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Der Wunsch des getreuen Kammerdieners sollte leiden nicht in Erfüllung gehen. Graf Wallenberg hatte eine nichts weniger als gute Nacht, vielmehr, gleich der vorigen, eine zweite schlaflose. Schauderhafte Träume störten seinen späten, unerquicklichen Schlummer. Er sah sich auf dem Theater, genötigt, vor einem zahlreichen Publikum, dessen tausend Augen alle auf ihn gerichtet waren, die Partie des Theseus zu spielen und zu singen. Der Chor, der ihn umringte, bestand aus lauter Mitgliedern des corps diplomatique in ihren Galauniformen; der Oberpriester am Opferaltar war, trotz der weißen Perücke und dem Umhängebart, unverkennbar der Minister des Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten. Ganz deutlich vernahm er dessen tiefe Baßstimme in dem gewaltigen Chorgesang und Finale:
Wilde Amazone, rüste dich zum Krieg; Hellas edlem Sohne bangt nicht um den Sieg. Sieg:,: |
bei welchem Refrain mit den Blechschilden zusammengeschlagen wurde, daß dem unglücklichen Träumer die Ohren gellten. Er selbst bestand, in Angstschweiß gebadet, den Zweikampf mit Antiope, der Amazonenkönigin, die aber nicht Seraphine war, auch nicht Armgard, sondern unsinnigerweise die gute, alte Mrs. Henderson, deren ungeheurer Chignon von falschem, blondem Haar hinten aus dem goldenen Helm herabhing. Und – o Graus – als er, Theseus-Wallenberg, schmählich überwunden zu Boden stürzte, entfiel ihm nicht nur Schild, Schwert und Helm, nein, seine ganze Kleidung, Stück für Stück, verlor er, so daß er im langen Nachthemd und in Unflüsterbaren (das heißt Unterhosen) vor hohem Adel und verehrungswürdigem Publiko stand, vielmehr lag, verzweifelnd sich wälzte, während Antiope Henderson einmal über das anderemal »shocking, shocking« schrie und das gesamte Orchester höhnisch Tusch blies. Mama Henderson machte der entsetzlichen Situation ein Ende, indem sie sich, schamhaft und edelmütig zugleich, über den besiegten Feind warf und ihn kräftig an den Schultern schüttelte – so daß er erwachte. Das Schütteln erwies sich als Wahrheit, allein nicht von der Gouvernante, sondern von seinem Kammerdiener ausgeführt. »Hochgräfliche Gnaden wollen entschuldigen,« lispelte der Getreue, »daß ich mich gehorsamst unterstehe, Exzellenz zu wecken. Die Marianka ist unten, die Jungfer von Fräulein Lomond, wissen Exzellenz; eine schöne Empfehlung und gnädiges Fräulein hätten ihren Stimmschlüssel verloren und er müßte in unserem Offenbacher Wagen sich finden. Da der Kutscher alles vergebens durchsucht hat, dachten wir, Exzellenz hätten den Schlüssel vielleicht an sich genommen.« – »Schlüssel?« lallte der Graf noch schlaftrunken. »Den Chiffreschlüssel hat Marvál.« – »Nicht den Chiffreschlüssel, halten zu Gnaden. Den Stimmschlüssel von Fräulein Lomond in einem grünen Saffianetui sucht Marianka. Sie ist desperat; ihr Fräulein kann ohne Schlüssel nicht ihre Skala singen.« – »Ich weiß von keinem Schlüssel. Man soll mich in Ruhe lassen.« – »Zu Befehl, Exzellenz.« – »Wieviel Uhr ist's jetzt?« rief der Graf dem Abgehenden nach. – »Halb neun, Exzellenz.« – »Daß sich niemand untersteht, vor zwölf Uhr sich hören oder sehen zu lassen.« – »Sehr wohl, Exzellenz.« – Das arme Morgenopfertier der Primadonna legte sich auf die andere Seite, ein unfehlbares Mittel gegen die Fortsetzung böser Träume, zog die grünseidene Bettdecke über die Achsel und versank alsbald wieder in tiefen Schlaf.
Wie er, war auch Roland nach einer ebenfalls nicht sehr ruhigen Nacht durch eine weibliche Botschaft geweckt worden. Herr Raff, genannt Raffael, legte ein viereckiges Brieflein kleinsten Formats von der unleserlichen, kritzelnden Handschrift Armgards auf den Nachtisch. »Von der Millionärin,« brummte er grimmig. – »Was unterstehst du dich?« – »Ist sie's nicht? Um so schlimmer für sie.« – Armgard schrieb: »Unsere Partie steht vortrefflich. Sie haben, lieber Meister, gestern abend gespielt – wie ein Meister. Heute verhalten Sie sich ganz ruhig. Am besten, Sie lassen sich gar nicht sehen, weder bei W., noch bei S., namentlich auch nicht im Theater. (Die letzten Worte unterstrichen.) Morgen begrüße ich Sie als Sieger, vielleicht schon heute abend in meiner letzten Soiree, der Sie nicht fehlen dürfen. Freundlich grüßend A. K.« – Der Rat stimmte zu sehr mit Rolands Neigung überein, als daß er ihn nicht eifrig befolgt hätte. Ihn verlangte nach Einsamkeit. Er steckte sein Skizzenbuch in die Tasche und fuhr mit dem ersten Frühzug auf der Eisenbahn in das Gebirge, Studien zu machen für die Fels- und Waldpartie der Amazonenschlacht. Vor Abend wollte er nicht zurück sein.
Seraphinens Lever zum zweiten Male beizuwohnen, wird der geneigte Leser wenig Lust verspüren. Wir desgleichen. Schleichen wir an der roten Rose vorüber, sachte, sachte. Theaterarzt, Theaterregisseur, Theaterdiener gehen aus und ein. Dumpfe Gerüchte zirkulieren, die Lomond habe absagen lassen und werde nicht singen; andere: sie habe nicht absagen, sondern sich erbitten lassen und werde singen. Die beiden Artikel im Abendblatt und im Extrablatt wandern in den Kaffeehäusern von Hand zu Hand: es bilden sich Parteien für und wider, die Aufregung wächst mit jeder Minute, und trotz sabbatlicher Stille, Glockengeläut und Kirchenparade macht man sich allgemein auf einen unruhigen Abend gefaßt.
In Armidas Garten aber ist Frieden, Asyl. Das Familienfrühstück war im Gegensatz zum gestrigen eine Geßnersche oder Vossische Idylle: Papa Krafft im Lehnstuhl, das Töchterlein ihm Kaffee und Sahne darbietend, Mutter Henderson Brotschnitten röstend und mit selbsterzeugter Butter bestreichend; ein summender Teekessel, im geöffneten Wintergarten lenzartiges Vogelgezwitscher, und durch dessen farbige Scheiben bunte Sonnenlichter, welche die Blumen auf dem Teppich des kleinen Speisezimmers wie lebendige aufblühen ließen. Bevor Vater Krafft in die Kirche ging, die er selten versäumte, vergönnte ihm Armgard einen Blick in ihre Karten; sie erklärte ihm Wallenbergs falsche Theorie und ihre richtige Praxis, durch sie und Roland gegen jenen angewendet. Auch gestand sie, für Roland keine Neigung zu haben, sondern für den Grafen. Dem Bankier konnte der Tausch der Schwiegersöhne recht sein; nicht des Grafen wegen, wie er überlaut beteuerte – was lag ihm daran, dem schlichten, einfachen Bürger? – vielmehr nur, weil Wallenberg doch ein Mann in Amt und Würden, mit dem sich reden, sogar ein Geschäft beraten ließ, welcher Sinn für das Positive, Reelle besaß und zu einer glänzenden Karriere berufen war. Seine Schulden? Pah, man macht ein Auge zu und den Beutel auf. Am Ende weiß man doch, was man für sein Geld hat. Roland hingegen, bei aller Achtung vor dem berühmten Künstler, dem tadellos braven Mann sei es gesagt, er benahm sich gestern im Kontor wunderlich und kramte Ansichten aus, die einem andern Jahrhundert angehören. »Du bist,« – so schloß Herr Krafft seine Bilanz ab – »du bist ein Wettermädel, Armgard; schade, daß nicht ein Bub aus dir geworden ist. Was hättest du für einen Kaufmann abgegeben; und welche Firma für die Ewigkeit – Hans Heinrich Krafft – Sohn! Nun, man kann eben nicht alles ums Geld haben,« so tröstete er sich, griff nach Hut, Handschuhen und Gesangbuch und schritt, erhobenen Hauptes, aufrecht und steif, hinweg in die Kirche.
Armgard blieb allein zurück. Ihre Morgenandacht bestand in einer Generalbeichte, welche sie sich selber ablegte. Ja, sie mußte sich der Hoffart und der weltlichen Eitelkeit zeihen. Der Hoffart: denn da sie gestern nacht den schwarzen Lockenkopf selig lächelnd in die Spitzenbesätze ihres Kissens begrub, drehte er sich vor Vergnügen und Stolz darüber, daß sie, ein kleines Mädchen, an ihrem ganz kleinen Finger einen großen Staatsmann, einen großen Künstler, eine große Sängerin, einen großen Bankier zu führen gewußt, in letzterem obendrein ihren leiblichen Herrn Vater. Der weltlichen Eitelkeit: denn als erste Quelle ihrer Neigung zu Wallenberg gestand sie, wie dies auch Roland richtig herausgefunden hatte, ihr Gelüst, Frau Gräfin, Frau Gesandtin zu werden. Verargen wir es indessen dem armen Kinde nicht zu sehr. Sie, die alles besaß, was für Geld zu haben ist, mußte eines Vorzuges bisher schwer entbehren, der in weiblichen Augen ungemein viel zu gelten pflegt, sich aber nicht kaufen läßt, des Vorzuges vornehmer Geburt. Herr Krafft ging nicht zu Hof; die Ehre, ausnahmsweise auf die Liste der Eingeladenen gesetzt zu werden, hatte er, gleich der Pairie und Nobilitierung, dankend abgelehnt. Auch die ministeriellen Abendgesellschaften sahen ihn selten. Ich bin, pflegte er zu sagen, kein Bauernfeldscher Komödien-Bankier und Theatervater, der im ersten Akt getauft, im dritten geadelt werden muß, um im vierten einen ruinierten Baron zum Eidam zu kriegen. Meine Tochter und ich, wir halten uns zu unsersgleichen, wo wir weder hochmütig geduldet, noch herablassend ausgezeichnet werden, wo unser natürlicher Platz ist. Wer uns da sucht, sei willkommen, höher hinauf streben wir nicht. Armgard rivalisiert nicht mit den gnädigen Komtessen, weder im Vermögen, noch in der Erziehung; sie bleiben unter sich, wir unter uns... So und ähnlich lautete Hans Heinrich Kraffts gesellschaftliches Glaubensbekenntnis, worauf sein Töchterlein, wohl oder übel, mitschwören mußte. Das hinderte jedoch nicht, daß sie manche Zurücksetzung, eingebildete noch mehr als wirkliche, bitter empfand. Und dennoch mochte sie sich nicht entschließen, durch eine Verbindung in der Residenz in deren hohe Kreise sich gleichsam einzuschmuggeln. Halbe Stellungen waren ihr ein Greuel. Ihr Sinn stand in die Ferne, die Weite. Ein fremder Ritter sollte sie erlösen aus dem heimischen Bann und Zwang. Wallenberg schien ihr von der ersten Begegnung ganz und gar zu diesem Ritter vorbestimmt zu sein. Er näherte sich ihr auch zuweilen in nicht zu verkennender Absicht; aber es fehlte das zwingende Motiv zu einem Abschluß des gegenseitigen Verhältnisses. Dieses wurde endlich gegeben in Rolands verstellter Werbung. Seit dem gestrigen Abend wußte Armgard, daß sie des Grafen, trotz seines Sturms auf Seraphinen, sicher sein durfte. Ihre Träume, die sie am lichten Tage ausspann, zeigten ihr schon schimmernde Nebelbilder einer Hofjagd in Compiègne, des königlichen Drawing-Room im St.-James-Palast, einer Schlittenfahrt auf der Newa. Dort, in einer Weltstadt, an einem großen auswärtigen Hoflager, unter einer neuen Gesellschaft war ihre Stelle. Daß sie dieselbe würdig ausfüllen, daß sie dem Grafen nicht allein eine passende Gräfin sein würde, sondern auch ein treues und gutes Weib, eine Lebensgefährtin im Ernst und Scherz, dessen war sie sich bewußt. Sie liebte ihn auf ihre Weise und wollte auf die seinige von ihm geliebt werden. Kein Roman, kein Ideal, eine im besten Sinn moderne Ehe schwebte ihr vor, an deren Glück für beide Teile sie keinen Augenblick zweifelte.
So verging unter rosigen Fernsichten für Armgard der Sonntagmorgen, während Seraphine in tiefer Stille und Abgeschiedenheit sich für den Abend zu sammeln suchte. Ihr Herz war kleinmütig und schwer, die Erinnerung des gestrigen Abends lastete darauf. Sie ließ niemanden vor, legte alle Botschaften, Beileidsbezeigungen wie Glückwünsche, die sie bei ihrem Abschied begrüßen wollten, stumm beiseite, darunter auch ein kostbares, riesiges Bukett, das Graf Wallenberg am Nachmittag mit seiner Karte schickte, blaue und weiße Kamelien, die Farben seines Hauses und der Menteith, kunstvoll in Würfel geteilt nach schottischer Weise... Welcher Dämon nur über sie gekommen war, daß sie die Geschichte ihrer Vergangenheit plötzlich offenbart hatte? Was galt ihr heute ein verklungener Name, der verlassene Stand, die freiwillig aufgegebene Heimat? Seraphine Lomond hieß sie, dem Theater gehörte sie an; sie vermochte, dem Glück des Freundes ihre stille, starke Liebe zu opfern; aber auch ihren Beruf einem Freiwerber aus dem Stegreif, der Aufregung und Verstimmung einiger unruhiger Stunden? – Nimmermehr! Morgen früh, vielleicht noch heute abend, erklärte sie dem Grafen ihre bestimmte Absicht, die Bühne nicht zu verlassen. Fort von hier wollte sie, mußte sie auf jeden Fall. Roland als Armgards Gatten sehen – unmöglich! Aber ebenso unmöglich erschien es ihr, ihre Hand dem Grafen zu reichen und aufzuhören, wie sie angefangen, als Lady. Sie nahm den Vertrag mit dem Impresario der »internationalen Oper« aus dem Nachttisch. Das war ihr Weg: weit, weit in die Welt hinaus, ohne Rast von einer Stagione zur andern, über Land und Meer, in fremde Gegenden, ja Erdteile. Da winkt nicht Frieden und Glück, aber Betäubung, Vergessen, Vergehen, Verschwinden.
Um fünf Uhr meldete Beppo den Theaterwagen, noch feierlicher als gewöhnlich, mit der schaurigen Verbeugung eines – Scharfrichters, der sein Opfer zum letzten Gange abruft. Wahrhaftig, so war ihr zu Sinn; der große, weiße Korb, in welchen Marie den Amazonenstaat gepackt hatte, gemahnte ihre mit finstern Bildern angefüllte Phantasie wie ihr eigener Sarg. Der Kutscher, der begleitende Wagendiener empfingen sie unten in Schwarz, wie Leichenbitter. Eine Menge neugieriger Zuschauer hatten sich an der roten Rose aufgestellt, um sie einsteigen zu sehen. Aus dem ersten Stock schaute der pensionierte Hausgenosse im Samtkäppchen mit langer Pfeife und nickte triumphierend, daß er den Poltergeist los wurde. »Zum letzten Male,« so winkten ihr alle diese Zeugen zu, »zum letzten Male!«
Der Theaterplatz wimmelte von Menschen, die sich um die Kasse drängten, wie gestern um die Vater Kraffts. Der Wagen vermochte nur im Schritt zu fahren; man umringte ihn, sah in den Schlag, fragte, und als der Diener auf dem Bock schmunzelnd nickte, brachen donnernde Rufe aus der Menge los: »Lomond hoch! Die Amazone lebe! Hierbleiben! Nicht fortgehen!« Seraphine, die, tief verschleiert, sich in eine Ecke drückte, wollte sich nicht zeigen und wurde von Marianka über diesen Mangel an Rücksicht bitter ausgezankt. Die schlaue Tschechin wußte in solchen Stunden, wo ihre Herrin weich oder trübe gestimmt war, ihr Regiment über dieselbe staatsklug zu befestigen. »Pana san fuchtig,« sagte sie schmollend, »an Tag wie heutiges. Aber Leute arme können nix vor Laune von gnädige Fräulein. Wann Leut' net schreien möchten, wär' Pana auch net recht.« Und sie nickte begütigend nach beiden Seiten, der linken und rechten, wie der verantwortliche Minister eines unverantwortlich übel aufgeräumten Monarchen, zeigte dem Volke ihre weißen Zähne und empfing herablassend die Huldigungen für die unsichtbar bleibende Heldin des Abends.
Endlich hielt die alte Karosse, ein ausgedientes Inventarstück des königlichen Marstalls samt den lebenssatten Schimmeln, die ihn zogen, an der kleinen, mit einem bescheidenen Schutzdach versehenen Seitenpforte, welche den Weg zur Bühne verschloß, eine Treppe, steil und dunkel, wie der Anfang des Tugendpfades im alten Kirchenlied, von einer ewigen Lampe auch am Tage matt erhellt. Der Theaterwachtmeister in großer Uniform öffnete die schmale, eiserne Tür. Seraphine trat in das Zwielicht des Bühnenraumes und atmete hoch auf in der heimatlichen Luft, die sie umfing, jene unbeschreibliche, eigentümliche Theateratmosphäre, gemischt aus Gas, Öl, Spiritus, Kolophonium, Staub, Holz, Leinwand, Leder, Samt, Seide, Wolle, allen möglichen unter- und überirdischen Gerüchen. Auf den Brettern, die sie überschreiten mußte, um in ihre Garderobe zu gelangen, hatte sich das Chor- und Ballettpersonal, fertig kostümiert als Amazonen, hellenische Krieger und Priester zu ihrem festlichen Empfang versammelt und bildete ein Spalier, durch das sie hindurchschritt, Marie mit dem weißen Korb stolz hinterdrein. Auch die Zimmerleute in Sonntagsjacken, jeder ein Sträußchen im Knopfloch, die Garderobeoffizianten, männliche wie weibliche, die Hausstatisten brachten der Primadonna ihren Gruß. In der Kulisse erwarteten sie der Regisseur, Bassist Braun, im Gewand des Oberpriesters, und Theseus, der erste Bariton. Der Regisseur küßte ihr die Hand, Braun väterlich die Stirn, Theseus kollegialisch die Wange. Von beiden letzteren geführt, unter Vortritt des Regisseurs, stieg sie die paar Stufen zu ihrer Garderobe empor. Die Tür öffnete sich, blendender Lichterglanz strahlte ihr entgegen. Sämtliche Kunstgenossen, Oper, Schauspiel, Ballett, waren in dem mit Blumen, Teppichen und Draperien geschmückten Gemach aufgestellt. Ein rot gedeckter Tisch in der Mitte trug zwischen Armleuchtern und Lorbeerkränzen mit langen Schleifen einen silbernen Amazonenschild, ein Meisterstück aus der Werkstatt der Gebrüder Kilian, das Abschiedsgeschenk des Theaters an Seraphinen. Sprachlos stand sie da, hörte die feierliche Rede des ältesten Mitglieds, Helden- und Väterdarstellers Reißmüller, und empfing aus den Händen der tragischen Mutter, Madame Wandel-Schneider, den Schild, der in der Mitte ihr Medaillonporträt, um den Rand eine Darstellung der Amazonenschlacht in getriebener Arbeit und auf der Rückseite die Inschrift trug: »Der Königin der Amazonen von ihrem treuen Volk am Abend des Abschieds.« Schwere Tränen stürzten aus den Nixenaugen; die Sängerin vermochte nur unzusammenhängende Worte zu stammeln und fiel aus einem Arm in den andern, bis der Regisseur, die Uhr ziehend, an das Ende der ergreifenden, für seine Vorstellung gefährlichen Szene mahnte. Seraphine blieb allein und streckte sich, noch ein paar Minuten vor dem Kampf zu ruhen, auf die Chaiselongue, während Marie den Korb auspackte. die fleischfarbenen Seidentrikots, Sandalen, den silbernen Helm und Harnisch, Arm- und Beinschienen, die weiße Tunika, in blau à la Grecque gestickt, das Tigerfell, das um die Schultern fliegt, auf der Brust von zwei silbernen Krallen gehalten, das Schwert mit dem Wehrgehäng, und die Requisiten des Toilettetisches, Schminke, Farben, Pinsel, Schwamm, Haarpuder, Quaste, Hasenfuß, Bürsten, Kämme, Handspiegel... nichts war vergessen. Die Amazone kleidete sich an. Als sie fertig vor dem hohen Trumeau stand, aus dem ihr im tageshellen Lichte zweier Gasflammen ein vollendet schönes Bild entgegenkam, schön von dem frei und voll herabwallenden Goldhaar bis zu den Silberfransen der blauen Sandalen, da ging ein Lächeln, das erste des Tages, in dem wunderbar beseelten Antlitz auf. Sie drückt den Helm aufs Haupt, ergreift mit fester Hand den goldenen Herrscherstab und schreitet, wirklich mit dem Gang einer Königin, hinab zur Bühne, zu ihrem harrenden Volke. Aber plötzlich bleibt sie auf der schmalen Stiege erschrocken stehen. Ihr fehlt etwas. »Marie,« ruft sie aus, unter der Schminke erbleichend, »Marie, mein Pferdehaar.« – »Jesus, Maria, Joseph, hab' ich vergessen auf Pferdehaar.« – »Unglückliche, gerade heute.« – Marie ist schon auf und davon. Bald weiß die ganze Welt hinter den Kulissen, daß der Primadonna ihr Pferdehaar vergessen worden ist. Sie singt niemals, ohne um den kleinen Finger der linken Hand ein Roßhaar gewickelt zu haben; ein untrügliches Mittel gegen die Jettatura, auf welches das ganze Theatervölklein von der Skala bis San Carlo schwört. Lächle der geneigte Leser nicht über solchen Aberglauben bei einem sonst nicht übertrieben gläubigen oder primitiven Stande. Die Bühnenkünstler geben in diesem Punkte den Hirten, dem Weidmann, dem Matrosen nichts nach. Wir kennen handfeste Gesellen unter ihnen, welche nicht auf die Bretter treten, ohne vorher dreimal ausgespuckt zu haben, wohl zu merken: hinter sich, über die linke Achsel. Am Freitag eine neue Rolle oder Gesangspartie zu liefern, wagt kein Freigeist des Theaters. Für die Amazone hängt der Erfolg eines Abends an einem Haar, dem bewußten Pferdehaar. Ein Königreich, nicht für ein Pferd, nur für ein Pferdehaar! – Eben kommt Marie atemlos zurück. Der dienstfertige Inspizient, Herr Lindemann, hat Rat gewußt. Er eilt hinunter in den Hofraum, wo die lebenssatten Schimmel unter einem Schuppen neben Feuerspritzen und Leitern warten, bis auf den Brettern die Opfer der Tragödie gefallen sind und nach Hause gefahren werden. Ein kühner Griff und Riß liefert eine Handvoll des bewährten Zaubermittels. »Ist's auch gewiß ein echtes?« fragte Seraphine, den Finger umwickelnd. – »Frisch vom Fasse,« versichert der scherzhafte Herr Lindemann, und Marianka bestätigt es, seinen Namen als gute Tschechin naturalisierend: »Hab' ich gesehen mit Augen meinige, wie Pan Lipoman ausraufen hat aus Schweiferl von weiße Schimmel an Theaterkutschen.«
Das zweite Glockenzeichen war inzwischen gegeben worden; noch eine Viertelstunde und die Vorstellung begann. Im Orchester, dessen Mitglieder in schwarzem Frack und weißer Halsbinde erschienen, wurde eingestimmt. Maestro Bullermann, der selbst dirigierte, eilte von einem Pult zum andern, um noch einige Korrekturen letzter Hand anzubringen. Parterre und Galerie waren gedrängt voll; die Logen und Sperrsitze füllten sich allmählich. Den Besuch des Hofes, beider Majestäten, der Prinzen und Prinzessinnen hatte der Intendant, als er Seraphinen begrüßte, angekündigt; die Uniformen der Adjutanten und Kammerherren zeigten sich bereits im Hintergrunde der großen Mittelloge.
Seraphine lugte hinaus in das wie ein Bienenschwarm summende Haus durch jenes kleine Loch im Vorhang, wodurch man von der Bühne aus das Schauspiel im Zuschauerraum betrachtet, zuweilen ein nicht weniger interessantes, als das auf den Brettern gegebene. Sie suchte in der dritten Reihe der Parkettsitze den Eckplatz links. Der Platz war leer. Oft, wie oft hatte sie Roland an dieser Stelle gesehen; er kam immer frühzeitig, wenn sie »zu tun hatte«, wie der malerische Kunstausdruck der Bühnensprache lautet. Zuweilen begegneten sich ihre Blicke, der ihrige durch das runde, winzige Fensterlein – die Mundöffnung in der tragischen Maske – der seine von unten, unbewußt, wie magnetisch ineinander treffend. Heute nicht; Roland blieb aus. Auch Wallenbergs Gesandtschaftsloge im ersten Rang war noch unbesetzt. Dagegen tauchte eben in einer Loge des zweiten Rangs Armgards zierliche Gestalt auf. Hastig zog sich die Amazone von ihrem Beobachtungsposten zurück in ihr Zelt, dessen Vorhänge hinter ihr zufielen. Wenn er, statt in seinem Parkettsitz, plötzlich droben, in der Loge, hinter ihr sichtbar würde! Sie stünde nicht dafür, daß sie bei diesem Anblick nicht zusammenbräche, gleichviel, welches Ende ihr Schwanenlied nähme!
Beim Eintritt des Königs und der Königin erhob sich Bullermanns Stab, die Introduktion brach los; Totenschweigen lag über dem, jetzt in allen Rängen und Räumen, Kopf an Kopf, übervollen Hause. Der Vorhang rauscht auf: der Chor der Amazonen hält Kriegsrat über den gefangenen Theseus. »Zum Gericht!« schmettern die hellen Weiberstimmen, wiederholen rufend, drohend die Trompeten. Da schlagen sich die Gardinen des königlichen Zeltes langsam auseinander; Antiope steht da im siegreichen Glanz ihrer Schönheit, den goldenen Zepter gebieterisch erhebend. Ein minutenlanger Jubelsturm durchrast bei ihrem Anblick das Theater; die Masse der Zuschauer erhebt sich wie ein Mann, weiße Tücher wehen herab aus den Logen, Kränze und Blumen regnen von allen Seiten auf die Bretter, der donnernde Zuruf von tausend Kehlen übertäubt, unterbricht die Musik, bis, auf Bullermanns Wink, das Orchester in einen dreimaligen Tusch einfällt. Vom Zischlaut einer Opposition keine Spur; die Erscheinung der Amazone hat ihre Gegner alle überwunden. Erschüttert beugt Seraphine das Haupt unter diesem Orkan, während die Choristinnen die Blumenspende auflesen und ihr entgegenhalten. Sie nimmt mit tiefer Verbeugung einen Strauß und legt ihn am Altar des Mars nieder, dessen Stufen bald mit friedlichen Opfern bedeckt sind. Allmählich sinken die Wogen des Beifalls; mit zitternder, aber mit reiner und klangvoller Stimme setzt die Sängerin ein: »Wer richtet ohne mich, die Königin?« und führt, von Takt zu Takt an Sicherheit, Fülle und Kraft des Tones gewinnend, ihre große Szene mit dem Chor der Amazonen durch, an deren Schluß der Held der Hellenen herbeigeführt wird. Das darauffolgende lange Duett mit ihm hat Seraphine niemals mit solcher Vollendung gesungen und gespielt, wie heute, von dem Anfang an:
Theseus bist du, des Aegeus Sohn? – Du sagst es! |
bis zu dem berühmten Parlando, wo die Wendung eintritt:
Lebe, Theseus... lebe für mich!
und der verschlungenen Schlußstrophe.
– Mein Herz, das nie empfunden, bekennt sich überwunden; o Sieger, nimm es hin. Erwacht zu neuem Leben, will ich mich dir ergeben, ein Weib, nicht mehr die Königin! – Du hast in wenig Stunden |
Auf gleicher Höhe hielt sich die Künstlerin in dem lärmenden Finale, dem Aufstand ihrer Amazonen gegen sie, durch Theseus Freilassung und Flucht erregt. Sie war wirklich »superba« wie Signor Beppo zu sagen pflegt, als sie den goldenen Stab zu Boden warf und dem tobenden Schwarm die Worte zuschleuderte.
– Fort mit der verhaßten Bürde, mit dem unfruchtbaren Stab; müde der geborgten Würde, leg' ich sie freiwillig ab. Mars, du Schutzgott dieser Scharen, dem ich mich gelobt, verzeih'! Lebet wohl, ihr Undankbaren; seht: Antiope ist frei! |
Wie oft sie nach diesem glänzenden Abgang und Aktschluß, wie oft vorher bei offener Szene gerufen worden, haben Hirsch Meyer und Meyer Hirsch in ihren Berichten über die denkwürdige Vorstellung gewissenhaft aufgezeichnet. Uns interessiert es mehr, zu erfahren, was hinter dem Vorhang und den Kulissen sich begeben. Da sehen wir denn, wie die Königin nach ihrer Abdankung in ihre Garderobe schwankt, die Tür für jeden Besuch verschließen läßt und unter Mariens Händen wehklagend zusammenbricht. Sie muß sich umziehen, aus dem ehernen Amazonenschmuck in das unscheinbare Gewand eines griechischen Sklaven, in welcher Verkleidung sie im zweiten Aufzug Theseus' königliche Burg aufsucht. So hat sie einen willkommenen Vorwand, allein zu bleiben.
»Marie,« seufzte sie, »er war nicht da!« – »Doch, Pana, war er da. Hat gesessen vorn in Löwengruben, mit Speckpertiv langmächtigen immer geschaut.« –»Wer spricht von ihm, von Wallenberg?« – Ihn hatte sie allerdings entdeckt unten in der Proszeniumsloge rechts, welche die Löwengrube genannt wird, weil die Lions der vornehmen Welt darin sich versammeln. Was galt ihr Hekuba, der Graf? Roland suchte sie während des ganzen Aktes. Er hatte sich nirgends sehen lassen; auch nicht auf der Bühne, versicherte Marie. Also ist es entschieden: er bricht mit Seraphinen. Nicht einmal ihren Schwanengesang hört er mehr... Mit tiefem Herzeleid kroch die Gequälte in die dunkle, ärmliche Tracht, die zu ihrer Stimmung paßte. Am liebsten wäre sie in einer Versenkung verloren gegangen für den ganzen Abend, für die ganze, ihr unsäglich gleichgültige Welt. Aber nein, sie muß hinaus, muß singen, spielen. Herr Lindemann pocht an die Tür, der zweite Aufzug hat bereits begonnen. Gleich kommt das große Terzett zwischen Antiope, Theseus, Phädra; darauf der Amazone leidenschaftlicher Monolog, anhebend mit einem ausdrucksvollen Violoncell-Solo. O Himmel, wenn sie gewußt hätten, die klatschenden, Bravo rufenden, verzückten Menschen da drunten, daß es wahre, wirkliche, blutige Tränen waren, die sie weinte mit dem weinenden Instrument! Wenn sie in das gebrochene Herz hineinsehen konnten, aus dem, wie ein Ausbruch der eigensten Empfindung, die zürnende Klage emporstieg:
– Daß er mich verlassen, ich kann sie nicht fassen, die schreckliche Tat! O Schmach ohnegleichen, der Feindin zu weichen; o schnöder Verrat. |
»Das ist keine Kunst mehr,« jubelten begeistert, außer sich, alle Kenner, »das ist Natur, höchste, reinste Natur.« Sie ahnten nicht, die glücklichen Menschen, wie recht sie hatten, aber auch wie unrecht. Doch verstummte jeder laute Beifall, und ein kalter Schauer, beredter und schmeichelhafter als der lärmendste Applaus, ging durch das Haus bei dem Schluß des Monologs.
Hört, ihr Unsterblichen, –, hört mich geloben! Helft, ihr Verderblichen drunten und droben! Rache geschworen sei ihm und ihr; er ist verloren, stirbt von mir. Stählt meine Sehnen, weiht diesen Leib: Tod dem Hellenen, Tod seinem Weib. |
Seraphine sang diesen Fluch – sie knirschte und keuchte ihn mehr, als sie sang – abgebrochen, in einzelnen Sätzen, bei jedem einen Schritt weiter in das Proszenium vortretend, die rechte Hand immer höher hinaufstreckend. Ihr Busen flog. Das Auge, nicht mehr nixenhaft glänzend, sondern stechend wie das einer Furie, streifte mit einem grünen Schlangenblick eine Loge im zweiten Rang; wir wissen, welche. Graf Wallenberg, welcher darin saß – er hatte im Zwischenakt einen Besuch gemacht und war hängen geblieben – fuhr, wie vom Blitz getroffen, zurück. Es fehlte nicht viel, so hätte er Armgards Opernglas von der Brüstung hinuntergeworfen. Die kleine Bankprinzessin lächelte in das Bukett, das sie in der Hand hielt. Den Schrecken des Diplomaten verstand niemand besser als sie, die geheime Ober- und Gegendiplomatin, wie sie allein auch wußte, warum die Lomond heute so ganz und gar wunderbar sang und spielte, wen das Verderben sprühende Auge der Amazone gesucht und nicht gefunden hatte an Armgards grüner Seite. Denn grün war sie heute, lichtgrün, die Frühlingsfee, wie sie veilchenblau am Freitag gewesen. Sie hatte eine unglaubliche Toilette gemacht, zu Ehren der scheidenden Freundin, versteht sich; eine Toilette, wie sie Millionärinnen nicht machen können, wenn sie nicht vor den Nullen des väterlichen Schatzes oder Erbes eine eigene, angeborene Ziffer besitzen, Geschmack und Verstand. Eine Robe trug sie von meergrünem Moiree-Antique mit ellenlangem Schlepp, aufgeputzt mit weißen Valenciennes; in dem Lockenkopf aber, an der Brust und in der Hand natürliche Maiblumen, die frisch dufteten und ihre Glöcklein lustig schüttelten, so oft sich der lebendige Frühling bewegte. Graf Wallenberg konnte sich nicht satt sehen an dem reizenden Wesen, wie überhaupt das Kleeblatt in der kleinen Loge ausnehmend guter Dinge war und im herzlichsten Einverständnis von Minute zu Minute erstaunliche Fortschritte machte. Papa Krafft hatte nach der Kirche telegraphische Nachrichten über seine Amerikaner erhalten, die ihn in die rosigste Laune brachten. Auf den Diplomaten fiel ein Schimmer dieser Laune; war er es doch gewesen, der die erste Anregung zu dem vorteilhaften Geschäft gegeben. Wallenberg selbst ergötzte sich an einem Turnier mit Armgard, worin beide wetteifernd ihre Gewandtheit im Angreifen, Ausweichen und Verteidigen zeigten und die spitzen, blanken Waffen aneinander versuchten. Gegen den Schluß des zweiten Akts machte Armgard dem ritterlichen Spiel ein Ende, indem sie sagte: »Es wäre grausam, Herr Graf, Sie jetzt noch länger hier zu halten.« – »Grausamer ist es, mich zu vertreiben.« – »Auf der Bühne wird man Sie längst erwarten. Gehen Sie und überbringen Sie unserer Freundin, die sich heute selbst übertrifft, Papas Bewunderung und von mir diesen Strauß Maiblumen.« – »Ohne eine für mich zu unterschlagen?« – »Eine Maiblume im Knopfloch eines Diplomaten? Warum nicht gar! Der Strauß ist nicht einmal kostbar genug, ihn Seraphinen auf die Bretter zu werfen. Nur der Träger verleiht der Gabe ihren Wert. Auf Wiedersehen, mein Herr Geschäftsträger.« – »In Armidas Zaubergarten.«
Die außerordentliche Gesandtschaft war dem Grafen nicht unwillkommen. Seraphine hatte ihn für den zweiten Zwischenakt zu einem Besuch eingeladen, der nun, durch Armgards Botschaft, unverfänglich nach beiden Seiten wurde. So begab er sich denn hinunter und hinauf, nicht ohne dem Zerberus, der an der dunklen Treppe, dem Eingang zur Bühne, Wache hielt, seinen Kuchen in Gestalt eines harten Talers hingeworfen zu haben. Die eigentümliche Welt jenseits des Vorhanges berührte ihn fremdartig, wild, unangenehm. Seit er, ein glücklicher Neuling, im Flügelkleide des Attaché, die Kulissen der großen Oper in Paris dann und wann durchstreift hatte, seit geraumer Zeit also war er nie mehr in ähnliche Regionen geraten. Niemand achtete auf ihn; seine Fragen erhielten halbe oder keine Antworten. Ein Theaterarbeiter rannte den vornehmen Herrn mit einer Zeltstange unsanft beiseite, und ein aufmarschierender Zug hellenischer Krieger, die vom Statistenführer zum Kampf einexerziert wurden, nahm ihn lachend in seine blutdürstige Mitte. Nur die Amazonen des Balletts, die, an der Kulisse mit einer Hand sich haltend, »übten«, das heißt, zum Waffentanz des dritten Aktes die langen Beine ausrenkten, indem sie den Vorübergehenden Nasenstüber mit der großen Zehe gaben, nur diese mitleidigen Seelen erbarmten sich des verschlagenen Wanderers. Eine derselben, ein Berliner Kind, hing sich dienstfertig an seinen Arm und forschte im schönen Dialekt vom reinsten Spreewasser nach seinem Begehr: »Wohin, Herr Jraf, mit Ihre schöne Maibommeln?« – »Sie kennen mich, holde Amazone?« – »Na, ob; wir kennen Ihnen alle, Sie oller Daniel aus – der Löwenjrube.« – »Daniel?« fragte der überraschte Prophet. – »Als den Zahmsten von die jungen Löwens in der jroßen Loge nennen wir Ihnen man immer Daniel.« – »Sehr verbunden, mein Kind. Noch dankbarer aber würde ich Ihnen sein, wenn Sie mich zu Fräulein Lomonds Garderobe geleiten wollten.« – »Zur Primadonna? Is nich, Herr Jraf.« – »Warum nicht?« –»Unser König is bei sie auf Besuch,« sagte die Amazone mit Selbstgefühl. Wallenberg machte einen Saltomortale ins tiefste Dunkel der Kulissen. Der König auf der Bühne! Es fehlte nur noch, daß die Majestät ein Stück vom diplomatischen Korps unter seinem Corps de Ballet fand, so war der Herr Minister vor den Scherzen des humoristischen alten Herrn des Lebens nicht mehr sicher. Geschwind ein diplomatischer Rückzug, der dem Grafen auch an und für sich höchst gelegen kam. »Wissen Sie was, liebe Amazone?« sagte er zu seiner Führerin durch das Labyrinth des Bühnenlebens, »ich übergebe Ihnen diesen Strauß und meine Karte, und Sie bestellen beides an Fräulein Lomond, wenn die Majestät fort ist.« – »Ehrlich, wie ein Dienstmann, ohne Blech,« beteuerte die Gefällige. Wallenberg schrieb mit der Bleifeder eine hastige Entschuldigung und Armgards Gruß auf seine Karte und entfernte sich schleunigst, nachdem er den wohlverdienten Botenlohn in die mit einem zärtlichen Drucke dankende Hand der Tänzerin hatte gleiten lassen. Er war froh, als er wieder festes Land, den Teppich seiner Gesandtschaftsloge, unter den Füßen fühlte, in welche Fürst Paul vor wenigen Augenblicken erst eingetreten war. Auf die Frage, wo er solange gesteckt, antwortete der junge Rundkopf: »Ich habe in der Eile eine Übersicht der Ereignisse im amerikanischen Kriege zusammengestellt, die wir demnächst brauchen werden.« – »Unverbesserlich gut,« seufzte sein Chef und zog sein Perspektiv, ein Riesenteleskop, auseinander, um im zweiten Rang einen Stern erster Größe zu beobachten.
Mittlerweile war in Seraphinens Garderobe die Sonne der Allerhöchsten Gnade aufgegangen. Der König, der nicht häufig, nur in Ausnahmefällen, auf die Bühne kam, hatte die Sängerin mit seinem Besuch überrascht. Er sprach sie mit der herzgewinnenden Leutseligkeit an, die ihm eigentümlich ist. »Als alter Soldat,« sagte er, »dekoriere ich gern auf dem Schlachtfelde. Empfangen Sie deswegen das Porträt der Königin, das sie Ihnen schickt. Ich bitte Sie, es am Band meines Ordens zu tragen, zum Andenken an mich, an meine Frau und an den heutigen Abend.« – Seraphine empfing das kostbare Geschenk aus des Königs Händen und dankte mit tiefer Verneigung. »Majestät, eine so seltene Ehre...« – »Verdient eine seltene Künstlerin wie Sie, Fräulein Lomond. Ihr Abschied zeigt, was wir an Ihnen verlieren.« – »Ich scheide sehr schwer, Majestät.« – »Warum bleiben Sie nicht? Freilich, Sie wollen dem Theater entsagen, wollen heiraten.« – »Bis jetzt nur in den Zeitungen, Sire.« – »Wieder einmal eine Indiskretion der Presse? Ich weiß ein Lied davon zu singen... Desto besser, wenn Sie sich der Kunst erhalten. Unter uns, schöne Amazonenkönigin, Ihr Reich ist auch viel unterhaltender als unsere Salons; fast hätte ich gesagt, als das meinige. Sie haben keine Stände, und Ihr Ministerkonseil besteht aus hübschen Frauen. Aber verraten Sie das meinen Exzellenzen und unseren allezeit getreuen Ständen nicht.« – »Nicht einmal meinen Kolleginnen, um sie nicht stolz zu machen, Majestät.« – Der König fügte einige anerkennende Worte hinzu über den Schwanengesang Seraphinens und verabschiedete sich dann von ihr mit einem galanten Handkuß, um auf der Bühne noch hier und da einen freundlichen Blick oder Gruß fallen zu lassen und hierauf den Rückweg anzutreten. Dabei mußte er die Front des Amazonenbataillons abschreiten, das sich, trotz allem dornigen Winken und Pochen des Ballettmeisters, ihm mutvoll in den Weg gestellt hatte. Er musterte die schmucken Waffenröcke, denen auch die strengste Kammer keine Verschwendung an Stoff vorwerfen konnte, und grüßte mit einem wohlgelaunten: »Guten Abend, Kinder!« worauf, vollkommen reglementsmäßig, erwidert wurde: »Guten Abend, Majestät.« Dann flatterte die leichte Kolonne in alle Kulissen, weil Herrn Lindemanns Glockenzeichen und der Stab des Ballettmeisters sich hören ließen.
Der dritte und letzte Akt begann, der gelungenste der Oper. Nach dem Waffentanz der Amazonen, dem Mordlärm der Schlacht und der Zweikampfszene zwischen Theseus und Antiope folgte ein Nachtstück, poetisch und wirksam zugleich, der stimmungsvolle Abschluß des Ganzen. Hatte der Theatermond, mit seinem bleichen Schein durch blaue Gläser, beruhigend auf Seraphinen gewirkt, oder war in ihr die Künstlerin siegreich und versöhnend aus den Kämpfen des Weibes emporgestiegen? Gleich einem kühlenden Balsam floß die sanfte Musik über die brennende Wunde ihres Herzens, das sein heißes Blut auszuströmen schien bis zum letzten Tropfen in dem Lied der Amazone an den Mond, einer klassisch-romantischen Variante auf das ehrwürdige: »Guter Mond, du gehst so stille.« Seraphine sang:
– O bleicher Stern der Amazonen, vor dem mein Knie sich dienend beugt, du leuchtest durch die Blätterkronen trüb wie mein Aug' und tränenfeucht. Oft wiesest du mit vollem Glanze So leih' mir auch zum heut'gen Wege, Mir bangt nicht vor dem Grau'n des Pfades, |
Bei dem Ausrufen »Ich komme!« hob sie den im Mondlicht funkelnden Dolch und brach langsam unter dem Stoß zusammen, den Abschied an den Treulosen wie einen gebrochenen Seufzer, kaum hörbar, in das Gelispel der Flöten und Oboen hauchend. Wenig Augen im Hause blieben trocken bei diesem elegischen Ende. Die heißesten Tränen vergoß der kleine Polytechniker, der Hausgenosse der Sängerin. Armer Junge! Er hatte seine silberne Taschenuhr auf das Versatzamt getragen, um den erhöhten Eintrittspreis auf die Galerie zusammenzubringen, wo er, eingeklemmt zwischen die kompakten Massen sonntäglicher Theatergäste, den Schwanengesang der Künstlerin und zugleich das Totenlied seiner kindlichen, kindischen, seiner ersten Liebe hörte. Nachdem es verhallt war, kamen die Amazonen, suchend nach ihrer Königin. Fackeln irrten durch den Bergwald, von Fels zu Fels auf gewundenen Wegen niedersteigend, bis die schöne Leiche gefunden wurde unter dem Schatten einer mächtigen Pinie, ausgestreckt auf bemoosten Steinen, den Kopf rücklings übergelehnt, so daß das entfesselte Goldhaar lang und schwer herunterfiel, die rechte Hand, welcher die tödliche Waffe entglitten war, schlaff niederhängend. Sie deckten sie zu mit dem Königsmantel und sangen, den geweihten Mondreigen um sie schlingend, die leise Totenklage:
– Sie, die noch gestern unter den Schwestern gleich wie die Zeder im Bergwald stand, wehe, sie fiel aus der schimmernden Höhe, wehe, wehe, fiel durch die eigene, tapfere Hand! |
Seraphine lag unter dem Mantel, aufgelöst in sanftes Weinen. Ihr war zumute wie einem selig abgeschiedenen Geist, der die Klagelieder der Zurückgebliebenen aus der Ferne vernimmt und durch jede Tonwelle weiter von ihnen und von dem Strande der Lebendigen hinweggerissen wird in das offene, stille Meer des Todes. An ihrem Auge ging, während sie so regungslos dalag, ihr ganzes Leben vorüber: Erinnerungen aus dem Nebel ihrer Kindheit, ihre Flucht, die Anfänge ihrer Künstlerlaufbahn, ihre strahlende Begegnung mit Roland, ihre Ankunft in der Residenz, ihre Triumphe, der heutige Abend – alles in verschwommenen Bildern, schattenhaft. Sie träumte und hätte niemals erwachen mögen. Doch weckte sie unsanft der fallende Vorhang, das wiederkehrende Gewitter des Beifalls, Hervorrufs, Abschiedsjubels, das schonungslos über sie hereinbrach. Sie mußte sich aufraffen, hinausschwanken, einmal, noch einmal, zum dritten, viertenmal – niemand zählte mehr, wie oft – und immer flogen ihr neue Blumenregen, Gedichte, Kränze entgegen. Sie stammelte verwirrt und zusammenhangslos einige Worte des Dankes und des Abschieds und durfte endlich, endlich in ihrer Garderobe verschwinden.
Dort erst fand sie Ruhe, als Haus und Bühne langsam sich geleert hatten. Ihre Genossen fühlten Mitleid mit ihrer Erschöpfung und ließen sie allein. Marie mußte die Lichter löschen bis auf eins. Die Amazone wollte da capo sterben: noch einmal, diesmal für sich und ungestört, den Traum ihres Erdenlebens durchträumen und abschließen mit einer ganzen, reichen Vergangenheit. Sie streckte sich aus auf dem Ruhebett, wie draußen auf dem Felsstück, zugedeckt mit dem Mantel, denn ihr war heiß, und nicht ausgekleidet, weil sie, an allen Gliedern zerschlagen, zu matt sich fühlte, um aus dem Theaterstaat in den blauen Schlafrock zu schlüpfen. Sie wollte nur träumen, träumen...
Noch hatte sie nicht lange gelegen, als draußen ein rascher Schritt über die schmale Treppe stürmte, eine feste Hand an die Tür ihrer Garderobe klopfte. So geht, so pocht nur ein Mann der Welt. Hoch horcht sie auf. Weg mit dem Mantel; alle Ermüdung ist vergessen. Noch vor Marien, die öffnen will, steht sie auf der Schwelle, fällt mit einem Freudenschrei in Rolands Arme: »Roland, seh ich dich wieder?« – »Seraphine, du Engel, du Göttliche!« – »Wo warst du den ganzen, langen, tödlichen Tag?« – »In der Wolfsschlucht, wohin das Scheusal gehört,« lachte der von innerem Glück strahlende Künstler, »am Morgen in der des Gebirges, am Abend in der finsteren Parterreloge, die ihr so nennt.« – »Nicht an deinem Platz!« – »Hier ist mein Platz, von dem alle Diplomaten und alle Bankiers der Erde mich nicht vertreiben sollen,« so sagte Roland, indem er Seraphinen zu dem Ruhebett führte und zu ihren Füßen niedersank. – »So kehrst du zurück zu deiner Schwester?« – »Zur Schwester? Nein! Zur einzig und ewig Geliebten, meiner Braut, meinem Weib! Willst du mein sein, du große, du herrliche Amazone?« –»Dein auf ewig, mein Theseus, mein Herr und Meister,« erwiderte sie mit einem Strom von Freudentränen, beugte sich herab zu dem Knienden und begrub ihn in den weißen Nixenarmen, unter den Wogen des goldenen Haares.
Wir machen es wie Marianka, die verschwiegene Tschechin. Auf den Zehen schleichen wir hinaus, ziehen die Tür hinter uns zu und setzen uns auf der Schwelle nieder, Wache zu halten, daß nichts die Glücklichen störe, die sich wiedergefunden haben, eigentlich gefunden, zum ersten Male gefunden in dem offen hervorbrechenden, lange verhaltenen Hochgefühl einer reinen und mächtigen Leidenschaft. Sie lösen einander das Rätsel ihrer Herzen, auch das neckische Spiel der zwei letzten Tage. Mit jedem Wort zerreißt ein Vorhang vor ihren Blicken, eine neue, zauberhaft beleuchtete Szene den trunkenen Blicken enthüllend, hier ein Paradies der Erinnerung, dort einen Himmel der süßesten, sichersten Hoffnung. Mit sich allein, abgeschieden, als wären sie gar nicht auf der Welt, träumten sie, aber anders, als es die Amazone gewollt, zu zweien, Hand in Hand geschlungen, Aug in Auge versunken. Der Schwanengesang der Künstlerin endet in ein hohes Lied der Liebe.
Die Ankunft Wallenbergs, den Marie meldete, unterbrach die kurzen, aber ein ganzes, doppeltes Menschenleben einschließenden Minuten. Ihn hatten Kraffts geschickt, wiederum mit einer außerordentlichen Botschaft. Der kleine Kreis von Auserwählten, der sich heute zum letzten Male in der Saison bei Armgard versammelte, harrte auf die Heldin des Abends, auf den Hausfreund. »Ich soll Sie beide bringen,« lächelte der Diplomat, »lebendig oder tot, so lautet mein Auftrag.« – »Sagen Sie, wir seien selig gestorben,« erwiderte Roland. – »Und auferstanden,« setzte Seraphine hinzu. »Aber nicht, um einen Tag, wie den heutigen, durch eine Soiree zu beschließen. Nicht für eine Million des Papa Krafft.« – »Auch nicht für eine Millionärin,« scherzte Roland. – Wallenberg sah, was mit dem verzauberten Paare vorgegangen war. Er glaubte als Diplomat Herr der Situation zu sein und sagte, listig schmunzelnd: »Ich sehe, daß ich allein zurückkehren muß.« – »Nicht doch,« fiel Seraphine ein. »Wir behalten Sie mit Gewalt für uns.« – »Einen außerordentlichen Gesandten? Das ist Bruch des Völkerrechts.« – »Sie soupieren mit uns beiden.« – »Ein Souper zu drei? Dabei ist immer einer zu viel.« – »Wenn ich aber meinen Ritter nicht herausgeben will? Nehmen Sie sich in acht, Graf Wallenberg. Sie erinnern sich Ihrer gestrigen altrömischen Mission. Ich bat mir Bedenkzeit aus. Vielleicht gebe ich Ihnen zum Dessert die versprochene Entscheidung.« – »Sie ist bereits gegeben«, – lächelte Wallenberg. Ernster werdend fuhr er fort, indem er Rolands und Seraphinens Hände ergriff und zusammenlegen wollte: »Ihr seid einander wert; werdet so glücklich, wie Ihr es verdient, wie ich es wünsche!« – »Welch väterlicher Ton,« rief Roland aus. – Seraphine zog schalkhaft ihre Hand zurück und sagte: »Gemach, mein Herr Diplomat! Sie sündigen gegen Ihre eigene Staatsweisheit und vergessen, daß ich noch eine Antwort auf den dritten Antrag, den aus der Brusttasche Ihrer Toga, zu geben habe. Wie nun, wenn ich ihn annähme?« – Roland unterbrach sie ungestüm: »Keine Wirren und Winkelzüge mehr, wenn ich bitten darf, auch nicht im Scherz. Lieber Graf, Sie haben uns genugsam im Labyrinth Ihrer guten Ratschläge umhergeführt.« – »Ist das mein Dank?« – »Auch noch Dank begehrt er, der große Herzenskünstler!« – »Er begehrt ihn nicht, doch verdient er ihn. Ihr Glück, ist es nicht mein Werk? Begreifen Sie nicht, daß ich Sie beide nur auf die Probe stellen wollte? Sie haben sie glorreich bestanden. Ich gratuliere und ziehe mich zurück.« – Roland und Seraphine sahen erst ihn, dann sich erstaunt an, brachen hierauf in ein schallendes Gelächter aus und riefen wie aus einem Munde: »Eine Probe?!« – Der Diplomat erklärte mit bewundernswertem Aplomb: »Nichts anderes. Vergegenwärtigen wir uns die Lage. Zwei schöne, edle, große Herzen, zwei echte Künstlerherzen spielen seit Jahr und Tag Versteckens, oder Bruder und Schwester miteinander, während sie sich leidenschaftlich lieben. Ein treuer Freund, der beide schätzt und verehrt, der sie auch versteht, obgleich er nicht auf die Höhe ihrer Empfindungen sich zu schwingen vermag, sinnt vergeblich auf ein energisches Mittel, die gespannte Situation befriedigend zu lösen. Ihm fällt ein: wenn man versuchte, die zwei wahlverwandten Seelen zu verbinden, indem man sie scheinbar trennt? Er schiebt zwei fremde Potenzen zwischen sie; er opfert sich selbst zu diesem Zweck. Das Experiment gelingt. Der berühmte Künstler erhält Gelegenheit, seine uneigennützige, reine Liebe im hellsten Licht zu zeigen. Die gefeierte Künstlerin erkennt ihn und sich selbst, gedrängt von der Gefahr, den Teuren zu verlieren. Die zwei für einander bestimmten Seelen finden und verbinden sich, geläutert durch die Schmerzen einer kurzen Prüfungszeit, während der fremde Körper, der seine Aufgabe erfüllt hat, sich, bescheiden und zufrieden mit dem Erfolg, entfernt.« – Seraphine fiel dem salbungsvollen Redner lachend um den Hals. »Der reine Sarastro!« – rief sie aus. »Dafür küßt ihn die dankbare Pamina!« – Der Maler trennte die Umarmung und sagte: »Fremder Körper, hebe dich hinweg. Vollende dein Freundschaftsopfer, indem du dich mit dem zweiten fremden Körper vereinigst. Eine neue Ausgabe der Wahlverwandtschaften, frei nach Goethe von Gustel Wallenberg, dem Diplomaten, wie er sein soll.« – »Mit Randzeichnungen von Meister Roland, in Musik gesetzt von Seraphine Lomond. Gute Nacht, ihr seligen Schwärmer. Ich mache es wie Verrina; ich gehe zum alten Doria.« – »Ecke der Krafftstraße und des Königsplatzes... Wir grüßen herzlich... Wir gratulieren item... Wir lassen uns entschuldigen... Wir empfehlen uns als Verlobte... Und bitten um stilles Beileid...« So jubelten, so sangen die zwei Stimmen durcheinander, hinter dem davoneilenden Freunde her, der seinen diplomatischen Rückzug schleunigst antrat.
Seraphine schob den Geliebten ihm nach. »Nun gehst du hinaus,« bat sie, »und gibst mir fünf Minuten Zeit zum Umkleiden; hernach begleitest du mich nach Hause.« – Roland versetzte: »In die Rosengasse, wo eine Nachtmusik, ein Fackelzug dich erwarten, wo der feierliche Beppo uns seine Makkaroni oder Polenta mit kleinen Vögeln mit dem Anstand eines fürstlichen Tafeldeckers aufsetzt, während Marianka durchs Schlüsselloch lauscht und guckt? Nimmermehr. Wir schleichen durch ein Seitenpförtlein des Musentempels hinaus, werfen uns in einen Fiaker und fahren nach Rolandseck. Meine Jungen sollen die ersten sein, der Frau Meisterin zu huldigen.« – »Wie der Herr Meister befiehlt,« knickste Seraphine, und Marie schloß ihm die Tür vor der Nase zu.
Er ging hinunter auf die leere Bühne, die gespenstisch aussah, wie eine Kirche um Mitternacht. Der Vorhang war wieder hinaufgezogen, jedoch nur zur Hälfte. Aus den Sofitten hing eine mächtige Laterne herunter, das einzige Licht in dem weiten, öden Raume. In der ersten Kulisse tickte die große, laute Kontrolluhr der Feuerwache. Hier und da lagen Waffen, Priesterstäbe, Ballettflitter, Blumen auf dem Boden umher. Im Hause machte die Frau des Theaterwachtmeisters mit der Blendlaterne ihre Runde, nach verlorenen Sachen suchend. Dann und wann quiekte eine Tür, klappte ein Sperrsitz, oder ein nächtlicher Luftzug bewegte die Draperie der königlichen Loge, ein verlorener Lichtstreif spiegelte sich in der vergoldeten Brüstung. Ein wunderbares Nachtstück, das der Maler mit neugierigem Blick studierte, auf demselben Felsen sich niederlassend, der Seraphinens Tränen aufgetrunken hatte. Pünktlich nach fünf Minuten erschien sie im blauen Hausgewand, den dunklen Schal umgeworfen, das bestrickende Haar in einem blauen Samtkapuchon versteckt. Sie hing sich in Rolands Arm; Marie folgte, nachdem sie die Garderobe und alle Herrlichkeiten darin verschlossen hatte. Sie begleitete die Herrin als Schutzwache; nicht ungern, weil sie dem schwarzen Bart des Herrn Raff, genannt Raffael, zu begegnen hoffen durfte.
Der enge Fiaker wurde dem liebenden Paare zum Eliaswagen, die Reise durch die von Gaslichtern funkelnde Stadt zur Himmelfahrt. Als sie draußen angekommen, zog Roland an derselben rostigen Glocke, die wir im ersten Kapitel haben läuten hören. Phylax erkannte den Herrn und heulte Freudentöne. Raff und einige der Schüler eilten mit Windlichtern zum Empfange herbei. »Kinder,« rief Roland, »ich bringe euch meine Hausfrau, eure Meisterin!« – »Die Amazone! Ein neunmaliges Hurra der Amazone!« – Und da half kein Sträuben, kein Wehren, kein Flehen. Raff und Stark faßten kräftig zu, der Meister selbst leistete Beistand: sie wurde emporgehoben, auf den Schultern, im Triumph über die Schwelle getragen, welche die ihrige werden sollte. Phylax sprang wedelnd hinterdrein; der Hühnerhof, den Schein der Lichter für die Morgenröte nehmend, krähte ein lustiges Willkommen.
Im Speisesaal waren die jungen Herren versammelt gewesen zu einer kleinen Nachfeier des Schwanengesanges der Amazone, welchem sie alle beigewohnt. Sie wurde rasch zu einem nächtlichen Braut- und Festmahl ausgedehnt. Herr Raff braute die erste Maibowle des Jahres, streng nach dem Rezept der Düsseldorfer Schule. »Da sag mir einer, die Düsseldorfer hätten kein Kolorit,« murmelte er, die goldene Flüssigkeit mit dem Löffel umrührend, in welche Mariens dienstfertige Hand Orangenscheiben warf. »Weder süßlich, noch schwach,« lautete sein Kennerurteil; »Düsseldorf wird verleumdet.« Das mächtige Trinkhorn erschien, nur bei großen Tagen des Hauses gebraucht. Der erste Umtrunk ward, nach einer humoristischen Ansprache Starks, als des ältesten Schülers, dem Meister und der Meisterin gebracht. Den zweiten weihte Roland der Kunst – »der hohen, hehren, heiligen, die wir erfaßt haben und niemals lassen wollen, der wir angehören mit Leib und mit Leben, im Ernst und im Scherz, in Ehren und Treuen!« Zum Nachtisch begaben sich alle in des Meisters Turm. Er holte lächelnd die kleine Büchse mit Papierzigarren, Laferme, erste Qualität. Und während die ausgelassenen Jungen auf die Plattform stürmten, ein improvisiertes Feuerwerk abzubrennen – das die milde Polizei der Vorstadt zu St. Margareten nachmals nur mit einer geringen Geldbuße heimsuchte –, währenddessen saßen Roland und Seraphine unter denselben Oleandern, in den nämlichen Amerikanern, wo wir sie vorgestern, am Freitag, sitzen sahen. Damals hatte der Meister das dunkle Kindermärchen seiner Vergangenheit erzählt, heute bauten beide die schimmernden Luftschlösser ihrer Zukunft. Seraphine erklärte, sie werde die hiesige Bühne zwar verlassen, nicht aber das Theater; die Weltfahrt des Amerikaners wolle sie mitmachen. Roland stimmte bei. »Ich begleite dich,« sagte er; »der weißen Neger bin ich lange überdrüssig; wir wollen schwarze, echte, in der Wolle gefärbte, sehen, kaufen, malen.« – Seraphine schlang den Arm um ihn und sang ihm leise schmeichelnd ins Ohr: »Auf Flügeln des Gesanges, Herzliebster, trag ich dich fort...« – Er fiel stürmisch ein: »Fort nach den Ufern des Ganges, des Nil, des Ohio – an alle süßen Wasser der Alten und Neuen Welt, wo du, meine Nachtigall, unseren ewigen Liebesfrühling schmetterst.«
In demselben Augenblick krachte auf dem Dach die erste Signalrakete, kerzengerade in den mitternächtlichen Himmel aufsteigend, um den Engeln da droben zu verkündigen, daß es auch auf Erden noch Glück gibt.