanischen Verkehrslinien, die heute sämtlich nur das eine Ziel hatten: den Kanal.
Indes, diese großen, den öffentlichen Verkehr dienenden Flugzeuge machten den Wachmaschinen am wenigsten Arbeit. Ihre Kapitäne hielten sich mehr an die vorsichtigen Weisungen ihrer Fluggesellschaften als an die stürmischen und oft recht unvernünftigen Wünsche der Passagiere. So folgten sie auch strikt den Anordnungen der Regierungsflugzeuge, fünfzehn Kilometer seitlich von der Kanalroute in wenigstens acht Kilometer Höhe zu bleiben.
Viel schlimmer waren die so überaus zahlreichen Privatflugzeuge mit Foto-, Film- und Fernsehreportern der ganzen Welt an Bord. Die kümmerten sich um keine Anordnung irgendwelcher Stellen und schlugen den Patrouillenflugzeugen bei jeder Gelegenheit ein Schnippchen. Eben von einer Stelle verjagt, tauchten sie wenige Minuten später schon wieder mitten in der Gefahrenzone auf, nur darauf bedacht, möglichst viel zu sehen, zu erhaschen und aufzunehmen.
Nach dem bekanntgegebenen Programm sollte die Sprengung in der Mitte des Isthmus einsetzen und dann etappenweise nach beiden Seiten weitergehen, so daß in hundertfünfzig Minuten alle Etappen von Panama bis Colon gesprengt sein mußten. Auf dieses Programm beriefen sich die Reporter und Fotografen. Auf keine Weise wollten sie sich beibringen lassen, daß schon jetzt die ganze Strecke der Kanaltrasse freizuhalten sei. Es bedurfte der schärfsten Maßnahmen seitens der Wachflugzeuge, um die befohlenen Absperrungsmaßregeln durchzusetzen. Erst als der Führer der Patrouillenflugzeuge sich zum Äußersten entschloß und zu feuern begann . . . erst blind, dann scharf . . . als ein paar Reportermaschinen flügellahm beidrehen und niedergehen mußten . . . erst als die allzu Neugierigen begriffen, daß sie gar nichts sehen und ihre Maschinen verlieren würden, wenn sie den Anordnungen der Regierungsflugzeuge nicht Folge leisteten . . . erst dann gelang es Ordnung in die Massen zu bringen.
In dichten Bändern zogen sich nun die Luftfahrzeuge zu beiden Seiten der Kanaltrasse im vorgeschriebenen Abstand von einem bis zum anderen Ozean. In weiten Halbkreisen lagen viele Hunderte von Wasser- und Luftfahrzeugen vor Panama und Colon auf der See.
Die Stunden verrannen darüber . . . und immer näher rückte die bedeutungsvolle Minute heran, in der Austin Parker in Washington auf den Knopf drücken sollte, in der das Feuer in die Minen fliegen mußte, die hier kilometertief in den Eingeweiden des urwaldbewachsenen Isthmus steckten.
Einen vorzüglichen Ausblick hatten die Passagiere der ›Empire City‹, des größten New Yorker Flugzeugs, das in zwölf Kilometer Höhe östlich von der Kanalroute stand. Von Bord der ›Empire City‹ aus sah man im Norden den tiefblauen Spiegel des Karibischen Meeres, im Süden die Azurfluten der Bay von Panama. Zwischen beiden Meeren den Isthmus. Wälder von tropischem Grün, dazwischen die roten und grauen Zacken der Höhen von Culebra. Und dann die Überreste des alten Kanals. Wasserstreifen, unterbrochen von Felsstürzen, über die stellenweise schon wieder der Urwald hinwegwucherte: die Trümmer der großen Gatunschleuse, die im Anfang des Jahrhunderts als Weltwunder gepriesen wurde. Wo sich damals der große Stausee hinter den Schleusen ausdehnte, stand jetzt ein üppiger Palmenwald.
Sah man, wie erbarmungslos der vulkanische Boden des Isthmus dem alten Kanal im Laufe der letzten Jahrzehnte mitgespielt hatte, so konnte man es den Amerikanern kaum verdenken, daß sie hier ganze Arbeit machen und einen neuen Kanal schaffen wollten, der gegen alle unterirdischen Kräfte gefeit sein sollte.
Der Zeiger rückte weiter. Fünf Minuten vor zwölf. Die Passagiere der ›Empire City‹ drängten sich an die Fenster, verglichen die Uhren, starrten wie hypnotisiert auf die Mitte der Landenge.
Vier Minuten vor zwölf . . . drei Minuten vor zwölf . . .
Ein letztes Mal jagten die Patrouillenmaschinen die Fronten der Luftflotte entlang.
Eine Minute vor zwölf . . . dreißig Sekunden vor zwölf.
Ein Sturmstoß faßte die ›Empire City‹ und warf das riesige Flugzeug wie ein dürres Lindenblatt hin und her. Ein Sturmstoß wirbelte die ganze gewaltige Flotte zu beiden Seiten der Sprengung wie einen Haufen welker Blätter durcheinander. Patrouillenmaschinen stürzten ab. Wer sich an Bord der ›Empire City‹ nicht an Griffen festgeklammert hielt, wurde zu Boden geschleudert. Diejenigen, die noch sehen konnten . . . sahen, wie die ganze Trasse von Colon bis Panama sich gleichzeitig hob . . . wie die Urwälder dort unten wie wilde See wogten . . . wie die Erde zu bersten schien.
Feurig rot flammte es einen Moment auf der ganzen Linie aus den wogenden, steigenden Wäldern. Das Land schien Land in den Äther zu speien. Bis in Meilenhöhe wurde das zerrissene Eingeweide des Isthmus emporgeworfen, ein grausiges Gemenge zerschmetterter Felsmassen und zerfetzten Urwaldes.
Breit und fächerförmig fiel die gehobene Masse wieder nach beiden Seiten zurück, eine mächtige Rinne an der Stelle zurücklassend, an der sie aufgestiegen war. Und im Niederstürzen eine Staubwolke verbreitend, die den Blicken der Schaulustigen alles Weitere verhüllte . . . selbst wenn sie noch fähig gewesen wären, weiter zu schauen.
Denn jetzt erreichte der erste Donner der Explosion die Höhe der Flugzeuge. Ein Schall, dessen Art und Wirkung sich nicht mit Worten wiedergeben läßt.
Vierundsiebzig Sekunden nach zwölf Uhr erreichte der Donner die ›Empire City‹. Man hatte sich an Bord vorgesehen. Die Passagiere hatten Watte in den Ohren und starrten mit offenem Munde auf die Vorgänge in der Tiefe. Aber trotz dieser Vorsichtsmaßregeln war die Wirkung der enormen Schallwellen fürchterlich. Alle entsetzten sich . . . erschraken bis ins innerste Mark. Fast alle erblaßten, und viele stürzten besinnungslos zu Boden. Denn dieser schmetternde, nervenzermalmende Explosionsdonner hörte nicht auf. Mit beinahe unverminderter Stärke hielt er nach dem ersten Einsetzen minutenlang an. Von der ganzen Länge der Kanaltrasse über eine Entfernung von beinahe zehn Meilen her drang der gräßliche Ton zu den einzelnen Flugzeugen, zermarterte viele Minuten lang die Nerven der Insassen.
Bis er endlich nachließ, nur noch grollte wie ein abziehendes Gewitter . . . leiser und leiser wurde, bis er endlich verstummte . . . bis die Herzen und Sinne der Zuschauer wieder freier wurden. Und dann erkannten sie, was geschehen. Zehntausende hatten im gleichen Moment den gleichen Gedanken.
Bei Gott, es ist alles auf einmal gesprengt! Der ganze Isthmus ist auf einmal in die Luft geflogen! Wie wird das enden? Wie wird das werden?
Noch versperrte die ungeheure, von Panama bis Colon reichende Staubwolke jede Sicht. Nur das war sicher . . . war allen, die das gigantische Schauspiel mit angesehen hatten, unumstößlich klar: Mit einem Schlage waren alle Minen von Panama bis Colon aufgeflogen.
Ein neuer Ton drang in die Lüfte. Ein fernes Rauschen und Brausen zuerst. Immer gewaltiger, dann . . . zischend und donnernd zuletzt.
Der Niagara . . . Nein! Nein, viel lauter, viel gewaltiger.
So sprachen diejenigen unter den Passagieren, die einmal an den Fällen gewesen waren, das gewaltige Schauspiel des Stromes gesehen hatten, der sich dort in tausend Meter Breite fünfzig Meter in die Tiefe stürzt.
O nein . . . nein, nein! Viel schlimmer . . . viel fürchterlicher als der Niagara.
Ein Sturmwind schien gleichzeitig von beiden Meeren her auf den Isthmus loszufahren. Er zerfetzte die dunstige Staubwolke, schuf freie Sicht . . . und sie sahen.
Da lag die ungeheure Rinne, die von der Gewalt des Sprengstoffes mit einem Schlage in den Leib der Landenge gerissen war. Über die ganze Länge ziemlich gleichmäßig drei Kilometer breit, in der Mitte mehrere hundert Meter tief.
Jetzt begriff auch mehr als einer unter den Zuschauern, welchen Vorteil die Sprengung mit einem Schlage für sich hatte. Wären die Minen hintereinander gesprengt worden, so hätte jede Etappe einen Trichter ausgeworfen. Das Kanalbett hätte eine zusammenhängende Reihe derartiger Trichter gebildet, und hätte noch mancher Baggerarbeit bedurft, um ein vollständiges Kanalbett zu schaffen. Dadurch aber, daß der atomare Sprengstoff die ganze Masse mit einem Schlage auswarf, war dieses überall gleich breite und gleich tiefe Kanalbett entstanden. Fast wie mit der Reißfeder gezogen nahm es sich für die Passagiere der ›Empire City‹ aus.
Ein ungeheurer Graben, in den von beiden Seiten her die See mit der hundertfachen Gewalt der Niagarafälle hineinbrach. Das waren die Quellen dieses neuen, brausenden Donners. Zwei schäumende, strudelnde Wasserwände, die von Panama und von Colon her mit Fluggeschwindigkeit in die Rinne hineinjagten. Sturm lief vor ihnen her. Bäume, von der ersten Explosion verschont, zerbrachen wie Glas. Felsbrocken von der Größe eines Hauses kamen in Bewegung, liefen wie die Kegelkugeln daher, bis sie von den dahinjagenden Wassermassen ergriffen, überschüttet und verschlungen wurden.
Glasig grün und schäumend weiß jagte die See den einbrechenden Frontwellen nach.
Es waren Wetten abgeschlossen worden . . . viele Wetten . . . hohe Wetten, wer zuerst den neuen Kanal befahren würde. Keiner von den Wettern gewann. Ein anderes, unbeteiligtes Fahrzeug vollbrachte die Tat . . . wider den Willen seines Führers und seiner Besatzung.
Eine große Jacht lag in der Bucht von Panama vor Anker. Diese packte der Strom der in den Kanal einbrechenden See. Einen Augenblick strafften sich die Ankertrossen, spannten sich, klangen hell auf und zerrissen.
Das weiße Schiff lief mit dem Strom . . . lief schnell und immer schneller und schoß in die Rinne hinein . . . Wie ein Pfeil schoß es dahin . . . und langsam . . . langsam, aber unaufhaltsam, kam es der brechenden Frontwand immer näher.
Die Passagiere auf der ›Empire City‹ hielten den Atem an. Auf die Minute ließ sich voraussagen, wann die vorströmenden Wasser die hilflose Jacht bis an die vor ihr herjagenden Frontwelle herangezogen haben würden . . . wann das Schiff vierhundert Meter tief auf den nackten Fels des noch ungefüllten Kanalbettes hinabgeschleudert und in Atome zerschmettert werden würde . . . Da trafen die Frontwellen, die von Colon und von Panama her vier Meilen in sechzehn Minuten zurückgelegt hatten, zusammen . . .
Kochende See bis zum Himmel! Ein Wasserberg türmte sich auf, stieg hoch über das umgebende Land, überflutete in unhemmbarem Schwall weite Uferflächen . . . und dann stand die See. Atlantik und Pazifik standen gegeneinander wie zwei Ringer, die in mächtigem Ansprung aufeinandergestoßen sind und nun ihre Kräfte messen.
Das Tosen und Brausen der Wassermassen klang ab. Ruhig wurde die Luft, und ruhig, scheinbar ruhig auch die See. In breitem, blinkendem Spiegel füllte sie das neue Kanalbett der ganzen Breite und Länge nach. Die Zuschauer in den Lüften hätten keine Bewegung mehr gemerkt, wenn nicht jene Jacht, dieses im letzten Augenblick dem Rachen des Todes entgangene Fahrzeug, in mäßiger Fahrt auf Colon zu durch den neuen Kanal getrieben wäre. Die Flut im Atlantik gewann die Oberhand und erzeugte eine merkliche Strömung von Panama nach Colon.
Die in den Lüften sahen die Fahrt der geretteten Jacht, und nun stürzte es sich von allen Seiten her auf die Fläche des neuen Kanals . . . Flugzeuge . . . große und kleine Schiffe . . . in wenigen Minuten war die Wasserfläche bedeckt, und alle Versuche der Patrouillenboote, es zu hindern, waren vergeblich.
Man sah ja, es war alles gutgegangen.
Trotz der Sprengung der ganze Kanallinie in einer einzigen Etappe war nichts passiert. Alle Bedenken der Sachverständigen waren grundlos gewesen. Der Kanal war da, der alte Isthmus, seit Jahrtausenden von Erdbeben und Vulkanausbrüchen mißhandelt, hatte auch diese letzte Mißhandlung, die gleichzeitige Explosion der Masse atomaren Sprengstoffs, ertragen, und die Zuschauer waren bei diesem Schauspiel voll auf ihre Kosten gekommen . . . mehr jedenfalls, als wenn man etappenweise gesprengt hätte.
*
Das donnernde Dröhnen aus dem Fernsehgerät war verklungen, der Bildschirm zeigte eine undurchdringliche Staubwolke, die sich nur ganz langsam verzog. Der gemarterte Apparat hatte hergegeben, was die überanstrengten Röhren herzugeben vermochten, und es war zweifellos eine menschenfreundliche Tat, daß ein Ingenieur der Kanalgesellschaft auf einen Wink von Guy Rouse abschaltete und Ruhe im Saale schuf.
Noch stand Austin Parker, der Präsident der Union, benommen von diesem Dröhnen und Tosen, das doch nur einen winzigen Teil jenes Donners darstellte, den die Sprengung am Isthmus selbst erzeugt haben mußte.
Guy Rouse trat auf den Präsidenten zu und reichte ihm selbst ein Glas Sekt, hielt ein anderes in der Hand, erhob es und sprach zum Präsidenten, zu den Staatssekretären, zu den Herren der New Canal Company.
»Herr Präsident! Meine Herren! Ich erhebe mein Glas und bitte Sie, mit mir anzustoßen und zu trinken auf das glückliche Gelingen unseres Werkes . . . jenes großen, die Völker, Länder und Ozeane verbindenden Werkes, dessen erste Etappe nun glücklich vollendet ist. Wir haben den Donner der Explosion hier vernommen und die gewaltige Sprengwolke gesehen. Mit Lichtgeschwindigkeit sind Klang und Bild zu uns gekommen und haben uns erzählt, daß der Sprengstoff seine Arbeit begonnen, auf der ersten Etappe vollendet hat. Nach diesem ersten Schritt habe ich keinen Zweifel mehr, daß auch die Sprengung der weiteren Etappen glatt verlaufen wird. Auf das Wohl des neuen Kanals, meine Herren!«
Mr. Rouse brachte sein Glas an die Lippen und veranlaßte durch sein Beispiel die anderen Herren, das gleiche zu tun. Guy Rouse sprach weiter:
»Herr Präsident! Meine Herren! Die Sprengung der anderen Etappen nimmt, wie Sie alle wissen, geraume Zeit in Anspruch. Darf ich Sie bitten, auf einen kleinen Imbiß Gäste der New Canal Company zu sein.«
Noch während er sprach, öffneten sich geräuschlos die Flügeltüren zum nebenliegenden Raum. Eine weißgedeckte Tafel im Schmuck von Kristall und Silber. Die auserlesensten Delikatessen der Jahreszeit. Nach den Aufregungen der letzten Viertelstunde kam seine Einladung nicht unangebracht.
Man setzte sich, man griff zu und suchte die durcheinandergewirbelten Nerven mit körperlicher Stärkung wieder in Ordnung zu bringen.
»Gott sei Dank«, sagte der durch seinen Sarkasmus bekannte Staatssekretär des Äußeren. »Gott sei Dank, daß der Fernseher schon beim erstenmal in Stücke gegangen ist. Wir verzichten auf das Vergnügen, einen anderen hinzustellen und den Skandal noch einmal zu hören.«
Das kalte Lächeln um Guy Rouses Lippen verschärfte sich. »Ganz meine Meinung, Herr Staatspräsident, auf Ihr Wohl!«
Auch die Züge des Präsidenten Parker gewannen allmählich die alte Ruhe wieder.
Da schrillte das Telefon.
»Mitteilung aus dem Weißen Hause für den Herrn Staatspräsidenten. Nachricht von den Patrouillenflugzeugen . . . An die Regierung:
Die ganze Kanaltrasse auf einmal gesprengt, von Colon bis Panama alles in die Luft geflogen!«
Starr wurden die Gesichter der Regierungsmitglieder. Totenblässe überzog die Züge Austin Parkers. Es dauerte Minuten, bis er sich sammelte und wieder sprechen konnte.
»Unmöglich . . . Wie konnte das geschehen! Undenkbar . . . unglaublich . . . Die Folgen werden . . . können entsetzlich sein . . . ich lehne jede Verantwortung ab. Wie konnte das geschehen, Mr. Rouse?«
Guy Rouse war aufgesprungen und trat auf den Präsidenten zu. Fest und laut klangen seine Worte durch den Raum:
»Herr Präsident! Die Sprengung ist gemäß den Befehlen der Regierung angeordnet und ausgeführt worden. Zeugen dafür sind vorhanden. In erster Linie der Chefingenieur Smith, der den Befehl erhalten hat. Ich schlage vor, ihn hierherkommen zu lassen. Die einzige Erklärung, die ich für das sonst unerklärliche Vorkommnis habe, ist die, daß der Druck der explodierenden Minen auch die Nachbaretappen zur Explosion gebracht hat. Sie erinnern sich, meine Herren, daß einige Sachverständige auch derartige Befürchtungen ausgesprochen haben, die wir – ich möchte jetzt sagen leider – als zu abwegig unbeachtet ließen. Wie lautete die Nachricht? Die ganze Trasse auf einmal gesprengt! Ich sehe in diesen Worten keinen Grund zur Beunruhigung. Die Nachricht besagt nur, daß die Sprengung auf einmal erfolgt ist. Kein Wort davon, daß die schlimme Befürchtung, die man an die gleichzeitige Sprengung knüpfte, eingetreten ist.«
Er machte eine wegwerfende Bewegung.
»Jene lächerlichen Befürchtungen europäischer Gelehrter! Die nächsten Minuten werden uns Gelegenheit geben. Warten wir es ab!«
Ein gedrücktes Schweigen anstatt einer Antwort. Der Präsident stand in flüsternder Unterhaltung mit dem Staatssekretär des Äußeren. Niemand schien die Sorglosigkeit von Guy Rouse zu teilen.
Minuten vergingen. Der lastende Druck erreichte den Höhepunkt. Die Nerven aller zum äußersten gespannt. Die nächste Nachricht?
Da! Ein neues Signal. Fernsprechnachricht, direkt vom Kanal an die Gesellschaft:
»Alles gut verlaufen! Kanal gefüllt! Befürchtetes nicht eingetreten!«
Das alte Lächeln war wieder auf Guy Rouses Gesicht, gab seinem Antlitz das Gepräge zufriedener Heiterkeit. Er sprang auf, wollte sprechen.
Ein neues Signal! Telefonnachricht an die Regierung von den Patrouillenflugzeugen. Die gleiche Nachricht, die soeben von der Kanalverwaltung gekommen war.
Strahlendes Lächeln lag jetzt auf seinem Gesicht. Er ergriff sein Glas und erhob sich.
»Meine Herren! Da haben wir's! Unnötig alle Angst und Sorgen! Im Gegenteil! Ich weiß nicht, ob ich den Zufall, der hier gewaltet hat, glücklich oder unglücklich nennen soll. Dem amerikanischen Volke, der amerikanischen Volkswirtschaft sind große Kosten – etwa fünf Milliarden Dollar – erspart worden. Diese europäischen Befürchtungen, daß der Mückenstich unserer Sprengung den ganzen Isthmus zerreißen könnte, sind durch die Ereignisse widerlegt, sind hinfällig. Glänzend gerechtfertigt stehen unsere amerikanischen Gutachter da. Meine Herren, ich trinke auf den glücklichen Zufall und seine glücklichen Folgen. Ein Werk von weltgeschichtlicher Bedeutung ist geschaffen!«
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