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Herr Cornelius van Daalen war in heftiger Unruhe fortgeschritten, als er die Frauen verließ, um einen Ausgang oder Beistand zu suchen. Der Drang, recht bald wieder zu Clelien zurückzukehren, spornte ihn zur Eile. In dieser vergaß er oft der nöthigen Vorsicht, stieß an die Ecken der Wände, strauchelte über kleine Unebenheiten im Boden und war manchmal nahe daran, den wichtigen Faden seiner Hand entschlüpfen zu lassen. Noch nie hatte er eine so stürmische Bewegung seines Inneren empfunden, wie jetzt. Ein inneres Feuer drohete ihn zu verzehren. Seine Stirn war glühend, seine Zunge brannte am Gaumen. Oft kam es ihm vor, als blickten häßliche Larven mit teuflischem Grinsen aus der Finsterniß hervor, lächelten ihn höhnisch an und die tollen Bilder wurden sprechend und riefen ihm ihr entsetzliches Willkommen zu und sagten: fliehe nur immerhin, du entgehst uns doch nicht, du nicht und die schöne Clelia! Wir sind die Dämonen des Hungers und werden bald nagen an der Gestalt des lieblichen Mädchens und wie wir uns ihrer reizenden Glieder bemächtigen, so zerstören wir sie auch, denn in der Vernichtung besteht unser Daseyn. Und du hast sie uns zugeführt, du bist unser Genosse, aber wir zerstören auch dich, wir reißen auch dich in die martervolle Vernichtung, denn wir kennen keine Dankbarkeit. Wandere hin, wandere her! du bleibst uns verfallen. Unser Reich ist groß, aber es ist ein Kerker, aus dem kein Entrinnen!
Dennoch sah er ein, daß diese Gestalten, die er außen zu sehen und zu hören wähnte, nur in seinem Inneren lebten. Er preßte die Hand an die brennende Stirne:
»Mein Kopf, mein Kopf!« ächzte er. »O Himmel, erhalte mir noch meinen Verstand!«
Er ward über den Klang seiner eigenen Worte betroffen. Einige Augenblicke schwebte er in der Täuschung, ein anderer habe gesprochen. Er blieb stehen, hielt den Odem an und horchte, aber er vernahm nichts, als das Hammern der Pulse in seinem Haupte, als das Klopfen seines Herzens. Er stürmte weiter. Die teuflischen Larven erschienen wieder in den finsteren Räumen, manchmal schien es den gereizten Augen, als zeige sich dazwischen ein ferner Lichtschimmer, er sandte einen Freudeblick in die Seele des Jünglings, der aber gleich wieder durch die Erkenntniß der Täuschung in herben Schmerz überging. Die höhnenden Bilder waren es nicht allein, die aus dem Gewirre der rastlos arbeitenden, ungezügelten Phantasie aufstiegen. Es gab Augenblicke, in denen schöne Erinnerungen, in einem schneidenden Gegensatze zu der Wirklichkeit, hervorbrachen. Er stand wieder am Bord der Syrene und sah in den blauen, heiteren Himmel und in die grünlichen Wogen. Clelia befand sich an seiner Seite, sie hatte seine Hand ergriffen, sie sprach süße Worte von Vergebung und künftigem Glücke. Die Schebecke fuhr heran, der kühnste Gedanke, von Vaterlands- und Frauenliebe erzeugt, keimte in seiner Seele, er warf Feuer in das feindliche Schiff, dem Vaterlande zum Ruhme, der Geliebten zum Schutze. Tollheit, nutzlose Verwegenheit! höhneten dann die Teufelslarven, selbst Wahnbilder, diese Täuschung hinweg. Wir haben sie doch, sie und dich! Gegen uns hilft kein Muth, nicht Schwerdt, nicht Geschütz, uns unterliegt der Held, wie das schwache Weib. »Nein, nein!« schrie von entsetzlicher Qual ergriffen, Cornelius laut in die Nacht hinaus. »Sie ist nicht Euer. Ihr seyd die Geister der Lüge! Ihr habt keinen Theil an ihr!«
Seine Erschöpfung nöthigte ihn zu einer kurzen Rast. Er lehnte sich an die Wand des Gewölbes, er preßte den heißen Kopf an den kühlenden Stein. Er suchte sich zu sammeln. Er bemühete sich seine Gedanken zu ordnen und die Ueberzeugung recht stark in sich werden zu lassen, daß nur Ruhe und Besonnenheit helfen könne, wenn Hülfe möglich sey. Die körperliche Ruhe that ihm wohl. Indem er das erkannte, theilte sie sich unbemerkt, freilich nur in einem geringen Grade dem Gemüthe mit. Unwillkürlich richteten sich seine Gedanken nun ernster und milder auf den Gegenstand, der bisher seine Phantasie zu den peinigendsten Vorstellungen fortgerissen hatte: auf Clelien. Ihr blühendes, lebensfrisches Wesen, der Friede, der in diesem waltete, trat vor seine Seele. Welcher Liebe, welcher Verehrung war sie nicht würdig, würdig geworden im Laufe weniger erfahrungsreicher Tage? Sie steht unter einem höheren Schutze, als dem deinigen! sprach es überzeugungsvoll in seinem Inneren. Zur Rettung dieses Engels kannst du nur ein schwaches Werkzeug seyn, wenn du überhaupt dazu erkoren bist!
Er ging weiter, nicht mehr in jener wilden Hast, die bisher seine Schritte beflügelt hatte, rasch zwar, aber auch aufmerksam und besonnen. Er hemmte jetzt von Zeit zu Zeit seinen Schritt und lauschte, ob irgend ein ferner Ton, ein Hoffnung erregendes Geräusch sich vernehmen lasse, er achtete sehr auf den Faden, den seine Finger hielten, auf das einzige Mittel, das ihn zu Clelien zurückführen konnte. Aber wie sich das Schicksal oft darin zu gefallen scheint, aller Vorsicht der Sterblichen gerade dann zu trotzen, wenn diese sich am Sichersten mit ihr geschirmt zu haben glauben, so geschah es auch hier. Eben wollte Cornelius um eine Windung des Ganges biegen, als er plötzlich über einen am Boden liegenden Stein strauchelte und fiel. Der Faden entglitt seiner Hand, sie haschte ängstlich in das Leere, Entsetzen ergriff ihn und durchströmte in eisigen Schauern sein ganzes Wesen.
Er warf sich lang hin auf den Boden. Seine bebenden Finger gruben sich in den Sand, sie durchwühlten diesen, so weit er reichen konnte. Vergebens! Der Faden war nicht zu finden. Er kroch auf der Erde fort und suchte weiter. Angstschweiß bedeckte seine Stirn. Das entsetzliche Hammern im Kopfe, das beklemmende Pochen des Herzens begann auf's Neue. Die teuflischen Larven grins'ten ihn wieder an, er hörte ihre höhnenden Stimmen, aber die Phantasie hatte ihre Gewalt vor der schrecklichern Wirklichkeit verloren. »Der Faden, der Faden!« Er dachte nichts anderes, über seine Lippen bebte unaufhörlich dieses Wort. Die Unbesonnenheit, den Leichtsinn, der ihn zu Cleliens Entführer gemacht, büßte er im Uebermaße. Er fühlte, daß nicht viel fehle, ihn zum Wahnsinne zu bringen. Schon wurde seine Besinnung schwächer, er wühlte lange an einer und derselben Stelle nur mechanisch im Staube, immer ferner und unklarer wurde ihm der Gegenstand, nach dem er suchte. Stundenlang kroch er im Kreise umher und tastete und forschte und fand nichts. Die Qualen, die er empfand, vermag keine Feder zu schildern. Bitter, aber dennoch beruhigend drang sich ihm endlich die Ueberzeugung auf, daß jede fernere Bemühung eitel sey.
In dieser Wahrnehmung nöthigte ihn ein seltsames Gefühl, laut auf zu lachen. Die weiten Gänge nahmen den wunderlichen Schall vervielfältigend auf und gaben ihn so zurück. Er erbebte. Was er gethan hatte, kam ihm wie ein Frevel vor. Er lag jetzt unbeweglich an der Erde, den Kopf in die Hand gestützt. Seine Stimmung war weich geworden.
»Wir wären zusammen gestorben, wenn ich bei ihr geblieben wäre!« sagte er zu sich selbst. »Jetzt ist es anders. Ich werde nicht den Schmerz haben, ihren letzten Odemzug zu hören oder ihr ist es erspart, neben meiner Leiche zu sterben.«
In den entsetzlichsten Lagen, die das Geschick dem Menschen bereiten kann, führt der Gedanke an den Tod immer etwas Beruhigendes und Tröstliches mit sich. Er ist der letzte Freund, nach dem wir reichen, aber auch der sicherste, der die gewünschte Erlösung bringt. Cornelius erfuhr das in diesen Stunden. Er fand eine solche Wonne in der Hoffnung auf den Tod, daß er bald ganz sich der schönen Aussicht auf die Wiedervereinigung mit Clelien, wenn sie gestorben seyn würden, hingab. Er dachte nicht an Krankheit, Schmerz und Qualen, die dazwischen lagen. Ein himmlischer Glanz umgab ihn und in dem Himmelsglanze standen er und Clelia und waren nun verbunden, schöner und besser, als sie es je auf Erden werden konnten. Aber seltsam war es dennoch, daß in diesen herrlichen Traum sich immer eine bittere Empfindung drängte, weil er sie nun nicht mehr auf Erden sehen, nie mehr einen Laut von ihren Lippen vernehmen werde. Auch diese Empfindung verstummte, als nun ein Zustand geistiger und körperlicher Abspannung eintrat, als Alles vor seinen Augen in ein Lichtmeer verschwamm und er halb wachend, halb schlafend, nur Seligkeit und Himmelswonne dachte. So hätte er hinüberschlummern mögen in das Jenseits, das schon seine Pforten ihm aufgethan hatte.
Welche wunderbare Töne rauschten da mit einemmale zu ihm her aus nicht großer Entfernung, durch die weiten Hallen, mächtig, feierlich, wie Kirchengesang? Waren es die Stimmen der Engel, die ihn und Clelien im Voraus willkommen heißen wollten? Er erhob sich, er lauschte. Das reizende Traumbild verschwand in die öde Finsterniß, aber die Töne blieben, sie rauschten gewaltiger; die Mauerwand, an der er sich hielt, schien von ihnen zu erbeben. Er verließ seine Stelle, langsam, horchend ging er dem Gesange nach. Er tönte oft näher, oft ferner. Selbst von ihm geleitet, konnte Cornelius nicht vermeiden, manchmal vom Wege abzuirren. Endlich war er so nahe, daß er einzelne Worte des Gesanges unterscheiden konnte.
Es waren Stellen aus einem geistlichen Liede zum Lobe und Preise Gottes, das erquickenden Balsam in seine Brust goß. Er blieb stehen und schöpfte tiefer Odem. »Menschen, Menschen!« jubelte es in seiner Seele. Er hätte aber noch nicht sprechen können, wenn er jetzt schon unter ihnen gestanden hätte. Die Freude wirkte erlahmender auf ihn, wie das Entsetzen. Er vermochte nur mit Mühe sich fortzubewegen. Er schwankte, wie ein Kind bei den ersten Versuchen zu gehen.
Da stand er plötzlich am Eingange eines hohen Domes. Zahllose Lichter flammten vor ihm auf, viele Menschen zeigten sich seinem Blicke, zu Andacht, zur Ehre des Allmächtigen vereinigt. Er mußte die geblendeten Augen wieder schließen. Aber entzückend ergriff der Gedanke, daß nun Clelia gerettet, daß der Ort, wo er sie verlassen, leicht zu bezeichnen und von kundigen Führern zu finden sey, sein ganzes Wesen. Von einem seit lange nicht empfundenen Gefühle bewältigt, stimmte er leise, ohne das Dunkel, das ihn noch verbarg, zu verlassen, in die letzten Worte des Liedes, das eben zu Ende ging, ein. Indem er auf diese Weise Theil an der andächtigen Handlung nahm, fühlte er sich wunderbar gestärkt.
Er trat vor. Einige Frauen flohen bei seinem Anblicke laut schreiend und zitternd hinter die Männer zurück. Er sah Degen gezückt, Musketen gehoben. Als man aber nur den einzigen Fremdling gewahrte, dessen Antlitz Leichenblässe bedeckte, als man beim Lichte der näher herbeigebrachten Fackeln unter dem zerrissenen Kittel die Farbe Oraniens erkannte, da kamen viele der Versammelten theilnehmend und neugierig näher. Bald sah er sich als den Mittelpunkt einer Menschenmenge, die mit Fragen auf ihn einstürmte. Er mußte schweigen, er mußte sich erst noch sammeln, um zusammenhängend zu antworten. Aus den Reden der Leute um ihn, erfuhr er, daß sie Einwohner von Mastricht seyen, die aus Furcht vor dem erwarteten Angriffe mit den Ihrigen und ihrer besten Habe in den Petersberg geflüchtet waren, wie das in kriegerischen Zeiten oft geschah. Vertrauete Männer hatten ihnen jetzt von Außen die Nachricht gebracht, daß das Unternehmen der Feinde vereitelt worden, und sie wollten eben, nachdem sie dem Höchsten ihren Dank dargebracht, ihren Zufluchtsort verlassen, um zu dem verwais'ten Heerde zurückzukehren, als Cornelius unter ihnen erschien.
Endlich vermochte er zu reden. Seine Stimme war schwach, heiser und erschöpft. Die mitleidigen Menschen, die seinen Zustand erkannten, reichten ihm eine Erquickung. Er genoß sie, ohne zu wissen, was er that. Aber er konnte doch nun verständlicher sprechen, er konnte erzählen, wie er durch die verfolgenden Feinde mit seinen Begleiterinnen in den Berg gedrängt worden sey, er konnte den Ort beschreiben, wo er diese verlassen hatte.
»Das ist bei dem versteinerten Baume!« riefen sogleich mehrere Stimmen. Einige Männer traten vor und erboten sich, ihn dahin zu begleiten. Sie schienen ihm Boten des Himmels. Die anwesenden Frauen beklagten laut das arme Mädchen, das sie nicht kannten und das, den schrecklichsten Zweifeln überlassen, zurückgeblieben war. Sie gaben den Männern Lebensmittel und Arzneien mit auf den Weg; sie empfahlen ihnen Eile, aber bei dieser auch Vorsicht, damit sie den nächsten Weg nicht verfehlen möchten.
Von Hoffnung belebt, vermochte Cornelius mit den Führern gleichen Schritt zu halten. Alles was er ertragen hatte, war vergessen. Nur der Gedanke, Clelien in kurzer Zeit wiederzusehen, sie dem Leben zurückzugeben, erfüllte seine ganze Seele. Die mächtigen Gewölbe, die ihm wie eine ungeheuere Todtengruft vorgekommen waren, dünkten ihm jetzt ein Tempel des allgegenwärtigen Wesens, das sich da am Mächtigsten zeigt, wo die Noth am Größten ist. Wenn er seitwärts in die weiteinlaufenden, sich nach allen Richtungen durchschneidenden Gänge blickte, dann konnte er kaum begreifen, daß gerade er glücklich genug seyn mußte, nicht abzuirren in entlegenere Schluchten, wo ein gewisser Tod sein Loos gewesen wäre. Die Männer, die ihn begleiteten, deuteten auf einzelne schwarze Kreuze, welche die glatte, weiße Oberfläche der Steinwand zeigte. Es waren Denkmale von Todten, die hier, jedes Trostes und Beistandes von Ihresgleichen entbehrend, das Loos der Sterblichen ereilt hatte. Sie gingen nachdenklich daran vorüber. Cornelius verbannte die trübe Erinnerung aus seiner Seele. Er sah nur Leben und Freude vor sich, warum sollte er sich die reizende Aussicht verderben lassen? Er hatte nun auch Sinn und Gefühl für das collossale Wunderwerk, das seit einem Jahrtausende vielleicht der Ameisenfleiß des Menschen in den Berg hineingebaut. Welche mächtige Bogen, deren Decke der Glanz der Fackeln nicht erreichte, welche unzähliche Menge von Gängen, deren einer, nach Versicherung der Führer, mehrere Stunden weit in gerader Richtung unter der Erde fortlief! Was war aus den Menschen geworden, die hier, dem Bedürfniß anderer fröhnend, der Natur den Reichthum abgerungen, den sie ewig wiedergebährt? Wer wußte noch ihre Namen, während ihr Werk ihr einstiges Daseyn verkündigte? Was galten die Namen anderer, die Neugierde und nicht Thatkraft hergetrieben, die zur lächerlichen Verewigung ihrer flüchtigen Anwesenheit sich, die Stunde und den Tag, wo sie, von erfahrenen Führern begleitet, den Besuch des Petersberges gewagt, an die Wände der riesigen Bergsäulen geschrieben hatten? Der Odem der Zeit verweht sie und den Laut, mit dem man sie nannte. Die Natur steht, wie eine immer lächelnde Riesin, über dem Grabe alles dessen, was einst lebte! –
»Hört Ihr den fallenden Tropfen?« unterbrach einer der Männer das herrschende Schweigen, indem alle einige Augenblicke stehen blieben und lauschten. »Gleich sind wir da. Es ist eine wunderliche Sache um diesen einzigen Ton in den sonst stillen und todten Gewölben. Ich habe oft lange, wenn ich von der schweren Steinhauerarbeit ausruhte, an dieser Stelle gesessen und konnte nicht müde werden, dem lieblichen Klange zuzuhören.«
Cornelius beschleunigte seine Schritte. Auch jetzt klopfte sein Herz, aber vor freudiger Hoffnung.
»Clelia!« rief er laut, ehe sie noch um den Pfeiler getreten waren, der die Stelle verbarg. Sein Ruf verhallte in dem Gewölbe, es kam keine Antwort. Beunruhigt schritt er vor. Da standen sie an dem Orte, den er suchte, er sah das Tropfsteingebild, von dem noch sein Faden herabhing, er erkannte die Sitze in der Wand, aber Clelia und ihre Gefährtin waren verschwunden.
»Clelia, Clelia!« widerholte er schreiend. Alles blieb stumm. Mit tödtlichem Schreck ergriff ihn der Gedanke, sie habe in der Besorgniß um ihn, in der Ungeduld des Erwartens sich entfernt, um ihn aufzusuchen, und irre jetzt umher, wie er früher gethan. Die Männer sahen sich bedenklich an. Da bemerkte einer von Ihnen den Zettel, den La Paix dem Mädchen übergeben und den sie, ihrer Schwäche erliegend, zur Erde hatte fallen lassen. Er hob ihn auf und reichte ihn dem Junker.
Cornelius kannte die Hand. Sein Inhalt, der Name Hazenbrook machte ihm Alles klar. Seine entsetzliche Furcht war gewichen, aber das bittere Gefühl, überlistet und der Geliebten beraubt worden zu seyn, nahm ihre Stelle ein.
»Sie ist gerettet!« sagte er mit zusammengekniffenen Lippen zu seinen Begleitern. »Andere haben sie befreit und ins Leben zurückgeführt. Es ist nun gut so. Ich habe nur noch eine Bitte an Euch. Führt mich so schnell aus dem Berge, wie möglich, daß ich ihnen folge und sie auch von der Furcht um meinetwillen befreie.«
Er knitterte das Papier zusammen und steckte es zu sich. Es war ihm klar, daß Clelia mit Gewalt müsse fortgebracht worden seyn, denn, wenn sie auch als ein folgsames Kind sich dem Willen ihres Vaters unterworfen hätte, so würde sie sicher darauf gedrungen haben, seine Rückkehr zu erwarten, damit auch er an der Rettung Theil nähme. Schweigend ging er mit den Männern. Diese Wendung seines abentheuerlichen Unternehmens brachte ihn in seine gewöhnliche Gemüthsstimmung zurück. Es galt nun neues Handeln, neues Ringen nach dem Besitz der Geliebten. Der unbekannte Hazenbrook, dem Herr van Vlieten seine väterliche Gewalt über Clelien übertragen und der diese wieder durch andere üben lassen, konnte, wie er glaubte, nur ein vom Vater begünstigter Nebenbuhler seyn. Es schien ihm einleuchtend, daß der Knoten, zu dem sich sein Schicksal verschlungen hatte, jetzt nur in Rotterdam gelös't werden könne. An Cleliens Treue zweifelte er keinen Augenblick. In dem Vertrauen auf diese sah er immer noch, wenn auch wie durch Nebel, einer glücklichen Zukunft, seiner Vereinigung mit dem theueren Mädchen entgegen.
Sie hatten den Ausgang erreicht: nicht jene enge Höhlenöffnung, durch welche Cornelius am Abende zuvor mit seinen Reisegefährtinnen das Labyrinth des Petersberges zum erstenmale betreten, nein! sie standen unter einem hohen, weiten Schwibbogen, unter einem mächtigen Portal, dessen Seitenwände entfernt genug von einander waren, um einem bespannten Wagen Einlaß zu gestatten. So sehr auch Cornelius sich zur Eile bewogen fühlte, so mußte er doch einige Augenblicke verweilen und der Scene, die sich vor ihm eröffnete, seine Aufmerksamkeit schenken. Da lag Mastricht mit seinen weißen Häusern und glänzenden Thürmen. Glocken und Glockenspiele ließen sich von diesen vernehmen, das Te Deum rauschte im heiligen Gesange aus den Kirchen zum Himmel auf, und die Sonne lächelte so mild vom sanft blauen Gewölke hernieder, daß es ihm war, als müsse sie selbst ihre Freude an der Dankbarkeit der Sterblichen haben, die diese im frommen Gesange zum Himmel trugen. Eine laue Luft wehete, wie Frühlingsodem. Die weiße Hülle, die noch gestern die Erde bedeckte, war verschwunden und von den Hügeln jenseits der Maas grüßte ein verspätetes Grün, wie ein verhallender, letzter Abschiedsruf des schon geschiedenen Sommers. Drüben am anderen Ufer des Flußes sah man umgestürzte Kanonen, zerbrochene Pulverkarren und ähnliche Werkzeuge, welche die Wahlstatt eines Gefechtes, nach seinem Ausgange, bezeichnen. Viele Leute waren um diese Gegenstände versammelt. Ganz und gar aber hatte sich das Land zwischen der Stadt und dem Petersberge in seiner äußeren Gestalt verändert. Hier stand Alles unter Wasser. Jener Hohlweg, in welchem unter dem Schutze der Dunkelheit, die Feinde gegen die Petersschanze gezogen waren, der niedere Grund, durch den Cornelius und die Frauen ihre Flucht nach der aufsteigenden Anhöhe und der düsteren Vertiefung gerichtet hatten, sie lagen unter einem Wasserspiegel, der noch immer zu steigen schien und dessen Wellchen nicht weit von Cornelius Füßen den Berg bespülten. Viele Boote und Kähne, alle mit den Orangewimpeln lustig prangend, fuhren hin und her. Man vernahm den munteren Zuruf der Schiffenden, wo vor einigen Stunden der Donner des Geschützes, das Getöse der Kämpfenden, das Wimmern der Verwundeten und Sterbenden in wilder Verwirrung die Lüfte durchdrungen hatte. Einzelne Kähne hielten an verschiedenen Stellen und die darin Befindlichen hatten große Netze und Haken ausgeworfen, um nach verlorenen Waffen und anderen Beutestücken zu suchen.
Die Männer, welche den Junker van Daalen begleiteten, ließen ihre Freude über diesen Anblick laut werden. Einer von ihnen sagte lachend:
»Das wird ihnen eine gute Lehre seyn und sie werden so bald nicht wieder versuchen, die feste Stadt Mastricht zu nehmen, wie ein offenes Dorf, das weder Wälle noch Kanonen hat. Aber der Jeker hat doch auch diesesmal das Beste gethan! Das Wasser hat dem Feuer geholfen und als die in der Stadt die Schleußen geöffnet, ist der Jeker über die Feinde gekommen, wie die Sündfluth über die bösen Menschen, die von der Erde vertilgt werden sollten.«
Auf sein näheres Befragen erfuhr Cornelius, daß der Jeker ein nicht unbedeutender Fluß sey, der sich innerhalb der Stadt in die größere Maas ergieße und durch Schleußen auf das flache Land nächst dem Petersberge geleitet werden könne, was bei früheren Belagerungen der Stadt schon zum größten Vortheile gereicht sey. Jetzt erkannte er deutlich in der nothgedrungenen Flucht in die Irrgänge des Berges die Leitung einer höheren Macht, die ihm und Clelien wohlwollte. Wäre es ihnen auch geglückt, einen Versteck in den Niederungen am Fuße des Berges zu finden: jetzt würden sie wahrscheinlich, mit so vielen anderen Verunglückten, ein Grab unter den immer höher andrängenden Wogen gefunden haben!
Die Männer verließen ihn, um sich zu den zurückgebliebenen Ihrigen in den Berg zurückzubegeben. Er belohnte sie reichlich. Dann ging er am Rande des Wassers hin, um einen Nachen aufzusuchen, der ihn zur Stadt brächte. In einem anliegenden Boote sah er einen Mann stehen, der ihm den Rücken zukehrte. Auf seinen Ruf wandte sich dieser um. Eine Wolke von Rauch, die aus seinem Munde strömte, zertheilte sich und ein bekanntes Gesicht, von einem Ende bis zum anderen von einer mächtigen Schmarre durchzogen, grinsete ihn an.
»Herrmanneke, du?« rief Cornelius im lebhaften Erstaunen. »Nassau und Oranien! Wie kommst du hierher? Wo ist dein Herr, wo die Syrene?«
Der Bootsmann lachte dumpf aus dem dichten Rauch, der aufs Neue sein Antlitz verbarg, bot seinem alten Gefährten bei dem Angriffe auf die Schebecke, treuherzig die Hand und erwiederte:
»In Antwerpen war unseres Bleibens nicht lange. Wir bekamen schon am ersten Tage Fracht nach Mastricht, lichteten und hatten kaum den Anker geworfen und ausgeladen, als der Spaß mit den Franzmännern losging. Die Syrene liegt unten, mitten im Fluße, und hat die Nachtgäste nach beiden Seiten hin gut bedient mit eisernen Pillen, die manchem von ihnen Kopfweh gemacht haben mögen. Was den Capitän angeht, so hat der seine Fahrt auf die Schanze dort oben gerichtet und bringt Munition ein. Harrt nur einen Augenblick, Junker Cornelius! Er muß gleich zurückkommen. Dann geht's auf die Barke und bei dem guten Winde werden noch in dieser Stunde die Anker gehoben zur lustigen Fahrt nach Rotterdam.«
»Nach Rotterdam?« rief Cornelius froh überrascht. »Beim Waffenruhme Marlborough's! das heißt Glück im Unglück. Ich fahre mit Euch. Wir wollen es noch einmal zu Wasser mit einander versuchen, alter Camerad!«
Herrmanneke ließ die Hand mit der Pfeife aus dem Munde sinken. Er blickte schüchtern umher, dann sah er bedenklich den Junker an.
»Wo ist denn Euer Frauenvolk?« sagte er mit einem Ausdrucke von Unruhe und Besorgniß in seinen Zügen, der diesen bisher fremd gewesen war. »Die Junge meine ich nicht, sondern die Alte, mit der ich nicht gern wieder auf einem Ankerplatze zusammenkommen möchte, da sie den Tabak doch nimmermehr vertragen lernt.«
Cornelius konnte sich eines Lächelns über die Furcht, welche der Bootsmann vor dem allzugroßen Eindrucke von Philippintje's Reizen auf sein empfängliches Herz zu hegen schien, nicht erwehren.
»Sey unbesorgt, Herrmanneke!« antwortete er in launigem Tone. »Ich bin ganz allein und diejenige, deren Anblick dein Liebesfeuer wieder anzuschüren vermöchte, wandelt jetzt auf Pfaden, wo wir ihr schwerlich begegnen. Ueberdem hat sie dir auch das Goldstück zurückgeschickt, das du ihr auf die Treue gegeben, und das ist der deutlichste Beweis, daß sie ihr Herz ganz und gar von dir abgewendet hat und als Jungfrau leben und sterben will.«
Der Bootsmann erwiederte nichts, aber indem er die süßen Erinnerungen an Philippintje zu bekämpfen suchte, dampfte er stärker, als bisher. Jansen kam jetzt den Berg herab und rief schon aus der Ferne dem Freunde ein herzliches Willkommen zu. Er war nicht sehr erstaunt, ihn hier zu finden, da er ja aus seinem Munde wußte, daß Mastricht das Ziel seiner Reise sey. Während Herrmanneke die beiden Freunde nach der Stelle hinruderte, wo die Syrene vor Anker lag, erfuhr Jansen von Cornelius Alles, was diesem seit ihrer Trennung begegnet war. Er sah seine Vermuthung über die nur vorgebliche Verwandtschaft Cleliens mit dem Junker bestätigt. Als dieser von den beiden Studenten sprach und ihre Personen beschrieb, rief Jansen wild aus:
»Bramsegel und Backbord! Die beiden Schelme habe ich auf der Syrene gehabt und dir selbst sie nachgeführt bis Antwerpen. Hätte ich damals gewußt, was ich jetzt weiß, wie hätte ich sie anführen und abführen wollen! Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Laß uns nur erst wieder in Rotterdam seyn! Da stehe ich dir bei als ein dankbarer Freund, und die Jungfrau Clelia muß dafür Frau van Daalen werden, daß du den Spagnol, wie einen feuerigen Drachen, zum Himmel fahren machtest. Ein Dienst ist des andern werth. Eine Frau für einen Drachen – umgekehrt findet sich das oft in der Welt!«
Sie langten bei der Barke an. Frau Beckje empfing den Freund ihres Mannes mit ihren gewöhnlichen Neckereien. In der nächsten Viertelstunde schon wurden die Anker aufgewunden und, von günstigen Winden fortbewegt, schwebte die Syrene, zwischen den Häuserreihen der Stadt Mastricht und der Vorstadt Wyk, die Maas hinab ihrer Heimath zu.