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Fünftes Kapitel.


Die Menschheit muß verderben,
Soll'n wir den Lohn erwerben;
Gott wollte durch uns sterben,
Sein Trost ist aufgespart.

Wo in dem Jahrhunderte, dessen Sitten wir im Raume dieser Erzählung zu schildern bemüht sind, die Geiselfahrt erschien, fand sie begeisterte Freunde, Anhänger, die ihr mit Leib und Leben zufielen. Es lag, wie sich über diese wunderliche Erscheinung ein Schriftsteller, der sie näher beleuchtet, ausdrückt, in der Luft der Zeit, sich diesem Treiben hinzugeben, in einer düstern Buße, in strenger Selbstpeinigung den Himmel versöhnen und vielleicht sich zugleich auch irdisch erheben zu wollen. Die Geißler wurden für heilig gehalten, allenthalben fanden sie gastliche Aufnahme; niemand hätte ihnen diese verweigern dürfen, ohne sich und sein Eigenthum der Wuth des Volks preißzugeben. Die Ankunft einer solchen Geiselfahrt vernichtete die Autorität der weltlichen Obrigkeit, sie hob das Ansehn der Geistlichkeit auf, die von den Geißlern angeklagt wurde, durch die freilich nicht zu leugnende Verderbtheit ihrer Sitten, durch Vernachlässigung des Kirchendienstes in's Besondere den Zorn des Himmels gereizt zu haben. Zwar gestattete man auch Geistlichen, die sich von dem Geiste der Buße ergriffen fühlten, sich der Geißlerverbrüderung anzuschließen, allein sie durften weder Beichte hören, noch konnten sie den Grad eines Meisters erlangen. Eine seltsame Verwirrung der Ideen herrschte unter den Angaben dieser Geißler, die aber von dem Volke nicht durchschaut, sondern vielmehr, da sie seinen Wünschen entsprach, gern aufgenommen wurde. Sie klagten die Mönche, sie klagten Reiche und Vornehme, sie klagten sich selbst an, durch ihre Sünden das große Sterben, das die Länder entvölkert, veranlaßt zu haben; dann wandte sich wiederum ihre ganze Wuth gegen die unglücklichen Juden, die durch die Vergiftung der Brunnen, durch Fluchgebete und Zaubermittel die Pestilenz erzeugt hätten und fortdauern ließen. Eine Anklage hob die andre auf, allein die Meister der Geißlerfahrten waren klug genug, beide immer obschweben zu lassen, um durch die erste der Secte religiöse Bedeutung zu sichern, durch die zweite auch denen zu gefallen, die zu dem allgemeinen Hasse, der die begünstigten kaiserlichen Kammerknechte traf, auch ein Gelüst nach ihren Reichthümern gesellten. Fanatismus und Raubsucht, Neid und die Hoffnung des Einzelnen, aus einer allgemeinen Verwirrung der Verhältnisse die eigene Person angesehener und reicher, als bisher, zu erheben, waren die Motive einer Vereinigung, die in dem Geiste einer rohen und sittenlosen Zeit nur zu viel Anklang fanden.

Wir haben die Begeisterung erlebt, mit der in ganz Deutschland die Flüchtlinge eines unglücklichen Volkes, das, für seine Freiheit fechtend, der Übermacht erlag, aufgenommen wurden. Palläste und Hütten eröffneten zu ihrem Empfange ihre Pforten, am Tische des Reichen, wie des Armen waren sie willkommen, der Segen schien unter das Obdach einzukehren, das sie gegen den Frost des Winters, gegen Sturm und Wetter schirmte. Jedes gefühlvolle Herz theilte ihre Trauer um das verlorene Vaterland, in jedem edeln Gemüth erhob sich eine Stimme, die den trauernden Flüchtling als einen unglücklichen Bruder zu lieben gebot. Man fühlte sich verwundet in ihnen, denn man sah ein, daß mit dem Untergange dieses heldenmüthigen Volks dem segenverkündenden Genius, der aus dem Schooße des Jahrhunderts aufstieg, eine seiner kühnen Schwingen gelähmt worden sey. Die freie Luft, die man zu athmen begonnen, wurde drückender, das Unglück dieses Volkes trat der Seele nahe, denn mit ihm war ein Blüthenzweig der schönsten Hoffnung gewelkt. So wollte es die Luft, oder besser der Geist unsres gebildeten, hellblickenden Jahrhunderts.

Nur ein Berührungspunkt findet sich, wenn wir die irrende Wandrung dieser Flüchtlinge mit der düstern Geiselfahrt des vierzehnten Jahrhunderts vergleichen. Es ist der magnetische Zug, der unwiderstehlich die Masse des Volks in seine Kreise bannte, der sie mit Begeistrung für diese Unglücklichen, wie für jene Büßenden erfüllte. Aber wenn damals der finstre Geist des Aberglaubens, der Dämon niedriger Leidenschaften, die Unwissenheit und Thorheit der Zeit solche Erscheinungen hervorbrachte, so lag doch in diesem magnetischen Zuge ebensowohl der Hauch eines Genius, dessen Walten nie ganz unterdrückt werden kann, der sich in allen Jahrhunderten durch leisere oder lebhaftere Regungen zu erkennen gibt. Auf dem niedrig Geborenen lastete der Druck der Leibeigenschaft, der Fluch der Nichtigkeit des eigenen Selbstes; in den Städten fing der Bürgerverband erst an, einige Festigkeit zu gewinnen, ohne daß das Schicksal der Menge dadurch bedeutend erleichtert worden wäre, ohne daß sie schon stark genug sich fühlten, gegen den Übermuth und die Anmaßung der Raubritter die Früchte ihres Fleißes zu vertheidigen, ihren aufblühenden Handelsverkehr zu schützen. Die Ritter schwelgten auf den wohlbefestigten Burgen und brandschatzten, wo und wie es ihnen in den Sinn kam. Ihnen waren die Patricier in den Reichsstädten durch Familienverbindungen befreundet; durch Heirathen unter ihren Kindern wurde der Sinn der Härte und Gewaltsamkeit gegen den Niedriggeborenen verbreitet. Neben ihnen erhoben sich in den reichsfreien Städten einige von dem Reichsoberhaupte begünstigte Familien, die diese Gunst mit schweren Opfern an Geld zu erkaufen vermochten. Aus diesen Familien und den Patriciergeschlechtern, die sich vorzugsweise die edlen und ehrbaren nannten, wurde nach einem Herkommen, dem man Gesetzeskraft beizulegen wußte, zum größten Theile die regierende Obrigkeit erwählt. Aber auch der Bürgerstand hatte, seitdem er sich in Zünfte vereinigt, an Macht und Ansehn innerhalb der Städte gewonnen. Er bildete in der freien Reichsstadt Frankfurt eine starke, unabhängige Körperschaft, aus deren Mitte bereits einige Männer, die sich durch geistige Eigenschaften auszeichneten, Ratsherrn- und Schöffenstellen bekleidet hatten. In scharfer Abgeschlossenheit von ihm hielten sich die Kaufleute, die, vermöge ihrer Reichthümer, vermöge ihrer Geschäftsweise, den Patriciern und Edlen näher zu stehen glaubten. So erschien die Einwohnerschaft einer und derselben Stadt streng abgetheilt in Casten, die einander öffentlich und heimlich befeindeten, während die Masse des Volks, der Landmann in der Umgebung, die Handarbeiter, die nicht zunftmäßig waren, die große Anzahl derjenigen, die ihre Dienstleistungen an jeden verkauften, der ihrer bedurfte, um den Tag über ein Stück Brod und Abends ein Nachtlager zu finden, in dem Drucke, der auf ihnen ruhete, ein an Verworfenheit und Verbrechen reiches Leben führte, das die grausamen Strafen, von denen die Jahrbücher unsrer Vorzeit so häufige Beispiele anführen, hervorrief. Von der Entartung der Geistlichkeit in ihrer sittlichen Bedeutung haben wir bereits gesprochen. Geistliche Fürsten scheueten sich nicht, in Rüstung und Waffen mit zu Felde zu ziehn, auf der Jagd umherzuschwärmen, selbst Wegelagerung zu treiben. Oft hielten an der Pforte der Kirche schon die Jäger mit der Meute, des Abtes oder Priors harrend, der eben die heilige Messe las; oft erschienen, von Jägern und Hunden begleitet, die Burgherrn im Innern des Heiligthums, um ihren Freund und Genossen vom heiligen Amte abzurufen. Mönchs- und Nonnenklöster waren öffentliche Orte der gemeinsten Verderbnis geworden. Was Wunder, wenn der rohe Haufe jedes Band, das ihn an eine gesetzliche und sittliche Ordnung fesseln sollte, als gelockert ansah, wenn in seinem Innern eine Verachtung gegen diejenigen aufkeimte, die durch Gerechtigkeit, durch Beispiel und Lehre die Bahn, die er beschreiten sollte, zu bezeichnen berufen waren? Nun zog Gottes Geisel, die Pest, verheerend über die Erde. Sie traf mit ihrer tödtlichen Berührung den stolzen Raubritter, diesen Schrecken des Bürgers und Landmanns, den anmaßenden Patricier, der sein Haupt unter den kleinen Herrschern der Städte erhob, den Rathsherr, der allenthalben das Gefühl seiner Würde zur Schau trug, den trotzigen Zünftler, den reichen Kaufmann: alle diese auserwählten Glücklichen des irdischen Daseyns, wie auch den unglücklichen Armen, der unter Thränen darbte, oder durch Verbrechen sich über das Loos der Entbehrung zu erheben suchte. Die Pest ward eine furchtbare Lehrerin der Gleichheit alles Irdischen. Der Gedanke dieser Gleichheit durchzuckte die Menschheit. Den Mächtigen und Übermüthigen erfüllte er mit Schrecken, den Elenden, Unterdrückten mit dem ahnungsvollen Bewußtseyn eines eigenen Werths. Da kamen aus Welschland, wo sie schon seit mehr als einem Jahrhundert ihre strengen Bußübungen getrieben, die Geiselbrüder über die Alpen. Der Geist einer Zeit, die in ihrer Verderbtheit und ihrem Elende eines Wunders zu bedürfen schien, das ihre Gebrechen heilte, glaubte in dieser Geiselfahrt das gehoffte Wunder zu sehen. Er vereinigte sich mit der Pest, indem er auch durch die Geißler, denen Palläste und Hütten, Heiligthümer und Burgen sich öffnen mußten, die gefährliche Wahrheit der Gleichheit verkündigte. Die Unterdrückten, Mißhandelten strömten in zahllosen Schaaren der neuen Secte zu, die Leibeigenschaft wurde durch die That abgeworfen, man suchte in der Buße und Geiselung ein Seelenheil, seine Versöhnung mit dem Himmel, zu der man die sittenlose Geistlichkeit nicht mehr berufen wähnte. Die Armuth hatte dem Reichthume ihre Dienste aufgesagt. Wo die Geiselfahrt einkehrte, hatte jeder Hausvater zu befürchten, daß das Gesinde ihn ohne Weiteres verließ, sich zu den Geißlern gesellte und nach einigen Stunden vielleicht als ein bekreuzter Gast in seine Wohnung zurückkehrte, den man auf das Beste verpflegen mußte, wollte man sich nicht der Wuth des Pöbels aussetzen. Diese Macht, welche allenthalben den Geißlern zu Gebot stand, machte sie übermüthig, erfüllte sie mit dem Gelüst nach irdischen Vortheilen und Freuden. Die ursprüngliche Reinheit ihres Wandels ging verloren. Ihre strenge Enthaltsamkeit war jetzt nur noch ein heuchlerischer Schein, die Religionsgründe, die sie zur Verfolgung der unglücklichen Juden angaben, dienten ihrer Habsucht zur Hülle, im Geheim herrschten unter ihnen Ausschweifungen, die dem allgemeinen Sittenverfalle der Zeit entsprachen. Allein jemehr ihr Ansehn zunahm, desto weniger suchten sie selbst den Schein zu bewahren und die Masse des Volks, nun zu Genüssen eingeladen, die ihr bisher verweigert gewesen, strömte ihnen freudiger und williger zu.

Was in andern Städten Schwabens, der Schweiz und des Elsaßes sich bei dem ersten Erscheinen der Geiselfahrt begeben, das wiederholte sich auch, als diese unter den düstern, schwermüthigen Tönen ihres Bußgesanges die freie Reichsstadt am Main betrat. Landleute waren ihr vorausgeeilt und hatten ihre Ankunft verkündigt. Niemand dachte daran, niemand hatte gewagt, ihr die Thore zu verschließen. Auch folgte diesen Boten die Geiselfahrt so dicht auf der Ferse, daß keine Zeit übrig blieb, eine Verfügung der städtischen Obrigkeit einzuholen. Wie eine zahllose Reihe düstrer Nachtgespenster wallte der Zug der finstern Gestalten, deren entblöste Nacken und Rücken die Narben der Geiselwunden zeigten, über die Brücke, dem Dome zu.

»Tretet herzu, wer büßen will!«

Diese Worte rissen, ehe noch der Zug den Dom erreichte, Hunderte in ihren Zauberkreis. Die Büßenden alle konnte der weite Raum des Domes nicht fassen. Auf dem Platze, der ihn umgab, in den benachbarten Straßen, lag Alles voll von ihnen. Galeazzo und Godebrecht schritten durch die Reihen der Männer, Joffriede durch die der Weiber und ermahnten sie zu vermehrter Buße. Im Dome war Alles erleuchtet worden, auf dem Platze und in den Straßen brannten Pechkränze und Fackeln. Als der tausendstimmige Gesang schwieg, hörte man das taktmäßige Schwirren und Niederschlagen der Geiseln, das Stöhnen und die Seufzer der Büssenden, die Verwünschungen, die sie gegen sich und ihre Sünde aussprachen. Alles wiederholte sich, wie damals auf dem Waldplatze: nur in einem größern Maaßstabe. –

Salentin hatte, indem er sich von dem Hause Lateran nach der Wohnung seiner Eltern begab, diesem Schauspiele nur so viel Aufmerksamkeit gewidmet, als hinreichte, es in seiner äußern Bedeutung aufzufassen. Er hatte den wilden Galeazzo, den schleichenden Godebrecht, die wunderliche Joffriede, aus deren Erscheinung eine schreckliche Zerrissenheit des Innern sprach, gesehen, er glaubte zu bemerken, daß unter den Büßenden sich viele befanden, die das Werk der Selbstpeinigung nur mit Widerwillen übten. Eitel Glockenklang war ihm durch ihre Schönheit, Felician Süßbutter durch die Gleichgültigkeit, mit der er die Geisel gegen sein Fleisch und Blut wüthen ließ, aufgefallen. Der Zufall führte ihn in Beider Nähe und als er neben der schönen Sängerin, die nun eine schöne Büßerin geworden, einige Augenblicke verweilte, dünkte es ihn, als sehe sie mit einem flehenden Ausdrucke zu ihm auf, als flüstere sie ihm Worte zu, die er jedoch bei dem Schwirren und Schlagen der Geiseln, bei dem lauten Stöhnen und den Verwünschungen der zahllosen Menge nicht verstehn konnte.

Im Hause seiner Eltern fand er Alles in Unruhe und Verwirrung. Hartmuth, der alte Leibdiener, öffnete ihm die Thüre und berichtete sogleich, daß Jörg, der Hausknecht, und Walpurg, die Hausmagd, sich zu den Geißlern begeben hätten und mit diesen die Welt durchziehn wollten.

»Ich wußte es voraus!« setzte er heftig eifernd hinzu. »Walpurg ist schon seit Ostern, verwichenes Jahr, nicht zur Messe, Jörg nicht zur Beichte gegangen. Er ist ein treuloser Schelm, der nun den Herrn spielen will, sie glaubt in ihrer Dummheit, aus ihr werden die Geißler eine Heilige machen. Aber es ist doch nun Noth an allen Ecken im Hause! Kann ich Leindiener, Hausknecht und Hausmagd zugleich seyn? Und bei'm Sanct Veit, das Gesinde wird theuer werden in diesen Tagen, denn es wird ihm zu wohlfeil geboten, in den Herrenstand zu treten; mit einigen Geiselhieben, mit Gesichtszügen so finster, wie ein Gewitter, mit einem sündlichen, widrigen Geplärr kann es sich Gastrecht an der Herrentafel, Wohlseyn und sorgenloses Leben erkaufen!«

Oben im Wohngemach empfing ihn Regina mit verstörter Gebehrde, mit bleichen Wangen. Sie deutete schweigend auf Frau Gisela, mit allen Zeichen einer Erschütterung, welche tief in ihre Seele gegriffen, in einem Lehnstuhle saß und von der weinenden Imagina mit stärkenden Essenzen bedient wurde. Das Haupt der würdigen Frau neigte sich matt zur Brust, sie holte schwer Odem, sie zuckte bei dem Geräusche, das Salentins Eintritt verursachte, heftig zusammen. Der Vater stand mit untergeschlagenen Armen und finster vor sich niederblickend in einem Winkel des Zimmers. Er sprach dumpf in sich hinein, was er nur in den Fällen einer ungewöhnlichen und außerordentlichen Erregung zu thun pflegte. Nur seine Lieblingsbetheurung: »bei'm Haupte des heiligen Bartholomäus!« hob sich von Zeit zu Zeit vernehmlich aus der sonst unverständlichen Rede hervor.

Salentin erkannte mit Bestürzung den Krankheitszustand der verehrten Mutter. Wie war nun seine Hoffnung, sie bald in einer ruhigen Gemüthsverfassung zu sehn, die ihm erlauben würde, an das große Werk ihrer Heilung, das er seit Jahren vorbereitet, zu gehn, mit einemmale unerwartet vereitelt! Noch hatte durch ihren zarten Nervenbau der Sturm der Empfindungen, der sie bei der Wiederkehr des lang entbehrten Sohnes ergriffen, nachgeklungen, noch hatte er nicht wagen können, die Hand zu einer That zu erheben, welche das öde Daseyn der Blinden neu beleben, aber auch die letzte Hoffnung tödten konnte. Und nun – welche finstere Macht drängte sich jetzt den Wünschen, den liebevollen Absichten Salentins feindlich entgegen, ihre Erfüllung auf eine unbestimmte Zeit hinausschiebend, sie immer ungewisser machend?

Er war neben die Mutter getreten, er hielt ihre zitternde Hand in der seinigen. Noch erkannte sie ihn nicht, noch lag sie in den Fesseln der Ohnmacht, die sie befallen hatte. Imagina flüsterte ihm zu, daß dieser Zustand die Folge eines Schrecks sey, der sie bei'm Heimgange aus dem Lateran getroffen. Die Kranke regte sich. Salentin winkte dem Mädchen zu schweigen. Je länger er die Hand der Mutter hielt, desto mehr schien die allgemeine Aufregung ihres Wesens in Ruhe überzugehn. Die entstellten Züge des Angesichts traten in ihre natürliche Form zurück, die Leichenblässe der Wange wich einem sanften Roth, der Odem wurde leicht und natürlich. Endlich sank die Hand, welche bisher Salentins Rechte krampfhaft umspannt, schlaff hernieder und der junge Arzt sah ein, daß die Ohnmacht in einen wohlthätigen Schlummer übergegangen war.

Er wollte sich nun seinem Vater nähern; Regina aber sagte:

»Lass' ihn! So wie ich ihn kenne, ist ihm in einem solchen Zustande jede Störung zuwider. Dein edler Vater sieht ein großes Unglück über uns hereinziehn und in tausend drohenden Gestalten spiegelt seine Seele ahnungsvoll die Zukunft wieder. Aber diese Besorgniß ist es nicht allein, die sich seiner bemächtigt hat. Ihn quälen auch Bilder der Vergangenheit, düstre Erinnerungen, von der Gegenwart hervorgerufen. Die heilige Jungfrau segne dieses Haus und sende ihren Frieden wieder herab in sein Inneres!«

Das Mädchen hatte mit gedämpfter Stimme gesprochen; Thränen mischten sich in ihre letzten Worte. Salentin erschien sich, wie von einem seltsamen, unheimlichen Zauber befangen. Alles hatte sich plötzlich im elterlichen Hause verändert und diese Veränderung drängte sich seiner Seele in Räthseln auf, deren Lösung er nicht zu finden vermochte.

»Du sagst, das Gemüth des Vaters sey von dunkeln Befürchtungen, von quälenden Erinnerungen ergriffen?« wandte er sich zu Reginen. »Hat er sich darüber erklärt, hat er dir ein Vertrauen geschenkt, das er mir verweigern könnte?«

»Einzelne Worte, im Drange der ersten Bestürzung ausgestoßen, haben es mir verrathen;« versetzte Regina. »Ach, Salentin, du weißt nicht, welcher frevelhafte Angriff auf deine Mutter diese traurige Störung in unser friedliches Leben gebracht hat! Ich wage auch nicht, dir hier davon zu sprechen. Deine Mutter schlummert, aber mir scheint ihre ganze Seele so wund, daß eine leise Erinnerung an den schrecklichen Vorgang sie schmerzlich berühren und selbst auch durch den Schlummer in ihr Inneres dringen könne.«

In diesem Augenblicke lenkte Imagina durch ein leises, bedeutungsvolles Husten die Aufmerksamkeit der zwei Sprechenden auf die Kranke. Diese bewegte sich unruhig, sie athmete wieder schwerer und in den Händen zeigten sich einige krankhafte Zuckungen.

Salentin war im Begriff, sich in ihre Nähe zu begeben. Da rief ihn sein Vater leise bei Namen und führte ihn in eine ferne Fenstervertiefung.

»Mein Sohn,« sprach hier mit halblauter Stimme, die durch eine ungewöhnliche Unsicherheit die Erschütterung des sonst starken Gemüths verrieth, der Hausherr, »auch uns erreicht nun der Sturm, der unabwendbar über die Erde zieht. Vor ihm stürzt der Übermuth des Reichen, aber auch die gerechte Sache des Redlichen zu Boden. Ihn geleiten der Haß, ein wahnsinniger Glaubenseifer, Raub und Mord. Hergebrachte Gewaltthaten, zu denen sich Einzelne bevorrechtet glaubten, werden durch neue, zu denen der Pöbel sich den Beruf geschaffen, verdrängt; aber in diesem Kampfe geht auch die Tugend, die sich in den Frieden des häuslichen Lebens geflüchtet, unschuldig mit zu Grunde. Sieh, deine Mutter! Schon hat der Sturm der Zeit dieses edle Wesen gebeugt, wer weiß, ob nicht zum Tode erschüttert! Wir konnten ihn ahnen, aber wir vermochten nicht ihn abzuwenden durch Gebet und frommen Wandel, denn Derjenigen, die mit wahrer, lebendiger Reue sich zu Gott und seinen Heiligen wandten, waren nur Wenige: die Übrigen, Weltliche und Geistliche, fuhren fort in ihren Sünden den Zorn des Allmächtigen zu reizen. Da warnte er mächtig und bedeutungsvoll, indem er die Pest, diese tödtliche Windstille, dem Sturme voraussandte. Bei'm Haupte des heiligen Bartholomäus, es war ein Zeichen, das Alle hätten erkennen müssen! Aber was ist verstockter als die Sünde, was hartnäckiger in der Verfolgung seiner Zwecke, als die einmal entfesselte Begier, als die Üppigkeit, die sich in süßen Lüsten berauscht hat, die in diesem Rausche sich gern unempfindlich gegen das noch so drohend aufsteigende Verhängniß macht? Jetzt werden diese Täuschungen der Selbstsucht und der Weltlust verschwinden. Das Erwachen aus ihnen wird schrecklich seyn. Das Volk fühlt sich. Ein gewaltiger Geist hat es ergriffen, wie in den Tagen der Kreuzzüge. Aber nicht gegen die Sarazenen, nicht zu der Eroberung des heiligen Grabes hat es sich zusammengeschart – es gilt jetzt dem Umsturze des Bestehenden in der Heimath, einem Kampfe der Armuth gegen den Reichthum, des Bedrückten gegen den übermüthigen Bedrücker. Alles andre ist Schein, Heuchelei und Gaukelspiel.«

Salentin warf einen forschenden Blick auf die Mutter. Sie schien wieder in ruhigem Schlummer befangen.

»Mein Vater,« versetzte er dann, zu Herrn Hanns gewandt, »ich kann in dieser Volksbewegung nicht die ernste Bedeutung erkennen, die Ihr derselben beilegt. Sie scheint mir keine Macht, sie scheint mir eine Krankheit der Zeit und wie jede Krankheit ihren Verlauf haben will, so auch diese. Freilich mag die Ursache des Übels in der allgemeinen Verderbtheit des menschlichen Geschlechts liegen, aber eben weil diese Ursache eine allgemeine ist, so werden auch ihre Wirkungen sich Alles befriedigend wieder ausgleichen, wenn sie, die in diesem vorübergehenden Kampfe als verwerflich erkannt werden muß, verschwindet. Dann hoffe ich, soll durch die Nothwendigkeit erzeugt, ein Geist der Ordnung aufleben, wie er noch nie im deutschen Lande gewaltet. Die heitren Zeiten der Hohenstaufen, wo Minne, Gesang und Ritterlichkeit im edelsten Sinne gepflegt wurden, liegen weit hinter uns, auch die Tage der Gerechtigkeit unter Rudolph von Habsburg leben nur noch im dämmerigen Lichte in der Seele des Einzelnen – seitdem stürmt es fort und fort im Vaterlande, eine tödtliche Windstille hat, wie Ihr ganz recht sagtet, den Ausbruch der höchsten Wuth dieses Sturmes verkündigt, aber das ist auch der Endpunkt der Krankheit – Ihr werdet sehen, Vater: nach ihm schreitet die Genesung rasch vorwärts.«

Der alte Herr machte eine zweifelhafte Bewegung mit dem Haupte und sagte:

»Du siehst mit den Augen eines Jünglings, der von Hoffnungen belebt wird; ich mit denen eines bejahrten Mannes, der in schweren Prüfungen dem Ziele schon nahe geschritten ist. Dem Blicke des Arztes zeigt sich als eine Krankheit, was der Geist, der einen weitern Kreis überschaut, als die Vernichtung des Glücks und des Friedens erkennt. Der Arzt hofft Heilung bis zum letzten Augenblicke, er sträubt sich, den Krebsschaden zu erkennen, an dem alle Bemühungen seiner Kunst scheitern. Es ist auch möglich, daß eine schreckliche Erinnerung, die mir unerwartet in dieser Nacht entgegentrat, bittre Empfindungen in mir erregt hat, die mich Alles schwarz erblicken lassen. Bei'm Haupte des heiligen Bartholomäus!« setzte er in großer Bewegung hinzu: »ich habe eine Erscheinung gehabt, welche den Geist des Stärksten zu verwirren, ein Gemüth, das auf das Ärgste vorbereitet ist, aus seiner Fassung zu bringen im Stande wäre.«

Diese Äusserung erinnerte Salentin an den grauen Büßenden. War doch auch ihm in der Begegnung dieses räthselhaften Mannes eine wunderbare Überraschung geworden, hatte sich diese doch so tief und lebendig in seine Seele geprägt, daß er in diesem Augenblicke nicht anders dachte, als auch der Vater müsse mit dem seltsamen Bewohner der Ingelheimer Au zusammengetroffen und vielleicht durch eine bedeutungsvolle Offenbarung desselben in den Zustand der Aufregung versetzt worden seyn, in dem er ihn fand.

»Salentin,« fuhr der Herr vom Rhein leiser, als bisher, fort, »ich erwarte dich mit dem ersten Dämmerlichte des Morgens in meinem Zimmer. Dort sollst du erfahren, was diesen Aufruhr meines Innern hervorgebracht hat. Eine alte Geschichte will ich dir erzählen, die als ein Geheimnis, von dem selbst deine Mutter nur Weniges ahnt, in meiner Brust ruht. An eine entfernte Vergangenheit knüpft sich die Gegenwart wieder an und spricht von betrogener Jugendliebe, von der Verirrung eines Freundes, von dem traurigen Sündenfalle eines ursprünglich edlen Gemüths. Wunden, die nie ganz vernarben konnten, werden wieder bluten, Schmerzen, die nur leise geschlummert, wieder erweckt werden. Aber in dem Sturme, der sich ringsum mich erhoben, bedarf ich einer Stütze und wen könnte ich besser dazu erwählen, als dich, meinen Sohn? Du stehst noch da, ein fester Stamm in jugendlicher Kraft, auf dessen Zweigen sich tausend Hoffnungen wiegen. Gieb mir von deiner Kraft, von deinen Hoffnungen. Morgen früh, Salentin! Lasse keinen diese Unterredung ahnen, bewahre ihre Entdeckungen als ein Heiligthum, das die Liebe und das Vertrauen eines Vaters in deine Seele gelegt. Sorge indessen für die Mutter! Ich bedarf der Ruhe, ich bedarf der Stärke für unsre Zusammenkunft. Halte dich wach zum ersten Grauen der Morgendämmerung.«

Herr Hanns vom Rhein verließ das Zimmer, aber sein Schritt war nicht so fest, wie sonst. Kaum hatte er sich entfernt, so wurden die Bewegungen der Schlafenden unruhiger, sie fuhr plötzlich mit der Hand nach dem Herzen und erwachte unter einem heftigen Schrei.

»Wer ist bei mir?« fragte sie dann mit schwacher, ängstlicher Stimme. »Bin ich unter meinen Lieben, innerhalb der schützenden Mauern meines Hauses? Imagina – Regina – Salentin, mein Sohn – bewacht Ihr die arme Blinde gegen jenes schreckliche Wesen, dessen Rede meine Seele mit Donnerton, wie ein Fluch des Himmels, traf? Tretet näher zu mir! Gieb mir deine Hand, mein Sohn! Wie Gewitterluft drückt es mich. Heilige Mutter Gottes, sollte deine Liebe von mir gewichen seyn?«

Sie hielt Salentin's Rechte, der zu ihr getreten war, mit beiden Händen umklammert. Geist und Körper schienen von der Macht eines Eindrucks ergriffen, dem irgend ein dem Sohne unbekanntes seltsames Ereigniß zum Grunde liegen mußte. Ihre Gesichtszüge entstellten sich wieder: Schreck und Entsetzen sprachen aus ihnen. Die todten, blinden Augen nach einer und derselben Stelle gerichtet, fuhr sie plötzlich empor, streckte die Hände abwehrend vor sich hin und rief mit unnatürlicher, schneidender Stimme:

»Ich kann sehen, Salentin! dich nicht, auch sonst keinen bekannten Gegenstand. Ich sehe in eine Wüste, wo keine Spur eines freudigen Lebens sich zeigt, wo die Schöpfung selbst als ein ödes Leichenfeld erscheint. Da blüht kein Strauch, da wächst kein Baum, da grünt kein Halm. Keine Quelle rieselt belebend durch den grauen Felsengrund. Alles ist stumm und todt und ich horche mit vergeblicher Sehnsucht auf einen Laut der Schöpfung, auf das Zwitschern eines Vogels, auf das Summen eines Käfers. O diese Wüste ist schrecklich! Da öffnet sich der Felsengrund und aus ihrem nächtlichen Grabe steigt eine furchtbare Gestalt hervor. Heilige Maria, schütze mich vor ihr! Die Heilige verschmäht mein Gebet. Die furchtbare Gestalt ist ein riesengroßes Weib. Ihre Augen sprühen Blitze, Schlangen winden sich um ihr Haupt und zielen mit den giftigen Zungen nach mir. Ihr Oberleib ist blos, mit klaffenden blutenden Wunden bedeckt. In der Rechten trägt sie eine knotige Geisel, von der Geisel träufelt Blut auf den Felsengrund und schlägt hier in Flammen auf, die nach ihrem Herzen zucken. Sie reicht mir die Geisel, der Blitz ihres Auges schlägt in mein Herz, ihre gebieterische, das innerste Mark durchschneidende Stimme trifft mein Ohr. Geißle dich, geißle dich! ruft sie. Auch du bist eine Sünderin, dich hat der Zorn des Allmächtigen geschlagen mit Blindheit: thue Buße, geißle dich und versöhne ihn mit deinem Blute!«

Betroffen und fragend blickte, während die Mutter erschöpft schwieg, Salentin nach den beiden Mädchen. In ihren Thränen las er den Schmerz der liebevollsten Theilnahme, aber keine Lösung des wunderlichen, schrecklichen Räthsels.

»Mein Sohn,« fuhr Frau Gisela, matt in den Sessel zurücksinkend, fort: »wer kann sagen, daß er rein sey vor dem Auge des Ewigen? Die Weltlust schlägt lockend an das Herz des Menschen und findet hier willigen Einlaß. Über der Liebe zum Irdischen vernachlässigen wir das Himmlische und darum muß ich mich schwerer Sünde anklagen. Ja, mein Salentin, ich lebte nur in dir, in meinem Ehegemal, Herrn Hanns, und den andern, die das Schicksal mir an das Herz gelegt! Wie manchen Augenblick mag ich, als du fern weiltest, dem Dienste Gottes entwandt haben, um ihn mit Gedanken, mit liebevoller Sehnsucht nach dir auszufüllen. Ach, vielleicht regte sich auch ein leiser Vorwurf in meiner Seele gegen die himmlische Fügung, die es wollte, daß wir getrennt von einander lebten! So hab' ich gesündigt und deßhalb steht, eine Rächerin des beleidigten Himmels, das schreckliche Weib vor mir und reicht mir die Geisel und will nicht weichen, ehe ich sie nicht ergreife, um durch Blut und Buße Verzeihung zu gewinnen. Ich habe dich, ich habe Alle zu sehr geliebt. Heilige Mutter Gottes, verzeihe mir! Ist es dein Gebot, so will ich bluten um dieser Liebe willen, ich will gegen sie kämpfen, ringen und untergehn in dem Kampfe, wenn ihn die Schwäche des Mutterherzens nicht zu bestehen vermag.«

Es war tief rührend, die edle Frau sich einer Liebe anklagen zu hören, die selbst durch diese seltsame Beschuldigung mächtig und unbezwinglich hindurchklang. Schmerzlich ergriff den jungen Mann die Überzeugung, daß auch der reine Spiegel dieser tugendhaften Seele durch den giftigen Hauch, den der Geist des Jahrhunderts ausströmte, getrübt worden sey. Aber wie Das geschehen können, blieb ihm noch immer dunkel und er verlangte ungeduldig nach einem ungestörten Alleinseyn mit Reginen, um hierüber eine Eröffnung zu erhalten. Indessen hoffte er noch immer, dieser unglückliche Wahn werde mit der körperlichen und geistigen Aufregung, die ein unbekannter Anlaß herbeigeführt, nur vorübergehend seyn, die Ruhe einer Nacht könne der Kranken vielleicht schon auch die Ruhe des Gemüths, in der sich bisher ihr Daseyn friedlich bewegt, zurückgeben.

Noch immer läuteten die Glocken von den Kirchen und der Bußgesang der Geißler, der während des Werks der Selbstpeinigung geschwiegen, erhob sich auf dem nahen Domplatze und in den benachbarten Straßen auf's Neue.

»Es ist ein wunderbares gräßliches Lied, das mir das Riesenweib mit der Geisel vorsingt;« begann wiederum mit ängstlicher, gepreßter Stimme Frau Gisela. »Es dringt tief in das Herz und will alle süßen Gefühle, die es bisher beglückt, darin ertödten. Komm, Imagina, bringe mich in mein Schlafgemach! Ich will Ruhe, ich will den Schlaf suchen, in den sich das Bewußtseyn der Wirklichkeit begräbt. Begleitet mich nicht, Salentin und Regina! Ich muß mich gewöhnen, mich fern von denen zu halten, die ich am Meisten liebe. Es schmerzt tief, aber die Heiligen werden mir Kraft geben, immer mehr das Band einer sinnlichen Hingebung zu lockern!«

Sie machte das Zeichen des Kreuzes gegen Salentin und Regina hin, und verließ, von Imagina unterstützt, langsam das Zimmer.

»Welcher unselige Wahn hat sich meiner armen Mutter bemächtigt!« rief Salentin, als die Schritte der Fortgehenden im äußern Gange verhallt waren, aus. »Tugenden, die ihr das Glück der Seligen im Paradiese sichern, betrachtet sie als Sünden und klagt sich ihrer an, eine Liebe, die der reinste Ausfluß Gottes ist, scheint ihr verwerflich, strafbar, ein Verbrechen, das durch eine grausame, wahnsinnige Buße versöhnt werden muß. Löse mir diese Räthsel, Regina! Du hast die Mutter nicht verlassen, seitdem mich die Noth der bedrängten Tochter Simeons aus Eurer Nähe rief. Auch ich habe Wunderbares erfahren in dieser kurzen Zeit, aber die Überraschung, die mir hier geworden, ist so schmerzlicher und ergreifender Art, daß sie Alles andre in den Hintergrund stellt!«

Da erzählte ihm Regina, wie die Gesellschaft im Lateran, kaum, nachdem durch die Entfernung des Juden und seiner Tochter Ruhe und Ordnung wieder hergestellt worden, auf die Nachricht von der längstbefürchteten Ankunft der Geiselfahrt, sogleich sich von der Tafel erhoben habe und aufgebrochen sey. Herr Hanns vom Rhein und die seinigen befanden sich unter den letzten, welche den Saal verließen. Die Blindheit der Frau Gisela erlaubte ihnen nicht, sich in das Gedränge zu mischen. Sie harrten in der untern Halle, bis sich dieses verlaufen haben würde. Da begann das Geläute aller Glocken und der düstre Klagegesang der Geißler klang aus der Ferne herüber. Regina, welche den Arm der mütterlichen Freundin hielt, fühlte, wie diese zusammenschrack, wie ein allgemeines Zittern sich ihrer Glieder bemächtigte.

»Das ist ein Todtenlied, wie ich noch keins gehört habe, und man sollte meinen, die ganze Menschheit würde mit ihm begraben;« sprach sie in einem ängstlichen Tone.

Endlich war der Ausgang frei geworden. Aber vergebens rief Herr Hanns nach dem Knechte Jörg, den er beauftragt, die Sänfte für Frau Gisela, die Pferde für ihn und die Jungfrauen bereit zu halten. Es blieb keine andre Wahl, als den Heimweg zu Fuß anzutreten. Regina und Imagina unterstützten die edle Frau, auf die das Geläute der Glocken, der immermehr anwachsende Bußgesang eine widrige, ihre Kraft lähmende und ihr Gemüth erschütternde Wirkung zu machen schien. So kam man nur langsam weiter und als sich endlich die kleine Gesellschaft in der Nähe ihrer Wohnung befand, sah sie sich plötzlich in das Gedränge der Geißlerschaar, die aus einer Seitenstraße heranzog, verflochten. Herr Hanns hielt sich hart an den Frauen, um ihnen im Nothfalle seinen Schutz zu gewähren. Der tausendstimmige Gesang, der jetzt ringsum ertönte, die gespenstermäßigen bleichen und blutigen Gestalten der Geißler, die Selbstverwünschungen, die Einzelne von ihnen, ihre Lied unterbrechend, ausstießen – Alles trug dazu bei, eine Scene zu bilden, die auch die Seele eines Starken erschütternd berühren konnte. Um wie viel mehr mußte dieses bei der nervenschwachen Blinden, deren reizbarer Gehörsinn mächtiger getroffen wurde, an deren geistigem Auge die erregte Phantasie noch schrecklichere Gebilde, als die der Wirklichkeit waren, vorüberführte, der Fall seyn? Sie stand zitternd zwischen den beiden Mädchen, sie hatte, von diesen geleitet, den Seitenpfad der Straße erreicht, wo die vier Menschen nun harrten, bis der düstre Zug mit seinem Trauergesang vorüber seyn würde. Da kamen die Geißlerfrauen heran, an ihrer Spitze die Meisterin, welche eine blutrothe Fahne, mit dem schwarzen Kreuz bezeichnet, trug. Es war eine hohe Gestalt mit noch schönen, wenn auch nicht mehr jugendlichen Gesichtszügen. Aus ihren Blicken flammte eine drohende, unheimliche Gluth, ihr langes, schwarzes Haupthaar wallte aufgelöst über den entblössten, mit blutigen Striemen bedeckten Rücken herab. Ihr Auge schweifte irrend über die Umgebungen hin. Da trat sie plötzlich aus dem Zuge zu Frau Gisela, ergriff stark den Arm der erschrocken zusammenfahrenden Matrone, sah ihr finster in die erblindeten Augen und sprach in einem seltsamen, strengen und herben Tone, der, wie Regina hinzufügte, eine wunderbar ergreifende Gewalt in sich gehabt habe: »Dich hat Gottes Fluch gezeichnet! Du bist eine schwere Sünderin. Mit den Augen hast du gefrevelt, als du sie mehr auf das gerichtet, was dir irdisch lieb gewesen, als nach dem unvergänglichen Himmlischen. Deßhalb hat dich der Herr in dem gestraft, womit du gesündigt. Wasch ab deinen Frevel mit deinem eigenen Blute, so du das Himmelsreich zu erlangen hoffst! Geißle dich, Unselige, geißle dich! Thue Buße und unterwirf dich der Macht des Kreuzes!« Regina hatte, als sie die verehrte, so hart angegriffene Frau, so schonungslos bestürmt sah, um Schutz nach Herrn Hanns vom Rhein geblickt. Dieser aber stand selbst, von Entsetzen befallen, keiner Bewegung mächtig da. Auf sein Antlitz hatte sich Todtenblässe gelagert, die Adern seiner Stirn waren stark hervorgetreten, sein Auge hing starr, als werde ihm eine furchtbare, sinnverwirrende Erscheinung, an der Geißlerin. Der Zug war weiter gegangen und das schreckliche Weib mit ihm. Aber zusammengebrochen, ihrer Besinnung nicht mächtig, kaum einer Bewegung fähig, lag Frau Gisela in den Armen ihrer Begleiterinnen. So hatte der Leibdiener Hartmuth seine Herrschaft, die er ängstlich aufgesucht, gefunden und mit seinen Hülfe war, nachdem das Gedränge sich weiter bewegt, die Erkrankte nach Hause gebracht worden.

Während Regina diese schreckliche und seltsame Begebenheit dem Freunde ihrer Seele berichtete, hatte das Glockengeläute und der traurige Gesang der Geißler aufgehört. Jetzt vernahm man ein wiederholtes starkes Klopfen an der Hausthüre. Salentin eilte selbst hinab, um zu öffnen. Aber bereits hatte der Leibdiener Hartmuth dem Verlangen der Klopfenden Genüge geleistet. Zwei dunkle Frauengestalten traten in den Hausgang. Ihre Mäntel waren mit Kreuzen bezeichnet, beide trugen bedeutungsvolle Werkzeuge einer blutigen Buße, die Höhere der beiden Gestalten schritt voran und warf gebieterische Blicke um sich.

»Die Büßenden verlangen Obdach!« sprach sie stark und eintönig zu dem herabkommenden Salentin. Dieser sah durch die offene Thüre eine große Masse Volks vor dem Hause versammelt, eine Weigerung würde Zerstörung, Raub und vielleicht gar Mord in sein Inneres geführt haben. Mit beklommener Brust begrüßte er die unwillkommenen Gäste. Da erschien auch Regina oben auf der Treppe. Sie erblickte die beiden Frauen, sie erkannte mit Entsetzen die Voranschreitende: es war die schreckliche Meisterin, deren That und Wort die Seele ihrer mütterlichen Freundin in ihren Grundfesten erschüttert hatte.



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