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Zur Zeit als Horus ins Haus der Elchos zog, erwuchs auf der andern Seite der Erde ein kleines Mädchen gleichen Alters in einem sonderbaren Gebäude: halb Palais, halb Fabrik.
Täglich Punkt zwei bog die wenig stilvolle Equipage um das grasige Viereck im asphaltierten Innenhof, an den Statuen und dem alten Nußbaum vorbei, der Gärtner öffnete weite Torflügel unter der gewölbten Einfahrt, und man fuhr bis vier spazieren. Papa und Mama im Fond. Immer den selben Weg: erst durch ratternde Vorstadtstraßen voll anrüchiger Kramläden und Klaviergehacke, dann um den Ring herum. Die Beinchen reichten nicht bis zum Wagenboden und schliefen einem immer ein in den hohen Stiefelchen. Baumeln durfte man nicht, reden meist auch nicht. Oben redeten die Eltern diese endlosen, gereizten Erwachsenensachen, bei denen man nicht stören sollte, obwohl es doch immer dasselbe war und so überflüssig. Manchmal hob Papa den Hut schräg weg und Mama nickte mit einem süßschiefen und entzückten Gesicht, wie sie es zu Hause nie hatte. Dann mußte man auch nicken und mit dem Mund knicksen. Meist ohne Ahnung, wer die Leute gewesen, denn Besuch kam fast nie ins Haus.
Alles war fader, als es sich sagen läßt. Bis auf die Ecke mit der Ballonfrau. Da wurde man innen voll aufreizender Kugelchen. Bekam man ihn? Und wenn … rot oder blau? Leider machte die Ballonfrau auch immer so einen Freundlichkeitskrampf im Gesicht, wie Mama beim Grüßen, während sie einem mit Händen voll gemeiner Fingernägel die leise aufwärts ziehende Kugel ums Handgelenk band. Plärrte dabei:
»Nein, a soa schöns blond's Kind!«
»Aber recht eigensinnig und unfolgsam« pflegte Mama zu erwidern, »gerade heute sollte sie gar nichts bekommen.«
Meist log Mama. An Ballontagen war zufällig nie das Kleinste passiert. Der Ballon aber war ein Wunder, obwohl er schlecht roch; denn er blieb aufrecht oben am Faden, während sonst alles unten an Fäden hing. Hatte auch am Bauch ein komisch verrunzeltes, herausgestülptes Knöpfchen, vor dem einem ein wenig ekelte, wie ein Schwein. Ein fliegendes Gasschwein ohne Flügel.
Jetzt begann die große Versuchung: heimlich die Schnur vom Handgelenk gleiten lassen, damit der Ballon frei hinauf könne, immer schneller und kleiner würde, schließlich wie eine Traubenbeere mit Schwanz. War er aber auch ganz weg, hinter ihm, das Loch im Himmel blieb noch lange, indes man Bestürzung heucheln mußte und gezankt wurde wegen der Unachtsamkeit. Es schien: Geschenke gehörten einem doch nicht recht. Nie durfte man mit ihnen Lustiges tun, meist nicht einmal sagen, was man tun möchte. Sie war im sechsten Jahr – eben bog der Wagen wieder einmal ins Tor heim – da vergaß das kleine Mädchen mit dem Mund zu knicksen, während Papa den Hut schief weg zog und Mama das Gesicht, denn: etwas Überwältigendes war geschehen und viel zu groß für Angst:
Sie wußte nicht mehr, wo sie aufhörte.
Da war die Hand; ihre Hand mit dem aufrechten Ballonfaden. Flöge jetzt die Hand mit dem Ballon davon, durfte dann der Ballon zur Hand »ich« sagen oder die alleine Hand zu sich selber ich?
Wer ist Ich? fühlte das Kind. Sah über den Rand der Frage in ein Bodenloses. Streifte den Handschuh ab, spannte und entspannte jedes dünne Fingerwesen, ließ es tun – empfinden …
»Wo fange ich an – wo ende ich?« staunte immer weiter. Rann noch einmal mit allem Gefühl vom Herzen in die Körperspitzen, wollte ins Grenzenlose, konnte nicht weiter, war von diesem Augenblick an bewußt mit der Welt in Ich und Nicht-Ich zerfallen, das Wunder Dasein hatte fragende Augen aufgeschlagen, die sich erst im Tode schließen. Das Fremdlinghafte war da; für immer. Mit ihm: Persönlichkeit, Einsamkeit und Sehnsucht.
Das wußte aber die winzige Philosophin noch nicht. Vorerst ging alles in Staunen auf. Probleme spannten helle spitze Flügel, wollten durch sie hindurchbrechen, pfeilrecht und silbrig, die junge Seele erfüllen und tragen.
»Warum hast du nicht gegrüßt? Was wird die Frau Regierungsrat Dostal denken.«
Papas Augen und Stimme rissen durch den dünnhäutigen Kinderkörper hindurch. Die gestockte Zeit begann auf einmal heftig zu laufen. Der Wagen fuhr weiter durchs Tor. Alle Dinge taten wieder und man schrak auf in einem Abgrund von Verworfenheit, saß bestürzt mit einem Bums mitten in unübersehbaren Folgen: hatte zu grüßen vergessen. Das Herz schlug breit wie ein Fächer durch die ganze Brust.
»Weil du immer deine Hand angeschaut hast. Immer muß sie sich bewundern, der eitle Fratz,« sagte Mama.
»Fratz,« das war wie ein verzerrter Blitz und kreischte obendrein.
»Aber ich hab' ja gar nicht … bewundert,« wollte das Kind beteuern.
»Lüg' nicht, ich hab' es doch selbst gesehen.«
»Ja, aber …« man stammelte, suchte gierig das mit dem »Ich« und »Nicht-Ich« zu erklären.
»Wirst du endlich still sein und nicht fortwährend nachmaulen.« Papa machte seine aufgerissenen Glasaugen aus ungeheurer Macht, vor denen man immer sehr erschrak.
Noch einmal setzte das Kind zum Sprechen ein, wurde hilflos, gab es auf, denn am Vordersitz hub jetzt jenes aufgedonnerte Entsetzen an und didaktische » pour la galerie«-Reden, dem die kleinen Kinder ihre große Erwachsenenverachtung verdanken.
»So eine abscheuliche Rechthaberei, dieser Eigensinn, wo sie das alles nur her haben mag, von uns doch nicht.«
Und Papa wandte sich in seiner schlanken Länge Mama zu, schüttelte dabei edel und gebrochen den Kopf.
»Von mir gewiß nicht,« himmelte Mama mit ganz verzuckerten Augenlidern, und beider Eltern linde Vollkommenheiten sahen einander schwergeprüft an.
Dem verworfenen blonden Wechselbalg am Rücksitz ballte sich das kleine Herz zur Faust. Alle echte Beschämung war weg:
»Vielleicht bin ich wirklich nicht ihr richtiges Kind? Welch Glück!« Und den Gedanken weitertrotzend:
»Meine echte Mama trägt keinen Bauch unterm Korsett und mein wirklicher Papa … nun aussehen tut er vielleicht wie Papa, aber er schreit gewiß nicht so häßlich in der Fabrik herum. Die Katze und das Reh nehm' ich natürlich mit in mein Königreich, sonst aber niemand. Da stehen dann Papa und Mama voll Reue am Haustor und flehen. Aber erst ganz zum Schluß dreh' ich aus dem Wagen heraus ein wenig den Kopf und sag: ›Später einmal – vielleicht‹.«
Sie lächelte in das Königreich hinauf.
»Der Ballon,« sagte Mama empört und hatte zwei hängende kleine Schrotsäcke in den Mundecken, alles Verzuckerte war auf einmal fort, »man sollte ihn ihr wirklich zur Strafe wegnehmen.«
Papa zog sein Taschenmesser, durchschnitt die Schnur. Wundergrad stieg der Ballon bis über den Rauchfang. Dann drehten ihm Krallen aus Gas den Hals um, er duckte sich, wutschte weg, schräg packte ihn ein Wirbel – sie hob entzückt die Hände, fühlte an ihren Rändern wieder das Problem eigenen Aufhörens. Dunkle Angst und Verantwortung, so ein ganz alleines Ich zu sein unter lauter fragwürdigem Draußen, überwältigten plötzlich das Kind. Es brach in Tränen aus.
»Das kommt davon, wenn man vorlaut ist,« sagte Papa, dann tröstend: »aber vielleicht gibt es morgen einen neuen Ballon, den binden wir dann so fest, daß er gewiß nicht wieder fortfliegt.«
Voll Mitleid mit soviel dickhäutiger Begriffstutzigkeit sahen die jungen Sternsaphire sich diesen desolaten Erwachsenen an, der obendrein ein Papa war.
Großen konnte man ja überhaupt nichts erklären, sie aber auch nichts fragen; wenigstens nichts »Eigentliches«. Mama sah dann aus starrgrauen Augen meist zur Seite, tat, als tauche sie eben aus einer überaus wichtigen Erwachsenensache auf, in die sie sofort wieder zurück müsse, nickte flüchtig und falsch zerstreut:
»Ja, ja, schon gut, aber halt dich grad.«
Papa ließ sich gern fragen, doch nie durfte man weiter wollen als er selber wußte, nannte die Frage dann albern und wurde heftig. Als ganz kleines Kind hatte sie einmal stolz von ihm gesagt: »der Papa weiß alles.« Diese vierjährige Voreiligkeit sollte sich bitter rächen. Er hatte nachsichtig und doch wieder ehrgeizig dazu geschmunzelt, sich in seine riesige Rübezahlhöhe gereckt, so mit einer Haltung, als wünsche er, dies möge dauern. Darum tat man auch viel später noch oft so, ließ es hingehen, hörte widerspruchslos zu, redete er mit herrischen Bewegungen vag daneben, hatte man aus Versehen nach einem »Eigentlichen« gefragt. Er roch ja doch so vertraut und gut, mit den graublonden, weichen Wellen draußen über der Stirn voll trotziger Löwenfalten, und man küßte ihn fieberhaft gern, obgleich er jähzornig schrie und einen viereckigen Daumen hatte; überhaupt lang nicht so mit allem in Ordnung war, wie etwa Butz, die Katze, und Iblis, das Reh. Aber das waren ja die wenigsten. Bei den andern ließ sich stets ein »noch« hinzudenken.
Was für ein »noch«? Sie grübelte: »noch schöner? Nein, noch nocher, ganz einfach.«
Da war zum Beispiel das Matterhorn. Alle hatten im Sommer davor so überwältigt getan. – War man aber schon ein Berg, hatte man doch eigentlich noch steiler zu sein, noch höher, mit noch eckigerer Schulter, und mit einer solchen Eisnase hinaufzustoßen durchs Blaue, daß es in Sprünge zerkrachte wie ein Glasdach.
Die Dinge waren eben irgendwie faul und nie bis zu ihren eigenen Enden gegangen. Das hatte aber durchaus nicht immer etwas mit »groß sein« zu tun … Butz und Iblis waren klein und doch bis in ihre Enden gekommen und ganz rundherum wunderbar, daß man nie satt an ihnen wurde vor Zärtlichkeit und Entzücken.
Das also war das » Noch-nocher«. Außerdem gab es das »Eigentliche«. Von dem aber mochte erst recht keiner was hören; auch ein paar Jahre später der Lehrer nicht. Versuchte man es zu begreifen, hieß es, man sei begriffstutzig und halte die Fleißigen nur auf. Lange weigerte sie sich einzusehen, warum eine Flaumfeder und ein Bleistück im leeren Raum gleich schnell fallen sollten. Das Gerede mit dem Luftwiderstand war doch nur Nebenschein, tief drinnen aber lag ein Unbegreifliches. Überall lag ein Unbegreifliches tief drinnen: das » Eigentliche« eben. Wie im Ich und Nicht-Ich.
Auch magische Worte gab es, wie »Masse« und »Substanz«. Sie erregten einen oft so, daß man den Kopf in die Waschschüssel stecken mußte, führten aber doch nur zu Konflikten, bis man es gleich den andern Kindern weghatte, Lernen von Verstehen zu trennen, alles so glatt zu wissen wie die albernste Gans; es auch nicht mehr beanstandete, daß die Welt Dienstag und Samstag von zehn bis elf in »Naturgeschichte« Jahrmillionen zur Entwicklung brauchte, und auf ihr aus einem Schleimpatzen, einfach durch »Überleben des Passendsten«, einmal etwas wie ein Elefant wurde, ein andermal etwas, das Macbeth schrieb oder den Tristan, je nachdem; während wieder alles, einmal der Woche von drei bis vier, beim Religionsunterricht, in sechs Tagen gemacht worden war, von einer heftigen älteren Persönlichkeit ganz plötzlich und ohne jede ersichtliche Veranlassung.
Für das Kind eines eingewanderten deutschen Patriziers fanden die Religionsstunden, im Gegensatz zu dem gemeinsamen katholischen Unterricht der Schule, privat bei dem evangelischen Pfarrer statt. Man landete dort wie auf einer Insel von Gespreiztheit und durchgesessenem Plüsch, ohne recht zu wissen warum, schon allein durch die Art, wie Mama devot, verschroben und leer »Hochwürden« sagte. Dann gab es Verse auswendig zu lernen:
Das Wort, sie sollen lassen stahn
Und keinen Dank dazu haben.
Er ist bei uns wohl auf dem Plan
Mit seinem Geist und Gaben …
Sie hatte das nie begriffen. Da nicht, aber auch niemals später. Doch wozu diesen Greis, der so schon einen Stockschnupfen mit rotgewürfeltem Taschentuch hatte und einem – ließ man ihn in Ruhe – automatisch »sehr gut« gab, durch Fragen entfesseln. Außerdem gehörte er ja zu den Leuten, die sterben. Schon als kleines Kind hatte sich diese Idee bei ihr festgesetzt: nur Leute, die zur Kirche gehen, sterben. So alte Weiber eben, die immer im Weihrauch lungern, mit Kerzen und Geplärr bei Leichenbegängnissen herumschlurfen. Ein gut und gradgebornes Wesen stirbt nicht. Wie könnte etwa Iblis, das Rehli sterben? Höchstens haaren. Dann bekam es eben ein noch glänzenderes Fell, und man grub das Gesicht noch lieber hinein, wenn man, die Arme um seinen Hals, mit ihm aus der Heukammer in den Garten sprang, bis unter die Fichtengruppe beim Neptunbassin, wo Iblis seine lackschwarze Nase in die Leberblümchen steckte, sie rupfte und fraß.
Und gar Butz! Wie könnte Butz je auch nur so wässrig aufdunsen oder knotig vertrocknen wie Begräbnisweiber? Sie warf sich flach auf den Boden und betete Butz an. Es war eine lichte und festliche Andacht: lebendige Adoration, steigender als Fieber, tiefer als Schlaf, mit der alle bewunderte Bewegung in den eigenen Körper herübergesogen wurde. Denn sie hatte entdeckt: war man auch ein ganz alleines Ich, vermochte man doch Dinge in sich hereinzulieben nach Wahl, denn da war eine Welt von außen nach innen und eine von innen heraus; durch den feinhäutigen, zartherzigen Kinderkörper osmosierten sie hindurch und man meinte, einmal müßten sie sich zueinander küssen.
Jetzt war Butz dran, hereingeliebt zu werden. Bald hatte der Kater den Schwanz um sich getan, saß mitten in ihm wie ein Turm mit Ringmauer, sah ganz oben aus zwei grünen Scheinwerfern in Lichtkegeln um sich; bald strich er, schmäler wie sein Schnurrbart, durch Türspalten, schwanzhoch, lässig und einsam. Oder man nahm ihn auf den Schoß, streichelte sich in die Herrlichkeiten seines Lebens hinein.
Andern Tags ergab es sich dann richtig, daß man den deutschen Aufsatz total vergessen hatte mit seinen zwei Themen zur Wahl: »Hausmütterchen, der Sonnenstrahl im Elternhaus« oder »Kleopatra« (Richtlinie: schade, daß in einem so schönen Körper nicht eine ebenso schöne Seele wohnte) und auch in der Geschichtsstunde dem Faktum, daß durch Margarete Maultasch Tirol an das Erzhaus gefallen war, eher fremd, um nicht zu sagen lieblos, gegenüberstand.
Bald hieß es: »dieses ewige Herumschmieren mit den Tieren im Garten muß aufhören. Es lenkt zu sehr ab.« Schien ein System bei allem Erhabenen, Hinreißenden, Holden: es verbieten unter der Devise: »es lenkt ab«.
»Unverstand in idealem Zusammenfluß mit Malevolenz«, wie sie ein paar Jahre später diese Bestrebungen innerlich zusammenfaßte. Zeigte man Freude an etwas, ward es zu Erpressungen ausgenutzt, seine Entziehung angedroht; verbarg man deshalb seine Neigungen, hieß es: »pfui, ein Kind und schon so blasiert.«
»Warum spielst du nicht mit dem schönen, teuren Spielzeug?« frug Mama. »Andre Kinder wären froh und dankbar …«
Hinter diesem schönen, teuren Spielzeug aber lauerte endlos und heimtückisch das Aufräumen. Gar noch zum Schluß, wenn man jedes Stück schon so satt hatte. Butz und Iblis bekam man nie satt, und sie räumten sich selber auf. Oh, nur rasch groß sein, erwachsen sein, frei sein. Nicht mehr bis in seine Spiele hinein gezwungen werden, die verkappte Plage waren! Diese Großen aber sagten:
»Sei froh, daß du noch ein Kind bist, immer sorglos und glücklich.«
Und wie war das mit der Margarete Maultasch, he? Und das früher: nicht mit den eingeschlafenen Beinen baumeln und nur gefragt reden dürfen? Und gar jenes Andre, von dem man nicht sprechen mochte, nein, lieber sterben! Jenes: in der hohlen Nacht schiefgekauert vor Grauen, ganz allein im Schwarzen liegen, wenn es sich in den Ecken ballt ohne Gegenstand und man es anfleht, nur nichts zu werden! Wo man die übermüden Augen immer wieder aufreißt, denn sie sind das letzte, mit dem man Das in den Ecken noch bändigen kann. Ist man aber eben eingenickt, sofort wieder zitternd heraus müssen im Winterdunkel, mit Nebel im Magen, um übel vor Hast zur Schule zu stürzen, übernächtig in Angstschweiß … jeden Tag und jeden Tag, Jahr um Jahr.
Selber wußten sie allerdings kümmerlich wenig anzufangen mit der unermeßlichen Macht und Wonne ihrer Erwachsenheit, diese Wesen, überzogen mit Trübe, Zähe und Verdruß. Taten immer so, als täten sie unausdenkbar Wichtiges. Dabei war es gar nichts. Lauter schäbige, träge, unreine, störende, überflüssige Dinge. Warum wedelte Mama, zerzaust und verzerrt, mit einem widerlichen Lappen in der Hand, den halben Tag zwischen den Möbeln umher, wo doch das Stubenmädchen und der Diener dazu da waren? Eine böse und schweißige Märtyrerin des schönen Hauses, statt lieber durch die weiten, hellen Räume oder den Garten zu galoppieren und Reif zu schlagen. Warum hieß es »Ernst des Lebens«, wenn Papa am Kontorofen lehnte, die Zeitung las und rauchte, während genau dasselbe vor dem Speisezimmerofen getan »Erholung« hieß?
Einmal geschah etwas zum Zittern Ekles. Nie zu Vergessendes: während die Köchin appetitlich dasaß, in grünweißer Schüssel reizende rote Radieschen wusch, griff Mama mit ihrer Hand – der eigenen nackten Hand – griff sie ganz von selber, ohne daß sie doch mußte, einem blutigen Hühnerkadaver von unten in den klaffenden Steiß hinein, ganz tief bis in die violetten, stankgeschwollenen Eingeweide, riß an den glitschigen, daß sie herausspritzten. Oh, wie es dann unter ihren Nägeln aussah!
Das Kind ballte die Fäuste. »Wer das über sich bringt, ist keine Dame mehr.« Und fast weinend vor empörter Reinlichkeit: »nein, lieber verhungern.« Papa war dabei gewesen, hatte es auch gesehen und doch begann er ihr nach Tisch mit jener reuigen Gedrücktheit schmatzend die Hände abzuküssen, wie immer, wenn sie zerlechzt dasaß und in schweißiger Überbürdung schwelgte, denn beide schätzten Szenen sehr. Seither war er für seine kleine Tochter nie mehr der selbe, war irgendwie herabgekommen. Sie fühlte dunkel: es gibt Hände zum Hühnerausnehmen und Hände zum Küssen. Beides, nein! Schmiegte sich von nun an seltener in seine Arme und aß Hühner überhaupt nicht mehr, erbrach sich schweigend immer wieder, wenn man sie dazu zwingen wollte. Hatte Mama etwas geahnt? Sich hinter Papa gesteckt? Plötzlich hieß es:
»Du bist jetzt groß genug, es wäre Zeit, der armen Mama ein bißchen in Haus und Küche an die Hand zu gehen.«
Sie fühlte die schmutzige Schlinge. Mit zusammengebissenen Zähnen, gefrorenen Mord im Gesicht:
»Dazu sind die vier Dienstleute da, überdies Gärtners- und Portiersfrau.«
Man nahm ihr die Geige weg, verbot Latein und Griechisch, die sie privat betrieb. Auftritt über Auftritt. Mama stülpte polternd Keller und Bodengerümpel um, sank dann erschöpft in Sessel, rückte eine ausgearbeitete rechte Hand mit zerbrochenem Zeigefingernagel anklagend in den Augpunkt töchterlichen Mitleids, während Papa dräuendes Düster aus knochenüberhangenen Augen hervorschoß, bis schließlich alles zu einem latenten Dauervorwurf gerann.
Oh, wie sie Szenen haßte! Szenen deckten ja alles auf, und es hieß doch schon so genug vertuschen, damit es nicht herauskam, wie minder sich die Großen benahmen. Das aber sollte nie offenbar werden. Lieber warf sie sich mit ausgebreiteten Unarten rechtzeitig dazwischen, um eine auftauchende Hemmungslosigkeit, unvornehmes Gehaben der Eltern vor Fremden ins Erklärliche zu rücken. Fühlte sich irgendwie für diese Eltern verantwortlich aus ihrem Tiefsten heraus: dem Drang nach Reinheit. Wollte wie aus klarem Bade gestiegen sein. Setzte sich darum oft vor sich selber knirschend ins Unrecht; keineswegs aus Liebe oder Güte. Von letzterer hielt sie vorläufig nicht viel. War noch zu jung, vertrug die Dummheit nicht, die vom Guten zweiten Ranges ausstrahlt, verwechselte Güte noch mit Sentimentalität.
Einmal galt es, nicht nur Unrecht –, bitterer noch: das Odium des Ungeschmacks fälschlich auf sich zu nehmen. Es war am zwölften Geburtstag, als Mama das mit der neuen Zimmereinrichtung verdrehte.
»Du kannst sie dir selbst wählen, heuer zum Geschenk,« hieß es.
Kühne Pläne wurden geschmiedet. In der Tanzstunde riet die gedunsene Valerie:
»Nimm Eiche mit Gobelins.«
»Nein, blaue Seide mit weißem Lack, auch ein Bidet aus weißem Lack mit Goldknöpfen dazu,« drängte Olga, die den finnigen Teint hatte vom vielen Käseessen.
Das beneidete Geburtstagskind aber hüllte sich in seliges Geheimnis: »nein, etwas ganz Neues, ganz anderes, ihr sollt sehen. Und zu mir passen muß es wie das Haus zum Schneck.«
Mama sah die Entwürfe. Ja, aber auf dem Boden liege noch ein bedruckter Kreton, der müsse für die Möbel verwendet werden, auch zwei Vorzimmerschränke sollten herein. Schließlich ergab es sich, daß alles schon bestimmt war, lauter vorhandene Reste. Nur die Form der Sesselgestelle unter dem scheußlichen Blümchenkreton blieb ihrer freien Wahl überlassen. Sie hörte gar nicht mehr zu, was der Tapezierer schwatzte. Aus. Kein Kompromiß. Mochten sie machen, was sie wollten. Alles oder nichts … natürlich wurde es dann immer »nichts«.
Zum Geburtstag kamen die aus der Tanzstunde mit Buketts, rümpften die Nasen. Jetzt Zähne zusammen und Kopf hoch; dann leichthin:
»So sei es gerade recht, so müsse es sein.«
Und sie warf sich vor diesen Kreton, vor diese Vorzimmerschränke, als wären es elterliche Mängel.
Abends aber hieß es in ihre verdunkelte und freudlose Miene hinein:
»Nicht einmal bedankt hast du dich noch bei der armen Mama, und sie hat doch solche Mühe gehabt mit deinem neuen Zimmer, hat sogar da wieder alles allein machen müssen.«
Samstag von fünf bis sieben war Tanzstunde im Institut Crombée-Wokurka. Schon die Ankunft im Vorraum, ein kleiner Triumphzug für jede der sechs Eliteschülerinnen. Vom Salonschreibtisch, vor den verschlossenen grünen Läden, erhob sich im Gaslicht Madame Crombée-Wokurka, und unter der Mahagoniperücke fletschte ihr wunderbar falsches Gebiß schmeichelhaft Willkomm. An der Tür des Tanzsaales aber stand Monsieur Crombée-Wokurka selbst und seine Beflissenheit teilt vor einem die hopsende Plebs auf dem Weg zur kleinen Privatgarderobe der Auserlesenen. Er schwebte dahin wie der Ballon ihrer Babytage, denn sein Bauch schien lauter Luft. Aus ihm hingen die Beine herab mit krummen Lackschuhen als Gondeln. Ein leichter Auftrieb nur, ein Zephir, und er stiege zum Plafond, dort entlang zu bumsen, noch immer mit den Füßen trillernd.
In der Garderobe aßen die sechs Bevorzugten dann selbstherrlich Orangen und Bonbons, indes das Anfängervolk draußen in seinen Niederungen schwitzte, bis man es für gut befand zu erscheinen und die hohe Paradeschule anhub: unechte Sachen auf der großen Zehe, ein kastrierter Fandango, dann Polnisches, Russisches, Schottisches, Indisches, Lappländisches, Dionysisches für den Mittelstand.
Und doch war jeder dieser Samstage ein kleines Fest bis zum Tag des Skandals mit der Frau Binder um Ernas willen. Schon zu Hause mußte sich Dunkles und Empörendes bei Binders abgespielt haben, denn von den Schwestern kam Erna, die halberwachsene, die nußbraune, sonnige, ganz verweint an, während Mimi, das kleine Aas, triumphierend die Mutter umschwänzelte. Später ein Streit um ein Paar Tanzschuhe, Mimi, weil im Unrecht, quietscht um Hilfe, lügt während der Tanzpause alles heimtückisch und verdreht der Mutter vor; die schleift Erna aus dem Kranz der Tänzerinnen, ohrfeigt sie klatschend unter Gekreisch vor aller Welt, Erna, zerschluchzend in Scham, stürzt zur Garderobe, gräbt den Kopf in den Diwan, riegelt sich ein.
Mitten unter beschwichtigenden Müttern sitzt roh und feig das Binderweib. Oh, wie war diese Person widerlich! Als risse sie den ganzen Tag fanatisch Eingeweide aus Hühnersteißen. Und das sollte Macht haben über menschliche Wesen?
»Sag' Erna, sie hat herauszukommen – sofort hat sie herauszukommen, bring sie her, hörst du, Sibyl?«
Eine Verbeugung, ein lässiges Gehen. Dann wiederkehrend, eine zweite tadellose Verbeugung. Dann eisklar vor Empörung – über alle angeborne Scheu, begafftes Zentrum zu sein, hinweg – in die verlegene Stille hinein:
»Erna wird erst kommen, bis Sie, gnädige Frau, sich anständig betragen.«
Zu Hause erzählte sie, noch ganz im roten Nebel gerechten Zornes das Geschehene.
Da verschrob sich auf einmal wieder alles in dieser unberechenbaren Erwachsenenwelt, und sie saß – wie damals im Wagen – bestürzt mit einem Bums selber in unabsehbaren Folgen, in einem Abgrund eigener Verworfenheit.
Man schlug die Hände zusammen. »Nächsten Samstag wirst du öffentlich in der Tanzstunde Frau Binder um Verzeihung bitten.«
»Aber Erna war im Recht, wir waren im Recht.«
»Ganz gleich, ein Kind wie du hat sich kein Urteil anzumaßen.«
Also Erwachsene durften sich unkritisiert Kindern gegenüber das Gemeinste erfrechen! Nicht nur, daß man nie recht bekam, hieß es auch noch, sich knirschend, mit gesträubten Nerven, gegen besseres Gewissen demütigen, denn tat man es nicht, wurden die Eltern schreiend und würdelos; das mußte jedoch um jeden Preis verhindert werden.
Sie wünschte Frau Binder oder sich bis Ende nächster Woche glühend den Tod. Oder ging vielleicht die Welt rechtzeitig unter. Jetzt blieb nur noch ein Tag – eine Nacht – ein halber Tag. Schließlich die Hinfahrt. Stürzte doch ein Pferd! Bräche der Wagen! Gasse um Gasse, Eck um Eck kroch der Moment tödlicher Schmach heran. Schon die Treppe! Kaltgrünes Eis stieg das Mark hinauf, bittre Wasser quollen im Mund. Jetzt noch drei – zwei – eine Stufe; das Vorzimmer. Noch ein Hirnblitz Hoffnung: vielleicht fehlten Binders heute? Nein, dort standen schon die Galoschen. Keine Rettung – aus.
Die Qual dieses Samstags verseuchte alle die früheren, frohen – alle ferneren auch.
Aber konnte denn das schon das Leben sein? Diese unharmonischen Brocken, aufgereiht an einem Faden Angst. Sie gewöhnte sich, alles als unwirklich zu empfinden, als Fehler und irren Vorhalt nur; lebte wie von einer fernen Küste her, ganz in Silberdämpfen der Phantasie. Lernte sich auch immer reiner und herber abgrenzen gegen das Vorläufige. Züchtete sich ausschließlich dem Eigentlichen entgegen. Es hatte doch auch sein Gutes, so ein ganz alleines Ich zu sein, nur aus sich selbst heraus veränderbar. Da schloß man sich zu und liebte bloß nach Wahl herein.
Zum Beispiel einen Barsoi.
Beim ersten Anblick des unvergleichlichen Tieres, das fremd und resigniert hinter seinem wiener Herrn schritt, geriet sie in tagelanges Entzücken, bekam feuchte Augen vor der Harfe dieses Leibes, dem durchscheinende Rippen gleich Saiten anlagen, ruhte auch nicht, bis sie die eingezogenen Flanken des russischen Windspiels am eignen Körper lebendig besaß. Eine Übung war dazu besonders gut: auf dem Rücken liegend, den Leib sichelförmig einsaugen, und in die Mulde das Gefäß mit den Goldfischen ausgießen. Konnten die Fische dann in dieser Beckenschale, ohne Grund zu berühren, flossenschlagend umherschwimmen, war es in Ordnung und ergab am aufrechten Körper den heißerliebten Kontur! Wenn nicht, änderte sie Nahrung, Bewegung, Atem, bis es wieder ging. Eine Kontrollübung, nichts weiter.
Einmal bekamen die aus der Tanzstunde es zu sehen.
»Du bist übertrieben,« hieß es.
War etwas halbwegs wie es sein sollte, nannten sie es immer übertrieben.
»Du bist eine eitle Egoistin« und Olga, die trotz finniger Haut vom Fettkäse nicht lassen mochte, blähte sich: »Man muß für andre leben. Ich werde für die Idee der Menschheit auf den Barrikaden kämpfen.«
Sie probierte vor dem Spiegel eine Jakobinermütze aus rotem Seidenpapier …
»Und überhaupt kommt es auf die Seele an.«
Sibyl, die Jüngste, zog sich scheu und völlig unüberzeugt in sich selbst zurück. Fühlte tastend: weil Olga zu schwach und faul ist, vom Käs zu lassen, drückt sie sich an sich selber vorbei ins Gemeinwohl. Weil sie nicht die Kraft hat, die Menschheit zuerst einmal am eignen Leib zu vervollkommnen. Eine Watschelgans bleiben und darauflos beglücken, wie billig; Seele? Eine saubre Seele, die noch nicht einmal imstande ist, sich eine reine Haut, edle Glieder zu machen.
»Ich glaube auch gar nicht, daß es den Männern gefällt,« sagte die gedunsene Valerie.
Wollte sie denn damit gefallen? Nein, in Ordnung sein, ganz einfach: wie geputzte Zähne, polierte Nägel haben. Wozu deshalb Aufsehen und Getue? Merkte eigentlich immer erst an dem dumpf rindhaften Glotzen ringsum ganz jäh, wie wenig man dem nachfrage, was ihr wie Lebensluft: leicht und unentbehrlich.
Und verstummte dann meist; aus einem großen jungen Nebel von Scheu heraus, beinahe Scham. Mußte denn wirklich jede Wahrheit, die einem durch und durch ging, immer erst noch oben in diesem negligablen Schälchen Großhirn zu Argumenten gerinnen, damit sie gelte?
Waren Diskussionen nicht entweder vergeblich oder überflüssig? Spürte irgendwie beweislos, gleich einem Axiom: »so lang in meinen eignen Weichen noch ein Gran Fett, also: Träges und Gemeines sitzt, ist es einfach eine Frechheit, die Bürde der Selbstvollendung in Form von Gemeinwohl von sich abtun zu wollen.«
Seit dem Malheur mit dem deutschen Aufsatz war es mit den »ablenkenden« Spielen im Garten bei Butz und Iblis ziemlich aus.
»Das schickt sich nicht mehr für ein so großes Mädchen,« hieß es, »dieses Herumkugeln auf der Erde mit den Tieren.«
Niemand aber konnte sie hindern, dafür täglich beim Durchfahren des Hofes die Schultern des bronzenen »Eidechsentöters«, den Papa in der Fabrik hatte nachgießen lassen, inbrünstig in sich hereinzulieben. Das Jünglingsfreie, Feenfreie dieser Schultern, wie eines geflügelten Wesens, glänzte ihr jedesmal ins Herz, bis sie es auf geheimnisvolle Weise mitversponnen in ihr Blutnetz, durch eine Art, von nun an das Haupt zu tragen, sich zu recken, wenn sie laut Pindar vor sich hinsprach.
Aber eigentlich war auch das noch nichts. Genau wie das Matterhorn konnte alles immer doch noch besser sein, sogar in seiner eignen Linie und: »in mir muß es besser werden« ward zur Mission. Die harfenden Flanken des Windspiels, das Ruhen der Katze, das Äugen des Rehs, die Schultern des praxitelischen Knaben; alles nur zu durchlernende Stadien, Mittel, um selbst das »Noch-nocher« zu werden. Hieß »leben« denn nicht einfach die Verpflichtung, eine neue Vollkommenheit in sich körperlich zu machen?
Alle seine Ideale direkt in die Materie zu säen!
Sich wie ein köstliches einmaliges Gefäß zu halten, dessen Schale nicht verbeult, dessen magischer Inhalt nie verunreinigt werden durfte.
Weit und breit tat's ja keiner sonst, und um Himmels willen: endlich mußte doch etwas geschehen. So ward dieses junge Wesen, da es um sich keinen Idealtypus ausgebildet vorfand, gezwungen, die eigne Persönlichkeit überwertig werden zu lassen, beinah weinend manchmal in seines Herzens Andrang.
Die Eltern aber saßen Tag um Tag nach Tisch bei ihrem ewigen stumpfen Schach. Herausschreien hätte man sie mögen aus ihrem Schach.
»Ich, ich, ich bin noch ein unlädiertes Exemplar! Un–lä–diert –, hört ihr! Noch ist nichts verdorben! Nicht helfen, o Gott, nur hindern sollt ihr mich wenigstens nicht! Bitte, bitte nicht!«
Alles in ihr bäumte sich auf gegen die freudlose Routine, die verfaulten und schauerlichen Kindereien der Erwachsenenwelt. Wie war das Alter widerlich und verächtlich. Ohne Selbststrenge in seinem mürben Fleisch! Ein Weltbeben – würde doch der Sirius einmal explodieren – mitten in den schwarzen Kaffee und mitten hinein ins Schach!
Die Eltern sahen immer ratloser diesem Giraffen- und Windspielwesen zu, das kerzengrad, erbittert, stumm und über die Maßen wunderbar von ihnen wegwuchs. Es selbst aber ward jammervoll umhergeworfen zwischen Schwachmut und Hochmut. Denn nichts ersehnt ja ein feinerer Mensch inbrünstiger, als nur Ebenbürtiges um sich zu haben; mehr noch: sich hinbreiten dürfen vor etwas, das besser ist als er. Glücklich nur in einer Welt, die ihn zum guten Durchschnitt reduzierte. Denn der sinnlich Wohlgeratene mag auch nur wieder Wohlgeratenes um sich dulden, anderes tut ihm zu weh in seinen Augen. Wer dagegen die Inferiorität seiner Umwelt mit befriedigter Eitelkeit, statt mit Qual und Scham konstatiert, gehört ihr selber zu, und ein Überlegenes solange hämisch umlauern, bis man glücklich einen Fehler, eine Lächerlichkeit, eine Schwäche daran entdeckt zu haben meint, ist untrügliches Pöbelmerkmal.
So wehrte sie sich qualvoll immer wieder, ihr Anderssein als Höhersein werten zu müssen. Vielleicht war alles falsch? Vielleicht ließ es sich doch noch abgewöhnen, oder ein Schleier wuchs einem vor den Augen, den allzu klaren, man sah nicht mehr wie kalt, unrein und träge die Welt ringsum war.
Erst vor der Wahrheit ihres vierzehnjährigen Aktes sank jeder Zweifel dahin. Hohe zarte Beine wuchsen aus allen Kleidern heraus, hoben sie höher, immer höher über Morast und Mob, lange Schenkel spiegelten durch alle Moden hindurch. Voll Ehrfurcht stand sie im Springbrunnen ihrer Glieder: dem hüftenlosen Strahl aus Milch und Silber. Wo er an den Flügelschultern in die Arme niederfloß, dort oben spielten in ihm zwei winzig harte Kiesel, von paradiesischen Wassern hochgeschliffen. Das Mädchen-Kind aber trank sich, berauschte sich mit zitternden Wimpern an diesem verwegenen, makellosen Strahl, zu dem es »ich« sagen durfte.
Und war von nun an nicht mehr gemein zu kriegen.
Aber warum, um Himmels willen, sollte man denn nicht so, ganz so, durch die Welt jubeln und alle rufen und ihnen diese ungeheure Freude immerwährend in ihre Augen schenken? Nicht einmal Papa sah es richtig und Mama verstand ja nichts davon.
Damals erweckte sie die erste grenzenlose Hingebung und beging die erste überflüssige Infamie.
In drei Zimmern, voll geretteten Strandgutes aus Lebensschiffbrüchen, wohnte Madame Paola Swoboda née Comtesse de Noailles »leçons de conversation et littérature française«. Ölige Korkzieherlöckchen hingen ihr, gleich der Kaiserin Josephine, in die alternde Stirn. Aus dieser wieder hing an einem dünnen Stiel mit Zwicker eine gedunsene Nase herab. Groß, würfelförmig und unendlich einsam saß sie den ganzen Tag vor der einen Seite des Löschblattes. Auf der andern saß jede Stunde ein andrer Frischling dieser verachteten Tribus und zergrunzte die adorable Sprache Racines und Molières. Auf das Löschblatt selbst aber malte während der Lektion die schmale alte Hand mit dem Rotstift unaufhörlich Schnörkel, wie aus einer bessern Welt. Ganz aus dieser besseren Welt herübergerettet schien nur der kleine Finger mit dem wunderbar geschliffenen Nagel. Sie hielt ihn immer ängstlich weggestreckt vom Vierten und seinem Doppelreif der Witwenschaft, nach einem österreichischen Leutnant Swoboda aus Greislerblut. Eine romantische Seebad- und Entführungsgeschichte. Epilog: » leçons de conversation et littérature française,« den ganzen Tag. Nur die Stunden vor und nach Sibyls Lektion blieben leer. Ein kleines Fest der Distanz zu Ehren der Lieblingin. Kein andrer Schüler durfte ihr Kommen kreuzen. Das bedeutete acht Stunden entgangenen Honorars pro Woche. Aber was machte es, saß nur dort wieder das Zauberkind mit den Zykadenbeinen und man durfte aus seinem Mund die eigne geliebte Sprache hören. Eine Blume, ein Bonbon bezeichneten stets die Stelle, wo weiterzulesen war. Später zerbrach sie sich ihren lieben alten Kopf, immer seltenere Proben der angebeteten Kultur aufzustöbern, und war glücklich, wenn etwas davon, so so – la la vor dem hellen Giraffenkitz ihr gegenüber Gnade fand.
Dieses nahm der Madame Swoboda dafür ganz en passant den lieben Gott weg und schenkte ihr zu Weihnachten, an seiner statt, einen leider ganz verlausten Papagei. Die alte Komtesse hatte ihr Leben lang den lieben Gott geliebt und Papageien gehaßt. Nun gab sie klaglos Gott dahin, weil die Lieblingin sich einmal mißbilligend über die Unsterblichkeit geäußert, und schloß das ganz verlauste Paperl mit Entzücken in ihr großes, zartes, brennendes Herz. Blusterte sich »Coco«, während der Stunde auf ihrer Schulter hockend, auf, streifte sein Brustflaum nur ihre Wange, traten ihr schon Tränen der Zärtlichkeit in die Augen: » chérie adorée«, und sie berührte sein Köpfchen mit den Lippen.
Eines Tages traf Sibyl die Französin recht niedergeschlagen. Eine Todesnachricht.
» Mon oncle, qui était toujours si bon pour moi.«
Nun entfiel der monatliche Zuschuß aus Paris. Zwar war sie im Testament bedacht worden, doch bis alles erledigt, konnte der Sommer vergehen, man saß da in der heißen Stadt, konnte ohne Bargeld nicht aufs Land, trotz der Erbschaft.
»Wie unangenehm,« sagte Mama, »nun ja, wenn du dein Erspartes dafür hergeben willst? Ich werde es ihr anbieten, als käme es von Papa und mir.«
Im Herbst war noch immer nichts erledigt. Madame Swoboda erbot sich, das Darlehen in Form von Lektionen abzutragen. Die Eltern nahmen an, wiewohl es Sibyls Taschengeld gewesen. Immer bedrückter wurde es in den drei Zimmern. Die Miterben hatten das Legat angefochten. Advokaten fraßen den Rest. Malheur mit Schülern kam dazu. Noch einmal half Sibyl heimlich aus mit allem was sie hatte. Heimlich, denn daheim war Panikstimmung. Das bürgerliche Gespenst des Angepumptwerdens ging schlotternd im Hause um. Papa stand wie vor einem Abgrund, bewegte stumme Lippen gegen einen unsichtbaren Belästiger, schüttelte dabei geniert und sauer das Haupt. Bei Mama war es direkt ein kopfloses Grauen, ganz wie im Theater, um vor Schluß rechtzeitig die Garderobe zu erreichen. Noch bei offener Szene drängte sie da, wie eine Gejagte, zum Aufbruch. Von der Mitte des letzten Aktes an war an sorgloses Zuhören nie mehr zu denken.
Einer eventuellen neuerlichen Bitte um ein Darlehen vorzubeugen, wurden die französischen Stunden abgebrochen; Vorwand: eine Reise. Wie vom sinkenden Stein die fliehenden Wellenringe, zog es sich jetzt von Madame Swoboda zurück. Warum eigentlich? Diese tolle und bedrohliche Erwachsenenwelt war immer voll solcher Sachen. Einmal gab Papa etwas wie eine vernichtende Erklärung dafür ab.
»Sie muß schon vorher vom Kapital gezehrt haben.«
Das klang wie: »seine eigne Großmutter gefressen haben«. Oder wie die Sünde wider den Heiligen Geist: auf alle Fälle das einzig wahrhaft Unsühnbare je und je.
Dennoch – dieser Abbruch schien zu unanständig – schickte Sibyl nach einem halben Jahr ein paar höflich liebe Zeilen, versprach einen Besuch, verschob ihn dann immer wieder unter der latenten Suggestion, vergaß schließlich ganz. Nach Monaten kam ein Weheschrei:
Aus Scham zögerte sie nun erst recht. Scheute diesmal das Aufgebauschte der ganzen Situation. Wieder nach einem halben Jahr war Madame Paola Swoboda née Comtesse de Noailles still, arm, einsam gestorben.
Die erste überflüssige Infamie. Das kam davon, ließ man sich von Erwachsenen auch nur halbwegs in etwas wie Beeinflußbarkeit hineindupieren, und überhaupt: »vom Kapital zehren« konnte gar nicht so wie etwa »die Großmutter auffressen« sein, gleichen Jahres tratschten es die Leute in der Sommerfrische doch auch von Papa. Allerdings war das Mamas Tun, Frucht ihrer zitternden Andeutungen von dubiosen Bergwerksunternehmungen. Gedrückt und machtlos schlich sie dahin: eine hilflose Frau eben, mitgerissen in den Ruin des halsstarrigen Gatten.
»Ich darf ja nicht klagen,« klagte sie der Tochter – dann bitter: »es ist ja sein Geld.« Rächte sich so, halb unbewußt, durch Kleinheitswahn für die peinliche Überlegenheit des erfolgreichen Gefährten, statt die Vorteile seines Arriviertseins froh mitzugenießen. Meisterin nur in einer ehelichen Kunst: » l'art d'être martyre.«
Ja, er hatte wirklich Verluste gehabt, Bruchteile seines jährlichen Einkommens betragend, ließ es aber aus Ärger oder Schwäche schweigend zu, daß reine Sparorgien anhuben. Sibyl, angesteckt, getraute sich kaum mehr zu essen. Es war ein stillschweigender Ehrgeiz zwischen Mutter und Tochter ausgebrochen, die Rechnung im Restaurant täglich zu verringern, auf ein lächerliches Minimum zu reduzieren; schließlich aß man nur mehr jeden zweiten Tag zu Abend. Die Sommergäste stutzten. In gleichen ängstlichen Wellenkreisen, wie vor Madame Swoboda, wich es jetzt vor ihnen zurück.
»Sie fürchten sich, wir könnten sie um Geld angehen,« und Mama rang die Hände im Schoß, mit der Miene verschlagenen Jammers. Dann begann sie zu weinen.
Die selben Leute waren später ehrfürchtig erstaunt, in der Stadt, anläßlich eines Blumenkorsos, in ein Privatpalais mit großem Park und angrenzender Fabrik geladen zu werden, mit Stallungen, Wagen und Dienerschaft. Auch Sibyl schöpfte wieder Mut: »das alles gehört doch Papa.«
Die Mutter, in der Not der fast ertappten Hysterischen, tat geheimnisvoll. Dann schadenfroh flüsternd:
»Im Haus ist doch der Schwamm.«
Der Schwamm! Sibyl meinte förmlich zu sehen, wie ihr Heim aufrechten Leibes verweste, eines schönen Tages aus den Grundmauern heraus zu stinkendem Brei zerfiel, vor dem man ratlos auf der Straße saß.
Durch den großen Organismus dieses Haushalts lief immer Geiz in Krampfadern. Im Licht von vierzig Glühlampen ward am Zündhölzchen gespart. Wunderliche Hemmungen im Hausherrn selbst. Starre, Schwäche, Wahn, ihm anhaftend aus enger Jugend, lag dem allem zum Grunde. Ein Kuß, ein Scherz, anmutiger Spott hätten diese Restbestände vielleicht lächelnd aufgelöst, so aber verbreiterte sie das karikierende Märtyrertum seiner Frau wie mit Scheinwerfern über das gemeinsame Leben. Schon stumme Duldung einer Ersparnis wurde zu stummem Befehl umgedeutet, dem man mit leidender Beflissenheit zuvorkam, wie um weit Ärgeres auf diese Weise eben noch abzuwenden. Seine intimsten Irrwege fand er solcherart immer schon vor seiner Nase zu Chausseen ausgebaut; was Wunder, daß er sie mechanisch weiterging.
Einer alten nordischen Stadt entstammend, war er als Erster aus der Geschlechterkette von Gelehrten, Staatsbeamten, Ärzten erobernd herausgetreten, in der Fremde die langgezüchteten Fähigkeiten lukrativ als Erfinder und Unternehmer zu verwerten. Kulturell Patrizier, materiell Parvenü, blieb der reine Ruf seines Blutes der Kargheit zugewandt, sein starkes künstlerisches Sehnen aber brach sich am Weltpofel dieses ganz von Gott verlassenen letzten Jahrhundertviertels. So schnellte er auch aus Trotz zuweilen wieder in die Kargheit zurück.
Ein jähzorniger, steckengebliebener Weltherr, dessen mächtiger nordischer Same durch den nichtigen Leib seiner hübschen Frau hindurchgeschlagen hatte, als wäre sie Nur-Gefäß, um in einem einzigen Kind geheimnisvoll sehnsüchtig sich selbst zu »überzeugen«. Oder rührte die Entstehung dieses Wesens schon an das Geheimnis, wo die Natur plötzlich zu »springen« anhebt: fecit saltus. Das Beispiellose aus sich heraufwirft in einer generatio spontanea als neue Art, wie es im Reich der Pflanze sich zu offenbaren beginnt? Maßlos für dieses Spätgeborne war seine Eitelkeit, seine Liebe und sein Unverstand. Gewaltsam, instinktirr, barbarisch und sentimental dilettierte er an ihm herum. Entfachte Diskussionen, um seinen Stolz in dem leuchtend frischen Hirn zu sonnen, zugleich mit seiner Tyrannei, denn nahm die Polemik eine andre Wendung als er vorausbestimmt, oder ward er gar selbst in die Enge getrieben, verbot er seiner Tochter einfach den Mund, und um so heftiger, je hohler der formale Vorwand:
»Genug – kein Wort mehr – ein junges Mädchen hat sich nicht so apodiktisch zu äußern, das wirkt unbescheiden und abstoßend.«
Wie sie als Kind nicht hatte weiter fragen sollen, als er wußte, so jetzt nicht weiter wissen, als er frug. Empört tat sie unter so unfairen Bedingungen nicht mehr mit, lehnte Diskussionen schweigend ab, oder gab ausweichende Antworten. Nun verfiel er darauf, sie bei Tisch, wo Flucht schwieriger war, systematisch so lange zu reizen durch hämische Angriffe auf große moderne Geister, die er nicht kannte, aber mißbilligte, bis sie, in zitternde Worte ausbrechend, sich wieder fangen ließ; denn hier war das ja anders als mit denen in der Tanzstunde; Papa wollte man nicht so ohne weiters aufgeben, wenigstens nichts unversucht lassen, ihn doch noch zu heben, zu entwickeln. Hätte es nur nicht immer gerade bei dieser barbarischen, gemeinsamen Esserei sein müssen, mit ihren trivialen Vorwänden zum Unterbrechen:
»Die Leber vielleicht etwas brauner rösten, das nächste Mal …« oder:
»Nimm noch von der Paradeissauce.«
So trieb dieses verhaßte, nichtige Erwachsenengewäsch stets Keile quer in die Gedankenrichtung hinein: gerade wenn man mit glühenden Ohren im Kühnsten und Herrlichsten gewesen.
Reitstunden begannen. Der Pferderücken wurde Ziel ihrer noch diffusen jungen Sinne. Ein Gefühl kam sie da an von Göttlichkeit, wenn ihr liebkosender Wille allein, ohne Hilfen durch Ferse oder Hand, übersprang als schäumender Galopp in die große fremde Kreatur, die zitterte, bis das Fell der Kruppe zu glänzen begann wie reife Kastanien. Und der Sturm des Sprunges erst. Wie war das schön! Sein triumphierendes Arom nach Tier, Lohe, Leder, Hürde, nach verdichtetem Frühlingswind.
Man grinste: »Reiten! Natürlich. Will sich einen Grafen fangen, die kalte Streberin!« Der Stallmeister verschwor sich, seit der Kaiserin Elisabeth sei so etwas an Begabung nicht dagewesen, drang auf hohe Schule, gab sein Bestes. Der väterlichen Eitelkeit jedoch genügten ein Dutzend Ausritte pro Saison, um in den großen Alleen angestarrt zu werden. Weitere Abonnements wollten erbettelt sein, gaben ihm dann das Recht, war er gerade schlechter Laune, zu rohen Anspielungen, die Kosten und dubiose Rentabilität einer Tochter betreffend. Da kam es wieder über sie wie am zwölften Geburtstag bei der Zimmereinrichtung: alles oder nichts. Kein Kompromiß. Und gab das Reiten auf. »Undankbar und unbescheiden« nannte es Papa.
»Man sieht Fräulein ja gar nicht mehr zu Pferd?« frugen die Herren aus dem Tattersall, freudig Unrat witternd.
»Es langweilt mich,« log sie, dem Weinen nah, um Papas Schäbigkeit zu decken, preßte die Nägel dabei ins Fleisch vor Schmach.
Man schüttelte die Köpfe:
»Nein, was dieser Backfisch schon blasiert ist!«
»Und wie unerträglich affektiert,« ergänzten die Damen. »Schauen Sie sich nur diese Bewegungen an.«
Und man schnitt mit triumphierendem Daumen längliche Biskuits von idealer Schlichtheit in die Luft. Optimisten meinten zwar: »vielleicht wächst sich das noch aus.« Hielten sich mehr an Milch und Silber der siebzehnjährigen Blondheit, denn wiewohl sie abfällig gereizte Erregung auszulösen begann, gab man nichts verloren. Vielleicht ließ sich dieses unbequeme Phänomen, tat man ihm schön, doch noch meuchlings – schmeichlings – zu dem degradieren, was hier gefiel, oder das Unfixierte an ihm war wenigstens noch herunterzuretten ins Rasselose.
Fern wie ein Birkenwipfel sah das Mädchen-Kind über das alles hinweg, dachte nur erstaunt:
»Wozu ernähren sich eigentlich die Leute? Schade um alle die Engel von Kälbern, den herzigen Salat, von den Radieschen ganz zu schweigen. Das ist doch wie es liegt und steht bei weitem erfreulicher als der Zellhaufen: Regierungsrätin Dostal, oder Herr von W., oder Frau Dr. K., in den es sich dann umsetzen muß.«
Eines Tages erschienen ein paar Herren in Hof und Stall. Besichtigten alles, vermaßen alles; in der Mitte ein Ausgemergelter mit Geierschnabel und schöngebogenen, harten Krallen: Pferdegraf und Käufer der Realität. Zimmer, Statuen, Garten kümmerten ihn wenig, schlief und aß er ja doch mit den Roßknechten im Heu. Aber ging es aus, im Hof die Viererzüge zu wenden, deren er vierzig hielt? Darum drehte sich alles. Ja, es ging aus. Mama schlich, die Faust an den Mund gepreßt, herum.
»Wenn er nur nicht dahinterkommt, daß der Schwamm im Haus ist.«
Nach Monaten noch konnte sie ganze Nachmittage unter Angst setzen, von Schadenersatzprozessen schwärmen, denn: »Schwamm bräche Kauf.« Ihre ewigen Klagen über Kosten und Mühsal so großen Haushaltes hatten schließlich den Gatten vermocht, sich von dem geliebten Barockschlößchen Hildebrandts zu trennen. Nun konnte ihre Tyrannei der Schwäche den überragenden Mann und das viel zu herrliche Kind in eine Mietwohnung ducken. Schwammersatz würde sich schon finden lassen.
Sibyl, in verkrampften Nächten, gab sich zum erstenmal ganz der Onanie des Leidens hin. Kein Eigenheim: also kein Reh, keine Katze, keinen Garten, keinen Fleck Leben mehr! Man grinste:
»Jetzt ist es wenigstens aus mit der ewigen Tierschinderei. Soll ja da eine ganze Menagerie gewesen sein.«
»Was, Sie wissen nicht? – Aber das ist doch stadtbekannt. Ins Wasser geworfen, gepeitscht, gebraten hat sie die armen Kreaturen … häuserweit war's ja zu hören … und auch sonst noch … Die Frau Regierungsrat Dostal, die doch danebenwohnt, hat erzählt … na, ich sag' Ihnen … mit dem großen Hund … Sie verstehen.« Die Herren zwinkerten. Die Damen konnten es gar nicht fassen, ließen es sich denn auch immer wieder erklären und sinnfällig dartun.
Papa brummte, es wäre ihr ja freigestanden, weiter hier zu wohnen, als Herrin sogar. Der neue Besitzer hatte sie zu Pferd gesehen.
Da hob das Mädchen-Kind, statt aller Antwort, nur ein ganz klein wenig die Brauen, im unbesieglichen Hochmut einer Siebzehnjährigkeit, die sich nur von der Phantasie bespringen läßt. Dieser Roßmensch? Der fuhr mit seinen Viererzügen doch irgendwo ganz draußen, vor dem Leben umher! Gehörte noch gar nicht zum »Eigentlichen«, ein fehler und irrer Vorhalt, wie das Übrige.
Ihr unruhig schlafendes Blut aber träumte davon, alles Würdige zu umarmen: Götter, Tiere, Ideen, Taten. Einer Dreieinigkeit aus Dionysos, Buddha und Newton hob es sich springrot entgegen, mit Hilfe des alten »Noch-nocher« aus der Babyzeit: noch höher, geschmeidiger, weiser, glühender, reiner werden. Dieser Trieb nach Reinheit, bis in die entlegenste Minute hinein, begann ihr etwas von einem jungen Gralsritter zu verleihen. Von diesem lichten Doppelgänger kam ein beflügeltes Schreiten, eine Schwerelosigkeit an den Grenzen der Flamme, des Schleiers, der Welle. Auch im Straßenschmutz sollte der Saum des Schuhs noch ohne Makel bleiben.
Doch sie war so ein ganz alleines Ich – nicht hilflos – aber ohne Hilfe und begann daher allmählich aus jenem vollkommenen Zustand der Gnade zu fallen, als welcher allein das reine Befolgen des Instinktes ist; wollte jetzt wissen, warum sie recht hatte, suchte nach Gründen, letzten Endes also nach einem Rechthaben vor der Welt, somit leicht angesudelt.
Es war eine Philosophie der Schlankheit, die sie sich da zurecht gelegt hatte: Das Wesen des Lebens sei Bewegung. Bewußte, aus Innervationen erfließende Bewegung, im Gegensatz zum Toten, das sich nicht bewegen könne … Demnach müsse alles Dichte, was der Durchflutung mit Geist entgegenstehe, als fehl empfunden werden, vollendet hingegen jener Kanon der Glieder, der die leichtest zum Ziel strebende Bewegung ermögliche – also Langbeinigkeit, Schlankheit (größte Übersetzung bei kleinster Speichendicke). – Das Lebendigste, jenes, in dem der Geist als Anmut schwinge, wie im Wimpel der formgewordene Wind. Fett sei demnach eine schwere Erkrankung oder ein Charakterfehler. Im Wohlgeratnen müsse es unaufhörlich restlos zu Temperament verbrannt werden.
Nicht aus ihm, nicht aus wucherndem Bindegewebe wollte sie bestehen, sondern aus Tausenden winziger Herzchen: den Muskeln, deren jedes das Leben wirkt.
Der ganze Körper eine Herzprovinz!
Man grinste nicht mehr. Von nun an war sie irgendwie eine dauernd Angeklagte, begann wie Scheidewasser auf ihre Umwelt zu wirken: wer etwas Schönes hatte, mußte es ihr geben, der Gemeine sein Gemeinstes an ihr auslassen.
Mit gezückten Operngläsern setzte man sich vor diesem anhebenden Leben zurecht, wie im Theater vor einer Skandalpremiere, hielt auf alle Fälle das Schamgefühl parat, in der Hoffnung, es gröblich verletzt zu finden.
Das Mädchen-Kind begriff nicht. Vor ihr war immer zwinkernde Beflissenheit, drehte sie den Rücken, flog es wie feige Bestien ans Gitter, sie fühlte das mit einer Art empörter Bestürzung, bekam etwas Steiniges und wäre doch so gerne weich, sonnig und höflich gewesen.
Mama hatte keinen rechten Schwammersatz finden können, suchte endlich in sich selbst, stöberte eine beginnende Stoffwechselerkrankung dort auf und begann sie mit Hingebung auszubauen.
Das Leben wurde zur Bühne der Dekrepidität.
Unkontrollierbare Schmerzen brachten Gatten und Tochter um den Schlaf ihrer Nächte. Die freie Hand über einen Stock verkrümmt, hing sie sich im schnellfüßigen, bewegungshungrigen Mann fest, machte ihn durch die gähnenden Gärten der Kurorte schleichen, bis er, psychisch hilflos wie ein Bernhardiner und voll Engelsgeduld, sich jedes normalen Lebenstempos zu schämen gelernt. Auf der andern Seite trug Sibyl mit hängenden Armen Plaid und Luftkissen. Plötzlich klagte es vorwurfsvoll durch die wehleidige Öde:
»Heitre uns auf. Jugend ist zum Aufheitern da.«
Besonders hinfällig gestaltete sich stets der Eintritt in Speisesäle, mit Stehpausen aus verbissenem Schmerz. Scharf grün blieb ihr Blick dabei auf jede Miene des Gatten zentriert – wehe wenn er zuckte. Dann weinte sie oben der Tochter vor:
»Er geniert sich. Es ist ihm peinlich, mit einer Leidenden gesehen zu werden.«
Hinter dem Rücken des Einen verleumdete sie den Andern. Kam es heraus, steckte sie sich hinter den Arzt: »Was, einer Kranken Vorwürfe.« Stets schlau bedacht, beides zu genießen: die Rechte der Vollsinnigen zugleich mit allen Vorteilen der Unverantwortlichkeit. Die Nachteile blieben den Andern. Über jeder lebendigen Regung hing als Damoklesschwert die Herzlosigkeit, und nie hätte der Mann es wagen dürfen, sich der unappetitlichen Fron des ehelichen Schlafgemachs zu entziehen, in dem seit Jahr und Tag für ihn weder Ehe noch Schlaf war.
Sie kannte Sibyls Haß und Verachtung für Frau Binder, seit der erzwungenen Abbitte im Tanzinstitut, und es gelang ihr unschwer, sich in die manische Überzeugung hineinzusteigern, nur im Hause Binder könne sie gesunden. Man solle die edeln, gütigen Menschen um Gottes willen anflehen, sie auf ein paar Monate als Gast aufzunehmen – mit Sibyl natürlich – ohne ihr einziges Kind ginge sie zugrund. Dieses knirschte vor Verzweiflung, solch bornierten und anmaßenden Spießern zu Dankbarkeit verpflichtet zu werden für alle Zeit, sie, die von niemandem, den sie nicht mochte, auch nur eine Handreichung annahm, oder das Odium des Muttermordes auf sich laden!
Das alles geschah weniger aus Bosheit, als um der eignen Person gesteigerte Bedeutung zu erschleichen. Da sich die Effekte abstumpften, griff sie mit der Zeit naturgemäß zu immer bedenklicheren Mitteln, ihre Lieben in Angst und Friedlosigkeit aufgescheucht zu halten. Schließlich blieb nur noch die Todeskoketterie wirksam übrig. Eines Tages sagte sie Datum, Stunde und Minute ihres Hinscheidens genau voraus, arrangierte das Szenarium, wies jedem seine Funktion zu. Sibyl wurde, als die Zeit kam, mit einem Batisttüchlein hinter den Lehnsessel postiert, ihr den Todesschweiß von der Stirn zu wischen, doch eben im Begriff, sich in ein wohlgeratenes Herzkrämpfchen hinaufzusentimentalisieren, ergab es sich, daß man heimtückischerweise die Uhren falsch gestellt, sie um ihre Todesstunde geprellt hatte.
Endlich eines Nachts versuchte sie es mit Veronal. Sah schon die » scène à faire« vor sich: andern Tags die zwei Bösen, Freien, zerknirscht vor dem Bett ins Knie gebrochen und sich selbst, von den herbeigeeilten Ärzten gestützt, noch schwach, aber unendlich rührend die Lippen bewegen:
»Ich wollte fort. Ich bin euch ja doch nur zur Last.« Und ohne Worte, nur mit stummem Blick, um die Übeltäter vor dem Personal zu schonen: »So weit habt ihr es glücklich mit eurer Herzlosigkeit gebracht.«
Sie vergriff sich aber in der Dosis – nahm genug. Der Vorhang hob sich nicht wieder.
Es war nach dem Trauerjahr, bei einer großen Teegesellschaft. Da trat ein Mensch zur Tür herein. Niemand kannte ihn. Um niemanden kümmerte er sich. Ging pfeilrecht mit nachtwandlerischem Lächeln auf Sibyl zu und blieb vor ihr stehen. Nicht wie einer, der etwas zu sagen, sondern zu hören kommt.
Er war jung, gradhaarig, schmächtig, doch von der verdrechselten Knorrigkeit van Eyckscher Engel, wie mit einem trotzigen Feigenblatt geboren. Aus der Haut einer Hostie sahen Augen des Illuminaten. Das Zahnbein war schlecht. Der Anzug unauffällig korrekt.
Johannes der Täufer im frock coat? Aber sie war verschüchtert, ja erschüttert von dieser zähen Gradheit. Angelus: der Bote fiel ihr ein. Frug schließlich, als er unbekümmert weiter schwieg:
»Was kann ich für Sie tun?«
»Es wäre eher an mir, so zu fragen, da ich zu Ihnen entboten bin.«
Er sprach herbe schlesische Mundart. Die Silben kollerten als kleines Urgestein aus seinem jungen Mund, der dabei eckig anzusehen wurde. Dieser Fremdling stand da – wie aufgetaucht – beladen mit den Morgengaben einer unbekannten Tiefe vor ihr, als sei sie die einzig lebendige Seele in der ganzen Welt. Er klärte nichts auf. Manches ergab sich, erriet sich, andres blieb: ein dunkler Reiz. Sie sprachen durch Stunden. Die Leute ringsum zogen am Rand ihrer Sinne in einem ganz andern Medium dahin, wie in den Wasserwürfeln der Aquarien bewegter Schleim zieht. Er machte sie spüren, sie sei behütet, irgendwie auserkoren, von geistigen Führern erwartet. Er, deren Bote und Mittler nur. Worte wie Sterne fielen auf sie nieder, von herber dunkler Glorie. Sie fing ein jegliches mit dem Herzen auf, denn ihr Hunger nach Seele war sehr groß.
Gabriel Gruner hieß der Fremde – nein: der Bote.
Wieder schossen die Silberdämpfe der Phantasie auf. In Tag- und Nachtträumen warf sie sich hinein. So gab es doch eine magische Brücke ins » Eigentliche«! Gab Schlüssel, die Reich auf Reich erschließen durch verborgene Kräfte im Menschinnersten selbst!
Mit seinen Holzschnittgebärden, mehr als mit Worten, hatte Gabriel Gruner an all das gerührt. Wie von fern, unnahbar der Rede, mystische Übungen angedeutet, die den Körper so von innen heraus verwandeln sollten, daß lebendige Zeichen am Fleische sich bildeten: Marksteine gleichsam auf der Vergottung Pfad. »Und sehen sein Angesicht, und sein Name wird an ihren Stirnen sein.«
Nie hatte sie Bibelworte so sprechen gehört. Seine Art ragte wie ein Magnetberg herein in den seichten Aufkläricht, die passive Intelligenz, den Unernst ringsum. Da sagte einer dies, der andre das – keiner sah aus wie das, was er sagte.
Endlich ein Ausweg. Loszukommen aus dem Leben ohne Tod. Ohne das heilige junge Gebilde zertrümmern zu müssen, das sie behüten durfte, und dessen Kniekehlen ihr verehrungswürdiger schienen als das Himmelreich.
Doch in welch eine Existenz war es gefallen. So voll Sonnigkeit sein und immer hinter innerlicher chinesischer Mauer, immer aus Notwehr in die Isolierzelle des Niveaus gesperrt bleiben müssen. Nur mit zusammengebissenen Zähnen war es eben noch zu ertragen gewesen. Aber konnte man denn anders? Läßt sich in kaltem Eiter atmen? Wo alle ihre verfaulten Jugendwünsche wie petrefakte Fötusse in sich herumschleppten, boshaft geworden an ihren feig verhaltenen Früchten! Fliehen mit dem geretteten jungen Seelenleib aus solcher Welt. Wie leicht mußte es sein, ganz auf sie verzichten.
Und Sibyl nahm sich Gott vor, mit Überspringung aller Zwischenstufen.
Sprang Gott an wie eine junge Löwin. Bei ihm würde man endlich in Reinheit geborgen sein, denn: »Da wird nicht hineingehen irgendein Gemeines und das da Greuel tut und Lüge, sondern die geschrieben sind in das Lebensbuch des Lammes.«
Eigentlich wäre ihr ein andres Tier und Kraftsymbol lieber gewesen. Nun also gut: »Lammes.«
Hätte auch gerne den Boten befragt, warum das innere Wort, als welches die geistige Wiedergeburt des Menschen wirkt, trägt und vollendet, gerade hebräisch sein müsse? Dem fremden Buch einer fremden Rasse in fremden Gleichnissen entschöpft? Flottierte der verborgene Geist nicht frei und ward je nach der Menschenart anders in jeder offenbar? Doch klang das nicht wieder trivial, roh, vorlaut, undankbar? Endlich bewundern, vertrauen, gehorchen dürfen, wie war das schön. Sie forschte auch nicht, als eines Tages der Bote geheimnisvoll verschwand, wie er gekommen. Fühlte ja förmlich den Ort der mystischen Bruderschaft: deutsche Herbe, Enge, Handwerk, Wald, dort in Gabriel Gruners schlesischer Grenzheimat, wo der Vater Organist gewesen.
»Man muß den Schild der Armut über die Schätze des inneren Lebens halten,« war alles, was er von sich gesagt.
Das gab es also wirklich! Auf dem selben Gestirn mit Gasrechnungen, Ex- und Import, Hundesteuer und Leitartikeln.
Brief über Brief kam voll Weisungen für die jüngste Jüngerin. Es war ein Werben ohne Werbung. Aus verborgenem Licht schlug sich ein Regenbogen von ihm zu ihr. Seine manische Sicherheit war frei von Anmaßung, denn hinter ihm stand mehr als Sterblichkeit, und das süße große Du brach ihnen aus gemeinsamer Jüngerschaft als seine erste Knospe auf.
»Mein geschwisterlich Gemahl im Geiste – zeitlos atmen mit Dir,« schrieb er einmal.
Noch andre Briefe kamen. An Papa. Mit Insinuationen. Das Auftauchen dieses Fremden war nicht unbemerkt geblieben. Eines Tages fand sie ihre Korrespondenz erbrochen; die widerlichste Szene folgte. Denn es ist eine indezente Wahrheit, daß die hoffnungslose Eifersucht von Vater zu Tochter, weil körperlich rein, um so gewissenloser mit allen psychischen Begleiterscheinungen der Ausschweifung, als da sind: Gewalt, Arglist, Betrug, Wortbruch, Verrat, in Form von Elternpflicht sich auszutoben sucht. Das jungfräuliche Kind steht nun empört, begreift nicht, weil kein grimmes Glück die Kette der infamen Nervenspiele je durchstößt und ihnen Sinn gibt.
Der junge Nebenbuhler wiederum kommt heil nur an dem leidenden Vatertier vorbei, befriedigt er maßlos dessen Eitelkeit, da wird es resigniert satt und still.
Über Sibyl aber ergoß sich nun eine ganze Marlittiade: wie Papa vermeint, eines Tages müsse ein Goethe, der zugleich Vanderbilt, englischer Herzog und französischer Botschafter, in einem Auto aus den Wolken fallen als sein Schwiegersohn. Die Tochter mochte bis dahin auf Eis liegen oder sonstwie Neutrum sein, wie es gerade für ihn am bequemsten schien.
Jetzt, bei der ersten Abweichung von diesem naiven Programm, beging er gleich das Allertörichteste: drohte, da sie minderjährig, mit der Polizei. Zurückbringen würde er sie lassen im Fall einer Heirat und den Mann wegen Entführung verhaften. Trieb Sibyls Selbstachtung damit in ein fait accompli hinein, wo bisher nur immateriell jungfräulicher Rausch gewesen.
All dies unwiederbringlich Zarte, das Edle, Einzige, Innige, alle Keuschheit erster Liebwerdung hing jetzt: ein abgehäuteter Seraph wie zwischen ausgespreizten Viehkadavern in einem Schlächterladen in seinen cruden Worten. Da sammelte sie sich in ihrer Trauer und Empörung, schwang sich wie eine Lanze – und traf – traf – traf den Menschen, den Vater, den Mann. Sagte, was sie nie gewußt, hellsichtig vor leuchtend intelligentem Haß, in Worten von leiser, blanker, tödlicher Mißachtung.
Und weinte und weinte dann auf ihrem Bett, fassungslos entsetzt über die Schöpferkraft des Hasses.
Zwei Jahre lang wechselten Vater und Tochter kein Wort. Am Tag ihrer Großjährigkeit ging sie aus dem Haus und ließ sich mit Gabriel Gruner trauen, war so erschüttert dabei, daß sie ihr eignes »Ja« überhörte, es später nochmals stammelte, taumelnd von dem cherubinischen Hochzeitsflug: dem Flügel an Flügel durch die anwachsende Glorie fließen, ohne Trennung, ohne Tod, lotrecht auf den Fluten des Strahls – bis zu Gott. Das sollte die Ehe sein.
Ihre scheuen Knabenkörper kannten einander kaum.
Schwarzgekleidet bis zum Hals saß Gabriel in der Sonne und sagte:
»Es fehlt dir an Demut.«
Seine Macht war sehr groß; ging aus von der verborgenen Morgengabe hinter dieser breiten, bleichen Stirn. Sobald er sprach, lag ihre Seele quer über seinen Knien und die flutende Empfindung spülte jede Vision herauf, deren er bedurfte.
Bei diesem Wort: Demut aber stockte die schöpferische Hingabe. Langsam stand sie auf, wie ganz wo anders. Ihr Gesicht schwebte in die Höhe, kantig wie ein Windenkelch und plötzlich von heidnischer Eleganz.
»Demut!« Das Wort mußte doch jedem Menschen mit Selbstachtung irgendwie widerstehen. Ja: hätte er »Ehrfurcht« gesagt, das wäre etwas anderes gewesen. Demut ist Ducken, Ehrfurcht sich aufrecken zu Gott.
»Gut, gut, man weiß schon: ›Wir sind allzumal Sünder und sollen nicht wider den Stachel löcken.‹ Und ich sage mindestens drei Lügen an einem einzigen Vormittag und verunreinige sie auch noch mit Wahrheit, daß es einen Sudel gibt, und da ist kein heiligster Augenblick, in dem ich nicht auch ein klein wenig an meine Frisur gedacht, und kein Erkenntnisrausch, den das Wort »Jause« nicht ganz freundlich unterbrochen, und da ist kein geliebtester Mensch, dessen Tod ich nicht spielerisch ausgekostet und durchprobiert hätte. Aber das schießt alles wie Sternschnuppen: rechts und links vorbei. Innen steh' ich ohne Demut, bis in die Seelenspitzen aufgereckt in Sehnsucht nach dem Reinsten, und so sehr kann ich wollen, daß mein Herz aus der Brust greift und es sich nimmt.«
Sie hatte die ganze Zeit geschwiegen. Gabriel Gruner bekam seine manisch hellseherische Knorrigkeit:
»Man darf nie etwas wollen. Wer nicht mehr will, zu dem kommt alles.«
»Dann braucht er es nicht mehr,« sagten die zwei störrischen Sternsaphire oben in dem kantigen Windenkelch von heidnischer Eleganz.
»Nur solang ich mich danach zermartre, brauch' ich's. Nur solang jahrelange herzzersprengende Sehnsucht sich, fahl vor Ungeduld, an unsichtbaren Widerständen schluchzend zerstört: da mitten hinein hat die Erfüllung zu brechen oder sie ist nichts.«
Etwas Taubes war in seine Haltung gekommen. Das, was sie »das Feigenblatt vor dem Kopf« nannte. Als wiche zur Strafe ihrer Störrigkeit die verborgene Verheißung hinter seiner Stirn weit von ihr zurück.
Nein, nur das nicht. Sie warf sich ihm nach. Gab alles Eigen-Sein, überhaupt alles Sein auf, übte Demut und versuchte die Sehnsucht zu verlernen.
Der geistige Führer war ein Doppelwesen. Hieß Scheible und Radinger.
Jeder für sich war nichts. Stiller, ländlicher Handwerker in schlesischem Walddorf. Zusammen bildeten sie ein magisches Zwiegeschöpf, dem Seherschaft eignete, inneres Schauen, Führertum. Ob ihre Körper dabei räumlich getrennt, blieb belanglos.
Im Alltag war Radinger, der Schreiner am Dorfplatz, weitaus der Bedeutendere: von intelligenter, schlichter Großartigkeit, dem Selbstporträt Dürers ähnlich, doch mystisch ohne Schöpferkraft. Das »in den Geist kommen« hub stets in Scheible an, einem alten Flickschuster, von kläglicher Wortarmut, unbeholfen, auch bresthaft. Nur wenn diesen kleinen Greis – in seiner Werkstatt oben am Kirchenhügel, die er selten verließ – Starre und Traum befiel; wenn er, gleichsam horchend über den kreißenden Geistkeim in sich gebeugt, dasaß, dann begann es aus Radinger in Sturzgeburten zu reden, als das »innere Wort«. Das »innere Wort« gab auch jedem Schüler den ihm eignen Geistnamen. Das Lebendigdenken dieses »wahren Namens« sollte allmählich den Leib, den »alten Namen« verwandeln zu Geist. Angeblich unverkennbare Anzeichen äußerer Art am Körper: wie Wundmale, Linien, Buchstaben, begleiteten diesen verborgenen Werdegang. Markierungen auf dem inneren Pfad, vor jedem neuen Gipfel und Ausblick. Diese Vorgänge durch Übungen wecken, ihr Kommen voraussagen, den Schüler rechtzeitig lehren, wie er sie auswirke, durchlebe, überschreite, war des mystischen Führers Mission.
Geistnamen, Vorzeichen, Zustände, alles war eng christlich an Symbol und Diktion, ging in den Sielen der Apokalypse.
Die kleine Gemeinde hatte sich hermetisch rein zu erhalten gewußt vor dem alles wissenden Schnüffel des Zeitgeistes. Da gab's kein Dranhinriechen, kein Hinterbein zu flüchtiger chemischer Analyse dranheben, so einfach zwischendurch, im Galopp von Prellstein zu Prellstein.
In den vierzig Jahren seiner gemeinsamen Bahn hatte das innere Doppelgestirn kaum acht bis zehn Trabanten aufgenommen in seinen Wandel. Als Ersten Gabriel Gruners toten Vater: den Organisten. Ein alter Stich zeigte ihn von jenem grobkörnigen und süßstarrsinnigen Schlag, der als Herrnhuter, böhmische Brüder, Rosenkreuzer, Albingenser Europa von je seine bockbeinige Elite gegeben.
Sibyl hatte das magische Doppelwesen noch nicht zu Gesicht bekommen, wußte nicht einmal seinen Ort, war Jüngerin durch Gabriels Mittlerschaft allein. Ungeheure Abweisung wehrte von vornherein jeder Frage, noch ehe eigener Takt sie verbot.
Ab und zu tropfte einer aus dem geheimen Kreis herein, verwirrte sich ob ihrer Erscheinung, noch mehr als er entdeckte, wo sie schon hielt, oder man fuhr plötzlich fünfzehn Stunden an einen ganz obskuren Ort, traf die Brüder einen Abend lang – fuhr wieder auseinander. Dabei wurde kaum gesprochen, das lagerte um den Tisch eines beliebigen Kaffeehauses, kühl und schwer wie Schlangen, und verdaute Seele. Alle hatten etwas lind Versinkendes: Schiffe mit zu viel Tiefgang, schon die kleinste Welle überspülte sie. Dann wieder fing einer was an: eine Fabrik, ein Studium, eine Kunst. Nie wurde was Rechtes draus. Von Fehlschlag zu Fehlschlag nickten sie einander saturiert mit steinharter Genugtuung zu. Hatten ein Lächeln des Ekels für siegreich Unbeschwertes. Immer hing aller Mißerfolg mit dem »inneren« Wort zusammen. Statt nun praktische Ziele ganz zu lassen, bohrten sie doch immer wieder weiter, halbherzig, und sauer ahndevoll.
Gabriel Gruner war Quartalsasket.
Sein Geistname Matthias, als welcher, nachträglich den Aposteln zugeordnet, mit ihnen ausgestreut ward in die Welt, gab symbolisch Veranlassung genug, sich plötzlich in Geselligkeit zu stürzen, die Geselligkeit ihrer Geburtsstadt noch obendrein. Gerade hier war es ihm gewiesen zu wohnen. Ganz in die Nähe zogen sie aufs Land. Blinkende und kleinliche Sachen trug er ins Nest.
Daran nahm sie kein Teil. Alles oder nichts. Entweder Herzog oder Anachoret. Mayfair oder die Wüste Gobi. Zu Palast oder Steinhöhle konnte sie »Heim« sagen – zu einer Sommerwohnung nie.
Doch war das alles nicht leer und gleich? Hatte sie, Sibyl, sich nicht Gott vorgenommen mit Überspringung aller Zwischenstufen?
Sah sich manchmal ameisenklein, hierhin, dorthin rennen, in Vorortzüge krabbeln, und stieg dabei, inwendig riesengroß, in einen tiefen Bronnen, sah über sein erlöstes Rund noch einmal zurück nach dem fremden Flohzeug: sie selbst, das vielleicht gerade um einen Platz rang, in der rollenden Streichholzschachtel, auf ihrem steifen Stahlfaden zum Spinnennetz Stadt. Was das Ameisige dort Klägliches trieb, war belanglos. Ihr Körper hob sich indes wie ein Gefäß wieder aus der Fülle des inneren Bronnens, und als solches blieb sein Umriß ihr teuer wie nur je.
Als ein Kind die mondweiße Mulde zwischen den Barsoiflanken beulig zu heben begann, nahm sie selbst stets genau soviel ab, als die Frucht schwoll, sog die feinen, harten Sehnen straff ein, ohne Erlahmen, von Willen übergossen.
»O das kommt schon von selbst wieder in Ordnung,« sagten überlegene Mütter, bei denen es offensichtlich doch nicht wieder in Ordnung gekommen.
Von Monat zu Monat hoben sich zudringliche Lorgnons höher in der gestielten Erwartung: endlich, endlich »normal«.
Nein, die noble Mulde füllte sich nur eben aus. Ein planer Spiegel blieb die Grenze.
Die Lorgnons bebten entrüstet:
»Es ist nicht natürlich.«
Sie hob die Brauen stumm, leicht belästigt. Dachte:
»Hat man je gehört, daß eine Löwin vor dem Wurf die Figur verliert? Nein, nur das Mutterschwein. Ist ausschließlich dieses ›natürlich‹? Ihr, die nicht laufen, springen, tauchen, klettern könnt – nichts von der Natur könnt ihr, wie sie als Knüppel mißbrauchen, um jeden edeln Aufstieg niederzuhalten.«
Schon liefen anonyme Anzeigen wegen verbotenen Eingriffs bei Gericht ein, da trieb ein Wirbel von Wehen das Ausgetragene springlebendig aus.
»Den Schild der Armut über die Schätze des inneren Lebens halten.«
Jeden Morgen gab Gabriel zehn Kronen für den Haushalt, um elf schon mußte das Mädchen ihm von dem Geld eine Schachtel Zigaretten zu acht Kronen holen. Sie lernte Bögen gehen um Eckladen, von Endsummen in Einkaufbüchern wegschauen, erst auf den zweiten, dritten Blick sich nahewagen, vor dem Kohlenmann in den Platzregen entweichen. Dabei glaubte man sie reich, den ländlichen Taubenschlag eine Inseparablelaune der einzigen Tochter aus vermögendem Haus. Sibyl merkte, wie alles sie langsam abzutreiben versuchte vom pfeilrechten Stolz, und blieben Geldfragen zwischen den Gatten auch ignoriert, zuweilen glitten Gabriels Augen, des Illuminaten in der Haut einer Hostie, doch so wartend erstaunt über sie hin. Wenn er nur nicht anfing, den Zauber nicht bräche. Überwand sich schließlich aus Angst, er könne es doch noch fordern, kam ihm zuvor, ging zu dem alten Familienanwalt, der sie als Kind auf dem Arm getragen.
Aber natürlich. Das kleine Vermögen mütterlicherseits war seit der Großjährigkeit fällig. Man würde die Herausgabe brieflich von Papa verlangen. Da kam er auch schon gekrochen, die starren Glasaugen aus ungeheurer Macht würdelos vor Einsamkeit. Aber es war zu viel, es war zu viel gewesen. Das, was man fieberhaft gern geküßt, mit den graublonden Wellen über der Stirn voll trotziger Falten, lag längst mitverkohlt im hellichten Haßstrahl von damals.
Was blieb: ein fremder alter Mann – sonst nichts.
»Komm mit,« bat Gabriel, aus monatelangen Versunkenheiten aufschreckend zu seinem periodischen Anfall wahllosen Menschenhungers, und wies eine Einladungskarte.
»Ich kenne diese Hersons doch gar nicht. Übrigens, welch ein Name, – so heißt man doch nicht ganz von selber? Weder deutsch, noch englisch ist es.«
»Dein hellsichtiger Hochmut! Immerhin, der Sprößling vom alten Leiser Herschsohn ist bereits in Eton erzogen: Gelehrter, Sportsmann, Weltmensch, gegenwärtig Professor in Cambridge – kann noch Vizekönig von Indien werden.«
»So,« sagte Sibyl. » Dieser Ralph Herson.«
Der alte Bankier begrüßte jeden, ganz fahrig vor Glück.
»Mein Sohn ist zu Besuch!« Und zitterte. Saß sonst mit einem schwarzen Seidenkäppchen auf dem Eierschädel und verachtete alle seine Gäste. »Wer schon zu mir kommt …« Spitzte höchstens ein Ohr, fiel irgendwo das Wort »Million«.
In der Bibliothek staute es sich heute interessiert, alle horchten, einer sprach: ein dunkler großgewellter Greifenkopf auf eher kleinem, überaus wohlgebautem Körper. Warmes Wogen ging in die Luft über von diesem Haar, durch das ein weißer Strähn, wie der Montmorencys silberte. Die Augen, gleich braunen Beeren, von denen die eine größer war, spannten sich in ewig wacher Vitalität.
Sibyl erschien in der Tür und es geschah wie immer: alles wandte sich und starrte. Auch aus dem Schwarm um Ralph Herson stieß es sich jetzt ab, und wie ein gesträubter Kometenschwanz ihr zu.
Einen Augenblick standen er und sie, von Augen umklammert an den zwei Enden eines leeren Luftstrahls. Man sah sein Herz im Halse. Dann war es, als nehme er seine ganze magnetische Vergangenheit zusammen, würfe sie über die Frau. Sie stand, mit feinem Fluidum übergossen. Es flutete an ihr hinauf, drang, zurückgewiesen, nicht ein, rann ab. Er senkte die mächtigen braunen Augen wie bestürzt, bewußt knabenhaft, dozierte weiter, ignorierte sie. Zog später Gabriel sehr höflich ins Gespräch, verneigte sich nur stumm vor ihr. Ließ alle übrigen, lud das Paar zu sich in den ersten Stock, zeigte seine naturwissenschaftlichen Sammlungen, seine Bilder, das photographische Atelier. Bat kommen, Aufnahmen machen zu dürfen. Entzündete den großen Gaskamin, rückte Klubsessel, Kissen, arrogant und demütig zugleich, gab nicht Ruhe, bis er es endlich erreicht hatte:
Die jungen Sternsaphire sahen ihn an, prüfend und groß.
Er senkte den Kopf, den Wohllaut der Schultern. Hatte eine Art hinter blinden Lidern die Augen erst mit Wärme sich füllen zu lassen, dann warf er die zwei Schalen voll schwebender Minerale dem andern mitten ins Gesicht. Vor Sibyl aber ließ er es. Hob die Lider nicht mehr – leerte quasi seine ganze Macht vor ihr auf einen Gebetsteppich aus.
Nach korrekter Pause machte er seinen Gegenbesuch auf dem Lande, machte Meisteraufnahmen, ordnete Gewänder, demolierte die Wohnung, unter der schwarzen Schabracke des Stativs ein moderner fünfbeiniger Zentaur. Schickte Separata seiner Arbeiten, trug seine überlegene Sinnlichkeit wie eine wabernde Toga, zeigte Menschen-, besonders Frauenmißachtung, zitternd vor Anspruch, unterstrich den Unarier, den Ungermanen, zielte, wunderbar ebenmäßig gebaut, auf ägyptisch-griechisch » made in England«.
Sein engeres Fach war das Tierexperiment. Er arbeitete gerade am lebenden Vogelauge, hatte nebenbei einen Python unter dem Messer, von Hunden, Katzen, Fröschen, weißen Mäusen zu schweigen, alles provisorisch in einem Pavillon des väterlichen Gartens untergebracht. Er lud sie zu einem besonders interessanten Versuch ein, wurde abgewiesen. Nahm es als Weibchenpose einer großen Fee. Sie hatten heftige Diskussionen. Sibyl leidenschaftlich, ging aus sich heraus. Er provozierte, genoß es als erlesenes Extraexperiment.
Sie blieb im Garten, angeekelt.
»Heil aus gemarterten Tieren muß letzten Endes Unheil sein. Ihr Vivisektoren vergeßt, daß Äskulap der Sohn Apollons ist. Fördert die Hartfühligkeit, wie kann da der delphische Mensch gedeihen: Einer, dessen Leib so sensitiv geworden, daß ihn schon ein Lorbeerblatt, in der hohlen Hand gehalten, hellwissend macht und heil. Lorbeermenschen brauchen wir!«
Er widersprach, hochfahrend gereizt, und unterwarf sich im selben Atem. Wer rede vom »Heilen«, das interessiere ihn nicht, aber ohne Sinnesphysiologie gäbe es kein Verständnis der tiefsten Dinge. Dazu sei die Vivisektion eine praktisch unentbehrliche Technik, genau wie die chemische Analyse, die ein Anhänger der Allbeseeltheit – er schüttelte sich vor Ekel bei dem Wort Seele – dann allerdings auch unterlassen müßte. Er persönlich gebe zwar das Tierexperiment endgültig auf, sobald sein großes vergleichendes Werk vollendet. Laienhafte Sentimentalität dagegen wirke lächerlich. Nie hätten es Tiere in der Natur so gut, gingen so human zugrunde, würden so behandelt und gepflegt wie Versuchsexemplare vor und zwischen den Experimenten. Sie möge sich persönlich überzeugen, wie die Tiere an ihm hingen. Er pfiff. Aus dem Pavillon brach Freudengewinsel. Ein verbundener Köter kam herausgekrochen, leckte seine Hände. Er streichelte, wie das Schicksal streichelt:
»Nächste Woche kommt er wieder dran, aber er weiß es nicht – das ist die Hauptsache. Nur ich weiß es voraus.«
Er lächelte, gab dem Geschöpf, das ihn wedelnd umhinkte, einen Leckerbissen. Dann reiste er ab.
In einem großen Kuvert des Nizzaer Tennisklubs kamen als Überraschung Meisteraufnahmen von Baby und Gabriel – keine von ihr. Ein Brief dabei, zwölf enggeschriebene Seiten. Sie las kaum die erste. Er schrieb von den Bildern, freue sich, daß ihr die früheren einiges Vergnügen bereitet. Noch mehr freue ihn, da er sie über Phrasen erhaben halte, der Wunsch eines Wiedersehens.
Und weiter:
»Ich darf Ihnen wohl aus so großer Entfernung und ohne die Bitte um Geheimnis sagen, wie sehr gerne ich Sie gewonnen habe. Es ist gewiß nichts Seltenes, daß man Ihnen das sagt oder andeutet, aber es ist etwas außerordentlich Seltenes, daß ich das jemandem sage, daß ich es sagen kann. Ja, ich habe es wie hier, ohne den leisesten egoistischen Anklang, noch nie einer Frau gesagt.
Ihr ganzes Wesen, Ihre psychische Eigenart, Ihre noble Persönlichkeit, viel mehr noch als selbst Ihre Erscheinung – dies alles sprach mich gleich das erstemal so an, daß ich fast zu allem ›ja‹ sagen mußte. So oft ich mit Ihnen beisammen war, gewannen Sie, während die meisten Frauen rasch verlieren. Wo mich andere hundertmal verletzt hätten – ich meine natürlich sich selbst verletzend, ihr eigenes Bild trübend – haben Sie mich nicht mehr als vielleicht zweimal verletzt. Ich hätte das gar nicht für möglich gehalten.
Sie haben mich arm und reich gemacht. Reich, weil ich meine ganze Vorstellung von der Frau erhöhen konnte, weil ich erfuhr, daß es doch Wesen voll Anmut und Noblesse gibt, die meinem klar geahnten Ideale nahekommen; arm, weil ich, seit ich Sie kenne, noch anspruchsvoller geworden bin. Weil ich die Frauen jetzt an Ihnen, nicht mehr bloß an einer abstrakten Sehnsucht messe, und kaum je eine finden werde, die Ihnen als meine Frau vorzustellen mich auch nicht in einem verborgenen Winkel meines labyrinthischen Inneren genieren wird.«
»Labyrinthischen Inneren« – da brach sie ab und lachte. Ohne Bosheit, aber unbändig wie ein Bub. Nein, dieses »labyrinthisch«. Wie geschmacklos!
Nächsten Tags nahm sie den Brief doch noch einmal auf, wog ihn in der Hand, las diesmal nur die letzte Seite:
»Es fällt mir schwer, Ihre und Ihres Herrn Gemahls Gesellschaft zu missen. Ich bin Geselligkeit liebend und bedürftig, aber ich finde sehr schwer Menschen, mit denen ich auftauen, mit denen ich freundlich sein kann – ich bin es überaus gerne – oder die mir sogar Funken entlocken können. Ich danke Ihnen manche Anregung und freue mich, sie zu erwidern. Am schönsten wäre es, wenn wir uns einmal in England oder in Italien oder im Hochgebirge treffen, miteinander Sport treiben oder Kunst genießen könnten. Ich mußte immer allein oder mit gleichgültigen Menschen reiten oder reisen oder bergsteigen – vielleicht habe ich auch einmal die Freude, Sie beide als meine Gäste zu sehen, im Süden, wo ich mir ein Heim zu bauen gedenke.«
Sie antwortete kaum. Doch durch Monate, über Länder und Meere her, kam es »hochachtungsvoll« herbeigeströmt. Einmal auf Briefpapier der British Association, einmal mit dem Abdruck einer Gemme aus Syrakus. Dann wieder eine Anfrage, ob er ihr aus Paris etwas besorgen könne.
Sie antwortete gar nicht.
Nun schrieb er:
»Wenn ich jemanden gern habe, ehre ich seine Freiheit – wenn Sie just einmal keine Lust hätten, mich auf der Straße zu grüßen, ich würde nichts anderes denken, als eben dies.«
»Was will der seichte Jude!« sagte Gabriel, mit der ganzen knorrigen Hoffart des Reformationspatriziers, als beim Frühstück immer die gleiche vergrößerte Schrift bewußt und wohlerwogen den Spiegel exotischer Kuverts plastisch durchmaß. Papier, Schriftbild, Verschlußmarke: ein zusammenstilisiertes Kunstwerk, stets variiert, doch gleicher Grundkraft, so daß sie sich gewöhnte, es um sich zu dulden, als ästhetischen Genuß. Ein warmer Schauer von lauter viereckigen Ausschnittchen einer weiten und gepflegten Erde. Alles, was sie gelassen in Sehnsucht nach noch nicht dagewesener Überhöhung – im Spitzentrieb nach Äußerstem.
Dann sank eins ums andere aus dem Schwarm dahin in den Papierkorb, sah ihr von dort doch noch in die Augen – hartnäckig durch Wohlgestalt.
Auch sein Schweigen war Kotau.
»Ich hatte Ihnen aus Bonn und Heidelberg geschrieben, fand kein Ende, vielmehr, es gewann nicht die Form, in der ich Ihnen Geschriebenes gern sehe. So ließ ich's ganz.«
Also keine »labyrinthischen« Innereien mehr!
Um das Rätsel ihrer Ehe: dieser magischen Starre eines geschlossenen Systems, glatt gegen Angriff, strich er mit eingezogener Hinterhand, leise fauchend. Wagte keine Frage.
Alle Probleme des Wissens erörterte er mit ihr als Macht zu Macht. – Versuchte, sie zur Detailforschung herüberzuziehen, weg von den großen Grenzgebieten. Doch als Beweis, wie er auch hier zu Haus, verfaßte er eine Broschüre über »Scheinprobleme« mit Anpöbelung aller mächtigen Geister von je bis ehegestern. Schrieb dazu:
»Wollen Sie diese kleine Studie als Ihnen gewidmet betrachten. Sie haben mir immer so wohl getan, daß ich Ihnen stets nur Angenehmes erweisen möchte. Mögen Sie dieses bescheidene Zeichen einer außerordentlichen Verehrung freundlich und freundschaftlich aufnehmen.«
Sie lehnte die Widmung ab, übte höflich schonungslos Kritik an dem Dilettantismus der Arbeit, geübter, intensiver im letzten Zusammensehen, denn dies war ihr eigenstes Gebiet.
Er ging über die sachlichen Einwürfe hinweg, nahm es persönlich, wenn auch als milder Psychiater, schob alles auf Rassenunterschiede.
»Ich bin sehr schwer zu beleidigen,« lief seine linde Entgegnung, »habe aber natürlich nicht länger als zwei Minuten – nicht zwischen den Zeilen gelesen – Absicht merken lassen und doch nicht merken lassen, das geht eben nicht, aber es hätte mich gefreut, wie alles, was Sie erhöht, wenn es auf so feine Art geschehen wäre, daß man ganz im Zweifel hätte bleiben müssen, ob eine verletzende Absicht vorlag. Das war Ihnen wieder nicht wichtig genug! Sie sind offenbar enorm reich! Ich ganz Alter vermag sogar die Frische solch scharfer Urteile zu genießen, die, wie fast alles, was von Ihnen ausgeht, eine besondere Anmut haben. Es erinnert an Jugend und Überschwang, fast Schnurspringen. Aber ich wittre etwas anderes dahinter, was neben der metaphysischen Narrheit – oder milder: Überflüssigkeit – in den allermeisten Ariern steckt, nämlich eine gewisse Not und Sorge, eine privilegierte Fasson der Erkenntnis und Seligkeit zu besitzen. Solchen paßt ein vorurteilsloser Standpunktwechsel nicht, sie häufen Scheinprobleme in Physik, Chemie, Biologie, umnebeln sich mit philosophischem Schwulst, der den einzigen Vorteil hat, daß ihn kein normaler Mensch versteht und man in ihm ›unter sich‹ ist. In dieser arischen Intoleranz, diesem Bonzentum und Parteinehmen aber liegt etwas Armes, und es stimmt mir nicht zu ihren sonstigen Weiten. Mein Wesen ist zu sehr Vernunft, praktischer Idealismus und Güte – Güte und noch einmal Güte ›bedingungslos‹.«
Immer, wenn er etwas Schönes sagte, was sehr rein, sehr vernünftig klang, zog sich ihr durch den Reiz ein leiser Widerwille, als hätte er so Richtiges zu sagen noch kein Recht.
Und diese dreimal hochgehaltene »Güte«! Als schwenke er sie – einen Gelegenheitskauf – frisch von der Auktion. Sie bohrte weiter:
»Zeigt die Begeisterung, mit der er von ›bedingungsloser Güte‹ spricht, nicht gerade, daß ihm jede praktische Erfahrung in der Materie fehlt? Mir scheint, wer wahrhaftig gütig – noch traf ich keinen –, ist es knirschend, abgewandten Gesichts, weil er nicht anders kann, trotz infamster Erfahrung, denn das ganze Maß menschlicher Gemeinheit kennt nur er, weil nur an ihm die Feigheit ganz sich loszulassen wagt.«
In diesen Monaten sumste es durch alle Türritzen in ihre siebzehnfach verriegelte Zurückgezogenheit: Geschmeiß, die Rüssel naß vom Aas allen Tratsches, der hinter ihm herstank. Nun rächten sich Gabriels Anfälle von Leutegier: flüchtige Vorstellung, einst mit einem Nicken quittiert, ward zum Vorwand stürmischer Begrüßungen an Straßenecken, und nach drei Sätzen fiel der Name des Berühmten – Berüchtigten. Ungute Damen verwandelten sich in mütterliche Freundinnen, Lebekommis in ethische Warner. Man übergruselte sich gegenseitig mit Andeutungen der Wollüstlingslaunen dieses Verderbers der Jugend. Mütter beteuerten, ihre jungen Söhne nicht in seine Nähe zu lassen, ihre jungen Töchter aber warfen sie ihm alle nach, denn er war die große Partie.
»Rein de Thier mißt mer zusperren vor den Damen,« sagte der alte Leiser Herschsohn, ganz angeregt, und rückte sein schwarzes Käppchen – sehnte sich nach einer Schwiegertochter, nach Enkeln.
War er wieder im Lande, sah Sibyl es sofort. Selbst die entferntesten Cousinen der Clique erschienen plötzlich mit Sportmützen aus Pardelfell, hielten Regenschirme wie Thyrsusse, und schaute man hin, wandten sie sich ins Profil, mit einem fragwürdigen und grausamen Lächeln.
Sibyl amüsierte sich: der Arme – welch ein Evoe-Kitsch – das verdient er denn doch nicht. Zu ihr und Gabriel kam er stets am letzten Tag vor einer unaufschiebbaren Abreise, versäumte zwar den Zug, fuhr aber doch mit dem übernächsten. Ritt rauh, arrogant, störrisch seine Steckenpferde vor: Philosophie des Standpunktwechsels, Zuchtwahl, Eugenetik; gewaltsam, unpersönlich und heftig. Als Baby Charmion hereinkam, brach er ab, vor diesem Arielwesen beugte sich das zerrissene Greisengesicht andächtig über die rosigen Füßchen. Dann wieder brutal dozierend.
Jede phänomenale Frau müßte von Staats wegen mit sechs – sieben auserwählten Männern Kinder bekommen. Welch ein Versuchsmaterial das ergebe.
»Und wenn sie nicht will?«
Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Übermut, Grausamkeit, Verspieltheit, Wollust rann aus den Augenecken über das schöne Gesicht, und von seinen eigenen, dunklen, magischen, unerhörten Strahlen gehoben, mit einer glücklichen, brechenden Knabenstimme:
»Dann wird sie angebunden.«
Beim Abschied in die laue Sommernacht hinaus, vermied er sorgsam ihre Hand. Verbeugte sich nur bös und tief. Dann tonlos vor Erbitterung: »Sie sitzen hier in diesem Nest und die ganze Welt dürstet.«
Um Weihnachten, Gabriel war in Schlesien, ließ eine Dame sich melden. Ralph Hersons Empfehlungsbrief lag eine Visitenkarte bei: Lady Tatjana de Walden war unter weißem, dekorativem Wappengetier zu lesen.
Gleich darauf stand eine Frau im Zimmer, exotisch, robust, resolut und unfrei zugleich, die Arme voll Blumen, ein großes Kuvert in der Hand. Schaute und schaute in fast tierhafter Spannung mit schönen, grauen Augen unter allzu neugelbem Haar. Keine Engländerin. Das sah auch Sibyls großgewordene Kindlichkeit. Keine Fremde, eine Überfremdete nur. Sie sprach in vorsichtig ausgelaugtem Deutsch, das zu dem urwüchsigen Umriß der Gestalt nicht passen wollte. Über das angenehme, etwas breite Slavengesicht rann manische Devotion. An was erinnerte nur das? Richtig, Manege. An alles, was zu erhobener Dompteur-Peitsche auf Hinterbeinen steht. Die Dame war mit umständlich vereinfachter Eleganz gekleidet – sah aber doch aus, als hätte sie früher einen Ring am Mittelfinger getragen.
Als der Gast unter stürmischen Erscheinungen von Glück und Entzücken Abschied genommen, öffnete Sibyl das große Kuvert. Ihr eigen Bild: in Dutzenden von Auffassungen. Ein kleines darunter, leicht getönt. Wieder sie: mit bloßen Füßen, und über die trocken hellen Halme ihrer Glieder stürzte als bananenfarbener Regen alles Haar.
Mit dem Haar vermischte es sich: seine unverkennbare Schrift, doch so blaß, daß völliges Übersehen möglich blieb.
»Wer ist sie, der ich sie vergleiche,
Die schöne Freudenreiche?
Das müssen die Sirenen sein,
Die wie mit dem Magnetenstein
Die Herzen ziehn in ihren Bann.«
— — — — —
»So zog Yseult viel Herzen an,
Die sich vor der Sehnsucht Leid
Sicher fühlten und gefeit.«
Die Dame kam, verschrieb wappenreiches Briefpapier, schickte Blumen, verhätschelte Charmion. Und aus ihr sprach immer ein anderer. In ganzen Schnüren von Sätzen kamen seine Worte. Erschrocken stockte sie, hatte sich auch nur ein Adjektiv verschoben – fing noch einmal an, bis es originalgetreu saß. Diese Hörige schien resolut, zäh, schlau, doch alles Eigenwüchsige war ausgetrieben, nur die Vitalität hatte er ihr belassen, seiner eignen zur Verstärkung, wie es schien.
Als sie abgereist, schauerte ein Regen von Papier hintennach, wie blinkende Schnitzelchen aus einem Reklameballon. Auf einer der Karten stand:
»Dank, Dank, für alle Lebenssteigerung, die Sie, einfach durch ihr Sein, mir gespendet haben. Hoffentlich sind Sie so zufrieden und glücklich, wie Sie scheinen, und nur das Gute erfüllt sich, das in diesen vornehmsten aller schönen Hände für den Kundigen geschrieben steht. Und wenn Sie doch einmal einer Brangäne bedürfen, so rufen Sie mich.«
Von nun an unterschrieb sie sich nur mehr: »Brangäne.«
Ralph Herson selbst hatte während der Episode Tatjana geschwiegen. Nun schrieb er wieder:
»Lady de Walden dankt mir in einem begreiflich überschwenglichen Brief, daß ich ihr zu Ihnen, der früher nur aus Bildern Gekannten und danach schon Verehrten, einen Weg gebahnt. Es ist mir immer erfreulich und eine Art Ziel der Lebenskunst, wenn ich mit einem Schlag Mehreren Angenehmes erweisen oder nützen kann, und so hoffe ich, daß auch Ihnen die Begegnung erfreulich war.«
Nein, ein Ende machen. Es war zu viel, dieses ruhelose Ineinanderspielen von Händen, dieser vorgeschobene Posten in glühendem Spionagedienst, dieser neue Trabant und Zwischenträger, Konduktor und Strahlenleiter und Wärmevermittler. Es war zu viel. Ein widerwilliges Herzklopfen befiel ihre Selbstachtung beim Kontakt mit dieser »Lady«, bei der alles fragwürdig bis auf das Sklaventum. So also dörrte er einem die Würde aus – dieser Samum. Entwurzelte Menschenzungen, dieser Vivisektor, pflanzte Papageienzungen dafür, auf daß sie einzig seinen Ton verstärkten. Nein, genug.
Da depeschierte er aus Genua:
»Lady de W. ist schwer, vielleicht lebensgefährlich erkrankt, ein paar freundliche Zeilen von Ihnen, die sie so grenzenlos und heimlich liebt, würden ihr im Innersten wohltun. Wenn irgend etwas Gemeinsames zwischen uns ist, erfüllen Sie meine Bitte, von der die Kranke natürlich nichts weiß, und senden Sie ihr, durch mich, einen Gruß. Es gibt Arzneien, die nicht in der Apotheke zu kaufen sind.«
Sibyl dachte an Madame Swobodas Liebe und Ende, an ihre erste überflüssige Infamie … und schrieb. Auch hatte sie die Frau gern, ihre Kraft und Treue.
Er jubelte.
»Ich wußte, daß ich nicht vergeblich bitten würde, daß auch Sie der Liebe haben. Die arme Lady T. lag eine Woche zwischen Leben und Tod, trotz Morphium schlaflos in entsetzlichsten Schmerzen. Doch wenn Sie gesehen hätten, welche Freude ihr der Brief der ›besten Ärztin‹, mit den gewissen langhebelbeinigen schlanken Zügen, bereitet hat! Ich danke Ihnen aufs innigste, daß Sie mir diese erlesene Mitfreude ermöglicht haben, der Brief trug gewiß zur Besserung bei. Ich wußte übrigens nicht, daß der Verkehr abgebrochen war. Warum, warum überflüssiges Leid zufügen? Ich habe allerdings die Empfindung, daß Sie eben noch nicht traurigste Erlebnisse hinter und unter sich haben, ja, daß das Leben noch nicht einmal sehr große Schwierigkeiten, Hemmungen, Enttäuschungen für Sie hatte. Das ist ein kleiner Defaut und läßt Sie vielleicht auch Verläßlichkeit, Treue, alles positiv Erfreuliche, nicht so sehr schätzen, wie Narbenbedeckte. Es gibt Ihnen aber andererseits etwas Erhabenes, Heiteres, Unberührtes, das ungemein edel, sonnig und erfreulich wirkt.
Möge Ihnen dies noch recht lange, ja für immer erhalten bleiben! Ich würde geradezu leiden, wenn Ihnen irgend etwas geschähe.«
So war sie wieder im Garn der Güte, denn auch die Rekonvaleszentin brauchte noch »Arznei«. Und was als Antwort zurückströmte: stumm eingesagt klang es von einem unhörbaren Mund: Schon diese Schrift! Als hätte er ihr vorzeiten jeden Buchstaben einzeln mit der Wurzel ausgerissen, um ihn frisch hineinzustecken in ein Schriftbild von seinen Gnaden; jetzt hing das Ganze steil hintüber, einer Frau gleich, die hinter dem Rücken etwas zu verbergen sucht.
»Es nimmt dich auf,« sagte Gabriel nach seiner Rückkehr, ganz durchsichtig in den Zügen vor Ergriffenheit.
»Als erste Frau. Du wirst erwartet. Jetzt hebt erst unsere wahre Hochzeit an, denn nichts kann uns mehr trennen.«
Immer noch, seit dem ersten Tag, ging sie mit Gabriel die inneren Gänge ihrer Verbundenheit. Bisher war er Mittler gewesen für die Weisungen des Zwiegeschöpfs an sie. Nun sollte endlich ein wichtiger geistiger Vorgang dem Stadium der Reife sehr nahe sein, sich auch von innen her in einem Zeichen körperlicher Art auswirken: als Meilenstein am Weg. So war es angesagt worden.
Noch am Abend wollte Sibyl reisen, taumelte vor Erregung wie im Traume durch den Tag. Es flimmerte ihr so vor dem Herzen, daß sie sogar von der Leiter glitt. Kam da auf der Jagd nach einem Koffer eine uralte Tasche aus des toten Organisten Nachlaß vom Bord herunter, traf ihre Schulter, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte, gerade mit dem Handgelenk, auf ein seltsam graviertes Petschaft, das aus der verblichenen Tasche gerollt war. Der scharfe Steinschnitt grub in ihr Fleisch ein weinrotes Mal. Rasch wand sie ihr Taschentuch darum. Gut, daß Gabriel nicht dabei gewesen, er liebte nicht Gegenstände seines Vaters profan ins Licht gestreut. Nun, es war ja nichts Böses geschehen, die kleine Quetschung gewiß in einer Woche vergessen und heil.
Am zweiten Abend kam Scheible in den Geist. Saß halbstarr auf dem Strohsessel seiner dämmrigen Werkstatt – ferne schwebten die schönen Augen mit den Greisenringen in dem kleinen Gesicht. Knotige Hände, im Gegensatz zum blutlosen Schädel, mahagonibraun, lagen mit ihren eingewachsenen Rillen Pechs im grünen Schusterschurz. An der Wand, breit wie ein Baß, ragte Radinger mit seinen Holzschnittschultern. Gleich einem Block füllte Ruhe den Raum, bis auf des Schreiners unaufhörlich zitternden Kopf. Die südlich fremden Mandelaugen lagen geschlossen darin und man ahnte sie hinter den Lidern nach oben gebrochen, wie einer empfangenden Frau. Der Mund war leer und wartete.
Sibyl saß auf der Ofenbank, sah Scheible ins träumende Auge. Zuweilen spannte und erweiterte sich die Greisenpupille, dann begann es aus Radinger zu murmeln, biblisch Klagendes oder Verzücktes, das sie nur vag verstand, ihr auch nicht galt. Etwa nach einer Stunde stützte sie den Ellenbogen aufs Knie, den müden Kopf in die Hand. Der Ärmel glitt zurück. Das Aufwachsen ihres lichten Armes ins Dunkle mochte Scheibles schwebenden Blick gefangen haben. Er sprang über, blieb wie ein Bläuling, ehe er sich auf eine Blume niederläßt, über dem Blutmal an Sibyls Gelenk in der Luft stehen, dann sog er sich langsam dran fest, und Freude brach aus Radingers dunkelgerundetem Munde: das Doppelwesen sprach die Quetschung an als das erwartete Zeichen. Sprach mit ihr von Dingen, die sie nun wissen sollte und nicht wußte, da doch das innere Leben zu dem Male fehlte.
Langsam kroch die grauenhafte Entdeckung sie an, vereiste ihre Haarwurzeln:
Das »innere Wort« hatte geirrt. Wo Irren nicht möglich sein durfte, oder es sank herab zu – – Hysterie.
War das Doppelwesen auseinandergefallen, ganz gleich, was dann zwei knorrig liebe, kreuzbrave, tiefgläubige und gütige Handwerker, ganz gleich, was sie da: Wachblinde, zu wissen vermeinten – doch als innerer Doppelstern! Hier Täuschung und der ganze Weg war falsch oder konnte falsch sein. Sie wartete in Todesangst, wie ein Verurteilter auf Gnade. Nichts Erlösendes kam. Das Murmeln hörte langsam auf. Starre wich von Scheible, von Radinger das Wort.
Im elenden kleinen Gastzimmer der Dorfherberge starrte sie vernichtet auf die leicht verschwimmende blaurote Stelle an ihrem silbrigen Arm.
Zwei Möglichkeiten gab es: Diese Quetschung glich äußerlich, sei es durch Zufall, sei es, weil die Sigille des alten Gruner wirklich jenes Zeichen darstellen sollte, dem wahren Mal, dann war der Irrtum für ihr Vertrauen tödlich, denn der Führer hatte mit innerem Gesicht das Wachstum ihrer Seele zu sehen: das Mal von innen an ihr zu sehen, nie durfte äußerer Stoß in die Haut ihn täuschen. Oder – und es war die letzte Hoffnung: das Zwiegeschöpf hatte tiefer in ihr gelesen, als sie selbst noch wußte. Das Zeichen war schon auf dem Wege sich zu bilden, die innere Knospe nur noch nicht ins Bewußtsein aufgesprungen. Nichts als eine leichte Verschiebung in der Zeit hatte stattgefunden und durfte es, denn das Geistwesen »sieht die Zeit wie durch ein Rohr: alles auf einem Haufen!«
Bald mußte es sich entscheiden, ob das echte Mal erschiene, das die Seher vorgeahnt.
Noch ein Drittes gab es: aber darauf ließe sie sich nicht mehr ein: Das » credo quia absurdum«. Nein, hatte man einen Bund geschlossen und sein Teil des Paktes gehalten, so hatte sich auch Der drüben anständig zu benehmen, und wär's der liebe Gott. Alles oder nichts. Und gab's einen Weg solch absoluter Demut, ihr Weg konnte es nicht sein; war sie nicht schon weit genug abgekommen von sich selbst?
Und Hysterie, ihr Kinderschreck, sollte wie die Jugend, so das ganze Leben an einer fremden Gehirnkrankheit zugrunde gehen.
War es nicht, als setzten die Brüder dieser mystischen Gemeinde sich in ein skurriles Geistesgefängnis, des perversen Ehrgeizes voll, daß ihnen alles fehlschlüge, und einer dumpfen Hofffart gegen jedes Unbeschwerte, durch Freiheit Siegreiche.
Und man erfror vor Bedeutsamkeit bei ihnen.
Wo aber blieb jetzt der Sinn ihrer Ehe?
Nicht mehr Gabriels »geschwisterlich Gemahl im Geiste«.
Sie wartete mit aller Inbrunst auf das verspätete Zeichen des Lebens. Es blieb aus. Suchte an des Mannes Schulter um Rat.
Er glaubte ihr nicht. Daß ES geirrt haben könnte, schien ihm unausdenkbare Blasphemie, sie wolle ihn anstecken, vergiften, mit ihrem Zweifel die Saat, gesät in Geschlechtern, verrotten in seinem Blut.
Da kam – an Bord der »Titania« geschrieben –, viele hundert Seiten lang, ein Brief Ralph Hersons.
Wie brennende Schiffe trieben glühende Wortgruppen ihr entgegen und vorbei, abgelöst von irisierenden Wirbeln der Verheißung, rosig und leise dahinrotierend in dem endlosen Strom der Anbetung. Eine schmerzhaft konzentrierte Noblesse der Sprache, auch der Gesinnung wohl. Denn wie hätte es schon zu Beweisen, zu Taten äußerster Treue kommen können, so lang sie ihr Leben ihm nicht anvertraut. Nun schrie es aus ihm »in heiligster Not«:
»Wollten Sie meine Fran werden? Ich gehöre nicht zu jenen, die solches Wort leicht auf der Zunge führen – Sie sind die Erste und Einzige, an die ich je solche Aufforderung gerichtet – dann Prinzessin Augenweide …« und nun bot er ihr alles, was ein Mann einer Frau nur bieten kann. Und es kamen hunderte Bilder der Inbrunst, und sein verzücktes, verzweifeltes Begehren rann als maßlose Erhöhung durch ihr Blut.
Da ward ein solcher Brand nach Blüte in ihr, daß sie, nackt hingeworfen, alle diese Blätter über sich gelegt, mit jeder Pore, mit dem ganzen Sonnengeflecht die magischen und dunkel duftenden Ausströmungen der breiten Männerschrift in sich trank.
Der Brief schloß:
»Ein Kind von Ihnen wäre die Krönung meines Lebens – eine Tochter gar, die Ihnen gliche an märchenhafter Anmut – ich glaube, da würde ich toll vor Glück. Doch wüßte ich selbst. Sie könnten nie mehr Kinder haben, auch dann wäre mir Ihre bloße Nähe schon so wertvoll, daß ich nichts unversucht ließe, Sie zur Frau zu gewinnen. Nur hinter Ihnen hergehen dürfen ist mehr als jede andere umarmen.«
Sie erbat Bedenkzeit. Das Beste von ihr war noch drüben in jener Ehe, die doch bis zu Gott hätte reichen sollen. Hatte aus ihrem Phantasiekörper sich ein Abbild Gabriels geschaffen in einer strahlenden Materie, in den lichtesten Stoffen der Welt. Dieses Ikon konnte nicht so schnell verwesen. Sie hatte es noch nicht ausgeliebt – ausgeglaubt. Alles kam von den zwei Jahren der Verzögerung, und daß man die Erwachsene hatte einsperren dürfen in Minderjährigkeit. Jetzt hätte sich das Ikon bereits reif und leidlos aufgelöst gehabt. Wieder überstrahlte sie der erste große Haß gegen Papas verbrecherische Torheit.
Als sie Gabriel von Trennung sprach, vermochte er es nicht zu fassen, hielt alles für Wahn. Flehte: »Versuche es wenigstens noch ein Jahr mit mir.«
»Begeisterung ist keine Heringsware, die man einpökelt für mehrere Jahre,« feixte Ralph Herson.
»Zeit: das Kostbarste vergeuden.« Gleich müsse sie fort. Drang auf rascheste Scheidung. Er als Engländer liebe klare Verhältnisse. Nicht einmal sehen wolle er sie vorher. Lady Tatjana tauchte wieder auf, trug Sturm hin und her, schluchzte, beschwor. Ein Wortbruch – Sibyl hatte ihr Wort noch gar nicht gegeben – wäre ärger als Mord.
Aber gerade diese Lady Tatjana ließ sie auf einmal wieder tief zögern. Nein, es ging nicht.
Wem es gefiel, mochte der in freier Liebe leben, natürliche Kinder unnatürlichen vorziehen. Nie hatte sie den Beziehungen der beiden nachgeforscht. Aber es ging nicht, der früheren Bediensteten im elterlichen Haus einen Scheinmann, seinem eignen Kind einen fremden Vater zu kaufen: einen verhungerten kleinen Beamteten, der es billig tat und Edler von Walden hieß. Es ging nicht, diese Frau dann – sie hieß Leopoldine Sedlaèek – nach vertuschenden Reisen, mit vertuschtem Dialekt, vertuschter Schrift, unecht-wahr, als »Lady« Tatjana de Walden einer Dame ins Haus zu schicken. Diese Fakten waren aus der Gerichtssaalnotiz einer Provinzzeitung ersichtlich – mit Rotstift gerahmt, ihr zugeschickt – denn der kleine Beamtete klagte endlich auf Zahlung der bedungenen Heiratssumme, ein paar Tausende im Ganzen. Man hatte ihn auch noch bei dem Handel zu übervorteilen gesucht, seinen Anspruch juristisch bestritten, weil solch ein Vertrag gegen die »guten Sitten« verstoße. Den schönen Namen aber war die Dame andererseits nicht mehr herzugeben gewillt.
Sibyl verschwieg ihr Wissen, aus Scham für beide. Auch hätte er, sofort Edelanarchist und nur auf das Wesenhafte eingestellt, befremdet aufgeschaut:
»Das ist doch alles nur äußerlich.«
Schließlich: Jemandem die Brieftasche ziehen, war dann auch nur »äußerlich«, stak sie in der äußeren Rocktasche.
Ein edler Schwätzerkniff.
Sie zögerte tief – schloß dann die Augen in der nächtlichen Fieberkurve der Sehnsucht, ließ die geliebten dunkelsaugenden Strahlen über sich ein. Und alles war wieder gut.
Da drohte er mit – Heirat. Stellte ihr ein befristetes Ultimatum von drei Wochen. Jetzt solle sie sehen – jedes junge Mädchen könne er haben, bis dahin. War es erwachende Reaktions-Prüflust des Vivisektors?
Es gebe auch Leute, die man peitschen müsse, um sie zum Reagieren zu bringen, ließ er sagen.
Sibyl wurde zu Eis und Honig – wünschte viel Glück. Poldi Tatjana, die arme Hörige, irrte mit Botschaft zwischen ihnen hin und her, widerrief Drohungen, die sie tags zuvor gestammelt:
Nur kein Mißverstehen: da sie noch zögere, sei der Plan einer Zwischenheirat aufgetaucht, gerade ihretwillen, ihr Außerordentliches zu bieten. Der alte Leiser habe dem Sohn das halbe Vermögen – sofort zahlbar – als Prämie gesetzt für eine ihm genehme Ehe. Ralph war nicht mehr so jung, wie die eigenwillige Bronze seines Körpers es wahrhaben wollte, schon den zäheren Vierzig nah. Also Scheinehe, Scheidung, die junge Dame erhielt Freiheit und Mitgift zurück und man war unabhängig im größten Stil; die ersten Jahre sollten ja ein unaufhörliches Fest sein, ein goldenes Gewitter, eine Lebenserhöhung, wie sie wenig Sterblichen vergönnt.
Andern Tags war wieder Minotauros Pose: er brauche, rein physiologisch, alle drei Monate eine Jungfrau – dies sei die letzte Ration, ehe er sich einer fairy-queen verbände.
»Also war die junge Wegzehrung wohl schon gefunden?«
»So halb.« Die Hörige, beflissen, ging in die Falle, zeigte weitgehende Bilder, die sie »im Auftrag« von dem Fräulein gemacht.
Drei Wochen auf den Tag heiratete er. Schrieb am lendemain »der großen schlanken Ehestifterin« einen seiner perfiden, verworfenen, verbotenen, ersehnten Briefe, als wäre nichts verändert. Dann reiste das junge Paar.
Und es war keine Ruhe.
Die Hörige, im Kielwasser der Lustfahrt, schmeichelte, flehte, klagte:
»Ahnen Sie nicht, spüren Sie nicht, wie nötig jetzt ein paar Zeilen von Ihnen wären? Ich fürchte, Sie haben noch immer keine Ahnung von der ungeheuren Liebe, die er für Sie empfindet. Fancy – – – come!«
Dann wieder:
»Er hätte Ihnen so viel zu sagen. Aber wollen Sie denn hören? Sie haben ihm ja die Schleusen gesperrt. Vesta! Wie walten Sie des heiligen Feuers?«
Manches klang diktiert:
»Der Trotz, mit dem er diese törichte Scheinehe einging, ist mir beinah unheimlich. Es ist so komisch, die Menschen ihm dazu ›Glück‹ wünschen zu hören. Es tut mir in der Seele weh, daß ihm nur Mesalliancen beschieden sein sollen. Ich liebe ihn und gönne ihm die einzige Erfüllung, die für ihn möglich ist. Oh, werden – werden Sie kommen?«
Immer lagen Kuverts mit verstellter Schrift bei und die Mahnung, nur diese zu benützen, denn:
»Die junge Frau hat keine Ahnung von Ralphs Stellung zu Ihnen, er hat noch kein Wort mit ihr darüber gesprochen.«
»Mein Gott, wie komm' ich zu diesem Schmutz?« Und Sibyl zerriß die falschen Kuverts bis auf eins, steckte die Schnitzel in dieses letzte – das schickte sie ihm zurück.
Doch auch in ihrer Ehe mochte sie nicht bleiben unter falschem Stern. Die Glut dieses Mannes hatte sie ruhelos gemacht, einsam und unfrei: Gabriel bewilligte die Probetrennung, hielt es für mystischen Urlaub nur. Behielt Charmion als Pfand. Das Arielwesen sollte nicht leiden, von nichts wissen, nicht in Heimlosigkeit gezerrt werden. Damit es sich ihr nicht entfremde, kam sie in Pausen immer wieder zu ihm. Bestimmte die Hälfte ihres kleinen Depots für seine Pflege.
» Notre Dame du wagon-lits.« Ahasvera jetzt. Sie war beinah arm. Und lieber noch jeden Tag eine andere Fremde, als »Heim«, nennen müssen, was unter ihrer Art.
Arbeitete bei Kocher in Bern, bei van t'Hoff in Berlin, lernte den Skisprung bei Sarnström in Dalarne, hörte Bergson in Paris. Kam aber aus Europa nicht hinaus, um Charmions willen.
Das Glättende und ortlos Weltgültige im Stil war jetzt über die so sehr kindlichen Spitzen ihres Wesens geschmolzen, aber ihre innere Fremdheit wuchs. Der Vorfrühling ihrer Glieder blieb fixiert, duftete nach Birken und Erdbeeren. Es war da nichts zu ändern, nur Übergänge auszugießen, zu feilen, zu veredeln. Welchen Sinn hätte denn das Älterwerden je gehabt, wenn nicht: Schönheitsfehler verbessern und überhaupt etwas dazu lernen. Wie ein Virtuose auf Urlaub übte sie auf dem stummen Wunderinstrument ihres Körpers. Alles oder nichts, auch hier. »Narzissa« hatte Ralph Hersons wissendes Begehren sie einmal genannt.
Und es war keine Ruhe. –
Über Länder und Meere her rann das Gefälle seiner stechenden Wärme in einer wilden Linie auf sie zu und hetzte ihr Herz. Ein Buch kam, ihm einst geliehen. An ihrem Geburtstag, unbekannt woher, ein Päckchen mit seiner Schrift, darin retourniert ihr Hochzeitsgeschenk an seine Frau. Dann wieder ein andermal hatte sich die Hörige bei Papa eingeschlichen, die Dienstleute bestochen, um Nachricht. Sie fühlte Spione um sich. Gerüchte zerstäubten vor ihrem Weg: die junge Frau ein Jahr nach der Hochzeit tot. Hatte sich in einem schottischen See ertränkt.
Er, das Opfer von Erpressungen, wolle Cambridge verlassen.
Es war keine Ruhe.
Aber warum gerade dieser? Was gab ihm solch brennende Macht?
Sie ließ das wissende Haupt sinken.
Sein Erbteil: Die purpurne Wärme Asiens. Sie ließ sich sinken:
» Sweet prince of darkness.«
Aus Olympia zwang sie ein Telegramm zurück. Papa war tot, sie selbst nun wohlhabend, fast reich. Tratsch trieb das Erbe zu Millionen auf.
Da brach er durch die Schranken. Der Anlaß war hinlänglich – ja korrekt. Kondolierte vom ligurischen Strand, wo er sich angekauft. Und siehe! Auch Lady Tatjana wieselte wieder über den Weg, wo immer man ging. Schließlich geschah es vor des alten Anwalts Haus, der die Verlassenschaft führte, daß die Hörige, einen Affront riskierend, herzu trat, ihr Beileid auszusprechen. Unter der Mache aber leuchteten die schönen grauen Augen froh und echt – wie erlöst. Sie redete nur von ihm – in seinen eigenen Sätzen und, wie Sibyl dies einst gewidert, so rührte gerade dieser Zug sie jetzt. Dachte auch über manches milder. Die unbestechliche Kinderhärte von ja und nein, dies Kompromißlose! Weil es ihr eigenes Maß, mußten ihm deshalb andere standhalten? Sie ließ das Haupt sinken:
Sweet prince of darkness.
Prinz Augenlust.
Sinn der Erde.
Wie, sie wolle auf ein paar Wochen nach Spanien?
Wie gut sich das träfe, da könne man vielleicht gemeinsam bis Genua fahren, und die Hörige sprach von dem Heim, das Ralph Herson im Begriff war, sich am Meer zu bauen. In den nächsten Tagen träfe er übrigens zum Besuche seines Vaters hier ein.
Beim Abschied warf Sibyl noch halb unbewußt hin:
»Und – das, wie die unglückliche junge Frau zugrund ging (dachte dabei: durch ihn zugrund ging), ist es schon überwunden?«
»Oh, er hat ihr längst verziehen,« sagte die Hörige pathetisch, »er ist ja so gütig.«
Dieser nachgesprochene Satz war schuld, daß Ralph Hersons Besuch nur in der Hotelhalle und mit den äußersten Enden der Höflichkeit angenommen wurde. So großäugig natürlich, so geistig gelächelt, so sehr leidlose Anmut war alles um Sibyl, daß die Magie in seine ungleichen Augen tief zurücktrat und alle kauernde Freude dazu. Er blieb und blieb. Ging zögernd, fast mutlos endlich, als sie den Lift bestiegen. Drehte, schon an der Tür, doch noch um, – war in vier Sprüngen wieder am Aufzugschacht – horchte in ihn wie in leere, letzte Erwartung; vielleicht, um ihren Schritt über der Stufe oben zu spüren. Der Lift hielt falsch, etwas zu hoch, dann wieder zu tief. Da hörte er lotrecht über sich die mädchenhafte Damenstimme fagen:
»Aber Sie fahren mich ja hinab, statt hinauf.«
Ein vogelheller Jubelton –. Eine gerührte Erlösung –. Ein beispielloses Entzücken. – Eine Hymne der Hingabe – an den Liftboy.
Ralph Herson neigte den großgewellten Greifenkopf. Zog die Luft ein in einem endlosen Atemzug, ging ganz langsam ins Schreibzimmer, entnahm der Brieftasche vor dem Herzen die eigens für ihn gebaute Feder von niegesehener Breite, verschrieb die halbe Nacht und den ganzen Vorrat an Hotelpapier. Faltete es. Sammelte sich noch zu den starken und kühnen Zügen der Adresse, wie zu einem Weitsprung. Hielt. Es blitzte in dem Geäder seiner Schläfe. Kleine Verstöße, die er begangen, kamen ihm peinlich wieder: ein deplaziertes Wort, eine rauh gereizte Bewegung, Wegstrecken des kleinen Fingers von der Teetasse.
Gutmachen sofort! noch mehr: vorbeugen. Er entbreitete noch einmal das ganze Pfauenrad der Verzückung, schrieb darunter:
»Meine liebe Zauberin! Lächeln Sie über mich? Doch bin ich mit Ihnen, ist stets die Hälfte meines Geistes in Adoration verloren – Du kennst mich nicht, mein besseres Teil. Die Schüchternheit vor Dir – vielleicht die Letzte, die mir im Leben geblieben – läßt mich dann trivialer, törichter, rauher erscheinen, als mir wirklich zumut ist, ja ich suche manchmal nach irgendeiner albernen Bemerkung, manierlosen Geste, um die wirkliche Bewegung zu verbergen.«
Als sie kam, fuhr er ihr doch zur letzten Station entgegen, wider alle Verträge. Sprang vom Rad, lief die bremsende Expreßkette entlang, die Arme voll blühender Zweige, warf sie durchs Fenster, dunkle Strahlenbündel hintennach.
»Dem liebsten Gast!«
Sprang aufs Rad zurück. Der Montmorency-Strähn auf seinem Kopf silberte im Sonnenstaub.
Dann fraß ihn Oleander- und Lorbeergebüsch weg.
»Abrasieren sollte man die alberne Gegend,« dachte sie.
»Nichts sieht man.«
Und die Sternsaphire leuchteten.
Sein Gast? Nein. Stieg in einer kleinen Pension neben seiner Besitzung ab.
Am Morgen holte er sie, zeigte ihr das provisorische Haus – die Stelle des künftigen. Kaufte immer noch Gut auf Gut, Ufer und Hügel mit Wein.
Die weltgültigen Anreden der Fremdheit: »Gnädige Frau« – »Herr Professor« tanzten auf dem Äther und Kokainrausch ihres gemessenen Nebeneinander. Jedes genoß sie als Verheißung:
Soviel liegt noch vor uns.
Nur einmal, als er Baupläne erläuternd, von dem Hügel niederwies auf seinen Grund, da hielt er an im Sachlichen und Klugen. Und in die lange Pause brach es leis, mühsam, gerührt und rührend:
»So im stillen habe ich mir doch immer gedacht, daß Du einmal hier wohnen wirst.«
Die nächsten Tage ließ er sie büßen. Ward sie an seinem verzehrenden Werben warm, winkte er ab mit zärtlichem Hohn, posierte Vorsicht – gebranntes Kind.
»Ja, wenn ich so was sagte, das wäre was anderes. Ich verspreche nicht – ich halte.«
Einmal brach er los:
»Verehrter Energievampir. Zeitvampir! Zeit, das Kostbarste! Jahre hast du mich gekostet; Jahre der Sehnsucht und Leere.«
An einem Hauch Humor über ihre abgewandte Wange hin sah er, sie rechne nach, womit er diese Leere minotauroshaft und auch ansonsten recht vergnüglich ausgefüllt.
»Aber verlieben konnt' ich mich nie mehr, seit damals.«
Am Abend lag ein Blatt in ihrem Zimmer:
»Oft wie Gefangne sinnen,
So sann er zu entrinnen.
… und dachte: ›Sieh, zu andern
Laß dein Begehren wandern
Und liebe, was sich lieben läßt.‹
Da hielt ihn stets die Schlinge fest.
Oft prüft er sorgsam Herz und Sinn,
Als spürt' er eine Wandlung drin;
Doch fand er stets darinne,
Isolden und die Minne.
Sie saßen in tiefen Stühlen, unterm Mond, auf der Terrasse seines alten Landhauses.
Die Ruhe ihrer Posen trog. Ruhe gab's nicht bei ihm. Zeitvergeudung! Zirkus im Hirn war angesagt.
Im roten Frack festlicher Hatz stand er: Kenner, Liebhaber, Käufer, Dpmpteur, Publikum – alles in einem. Ohne Peitsche, nur auf Zungenschlag ließ er sie getürmte Hürden nehmen, höher – höher, oder, indes billiger Erdenlärm schwieg, oben im Raum durch Trapeze stürzen und schwingen.
Seine stolze Wut nach Probe ihres Wissens, Erfassens, Durchdringens, Beherrschens, war ohne Maß. Nichts von Literatur, Kunst, Musik: dem Weiberschwatz. Er preßte sie ins Letzte, Ernsteste vor, drehte dann zäh wieder zurück ins Detail, verlangte einen Griff voll Fachwissen hier, einen dort. Genoß dabei das Luftgebäude ihres Tons in An- und Abklang, das Unsägliche am gepflegten Menschen, das um seine Worte ist. Erschöpft endlich vom bloßen Prüfen, Fragen, Hören, Folgen, fiel seine Gier die bessere Beute an, die langerlechzte. Bot ihr Champagner – er selbst, aus Angst um seine prachtvolle Konstitution, trank nie – doch am andern schätzte er die rosenhafte Steigerung im Weine, und über alles den Griff der Grazie um den Kelch.
Sein zahmes Eichkätzchen, aus dem Schlaf geschreckt, hopste hinten auf den Stuhl, lief über Sibyl herab und nestelte in ihrem miederlosen Schoß, angenehm erstaunt. Sie bog das Bein ein wenig, legte eine Nuß aufs Knie, hob die schlanken Arme wie schneeige Äste, Früchte in den Fingerzweigen. Auf und ab, über sie hin schoß das fuchsrote Büschel den schwarzen Seidenstamm hinauf, entlang die nackten, schmelzend weißen Zweige und wieder zum Schoß zurück.
»Bist du am Ende Ratatöskr?« frug sie den Kleinen, »der von der Weltesche? Ist das wahr, daß du, das selbe Wesen, oben Gutes, unten Böses sagst?« Es spitzte pfiffig das winzige Gesicht, lief an ihr, die aufstand, empor, und hinüber auf den Arm des Mannes, der sich ihm entgegenwarf.
Sein Schweif fegte ihre Haut zusammen.
Sie standen überwallt von ihrem Blut. Dann küßten seine Fingerspitzen sich, in streichelnden Bändern ganz langsam ihre Arme entlang, zu den Flügelschultern hin. Verweilten auf kleinen Inseln der Lust, umspielten die zwei winzigen Glockenblüten, die Brüste, rannen, die Wege des Eichhorns entlang.
Sie stand nackt unter der zergehenden Seide.
Die Endchen der freien Rippen zwischen den Fingern, bog er in die glatte Sichel der Weichen ein. Da wurden beide Hände flach, bedeckten in einem rasenden Genießen den ganzen schleierschmalen Leib. Er warf sich in die Knie. Da lag der ersehnte dunkle Kopf endlich zum Greifen nah vor ihr. Sie hielt die Hände darüber, wagte nicht, ihn zu berühren, als ob er Flamme wäre. Trank seinen Nardenduft, vor Erregung fast besinnungslos. Und wieder flossen die küssenden Bänder seiner Finger, diesmal von den Fersenspitzen weise aufwärts, die edellangen, seidenschwarzen zitternden Beine in den Silberschuhen hinauf.
»Meine Zauberrappen,« stammelte er – »aber eigentlich sind es Schimmel, und einmal werden wir sie ausschirren.«
Von der Schmalheit der Knie kam er nicht los. Da bog sie ein wenig das Bein. Er verstand. Die Fingerbänder rannen jetzt mit ihren kleinsten Muskeln um die Wette hinauf, stürzten in die Kniekehlen, umspannten hart die wundervollen Sprungsehnen, breit und rein wie Dolche.
»Zehntausend Entzückungen – – wie – wie soll ich dich genießen – ausgenießen!«
Dann taumelte er auf – stürzte fort, Tatjana aus dem Schlaf zu reißen:
»Das ist ja gar kein Wesen wie wir, was das für Knöchelchen hat, mein Hermelin vom Mars. Solche Lieblichkeit bei solcher Größe.« Und er raste sich aus.
Etwas ruhiger kam er zurück – brachte sie, die zitterte, nach Haus, wie sie gebeten. Sie begriff, daß er alles aufsparen wollte für das, was sie »Noch-nocher« nannte, und war stolz auf ihn in aller Qual. Stumm glitten sie nebeneinander über den Wiesenpfad. Vor dem Tor in der Mauer riß er plötzlich die Arme auseinander – weit, hing in ihnen wie gekreuzigt.
»Alles, was mir je geschehen, war nichts gegen das, was du mir damals angetan, als du nicht kamst, aber in diesen drei Tagen hast du alles gutgemacht – ja, es ist tausendmal aufgewogen und ich bin nur Dankbarkeit.«
Und wieder von diesen nur ihm eigenen magischen, unerhörten Strahlen gehoben, mit einer glücklich heiseren, brechenden Knabenstimme:
» I love you immensely.«
Da ließ sie ihre Hände durch die Flammen gehen und umfaßte den silberdunklen Kopf.
Es war zwei Uhr nachts, unter einsamen Sternen. Und sie hatten sich noch nicht ein einziges Mal geküßt.
Das war also der »berüchtigte Wüstling« und »Materialist«, ihm hatte sie so lang mißtraut – seiner Rasse wegen.
Scham tropfte aus den jubelnden Sternsaphiren.
Noch ein böser Vorhalt kam: ihr schien in den nächsten Tagen, als miede er geflissentlich ihre Lippen – gewisse Berührungen. An ihrem Staunen zuckte er dann jedesmal hämisch und häßlich vorbei. Einmal, Gesicht an Gesicht, nahm er ihre Arme sich vom Hals, dann brutal:
»Kann ich dich denn so küssen, wie ich möchte? Was sich mir in solcher Weise bietet, muß ich dagegen nicht das größte Mißtrauen haben?«
Es war nur wie Auf- und Abtauchen im Strom endloser Anbetung gewesen. Sie wußte kaum, was sie gehört. Begriff es erst allein in ihrem Zimmer ganz.
Ihr – das. Er konnte glauben, daß sie – nicht nur widerlich verseucht, auch noch hierher gekommen, um … ihn …
Das kam davon. Sie kannte doch seine offene Geringschätzung der Frau. »Ich, als Orientale,« pflegte er zu sagen, und erhob damit jede Privatroheit zur »Weisheit des Ostens«. Der Kult ihrer Persönlichkeit: eine dünne Schicht Laune nur, die sie von der großen Weiberverachtung – so lang's ihm paßte, notdürftig schied.
»Und wie war das gewesen, das andere? Was sich mir solcherweise bietet: anbietet.«
»Mein Gott, in welchen Schmutz bin ich geraten!«
Sie warf alles in die Koffer, frug nach dem nächsten Expreß – er ging erst in zwei Stunden, verlangte die Rechnung. Rache war es, heimtückische Rache, weil sie ihn damals abgewiesen. Hierher geschmeichelt war sie worden, aufgespart für diese Schmach.
»Brangäne« erschien mit Botschaft, sah die Koffer, eroberte das Telephon, beweinte, beschwor das Mißverständnis … hielt die Fliehende … bis die Tür aufflog.
Der letzte Verbrecher habe noch das Recht, vorher gehört zu werden. Er bitte von vornherein um Vergebung, wiewohl er nicht wisse, worin er gefehlt.
Ein Wink und Brangäne verschwand.
Ach so. Das. Habe er geirrt? Niemand könnte dann seliger sein wie er. Sie selbst – so großes Kind wie Dame, wisse vielleicht nicht einmal, was ihr unbehütet geschehen. Daß sie, ohne ersichtlichen Grund und ohne doch zu ihm zu kommen, plötzlich ihren Gatten verlassen, habe bei ihm Verdacht – Pardon: Sorge erregt – – aber nein, vor diesen feindseligen Koffern könne er nicht sprechen, und er gab dem nächsten einen Tritt.
So galoppierten sie spazieren, den Weg des ersten Morgens hinan.
Er leugnete gar nichts. Wurde einfach vorurteilsloser Naturforscher. Ob sie, leider ssehr unpraktisch erzogen, ahne wie viel namenloses sexuelles Elend es gerade für die Vornehmsten gebe. Da sei Vorsicht nicht beleidigend, sondern einfach praktischer Idealismus. Doch mit einem Lachen – einem klaren Wort von ihr, wäre alles abgetan gewesen.
Ja, er kam so sehr ins Recht, daß sie nur beschämt gestehen konnte, sie sei es eben noch nicht recht gewohnt, weil bisher in Gesellschaft ihre Tischherren gerade diese Frage nie an sie gestellt. Und ließ den Kopf hängen.
Ein erstes, leichtes Funkeln von Humor erlöste ihre Seele schon. Und schließlich: nachdem sie durch Gabriel in eine Sackgasse des himmlischen Jerusalem geraten, nun zurücktastend, bei diesem hier den Sinn der Erde suchte, durfte sie sich gehaben, erwies er sich gröber, rauher, als der sterile Ätherpfad?
Da schrak sie noch einmal zusammen.
»Ja, aber das mit dem sich anbieten«, und trotz aller Anstrengung brach die Stimme doch.
Er konnte sich nicht fassen vor entzückter Heiterkeit. Er – er hätte das gesagt, der seit Jahren zum Monomanen geworden – an ihr.
Und plötzlich ernst: ja doch, er habe so was gesagt; daß sich ihm eine solche Erfüllung doch noch biete … Mißtrauen gegen das Schicksal habe er gemeint, einfach Furcht, weil es doch noch nicht erlaubt sein könne, so glücklich zu sein.
Dann mit Bitterkeit: Also gerade im Zartesten, im Bescheidenen werde er verdächtigt.
Schließlich voll Trotz: »Warum soll nur ich immer der Rowdy sein? Weil man in England Erpressungen an mir versucht und meinen Namen durch die Schandpresse gezerrt hat? Jetzt glaubt man mir alles zumuten zu dürfen.«
Sie standen auf dem Hügel, er wies ihr, wie am ersten Tag, seinen Besitz:
»Und wo das doch alles für dich ist. Und wo ich dir so lieb sage: I love you immensely … und wo …«
Dann aber wurde er verschlagen und schmunzelte das Feinste:
»Gnädige Frau müssen ein sehr schlechtes Gewissen mir gegenüber haben. Aber, ich stehe turmhoch über Ressentiments. Fast bin ich froh über dieses kleine Mißverständnis, das dich – verzeih Tränen gekostet hat, denn ich habe daraus ersehen, daß du doch endlich wenigstens zu ahnen beginnst, was dir da blüht.«
Vor dem alten Landhaus irrte die Hörige wie gejagt. Beim Anblick der beiden lebte sie auf. Er nickte ihr leicht zu:
»Ich habe das Reh wieder eingefangen und zurückgebracht.«
Am Abend erschien Sibyl noch einmal in Schwarz und Silber, und diesmal wurden die Rappen ausgeschirrt.
Sechzehn Stunden lang küßten sie einander, ohne Pause, ohne Schlaf. Tatjana, vermeinend, ein Unglück sei geschehen, störte sie endlich auf. Aber immer noch war ein Schwert zwischen ihnen gelegen.
Jetzt hieß es, die Abendrobe verhüllt, in geborgten Schuhen in die Pension zurück – am hellichten Nachmittag. Das erste Renkontre mit der »Welt«.
Ein rasendes Gebelle und Gekläff war plötzlich ausgebrochen in dem abgesperrten Raum unter Ralph Hersons biologischen Versuchstieren. Im schneeweißen Sezierkittel kam er pfeifend angelaufen. Dann mit spitzbübischem Gefunkel:
»Aufregung im Hundekotter, das Weibchen ist da.«
Und er sah mit Experimentier-Prüflust zu, wie sie es aufnehme.
Sibyl beeilte sich, Versuchskarnickel zu sein, gab eine so heitere und dabei verblüffende Antwort, daß er, in ruheloser Gier, sofort wieder den Hirnzirkus eröffnen wollte. In der Pension aber lag schon ein festlicher Brief für sie bereit und er begann:
»Wann wird uns beiden
Je wieder hier auf Erden,
Solch süße Stunde werden!
Vergesset mein um keine Not,
Süße, herrliche Isot.«
Andern Tags reiste sie – seufzend in die so lang vermiedene üble Stadt. Nun hoffentlich zum letztenmal. Es hieß sofort ihre Ehe lösen, Ralph Herson Taten zeigen – diesmal. Ihr einstiges Schwanken gutmachen, denn er glaubte ihr noch nicht. Dieser Zustand war unwürdig, immer mußte ein Schwert zwischen ihnen liegen, ehe sie frei. Alles oder nichts, wie gut sie ihn begriff. Wie stolz es sie machte.
»Zeit, Zeit, das Kostbarste, wieviel meines Lebens wirst du noch vergeuden?« hatte er gesagt. »Hätte ich dich doch mit fünfzehn Jahren gekannt, mit dir wäre ich sofort sogar eine katholische Ehe eingegangen, hätte ja gewußt, daß mir nie jemand besser gefallen könne, und besäße dich jetzt schon zum zweitenmal in einem neuen großen, kleinen Mädchen.«
»Willst du denn ein Baby von mir?«
»Eins ist doch gar kein Ausdruck. Sechs will ich von dir haben – vorläufig.«
»Wie lang dauert eine Scheidung?« frug sie den alten Familienanwalt.
»Ein Jahr. – Ist gar kein Hindernis (aber das gibt's ja nicht) und schiebt man gewaltig an, ein halbes – vielleicht.«
Sie erschrak. Wußte, sehr weltfremd, in diesen Dingen nicht Bescheid.
»Welche Gründe übrigens? Falls Sie nicht auf Ehebruch besonderen Wert legen, der allerdings das Sicherste und Schmutzigste – auch Billigste ist, bleibt nur ›unüberwindliche‹ Abneigung. Die muß aber bewiesen werden. Ich hoffe, Ihr Mann hat Sie vor möglichst vielen, einwandfreien Zeugen wiederholt angespuckt, blaugeprügelt – ärztliches Attest erwünscht – und mit den unflätigsten Ausdrücken belegt, ›Hure‹ ist gut. Auch alle Komposita mit Sau … Also bringen Sie mir das Material.«
»Niemals, wir sind doch zivilisierte Menschen.«
»Das Gesetz hat nichts mit dem zivilisierten Menschen zu tun.«
»Wenn aber zwei mündige Leute auseinander gehen wollen ohne Aufsehen, brauchen sie da nicht bloß ihren gemeinsamen Entschluß irgendeiner Behörde zu melden, und die Sache ist erledigt? Das Gericht hätte doch nur gefragt zu intervenieren, wenn es sich eben um Schlichtung von Streitigkeiten handelt, kurzum zu helfen, sollte man meinen.«
»Meinen Sie,« sagte der Alte.
»Auch bin ich schon zwei Jahre von meinem Mann getrennt.«
Da belebte er sich. »Nie dazwischen in seinem Haus gewesen?«
»Ja, doch nur um meines kleinen Mädchens willen, damit dem Kind das Wissen um den Konflikt erspart bleibe.«
»Schade,« sagte der Alte, »sehr töricht.«
»Aber« – Sibyl war außer sich – »wenn drei Menschen ihre privatesten Privatangelegenheiten ordnen wollen: anständig, reinlich und ohne die einzige köstliche Spanne Glücks dabei zu versäumen – –«
»Ausgeschlossen,« sagte der alte Anwalt, denn er war mosaischen Glaubens.
Sie schüttelte seinen ranzigen Jargon ab:
»Wenn also eine Frau in Yokohama von jemandem ein Kind bekommt, deren Mann in Berlin ist, und der in Yokohama, sowie die Frau bezeugen es beide, und der Yokohamaer will sein Kind haben und anerkennen, während der Mann in Berlin keinen Wert darauf legt – ist es dann automatisch durch Fernverkehr doch sein Kind – auf Jus?«
»Natürlich. Außer, der Gatte klagt auf Ehebruch, und dann wird im laufenden Verfahren schon ganz von selber eine großmächtige Schweinerei draus.«
»Welch prächtige Einrichtung,« sagte Sibyl.
»Nun, dies eine Mal nur – dann mein Leben lang nichts mehr von Gerichten.«
Da setzte Dr. Lederer einen zweiten Zwicker auf, um sie mitleidig anzustarren.
»Jeder Tag ist verloren ohne Liebe,« hatte er beim Abschied gesagt. Sie ging auf alles ein, nahm die Schuld »böswilligen« Verlassens auf sich, trat durch Schenkung einen Teil des väterlichen Erbes an Charmion ab, Ralph Hersons Frau würde es entbehren können. Ihm Zeit ersparen war wichtiger. Gabriel, fanatisch und bigott verwildert, stellte immer bösere Bedingungen, nicht um sie erfüllt, um die Scheidung abgebrochen zu sehen. Ihm schien seine Frau der gefallene Morgenstern – ein brünstig gewordener Seraph. Nur um Charmion rang sie mit ihm. Einen Teil des Jahres mußte ihr das Kind verbleiben. Er ging darauf ein mit einer Klausel: so lang ihr Wandel einwandfrei. Das ließ sich unterschreiben.
Ralph Herson traf sie in Paris, Venedig, Rom. Sein Heim mochte sie nicht als Gast, erst als Dame des Hauses wieder betreten. Warum er sich nicht lieber in England einen Landsitz errichte, als am ligurischen Strand?
Er wehrte erschrocken ab: »Unter solchen Gesetzen leben.«
Sie dachte an Wildes Schicksal, gab ihm recht.
Auch war das Land, so wundervoll, auf dem er zu bauen gedachte.
»Ich hätte dich gerne gleich in ein fertiges Haus gesetzt, doch auch so ist es gut, nun magst du mitbestimmen.«
Hatte Bilder, Bronzen, edle Stoffe in vielen Jahren vorausgesammelt. Die alte Landvilla war vollgeräumt wie ein Museum.
»Daß ich jetzt nicht nach meiner innersten Art schenken kann,« sagte er einmal trotzig, als sie durch die juwelene rue de la Paix gingen – es demütigt mich. Da ich aber das schönste lebende Material verschmerzen mußte, verrannte ich eben meine Mittel in Totes –, und so wird es am Ende von mir heißen, daß ich geizig bin.
Wie – wie soll ich dich jetzt würdig genießen?«
Nun, so weit es an ihr lag, sollte auch der anspruchvollste aller Sinnenprinzen nichts zu vermissen finden. Sie bot ihm jenes letzte Zusammenspiel der Tadellosigkeit zu allen Stunden, das nur in Nerven anspannender Mühsal, um ein Vermögen bei den ganz großen Couturiers, erreichbar ist – für Wenigste. Fuhr manchmal eigens über den Kanal, um ein tea gown, einen Hut. Schade, daß ihre Mittel nicht so unbegrenzt. Doch nur ein einziges Mal versuchte sie zu sparen.
Es war in Rom. Am nächsten Abend sollte er eintreffen, ein Märchengewand, von Fortuny, lag schon bereit, da sah sie ihren Kontoauszug durch – und erschrak. Scheidung, Schenkung, Reisen, der vielfältige Luxus, den er als Ästhet brauchte zum Genuß, hatten mehr verschlungen, als sie geahnt. Was für Schuhe zu dem graugoldenen Nebelgewebe morgen? Roter Saffian, geschnabelt, und im Schnabel oben hängend, eine schwarze Perle. Der Kontoauszug. Sie seufzte, und verzichtete weise, doch bedrückt, auf die schwarze Perle.
Nach Stunden erschöpfender Pflege war sie pünktlich zur Minute – er liebte Warten nicht – im großen Vestibül, dem Treffpunkt. Wartete. Ging auf und ab. Ging ans Klavier. Spielte nacheinander gespannt, erregt, beflügelt, besorgt, enttäuscht, leer und namenlos zermartert. Drehte endlich mutlos der Treppe zu. Da kam er, verschlagen und selig, hinter einem Pfeiler, hervor:
»Ich habe mir gedacht: erst schau' ich, macht sie ein gar zu böses Gesicht, schleich' ich mich wieder weg.«
Hatte unbemerkt in ihrer Art zu warten geschwelgt, und wie man ihn vermißte.
Sie umflammend, nahm er oben im Schlafgemach das Saffianschiffchen am Ende des feinen Seidenbeines an sein Herz, küßte die rote Spitze.
»Wäre ich reich, hier hinge morgen eine schwarze Perle – riesengroß.«
Dies: »wäre ich reich«, scherzend nannte sie es seine irreale, hypothetische Periode. Doch das Festliche des Wiedersehens war für diesmal verdorben. Der nächste Kontoauszug blieb uneröffnet. Das Sparen hatte er ihr somit abgewöhnt, und gründlich.
Wie sie ihn begriff, in der Ganzheit ihres Herzens, daß er den Anspruch höher trieb und höher: in die Grenzen des Unmöglichen hinein – und, wenn ihr die Erfüllung doch gelang, wie war er voller Dankbarkeit:
»Endlich, ohne Surrogatempfindung lieben können, welche Erlösung. Wieviel Enttäuschungen habe ich schon an Frauen erlebt.«
Der Kult ihrer Persönlichkeit steigerte seine Härte gegen alle anderen. Gern übertrieb er dann den Physiologen durch Kraßheit der Diktion:
»Jede Frau sollte man eigentlich, hat sie ihr Erstgebornes abgestillt, erschlagen, als für den Mann erotisch nicht mehr brauchbar und überflüssig für das Kind. Güte, Rücksicht, Großmut, Treue: alles Männerart, ob eine Frau wahrhaft liebt, weiß man ja erst, bis sie sich für einen umgebracht hat.«
Sibyl grübelte:
»Hat er das wohl auch seiner achtzehnjährigen Frau, der schwer hysterischen, gesagt, eh' sie ins Wasser ging?«
Da ihnen die letzte Erlösung noch versagt war, übertrieben sie die periphere Lust. Glitt er nach endlos verküßten Nächten aus ihren Gliedern auf, stand ihm, dem Mann – ganz Rom – Paris – Venedig zur Erfüllung frei. Sie, die Dame, lag da, mit hilflos aufgewühlten Adern ohne Frieden, ohne Schlaf – nur Arbeit noch vor sich. Da warteten Werke seines engsten Faches neben dem Bett. Sie griff danach. Nichts gab es zwischen Himmel und Erde, über das er nicht plötzlich mit ihr zu sprechen begehrt. Dann schrak sie auf zum Morgenritt mit ihm, zu Dauerläufen durch Ausstellungen, Museen. Tage preßte er in Stunden – klagte: wir haben Jahre versäumt. Sein schnellstes Tempo ging er neben ihr, zur Probe, denn über alles beglückte ihn, was er die höherwesige Anmut ihres Ganges nannte, und dies auf Erden unbekannte Gleiten im kleinsten Schritt. Schlief er bei Tag, hieß es sich umkleiden von Kopf zu Fuß, nach dem sechsfältigen Fächer täglicher Mondänität die Linien wechseln.
Als Physiologe studierte er den auserlesenen Organismus seiner Dame, stolz, wie wenig Nahrung sie bedürfe – welch guter Motor sie sei –, wollte die Grenzen ergründen. Sie wußte kaum mehr, wie sie leben sollte.
Seine Gier sie auszukosten war ohne Maß.
Man trennte sich am Bahnhof. Nach letztem Abschied sank die Zerliebte tief erschöpft in ihr Kupee. Endlich Frieden, seliges Nachgenießen ohne getürmten Anspruch, Qual der Hast. Da ging die Tür. Heimlich war er mitgefahren, stand stürmisch, in Erwartung einer Freude – die nicht kam, in ihr erblaßtes Gesicht. Ein Augenblick Verstimmung nur, dann flog die echte Sonnigkeit drin auf.
Er scherzte:
»Du bist mich noch nicht los.«
Um seine Miene aber lag gekränkte Männcheneitelkeit. Dann aber war's ihm wieder recht, erhöhte irgendwie den Wert der eignen Glut und paßte in das Liebesspiel der beiden.
Sie spielten Faun und weiße Prinzessin, Pan, der die Pranken um den Mondstrahl schlägt. Er wollte jenen Schmelz an ihr aus Eis und Honig, und daß es mit dem Eis begänne. So überflog er seinen eigenen Brand, blieb alleiniger Herr des Feuers. Ihre Warme, ihre Liebe aber neckte er hinweg:
»Du wirst doch nicht etwa ein Herz – so ein ganz gemeines irdisches Herz vortäuschen wollen, das, womit wir Menschen lieben. Auf den Mangel dieses Organs habe ich immer das entzückende Untergewicht meiner großen Fee geschoben.«
Er korrespondierte mit ihren Füßen, mit jedem Glied.
Seine Briefe schwollen jetzt zu Broschüren an, kamen zusammengeheftet und mit der Maschine geschrieben. Sie vermißte den stilisierten Eigensinn seiner breiten Feder. Damit, aus dem Papierkorb heraus, hatte es ja begonnen. Ihr war: geliebte Schrift in die Augen empfangen, sei ein sublimer Eros, und sagte es ihm auch.
Er bat: »Ich habe dir doch unaufhörlich Zehntausenderlei zu sagen – und endlich darf ich auch – die Feder ist viel zu langsam.«
Sie einigten sich. Den Inhalt gab sie der Mechanik preis, Nachschrift (eine mindestens) und Kuvert sollten der lebendigen Hand verbleiben.
Dafür bat er sich leihweise all seine Briefe aus, von jenem frühen mit dem Antrag angefangen, damit er sie kopiere, fürs Archiv – um einst zu sehen, »wie alles ward«. Wollte alles besitzen, was sich auf ihr gemeinsames Schicksal bezog.
Das »laufende Verfahren« zog indes seine Schleimspur durch die Monde. Versöhnungsversuche, Verhandlungen, bei denen maßlos angeödete Leute in schwarzen Babykleidern schamlose Dinge fragen mußten, die sie nichts angingen, um Antworten zu erhalten, die notgedrungen Lügen waren. Es hieß »Erhärtung des Tatbestandes.«
Seit die Scheidung im Gang, wollte Ralph Herson nicht mehr ohne sie sein, fuhr einfach mit.
»Jetzt kann nichts mehr geschehen, vor einer Ehebruchsklage deines Mannes bin ich sicher.«
Angenehm war es ihr nicht, hetzte er sie hier, von allen gekannt, an seiner Seite durch die Straßen der Stadt.
Man klebte förmlich vor geblicktem Schmutz.
Ralph Herson staunte, wieder ganz Edelanarchist, über solch kleinliche Scheu bei einer so großen Dame. War auch sonst schwarz gelaunt und von wahnwitzig gereizter Höflichkeit. Sie befragte Tatjana.
Es sei um der Besitzungen bei Genua willen. Eben böte sich Gelegenheit, den Grund aufs Wertvollste zu arrondieren. Dann wäre man auf Kilometer im Umkreis für alle Zeit gesichert vor Fabriken, Lärm und Unflat. Doch müsse Ralph ihretwegen jetzt seine flüssigen Mittel für den neuen Bau bereit halten. Sibyl ließ sich die Summe nennen, bot sie ihm – war es doch für ihr künftiges Heim – diskret, fast en passant, als Darlehen an. Er brauste auf. Nach gutem Zureden ging es aber dann doch. Solche Gelegenheit kam ja nicht wieder. Er trug ihr einen Schuldschein an, die ganze Summe nach zehn Jahren rückzahlbar, die Zinsen zu jedem Quartal fällig.
Sie setzten es zusammen auf und lachten sehr.
Es ergab sich, daß der Millionärssohn in diesen Dingen ein weltabgeschiedener Gelehrter war, und er gestand das auch freimütig zu. Da ihn dergleichen ekle, regle stets der Prokurist des Hauses Herschsohn alles Geldliche für ihn. Und so vergaß er denn auch richtig das mit den Zinsen hineinzunehmen. Sie mochte ihn nicht mahnen. War es nicht einerlei? Die Flüssigmachung der Summe gelang nicht ganz leicht. Sie mußte Effekten ungünstig verkaufen, andere belehnen lassen, denn er brauchte die Summe sofort.
Rührend, wie chronisch er wieder sparte, an kleinsten Dingen, der große Herr, der Forscher und Ästhet, als wären sie von Belang. In Venedig hatte er mit dem Gondolier um eine halbe Lira einen Auftritt. Mitten im Kreis der Gaffer ließ er seine Dame stehen. In einer Wallung Zorn, Verachtung fast, griff sie bereits zur Tasche, dem Schiffer ein Geldstück hinzureichen und ihres Wegs zu ziehen. Da schoß ihr die Scham ins Gesicht.
»Es ist für mich – für unser Heim.«
Und wartete geduldig im Kreis der Gaffer, bis Fahrgast und Führer sich auf fünf Soldi geeint.
Endlich kam der letzte Verhandlungstag. Die Erniedrigung schien ausgelitten. Sibyl atmete schon auf, da stand plötzlich wieder ein neuer Jude da und sagte, er sei Ehebandsvertreter und von Staats wegen bestellt, auf alle Fälle dagegen zu sein. Nichts war ihm recht, nichts ließ er gelten. An »unüberwindliche Abneigung« glaubte er so wenig, wie an böswilliges Verlassen. Riet im Gegenteil den anwesenden Parteien dringend zu neuerlichem Geschlechtsverkehr, von dem er sich viel erhoffe. Während sein eingespeicheltes Wohlwollen bewies, wie doch selbst so gewissenhaft geführte Verhandlungen gar nichts Trennendes zutage gefördert, das zu einer Scheidung berechtige, streifte Sibyl ganz langsam den Handschuh ab, betrachtete, Tiefes sinnend, die kleine Narbe am Gelenk, sah dem Ehebandsvertreter dann plötzlich mit solcher Kraft des Hohnes in den Mund, daß er zwar noch alberner wurde, von den dösenden Richtern jedoch nur ein Probejahr verlangte, statt zwei. Es nützte ihm aber nichts. Die Ehe wurde getrennt.
Also frei. Sie dankte ihrem Anwalt, sprach ihm, zum erstenmal, von neuer Bindung.
»Ausgeschlossen,« sagte der Alte – »erst in sechs Monaten – als Frau. Nur der Mann kann sofort wieder heiraten.«
Da verlor sie zum erstenmal den Mut, stammelte:
»Und wann – wann dürfte sie ein Kind …«
Der Alte kam ihr zu Hilfe, hatte dieses hohe, zartfremde Wesen lieb gewonnen, das da hilflos in seiner Kanzlei sich die Flügel zerstieß, und dem er als Baby einst das schmale Goldhaupt geküßt.
»Kommt das Kind ein Jahr nach erfolgter Scheidung zur Welt, gehört es der Ehe nicht mehr an, kann aber ohne weiteres durch eine andere Heirat legitimiert werden, die allerdings erst sechs Monate nach erfolgter Scheidung geschlossen werden darf.«
Sibyl war ganz perplex über die klare Antwort. Mochte der Inhalt auch Unsinn sein, man wußte wirklich, woran man war.
Wie zart, wie gut von Ralph Herson, daß er nie frug, die ganze rechtliche Kloake vornehm ignorierte, durch die sie gemußt, um ans andere Ufer hinüber zu kommen, zu ihm, wie er gewünscht.
»Mein Wunderwesen vermag so wonnevoll leicht aus diesem trivialen Leben zu entgleiten,« sagte er nur.
Und nach einer Pause:
»Daß wir sofort nach deines Vaters Tod uns wiederfanden, es ist, als hätte er dich irgendwie mir sterbend anvertraut, daß dir nur nichts geschehe.«
Sie sprachen nie von Täglichkeiten. Gewiß wußte er gleich ihr juristisch Bescheid. War die peinliche Wartezeit um, erledigte man eines Vormittages, obenhin und möglichst in der Stille, was der Gesittung und der Kaste zukam.
So strichen noch drei Monate unter Qualen an den Grenzen der Erlösung hin, die heilige erste Flamme sollte erschaffen dürfen, nicht in Halbheit erstickt, verschwälen.
»Dir will ich meine ganze Liebe und meine ganze Zärtlichkeit auf einmal geben.«
Und ging aus ihren Armen zu Gleichgültigen. Konnte sie denn ein Jahr Askese von ihm verlangen – ja, nur wünschen?
Doch nun. Immer öfter, tiefer, sahen die mächtigen braunen Augen in ihr Herz und klagten:
»Begeisterung ist keine Heringsware, die man einpökelt für mehrere Jahre.«
Und die silberne Locke auf dem dunklen Greifenkopf, im Spiegel angeseufzt, hieß:
»Ich bin nicht mehr so jung, wer weiß, wann die mächtige Flamme erlischt.«
Sollte noch mehr Leben und Glück vergeudet werden, um einer leeren Formalität willen, die ja in wenig Monaten nach Belieben nachzuholen war?
Und so geschah es. Manisch, brutal, nur einem Zwecke zu. Sie dachte:
»Daß er mich nicht nachher noch an den Füßen aufhängt, wie die Tatarenkhane ihre Weiber, ist alles.«
Er vertröstete: » Dann, ist das große Ziel erreicht, alle Orgien der Welt.«
Sie war wie eine Gefangene. Und doch tat er, als glaube er ihr das Kind nicht. Nur ein einziges Mal hatte sie davon gesprochen, wie eine Frau die Sekunde wisse, wann es in ihr um einen neuen Kern zu kreisen begänne, als du im ich. Wie das Empfinden da gleichsam blitzhaft zucke, her und hin, mit erstem Gruß und Gegengruß.
»Hysterische Faxen,« hatte er gelacht, »mir, als Physiologen, macht man nichts weis. Sicher sind erst die Herztöne.«
Nun würde sie schweigen bis zu den Herztönen. Fuhr trotzig zu Charmion, das Kind mit sich in die Berge zu nehmen, verschmachtet nach Freiheit und Bewegung. Glitt auf Skiern ins Blaue über Wächten – da es ja doch nur »hysterische Faxen« waren. Auch hatte er noch etwas gesagt, das sie verdroß und trotzig machte.
»Ich bin nicht mehr jung. Vom eugenetischen Standpunkt aus hätte ich eigentlich mit einer Sechzehnjährigen zeugen sollen.«
Sie hatte gelacht: »Recht aneifernd für mich.«
»Seine schöne Offenheit,« fuhr Tatjana demütig dazwischen, »wie wunderbar objektiv er immer ist.«
Die Frau hatte ein hündisches Geschick, alle peinlichen Tatsachen um ihn zu verwedeln. So ertrug er – voll Sehnsucht nach Ebenbürtigkeit – doch kein freies Wort mehr, nur kritiklose Unterwerfung, unbewußt gewohnt, seine Umgebung ausschließlich von dem Gesichtspunkt zu wählen, sich ungestört überschätzen zu können.
An die »Krönung seines Lebens« schien er wirklich noch immer nicht zu glauben, hätte er sonst von ihr, in diesem Zustand, Geld verlangt?
Natürlich nicht »verlangt«, eben nur angefragt, ob man nicht für ihren Baderaum jetzt einen Marmorblock kaufen solle – in Carrara sei ihm ein besonders schöner preiswert angeboten – käme sie aus den Bergen zurück, führe man zur Besichtigung hin. Auf alle Fälle möchte er die Summe als Scheck schon jetzt haben.
Sibyl wußte nicht so ganz genau, wie ein Scheck auszufüllen sei, schämte sich, tief schüchtern, zu fragen, fürchtete Spott. Begriff, nur, daß es sofort bares Geld bedeute, sagte nun zwar zu, später aber fiel ihr ein, er brauche die Summe ja nicht gleich, so könne sie neuerliche Belehnungszinsen bei ihrer Bank indessen sparen. Hatte Angst davor, seit dem letztenmal. Diese ewigen Belehnungen zehrten zuviel auf, und Ralph hatte ja in seinem Schuldschein die Zinsen vergessen, so trug sie alle Lasten für ihn allein.
Ein bitteres Schreiben flog ihr in die Berge nach. »Geld«, als Wort, kam natürlich nicht vor. Er umschrieb es:
»Dein Benehmen gegen mich verschlechtert sich rapid. Du hältst Abmachungen nicht und bringst mich dadurch in peinliche Abhängigkeit. Hättest Du Deine Zusicherung aus irgendeinem Grund nicht halten können, es spielte gar keine Rolle, was wäre Finanzielles zwischen uns, nur in der Nicht-Mitteilung erblicke ich eine äußerst verletzende Geringschätzung meiner Person, um so weniger erträglich an jemandem, den man so sehr um guten Benehmens willen liebt; die ganze Natur hat sich da gleichsam so ›gut benommen‹. Und all das – mir, der ich Dir eine Liebe entgegenbringe, wie sie nur noch im Märchen vorkommt.«
Ihn an die vergessenen Zinsen gemahnen, den wahren Grund des Aufschubs – niemals. So schickte sie zwar sofort die ganze Summe, doch kommentarlos, nahm lieber den Schein der Rücksichtslosigkeit auf sich, sein Gentlemantum zu schonen.
Wäre nur die erdenschwere Pein der nächsten Monate schon vorbei. Wie würde der Ästhet Entstellung ertragen? Was anderen fast verborgen, war für sein an Vollendung verwöhntes Auge bereits degoutant. Nie durfte der Vater Herschsohn nach Genua kommen, alte Leute duldete er nicht um sich, sein Kind mit Tatjana wuchs in Instituten auf, weil es unschön ausgefallen war. Das leichteste Unwohlsein schon galt als Schande. Welcher Jammer, als sie einmal die Spitze eines Fingernagels brach. Andern Tags kam er halb scherzend mit einem Formular von Lloyds angelaufen: »Wie Paderewski jeden Finger, so laß ich jetzt jeden deiner Fingernägel versichern.«
Oben kritzelte er etwas mit Bleistift, unten mußte sie wahrhaftig mit Tinte unterschreiben.
Man fuhr nach Carrara, nach San Gimignano, nach Ravenna, man fuhr, man fuhr … Endlich war selbst er, der Unermüdliche, müde und die Zeit ihres freiwilligen Exils von seinem – ihrem Heim zu Ende.
Nur mehr wenige Wochen dort, als sein Gast, ein »gravider Gast« allerdings, dann: Dame des Hauses. Alles Falsche, Schiefe, der Kaste unwert, war überwunden.
Endlich ein Heim haben. Sie fühlte, wie sich Tränen in ihr erzeugten, während der staubige, kleine Waggon gegen Padua holperte. In ihrem Schoß lag der dunkelhäutige Greifenkopf, den sie betreuen durfte, in tiefem Schlaf. Götterfrei weidete ihr Auge auf ihm in befiederter Erwartung eines namenlosen Glücks. In einem dichten Licht schwamm ihr Herz. Ergriffen sah sie auf. Da, gleichsam geformt aus diesem Glück, zogen vor dem großen Glaswagen zwei wundervolle Menschenangesichte langsam und lautlos an ihr vorbei, wie eine ungeheure Erweiterung der eigenen Seele.
Die Versuchstiere waren fort aus der alten Landvilla, als sie ankamen. Wie lieb. Sie dankte ihm.
»Ich sagte dir ja vor Jahren schon, eine Zeit käme, wo ich das Tierexperiment zeitweite entbehren könnte.«
Hinter seinem breitweggerollten Mund lagen die schöngesetzten Zähne fest aufeinander.
Sibyl war morgens beim Arzt gewesen, hatte sich die Herztöne bestätigen lassen, nun waren es keine »hysterischen Faxen« mehr. Nachmittags fuhr er in die Stadt zu seinem Anwalt. Kam spät nachts zurück. Ließ sie zu einer Unterredung in sein Arbeitszimmer bitten. Er liebte Form. Schon im Nachtgewand, kleidete sie sich nochmals sorgfältig an, wie zu einem kleinen intimen Souper, trat ein. Er rückte einen Klubsessel beflissen zum Schreibtisch, das undurchdringliche Gesicht lässig neugierig gespannt über der kerzensteifen Hemdbrust. Nahm dann eine frische Feder, prüfte die Spitze, legte sie ihr hin wie zu einer kommenden Unterschrift, entfaltete ein Dokument. Begann zu lesen. Es war ein Ehekontrakt.
Nein, eigentlich mehr ein Scheidungskontrakt. Ihr Vermögen und ihr künftiges Kind verblieben auf alle Fälle ihm, während er das Recht haben sollte, sie jederzeit entschädigungslos auf die Straße zu werfen. So ungefähr klang der verschleierte Sinn hindurch.
Sie saß ganz still. Alle Wirbel begannen zu zittern. Tief innen zuckte sein Kind.
Er erläuterte:
»Es war recht schwierig, das in rechtsgültige Formen zu bringen. Nach diesen lächerlichen gynäkokratischen Ehegesetzen, denen ich mich niemals unterwerfe, hätte ja meine Frau bei einer Trennung den Anspruch auf den vierten Teil meines Vermögens. Gegen solche juristische Attentate auf meine materielle Freiheit muß ich mich zu schützen suchen, und mit etwas gutem Willen und einem guten Advokaten läßt sich viel machen, also bitte zu unterschreiben. Es ist das wie ein Sicherheitsgürtel, ehe man sich auf hohe See begibt. Gerade weil du ja hoch über den selbstischen Interessen der gemeinen Weibchen stehst, liegt deiner Unterschrift nichts im Wege.«
»Vielleicht die Selbstachtung,« sagte sie leise.
Es waren zwei Dokumente. Im ersten mußte sie ihm eine phantastische Summe, viel größer, als ihr tatsächliches Vermögen, als Mitgift zubringen. Das zweite, weit vorausdatiert, enthielt das Geständnis eines Ehebruches – aber, da verstand sie schon nicht mehr ganz – offenbar irgendeiner Infamie, die sie völlig in seine Hand geben sollte. Ob das alles wirklich rechtsgültig, ob es auch nur möglich, was ging es sie an. Ihr Gehirn stotterte nur in einem fort:
»Die ersten Herztöne seines Kindes benützt er zu Erpressungen.«
»Zu Erpressungen, die Not, in die er mich durch Vertrauensmißbrauch gebracht.«
»Wie eine Alimentenjägerin behandelt er mich. Aus Angst vor dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestmaß an Anstand.«
»Mein Gott, nur heraus aus diesem Schmutz.«
Dann stieg langsam eine ungeheure Empörung in einer Welle von Rot auf. Sie erhob sich, ging zur Tür. Wenn nur die Stimme jetzt noch hielt, ohne zu brechen:
»Jemand, mit dem man erst einen Vertrag schließen muß – mit dem schließt man auch keinen Vertrag mehr. Wie den Möbel-, den Marmorlieferanten, versuchen Sie nun auch der ›Kinderlieferantin‹ nachträglich Abzüge zu machen? Einen Märchenprinzen glaubte ich zu finden und finde – Leiser Herschsohns Nachfolger.«
»Ganz wie gnädige Frau wünschen. Ich möchte nur konstatiert wissen, daß ich die Eheschließung wollte, die Sie – in der beleidigendsten Form – abgelehnt haben. Für weitere Konsequenzen bin ich demnach nicht mehr verantwortlich.«
Sie wollte an ihm vorbei. Er vertrat ihr die Tür. Seine ungleichen Augen genossen die Situation. Dann mit wohlwollender Tücke:
»Nun, vielleicht wäre die Klausel mit dem Kinde unnötig gewesen, es verbleibt mir ja auch so. Wenn du dich um dieses Künftige so wenig kümmerst, wie um Charmion – das genügt mir vollkommen.«
Auch das noch. Für ihn, um ihm andere schenken zu können, hatte sie unter bittersten Kämpfen auf das Arielwesen zum Teil verzichten müssen. Selbst daraus wurde ihr noch der Strick gedreht.
Menschenscheu, ganz allein, irrte sie von Stadt zu Stadt. Sprach durch Monate kaum ein Wort. Mied Seen, Brücken, Felsen. Einmal, in Madrid, war im Hotel nur noch ein hochgelegenes Zimmer frei.
»Nicht im vierten Stock, ich will nicht an dieser Bestie zugrunde gehen.« Ganz laut geschrien hatte sie es wohl, die Leute schienen so verdutzt.
Nein, diesen Triumph befriedigter Eitelkeit sollte er nicht haben.
Ballten sich in ihr die kleinen Gliedmaßen und schlugen nach oben aus, gegen das Herz, begann sie zu rennen. Ins Freie. Hielt das Bewußtsein mit aller Kraft noch auf Armeslänge von sich ab. Stetig umkreiste es sie in unsichtbaren Sprüngen nach ihrer Kehle. Sie zählte krampfhaft, immer noch bis zehn, und dann noch bis fünf, um es wegzuhalten. Plötzlich, ein Moment inneren Erlahmens: da sprang es ihr an die Gurgel. Sie spürte den stinkenden Hyänenatem der Schmach. Ihre Wirbel zitterten vor Wut.
Im Gral ihres Wesens kreißte also die Jauche eines Wucherers. Was Niggergier in sie hineingespien durch Vertrauensmißbrauch ohnegleichen, sollte sich Leben ermästen dürfen durch sie.
Mutterinstinkt! Über nichts wurde wohl so ausdauernd, feig, schamlos gelogen, und gar von niemandem so heuchlerisch, wie vom Mann.
Das könnte ihm gefallen, den viehischen Bruttrieb als »heilige Pflicht« ausplärren: als weibliche » Natur.«
In der Natur kann eine Löwin ihre Jungen auffressen oder liegen lassen, ohne daß die Vormundschaftsbehörde sich einmischt, sie vor die Wahl Ächtung oder Zuchthaus stellt. Das ist Natur: frei sein, zu gebären, frei das Geborene zu vernichten.
Wie, jeder Instinkt sollte sich veredeln, erhöhen dürfen, und nur die Schwangere wahllos, bestialisch bleiben müssen? Wahlloser Muttertrieb so verächtlich wie wahlloser Geschlechtstrieb? Wie aber könnte die Ärmste echt von falsch erkennen, ehe sie den Mann »erkannt«. Da erst fällt die Maske. Erst da weiß sie, was sie empfängt.
Das Gesetz. »Wer sich Infamem beugt, wird selbst infam.« Nein, dies Kind würde sterben, ausgestoßen werden – reuelos, sie selbst aber leben, jetzt gerade.
Und dann schlug sie das Gesicht in die Hände und hoffte, daß ihr das Herz bräche.
Wie sie crude geworden war. Wie sie sich verrohen fühlte in dieser Hölle. Wo war die Zartheit, wo die Scheu? Wo das reine und kühne junge Wesen, dem selbst im Straßenschmutz der Saum des Schuhs noch ohne Makel blieb? Das Ärgste am Unglück war nicht, daß es unglücklich, daß es so schamlos machte.
Und nun begann das Pendel langsam zurückzuschwingen aus dem höchsten Haß. Sie litt so sehr, daß sie nach ihrem eigenen Unrecht suchte.
Zwei, drei, vier Stimmen erhoben eine bebende Litanei, rechtfertigend, beschwörend, ringend, hadernd:
»Du Philosophin, du neunmal Weise. Es wird ein Mensch doch nicht plötzlich zur Bestie, zum Verbrecher?«
»Nein, denn er war es stets, läßt nur die Maske fallen, sobald nichts mehr herauszuschinden ist.«
»Bedenke, er war Erpressungen ausgesetzt. Verfolgungswahn, nichts weiter. Er ist krank. Kann man nicht auch einen Kranken sehr lieb haben?«
»Krank? Ein recht gesunder Wucherer. Selbst aus Erpressungen, an ihm begangen, versteht er es, noch Vorteile zu ziehen, markiert Verfolgungswahn, um seinen einfachsten Verpflichtungen heuchlerisch sich zu entziehen.«
»Und weiß nicht jede Pore deiner Haut von Liebe, wie sie nur im Märchen vorkommt?«
»Ja, solang' es nur Vergnügen war. Zu einem Tee im Ritz reicht die Liebe, falls die Dame ihren beau jour hat und – den Tee bezahlt.«
»Weißt du denn wirklich, was er wollte in dieser schrecklichen Nacht? Hast du dich verhört am Ende? Warum nicht in Ruhe und Geduld den Kontrakt bei Tag noch einmal prüfen?«
»Aufs Nichtprüfen war es ja angelegt. Selbst um den ehrlichen Heiratsschwindel hat er sich noch herumzuschwindeln gewußt. Ist es nicht gerade meine Qualität, nicht pfiffig zu sein? Klugheit zu verachten? Oft genug schlich er sich mit Nachschlüsseln der Konversation in mein Innerstes ein, um das zu wissen.«
»Warum darfst nur du unklug sein, nicht auch er? Vergriff er sich nicht lediglich im Mittel? Durch deine Rechtlosigkeit solltest du ihm sicherer sein. Hat je eine Frau gezürnt, weil man sie angekettet, um sie besser küssen zu können.«
»Welch ein Arzt und Physiologe, der es nicht besser weiß, als eine gravide Frau zu beunruhigen? Anketten? Er läßt dich doch hilflos monatelang umherirren – ganz allein. Ist es nicht, als sehe man ruhig zu, wie ein Fieberkranker aus dem Fenster springt, und denkt dabei: ist er unten heil gelandet, wird er später schon wieder einmal depeschieren.«
Ach nein, alles hoffnungslos, und sie warf die Stimmen wieder in sich zurück.
Dann eine Pause bitterster Verliebtheit. Was war die ganze alberne Ethik gegen das Wehen seiner Haare im Wind!
Und nur einmal ist das da, in allen Ewigkeiten. Wenn ich an dem Kind sterbe, sehe ich das nie wieder. Wertlos alle Seelenwanderung für die Liebende. Denn steht er auf und hat nur ein Haar auf seinem Kopf anders wehen, so ist alles wie nichts.
Da schrieb sie ihm. Eine Zeile bloß:
»So hast Du mir in solcher Zeit kein einziges liebes Wort zu sagen?«
Keine Antwort. Plötzlich stürzte sie über seine Briefe her, ein Koffer voll, der sie nie verließ. Wählte nur mit der Maschine geschriebene. Ein unerträglicher Verdacht war in ihr aufgestiegen. Hatte seine schlaue und lachende Stimme nicht einmal zu Tatjana gesagt:
»Eigentlich sollte man dem Empfänger nur den Durchschlag schicken, so behält man das Original, das Ursprünglichere, Wertvollere für sich, und der Andere merkt es ja nicht.«
Sie prüfte genau. Ja, es waren Durchschläge. Und vernichtete nun alle: Blatt um Blatt.
Der berühmte Gynäkologe in Berlin sagte ihr nichts Neues.
Nach Charmions Geburt, als Fachleute dazukamen, war irgendein schwerer Kunstfehler begangen worden, weitere Kinder mußte das Messer ans Licht bringen, sonst starben sie ungeboren.
Das Schicksal gab ihr somit alles noch einmal in die Hand. Sie brauchte nur – nichts zu tun. Sich nicht rechtzeitig der Operation unterziehen; wer konnte sie zwingen? – und die Schmach war tot. Auf ganz korrekte Weise tot.
Eine Nacht lang rang sie nach Gerechtigkeit. Das Todesurteil über diesen Bastard zu verhängen, war ihr gutes Recht. Ja. Doch hat eine gravide Frau ein Urteil? Eine arme belastete Irre nur ist sie, mit verdrängten Nerven; ein Wesen mit verschobenem Kern. Wie, wenn sie erwachte, vom Druck befreit, und die bös verzerrte Welt, die durch das Doppelich Gebrochene, war wieder eins und heil. Alles wieder gut, und jenseits der Nachtmahr stand der geliebte Mann, frei von Schuld, und zwischen ihnen lag das vernichtete Kind. Es war nicht auszudenken. Sie spornte sich an die Tat heran, wie an eine Hürde. Ein Bravourstück ihres alten »Noch-Nocher«. Sie mußte hinüber. Aber um Gottes willen rasch. Hinüber in die Gewißheit.
Auf seiner Klinik hatte sie eine letzte Unterredung mit dem Geheimrat. Beschwor ihn, sie nicht zu schonen, aber das Kind müsse leben, um jeden Preis. Stürzend durch die stechende Süße des Chloroforms, noch aus dem Abgrund herauf, lispelte sie durch das Zählen hindurch immer wieder: Telegramm, Telegramm. Hatte Auftrag gegeben, während sie noch bewußtlos, Ralph Herson sofort die Geburt des Kindes zu melden.
Lange war nichts. Vielleicht ein Jahrhundert. Dann wurde sie zur Erde, und ein Bergwerk voller Stollen hämmerte und zerriß dumpf ihr Inneres, riß durch alles durch und plötzlich rotierten vierzig Rasiermesser in ihr, Arzt und Wärterin hielten Arme und Beine. Nach vier grauenvollen Tagen und Nächten war die erste Frage nach der Post. Nein, nichts da. Ob sie das Kind sehen wolle, es sei ein so schöner Knabe.
Nein, die Post.
In der Klinik sprach man von nichts anderem. Diese fremdlinghafte Dame. Ganz allein. Flehte um die Operation und wollte dann nicht einmal ihr Kind sehen. Frug nur immer um ein Telegramm. Acht Tage, vierzehn Tage. Der Geheimrat stand vor einem Rätsel. Medizinisch ging alles bei dieser Vitalität ans Wunderbare grenzend gut, und die Patientin wurde immer elender. Aß nicht, schlief nicht, verfiel. Nach drei Wochen hieß es, ein Herr sei da, ließe diesen Brief übergeben, warte auf Antwort.
Sie schickte die Pflegerin fort. Legte die Wange auf den Brief und schloß die bebenden Augen. Streichelte ihn lange, öffnete endlich andächtig den Umschlag.
»Geehrte gnädige Frau,« stand mit Bleistift, flüchtig gekritzelt. »Ich halte wohl eine Besprechung jetzt nicht für unbedingt notwendig und um so weniger dringlich, als ich selbst in hohem Grade der Erholung bedürftig bin. Eines ist aber doch vielleicht wichtig, und zwar eine unterzeichnete Erklärung Ihrerseits, daß alle nötigen Schritte getan werden, um mir die Vormundschaft über Ihr durch Kaiserschnitt von Geheimrat C. zur Welt gebrachtes Kind zu übertragen, ferner Ihres Einverständnisses damit, daß alle Abmachungen über Unterhalt, Aufenthalt, Aufzucht des Kindes zwischen uns, ohne Prozesse oder Geltendmachung rechtlicher Ansprüche Ihrerseits, spätestens in zwei Monaten getroffen werden.
Hochachtungsvoll
Ralph Herson.«
Kein liebes Wort. Keine Blume.
Sie klingelte und ließ ihn hinauswerfen.
Als er am nächsten Tag um eine Unterredung ersuchte, schickte sie eine Zeile hinaus:
»Nur noch durch den Advokaten.«
Und war dann lange Zeit schwer krank.
Oh, warum, warum hatte sie ihn nicht wenigstens angeschaut in der Klinik. Dann ihm die Tür weisen, aber erst sehen, wie es heller wird im Zimmer, wenn er hereinkommt. Nur eine Minute ihn sehen. Monate ließe sich's wieder davon zehren.
Sie versuchte zu reisen. Umsonst. »Jede Person Plage, jeder Ort Pest, wertlos jeder Weg, der nicht zu ihm führt.«
Manchmal packte sie die Wut des Gradgewachsenen, den man krummgeschlossen hat. Es war ja nicht mehr Liebe, war Besessenheit, hatte er doch nicht geruht, bis jedes Stückchen seiner Haut unentrinnbare Macht der Erinnerung über sie gewonnen.
Nach zwei Monaten schrieb der alte Lederer, ein Dr. Kosches als Vertreter Ralph Hersons habe angefragt, ob und wann Verhandlungen über das Kind stattfänden. Also noch einmal in Tratsch und Schmutz dieser Stadt zurück. Immer noch besser als in andrer einem fremden Anwalt die Situation, in die sie gezerrt worden, erzählen müssen.
»Was wollen Sie?« frug der Alte.
Sibyl saß mit Blut übergossen da.
»Haben Sie nicht sogar Vermögen bei der Sache zugesetzt?« Er schüttelte den Kopf. »Vor allem heißt es schauen, das irgendwie herauszukriegen.«
Sie beschwor ihn, nichts davon zu erwähnen. Welch ein Niveau!
»Mag er es behalten! Auch nichts von seinem Geld oder seiner Person will ich, das er mir nicht aus freien Stücken bietet, aber ich verlange Eines als mein Recht: die meiner Kaste gebührende Form. Man kann jemanden auffordern, gemeinsam eine Reise dritter Klasse zu machen. Gut – dann weiß er es im voraus, kann mitfahren oder wegbleiben. Nicht aber geht es, jemanden in den Salonwagen zu laden, um ihn dann, ist der Zug in voller Fahrt, nachträglich in den Viehwagen zu stoßen. Ich verlange eine Scheinehe mit sofortiger Scheidung. Ist das Soziale erst in Ordnung, kann alles Menschliche wieder anheben oder zu Ende sein. Nach der Scheidung stehen wir aufs neue frei, ›herrlich wie am ersten Tag‹ einander gegenüber.«
»Nebbich,« sagte der Alte und begann eine Art Schlangentanz um seine Klientin zu vollführen.
» Ich sag' Ihnen: Heirat um jeden Preis, welche Bedingungen die Gegenseite immer stellen mag, sonst verlieren Sie Ihre kleine Tochter – völlig, wegen der Klausel vom ›makellosen Wandel‹. Kommt die Geschichte mit dem unehelichen Kinde heraus, hat ihr früherer Gatte das Gesetz für sich – ich höre, er wartet nur darauf. Also Achtung.«
Sie verließ ihr Hotelzimmer kaum mehr, ging erst in der Dunkelheit, Luft zu schöpfen, so sehr war ihr die neue Schmach ins Mark gefahren. Nur jetzt niemandem begegnen, mit niemandem sprechen müssen. Eines Tages schrillte das Telephon: Dr. Lederer erwarte beide Parteien in der Kanzlei um vier.
Nein, nein, erst morgen, noch eine Gnadenfrist! Jetzt war es Mittag. Schon um vier! Sie stand wie eine Gerichtete. Weinen wallte auf. Mit einem Schwung des Körpers warf sie sich flach auf den Rücken, daß ja nicht Tränen in die Augen stiegen, das Weiße trübend. Lag dann still und wartete. Kannte die geheimnisvolle Transfiguration durch die erregenden Ströme der Erwartung, wußte, wie sich Haut, Aug', Duft, Haar wandelten, sich bereiteten; die letzten Stunden vor jeder Begegnung etwas Blumenhaftes, Durchscheinendes bekamen, das für ihn sich erschuf und mit ihm ging.
Aber was anziehen? Jede Modelinie war scheußlich oder entzückend, je nach der freiwilligen Einstellung auf sie, und in zeitlosem Gewand erschien man nicht in Advokaturskanzleien. Dieses Wetter dazu; einmal Regen, einmal Sonne – immer Sturm. Endlich schien wirklich nichts mehr auszusetzen, und völlig erschöpft, noch schwach von der Operation, ließ sich die Überreizte in einen Stuhl sinken, aufs Bett wagte sie nicht, des Hutes wegen, und fürchtete sich so, und wollte nicht fort, in das Lauernde hinaus. Doch auch hier im Sessel, mitsamt dem Sessel, zerrte sie ja die Zeit ebenso stetig und unerbittlich dem Schicksalsaugenblick entgegen.
Wie gut, daß die Kanzlei im dritten Stock lag. Jetzt noch zwei Treppen Gnade. Eine. Jetzt noch Stufen. Anläuten. Woher kannte sie dieses grüne Eis im Rücken so genau? Von der Abbitte im Tanzinstitut Wokurka-Crombée. Schon einmal durchlitten also. Irgendwie wurde es viel leichter dadurch. Aus Dr. Lederers Privatzimmer kamen Stimmen – die seine. Sie lehnte den Kopf an die Tür. Einen Augenblick war alles Harmonie, Klarheit, Süße. Leuchtend trat sie ein, ganz Sicherheit und Anmut. Die Herren sprangen auf, man wurde also doch noch als Dame behandelt. Sie hatte noch so gar keine Erfahrung im Deklassiertsein. In einem Augenblick hatte er ihre Erscheinung ganz überschaut; wohin er auf sie blickte, war's, als würden köstliche Früchte gestreut. Die Luft um ihn zitterte wie über einer Flamme. Dann senkte er die Lider, die sich wölbten von gesammeltem Triumph.
Gleich zwei Advokaten hatte er sich mitgebracht.
Außer dem süßflüssigen Dr. Kosches einen, der aussah, als sei er wieder aus Amerika zurückgekommen. Ein gerupfter Nackthalsgeier, Norman Bleiweiß mit Namen.
Es ergab sich, daß alles ein Mißverständnis gewesen und er, Ralph Herson, den Eindruck habe gewinnen müssen, genarrt und verlassen worden zu sein, nachdem er sich in exorbitante Ausgaben für das künftige Heim gestürzt. Als milder Psychiater sehe er zwar manche Entschuldigung, das Vertrauen aber – ja, das müsse erst wieder verdient werden. Die bedingungslose Abtretung seines Kindes sei er gern bereit als erstes Zeichen beginnender Einsicht gelten zu lassen.
Sie saß zurückgelehnt und schwieg. Jetzt schoß ihr feurige Scham durch die Haut: Dr. Lederer hatte das Wort Heirat fallen lassen. Oh, in ein Mauseloch kriechen, noch lieber in seine Arme kriechen und ihn anflehen: »Schau, ohne dich kann ich schwer leben, ohne Selbstachtung aber doch gar nicht – mach' ein Ende; keine Verhandlungen mehr.« Und es fiel ihr ein, daß sie noch nie im Leben, an einer Schulter gelöst, hatte ruhen dürfen – in ihm ließ sich nie ruhen, so wenig wie in Gabriel.
Da kam seine verschlagene Stimme und log:
»Ich will nicht lügen. Erst Ehe, dann Scheidung aus ›unüberwindlicher Abneigung‹ – aber ich scheine doch – ganz im Gegenteil – eine unüberwindliche Neigung für Frau Sibyl zu haben.«
Und streichelte lange ihren Namen und ließ ihn nur ungern.
Um eines Wortspiels willen sollte sie also für ihr Leben deklassiert bleiben. Als ob er nicht um ihre verzweifelte Situation wüßte. Welcher Hohn! Und weiter:
Ihm läge es ob, die Dame vor einer Mesalliance zu bewahren, und das sei die Eheschließung mit ihm: einem Juden, offenbar in ihren Augen, da sie dieselbe doch absichtlich verhindert habe, als er ihr den Ehekontrakt zur Unterschrift gereicht.
Sie saß ganz still, gesenkten Hauptes, trank seinen Umriß ohne hinzusehen und jede Pore schrie:
»Weiß er denn nicht: man ist eine Frau, man geht fort, weil einem das Fortgehen die Seele bricht und man bleiben will, und man ist eine Säule Stolz, weil man zerbrochen sein will, man zürnt, weil man lieb sein will, man leidet Jammer, Haß, Qual, weil man noch mehr geküßt sein will; noch besser gehalten, in noch härteren, lieberen Armen. Fester. Und spüren, tief in die Nüstern einziehen das, wo man hingehört. Er aber läßt es geschehen, daß meine gerechte Empörung mich wegträgt von ihm, und braucht nur einen Schritt zu machen und alle Stacheln schließen sich, und mein Herz ist eine wilde Rose der Lust und will nichts sein, als Haut unter seiner Hand. Er aber tut, als wäre Haß Haß und glaubt mir – der Heuchler. Doch lieber sterben, als es ihm sagen und die heiligen Spielregeln der Liebe brechen. Das ist das unbestechliche Erz an mir, denn ich bin eine Frau.«
Jetzt hörte sie seine genießende Infamie ganz zu Dr. Lederer sich wenden, vertraulich, als wären die Herren unter sich:
»Ich bin, wie Sie sich denken können, schon öfter in ähnlicher Situation gewesen, nun, da pflege ich mich jedesmal von den Damen einfach auf Alimente verklagen zu lassen und der Fall ist für mich erledigt.«
Da sie aufspringen wollte zur Tür, kamen schon seine dämpfenden Arme, wie eines Dirigenten, sein flehendes Lächeln über sie, als sei diese ganze Kanzlei doch lediglich eine Liebhaberbühne, auf der die Heldin so obenhin, von Pausen und höfischen Scherzen unterbrochen, gerade eine Griseldisrolle probte. Die Geste erinnerte auch, daß sie dabei durch edle Haltung des Zuschauers Schönheitsgefühl zu befriedigen habe. Ja, er verlangte unbedingt Anmut während der Vivisektion, alles, was eben ein Kaninchen doch nicht zu bieten imstande war.
Die »Verhandlungen« zogen sich durch Wochen ohne Resultat hin. Seine Advokaten brauten einen zählebigen Brei von Mißverständnissen, in den sie immer wieder zurückgestoßen wurde vom klaren Ufer der Tatsachen. Und hätte man ernstlich verhandelt, jede menschliche Beziehung wäre ja dann zu Ende gewesen, so mußte es schon deshalb vages Gerede bleiben, Schmollerei zwischen Verliebten, die ihre Stelldicheine aus fragwürdiger Laune in Advokaturskanzleien verlegt hatten. Für Sibyl ein kostspieliger Treffpunkt, diese stundenlangen Sitzungen, bei denen sie selbst nur ab und zu erschien, nicht für Ralph Herson, denn es ergab sich, daß er den beiden Anwälten ein jährliches Pauschale zur Ordnung all seiner Angelegenheiten seit langem ausgesetzt. Norman Bleiweiß war für Bilanz und Steuersachen, der süßflüssige Dr. Kosches fürs Private.
Und nie ließ er sie zur Überlegenheit der Verzweiflung kommen, trieb sie immer wieder in schwächende Hoffnung, und auch so sehr war dies in ihr, dies zu höchst Menschliche: dies Über-Allem-Stehen, daß sie auf Augenblicke sogar hinüberlächeln konnte, zu seinem genießenden Skalpell.
Endlich eines Tages sah Sibyl die Erlösung knapp vor sich und schlich ihr nach. Da war ein entfernter Vetter Ralph Hersons, Winkeladvokat und völlig deklassiert. Hatte eine ähnliche Art um Augen und Lippen, wenn ihm was gefiel, nur wie mit ranzigem Schmalz übergossen. Der sollte die Marter der Verzauberung brechen helfen. Sibyl, in einem alten Regenmantel versteckt, kroch um Straßenecken hinterdrein zur schmierigen Spelunke, wo er verkehrte. Sah stundenlang in leidender Schadenfreude zu, wie das entgötterte Abbild des andern, gütig und gerissen, die Kellnerin unter einspeichelnden Worten in den Arm zu kneifen versuchte, bis eines Tages eine furchtbare Entdeckung kam: der schmutzige Winkeladvokat verschönte sich, blühte in den andern hinauf, statt daß jener zu ihm zerfiele. Sie schauderte: »Mein Gott, ich bin verloren.«
Zwischendurch fuhr man spazieren, als wäre nichts geschehen. Ralph kam, holte sie ab, sonniger, inbrünstiger als je, wie beglückt, wieder sprechen zu können mit ihr. So blieb alles in der Schwebe. Sie ließ es geschehen, barg lieber das Haupt im Schoß der Ungewißheit, denn wenn eine übergroße Liebe unter infernalischen Schmerzen ausgetrieben werden soll aus den Sinnen, wo allein die große Liebe wohnt, entstehen Wehenpausen, linde Inseln aus Frieden, zwischen der zerreißenden Not.
Sie lebte fast ein wenig auf, wagte sich wieder hinaus und sah in diesen milden Pausen zuweilen, wie große fremde Vögel, zwei wundervolle Menschen ihre Straße ziehen: Herr und Dame von nie gesehener Art. Zufällig immer vor ihr – die Gesichter sah sie nicht, wußte sie schon aus Halshaltung, Kopf- und Ohransatz, verlangte nicht mehr, ganz erfüllt von dem Guß des Ganges allein. Nachlaufen dürfen, zwischen sie hinein, sie überflügelnd, einen Arm um jeden legen, mitziehen, in diesen Guß des Ganges geschlossen. Wie sich das fühlen müßte: als Durklang gefügt sein, in die reine Quint der beiden?
Dann schrak sie auf. Wieder ein ganz alleines Ich unter lauter fragwürdigem Draußen, wie einst als Kind.
Plötzlich brach er die Verhandlungen ab. Ein Telegramm riefe ihn nach Hause. Übergab alles seinen Vertretern. Dr. Kosches und Dr. Bleiweiß baten dringend um eine private Unterredung. Sie waren menschlichen Wohlwollens voll und bedauerten aufrichtig den – pardon – falschen Stolz der gnädigen Frau. Alles wäre längst zu allgemeiner Zufriedenheit geordnet, hätte sie der Gegenpartei das Kind bedingungslos überlassen. Wenn sie Professor Herson doch nachreiste, mit diesem gewiß sehr erfreulichen Wesen überraschte! Er warte ja nur auf die goldene Brücke zur völligen Versöhnung.
Also gut, war nur das Schachern zu Ende, lieber den letzten Trumpf aus der Hand geben: das Kind.
Die kleine Pension am ligurischen Strand lag finster, als sie tief nachts mit Baby und Amme aus Berlin ankam. Sie hatte »Brangäne« brieflich in ihr Kommen eingeweiht, wollte hier im Verborgenen die Überraschung vorbereiten. Nein, Zimmer seien nicht reserviert. Erst nach zwei Tagen erschien Tatjana, triefend vor Entschuldigungen, bat um Geduld: Der Hausherr sei krank zu Bett, sie würde täglich kommen, Bericht erstatten. Kam nicht. Am dritten Abend brach die Gefolterte aus, hingetrieben auf den breiten Schwingen eines schwarzen Windes nach dem alten Landhaus, wo sie ihm verfallen war. Schlich im Mondlicht über den blühenden Grund voll Öl und Wein, von ihrem Vermögen erworben, wie eine Diebin von Baum zu Baum. Waren die Hunde los? Drückte auf die geheime Feder der linken Seitentür. Stand zitternd im Park. Ein einziges gelbes Fensterauge hing voll in der fahlen Mauer. Die Hunde, wenn die Hunde sie als Einschleicherin entlarvten!
Das Haus zog wie ein Magnetberg.
Lotrecht unter dem einsamen Licht warf sie sich mit ausgebreiteten Armen gegen die Wand.
Da drinnen lag er, wer weiß wie krank. Der Mörtel blätterte ab unter dem Druck ihrer Stirn. Quer – ein Sprung im Welthirn – klaffte oben die Milchstraße durchs Dunkel. Leichter, grünlicher Nebel: Mehltau des Mondes hing auf der Luft, knochenhell schlich Kies auf krummen Wegen des Gartens. Plötzlich stand das Krankenzimmer voller Lärm, mitten im Mondschweigen. Rasend schnelles Schnattern hub an. Seine Stimme, doch ganz anders als sonst, wie aus dem Körper eines Hundskopfaffen heraus. Weibliches Lachen dazu, wie von einer gekitzelten Nonne. »Brangäne?« Johlend irres Lachen, als kitzle das zotenfreche Affengeschnatter sie zu Tode. Unten – die Hingekreuzigte – verstand kein Wort. Galt das ihr? Machte man sich lustig über sie? Doch so infernalisch, so mit geheimer Verworfenheit vollgekichert war dieses obszöne Schnattern, daß ihr vor Grauen Glied um Glied abzufrieren begann.
Und es hörte nicht auf dort oben.
Endlich entstand an ihrem Daumenballen wieder ein Fleckchen warmes Fleisch. Dandy, die große Bulldogge, hatte es mit seinem Ledermaul ins Leben zurückgeleckt, sah mit weichen, weisen Krötenaugen hinauf, wie ein Freund, in ihr ganz zerstörtes Gesicht. Jetzt erst konnte sie flüchten.
Mitten in die fiebrige Abreise des Morgens schlenderte »Brangäne«; machte erschrockene Augen:
»Ja, was sei denn geschehen, ja, was?«
Ja, was? Jetzt, im nüchternen Tagblau, durch das der Briefträger daherkam, vor Blick und Ton dieser robusten Vermittlerin, verkroch sich der Hundskopfaffen- und Nonnenspuk der Nacht. Also bleiben, die Überraschung vorbereiten.
In der Mitte seines Geburtstags legte Sibyl dem in der Hängematte seines Parkes Schlummernden von rückwärts das Baby auf den Schoß. Feig schreiend stob er weg, wie vor einem Browninglauf, sah dann nichts als Größe und Süße in ihrem Gesicht und fing sich wieder ein. Tat nur allzu programmäßig erfreut jetzt. Tatjana hatte sie also doch verraten, alles war abgekartet, man sah es an Blick und Gegenblick der beiden.
Sofort entkleidete er das Kind, nahm den Zollstab, das Hörrohr. Maß den Schädel, prüfte die Genitalien, die Pupillen, das Herz. Das Kleine sah aus vielen Wimpern groß und dunkelblau zu ihm auf, kupferhäutig wie ein Indianerprinz unter goldenem Flaum.
»Es ist fehlerlos. Hat deine unvergleichliche Anmut ins Männliche übertragen. Welch richtiger Instinkt, dich zur Aufzucht zu verwenden.«
Er nickte, offenbar gewillt, die lebende Ware franko mit Zustellung zu übernehmen. Behielt sie gleich im Haus. Sibyl zog ins Hotel. Vom Neubau stand sonderbarerweise noch immer kein Stein, in der alten Landvilla aber mußte erst Platz geschaffen werden. Auch kam die Zeit des Jahres, da ihr Charmion gehörte; da war kein Tag zu verlieren, mochte geschehen, was wolle. Man hatte sich geeinigt, nach ihrer Rückkehr die Eheformalitäten zu erfüllen, bis dahin sollte das Baby bei ihm im Verborgenen bleiben – diskret. Er tat peinlich erstaunt über diese Scheu, als kennte er die sozialen und rechtlichen Folgen für sie nicht. –
»Was kümmert das einen freien, modernen Menschen.«
Und er hob die Schultern. Preßte sie in diesen Tagen aus bis in die Sinnenspitzen. Seine wissenden Hände, seine raffinierten Gluten überströmten sie, seine Blicke aus bösem Samt liefen brennend ihren zarten Schenkeln nach, doch hinter seiner Stirn blieb er für sich. Ward sie unter seinen Liebkosungen zu schön, glatt wie das Licht, duftend nach Birken und Erdbeeren in dem langen Glück ihrer Haare, zog er sich hart, feig, lauernd zurück – nie erster Regung folgend.
Sein Mund war voller Küsse, die er dann, selber leidend, boshaft wieder zerbiß. Aus Angst vor der eigenen Hingabe klügelte er unmöglichen Anspruch aus, in der Hoffnung, enttäuscht zu werden. So jagten sie hutlos durch Salzgischt und Mittagsglast, aber wehe, hatte die Linie des Lichts dann Grenzen gebrannt auf Milch und Silber des abendlichen Ausschnitts. Im Gesellschaftskleid – er liebte Förmlich-Festliches am Abend – führte er sie nach dem Diner noch in die Dunkelheit hinaus, Wege voll Gestrüpp, durch Dornenhecken und boshaft dann ins Lampenlicht zurück. Ein Fleck, ein Riß, und triumphierend angewidert sah er diskret zur Seite.
Kam sie korrekt in Juchtenstiefeln die steinigen Wege daher, vermißte er das offene Spiel der feinen Fesseln, kam sie in Schuhen, war's nicht Stil.
Bei einem alten, schwerhörigen Bauer blieb er stundenlang, ließ alle Rede mit dem beinahe Tauben ihr, damit die weiche, gepflegte Vogelstimme, zum Schreien gezwungen, hier ihren Reiz verlöre.
Sie trug es, wie man mit dem Gefährten auch schlechte Zeiten trägt. Die Zeit der Wahl lag lang schon hinter ihr.
Nie ging er mit bis zum Hotel; kam es in Sehweite, nahm er Abschied. Endlich in ihr Staunen hinein, gereizt, daß sie ihn nicht von selbst begriff:
»Der Portier sieht mich bereits ein wenig sonderbar an – deinetwegen. Unter diesen Philistern muß man vorsichtig sein.«
»Und wie war das mit den freien, modernen Menschen?«
»Oh, du bist frei.« Sie dachte: ja, vogelfrei. »Ich aber, als Grundbesitzer hier, bin von der öffentlichen Meinung in hohem Grade abhängig, brauche auch den Sindaco für allerhand Konzessionen.«
Wie praktisch, als Sturmbock gegen Weltdummheit und Bosheit benutzte er allein die Frau, ließ sich den Preis für seine Ideale von ihr bezahlen.
Zwei blaugoldene Wochen verspielte sie mit Charmion am Gardasee, gab dem Kinde ein pausenloses Fest. Ganz für sich blieben die beiden, begafft nur von morgens bis nachts, in dem einzigen Hotel des Orts, von Kaum- und Halbbekannten, denn die Welt ist unerträglich eng.
Da kam eines Tages aus Genua ein Dokument zur Unterschrift, darin Ralph Herson die Vormundschaft und sonstigen Rechte an dem Kind übertragen wurden.
Sie staunte. In wenig Wochen der legitime Vater, was brauchte er noch dies?
Legte es nachsinnend beiseite, wiewohl die Unterschrift als dringend für ein nahes Datum gefordert war.
Einige Tage darauf, zur Teestunde, machte der Postbote wie immer seinen Gang von Tisch zu Tisch auf der Terrasse und reichte ihr ein Telegramm. Sibyl sah vom »Dschunglbook« auf, das Charmion immer wieder hören wollte, prüfte den Inhalt des kurzen Klebestreifens – man starrte wie immer zu ihrem Tisch herüber – steckte ihn ruhig ein, las laut dem Kinde das Kapitel zu Ende, schickte es auf den Spielplatz, lachte ihm nach, ging schwingend über die Terrasse ins Hotel, in ihr Zimmer, fiel in einem Herzkrampf aufs Bett. Die Depesche lief:
»Amme und Kind nach Gardasee unterwegs.
Weder Strecke noch Zug bestimmt, so daß sie hätte entgegenfahren, die Ankunft verhindern können. Und Charmion hier, von der sie bisher mit übermenschlicher Kraft diesen ganzen Schmutz weggehalten! Ihr seinen Bastard mit Amme heimtückisch herschicken, welch namenlose Niedertracht.
Ein nasses Tuch auf dem Herzen, kroch sie zur Klingel. Sofort das Motorboot. Warf alles in die Koffer, floh zwanzig Minuten später mit Charmion über den See, ohne eine Adresse zurückzulassen, dann mit einem Zug in die Schweiz hinauf, und weiter bis an den Kanal. Mochte da hinten im Hotel geschehen, was wolle.
Seit diesem Tag spürte sie ihr Herz.
Der lädierte Köter fiel ihr ein, der seine tückisch-streichelnde Hand geleckt, nicht wissend, wann er wieder »dran käme«.
Dann lanzenhart im Schwung des Hasses:
»Nein.«
Der alte Lederer hockte, wie immer, im Bureau, setzte seinen zweiten Zwicker auf, um besser reden zu können.
Ralph Herson war auf einen Tag nur erschienen, hatte erklärt: er, als gütige und vornehme Natur, sei tief erschrocken über solche Gewissenlosigkeit einer Mutter, ihren Säugling in unverantwortlicher Weise an fremdem Ort einfach im Stich zu lassen. Das stoße natürlich alle Vereinbarungen um. Gehe er, aus Ritterlichkeit, vielleicht doch noch auf eine Scheinehe mit Scheidung ein, verlange er als Sicherstellung, als Kaution gleichsam, zweimalhunderttausend Franken. Danach aber werde Frau Sibyl, die sich leichtsinnigerweise bei ihrer Trennung von Gabriel Gruner einer allzu großen Summe entäußert, wohl kaum mehr in der Lage sein, ein Heim zu erwerben und einzurichten. Unsicheren Verhältnissen könne er aber, als gewissenhafter Vater, ein Kind, das er so lange ersehnt, nicht preisgeben. Daher müsse es ganz und gar ihm verbleiben.
Warum er denn annehme, eine Frau werde plötzlich ihre Stellung materiell ausbeuten, die sich doch bisher stets selbstlos gegen ihn gezeigt, ja, bedeutende Geldopfer auf sich genommen?
O gerade deshalb, das gebe ihr dann eben einen Schein von Recht und überdies: Frau Sibyl pflege, wie er sich persönlich oft zu überzeugen Gelegenheit gehabt, enorme Summen unbedenklich für erlesen kostbare Gewänder auszugeben. Die Kosten der Verschwendungssucht solch verwöhnter Dame zu riskieren, scheue er sich und baue deshalb vor durch die Kaution.
Dr. Lederer sah zu seiner Klientin auf, sie lachte so irr:
»Besitzen Sie noch soviel Geld wie er verlangt?«
»Nein, ich bin ruiniert.«
So hatte er sie geschickt und planmäßig an eine Stelle im Schicksal gebracht, wo jeder Versuch einer Tat zu Skandal, Ruin oder – Verbrechen leitet, zu einem: sich überall an blinden Mauern die Stirn zerschmettern, die Knöchel blutig und schmutzig schlagen, wo das ganze Leben grau und rot wird vor Schmach bei jeder Bewegung, der Schlamm-Geysir nur gebannt bleibt durch regloses Stillhalten, Atemanhalten und Sichausplündern lassen; denn eine Dame kann nicht durch Gerichtssaal und Zeitungen zerren lassen, was ihr geschlechtlich geschehen. Sie ist das Wehrloseste der Welt, noch der Feigste darf sich beruhigt an ihr vergreifen; bezahlen muß sie ihn noch, damit er die ihr angetanen Infamien nicht bekannt mache.
So brauchte ein Ralph Herson nur die flottierende Niedertracht in Sitte, Meinung und Brauch für sich arbeiten zu lassen, und jeder Zerebralsadismus, jede Profitgier ward automatisch und ohne Risiko befriedigt, wenn nur frech genug, schamlos genug zu Ende geführt.
Doch wie, wenn er sich diesmal irrte? Wenn sie ihm einen Schadenersatz-Prozeß machte? Allen Ekel vor Maul und Ohr der Öffentlichkeit überwand, um ihn an der einzigen Stelle tödlich zu treffen, wo er verwundbar: mitten in die Brieftasche hinein.
Der alte Lederer schüttelte den Kopf.
»Haben Sie Beweise? Liebesbriefe – wenn schon. Lauter Ekstase, kein positiver Inhalt, und der Schuldschein ist zwar unvorteilhaft, aber unanfechtbar, er behält Ihr Geld. Also: Prozeß zweifelhaft, Schadenersatz sicher gleich Null. Sie bleiben ruiniert und er – kaum geschädigt. Ja, in England, dort wäre es freilich anders, dort hätte er es sich auch wohlweislich überlegt. Da ruiniert ein › breach of promise case‹ den Mann.«
Dies also war der echte Grund seiner Übersiedlung aus Cambridge, daher die Flucht vor britischem Recht.
»So ist juristisch nichts zu machen?«
»Nichts, was einer Sühne gleich käme, denn wann hätte ein Gauner nicht das Gesetz für sich.«
Sie ging. Lahm vor Ekel. Auf der Straße, in einer Gruppe Leute, hob eine Frau das Lorgnon, frug:
»Was, die kennen Sie nicht?« rief einer aus dem Kreis: »Ich werde Ihnen gleich ihre Geschichte erzählen,« und Tratschgeifer troff ihm schon aus dem gierigen Maul.
Fern und leicht, das Gesicht hoch wie ein Windenkelch, schritt sie knapp an der Gruppe vorbei, und in den längst ausgefressenen Bahnen der Empörung jagte ein Verzweiflungskrampf den andern durch ihr Hirn.
Jetzt schlug ein Haßstrahl leuchtend seine Kraft hindurch: die Zwillingskraft der Liebe, doch mächtiger als sie, weil frei vom Wahn des Glücks. In diesem Haßstrahl erhellt, sah die Zerstörte zum ersten Male Leiser Herschsohns Nachfolger als neuen Typus – unzähliger Variationen fähig:
Den Lebenswucherer.
Nicht mehr mit schmierigem Seinesgleichen nur um Geld – o nein, – als physisch Hinaufgepflegter auch noch mit seinen Generationszellen wuchernd, die Kalorien seiner Händedrücke berechnend; Geist, Schönheit, Kultur, Liebe: alles bereits ein Fremdwort für Wucher!
Seine Güte: daß er den Schaden, den er zufügt, leicht vergißt.
Seine Treue: wenn ihm in der Zwischenzeit begangener Verrat weniger Vergnügen macht, als er glaubt beanspruchen zu können.
Seine Großmut: besten Falles eine unterlassene Infamie.
Ohne innere Not allen fremden Werten durch Gentleman-Mimikri falsch verbunden, hatte er in Büchern gelesen von Noblesse, von Vornehmheit, schaffte sich die Worte an, fing sich mit ihnen fremde Taten ein, die ihm den Preis der neuerworbenen Ideale dann bezahlen mußten, denn keine Bindung galt für ihn, der stets auch anders konnte als Entraßter; weltfremder Gelehrter sein beim »Soll« – behender Wucherer beim »Haben.«
Hatte sich nebst seinen Bronzen, Bildern, Büchern auch eine uneheliche Kindersammlung angelegt, als millionenfache Verzinsung einer einzigen investierten Zelle. Spesen: ein paar gut angewärmte Briefe, die ihn zu nichts verpflichteten, weil er durch seine Advokaten längst belehrt worden, wie ein Betrug, der im Geschäftsverkehr zwei Jahre Zuchthaus kostet, in Form von – Liebe straflos bleibt.
Ein Zu-früh-Freigelassener auch, mit allen seinen Merkmalen, als da sind: Gier, Geiz, Mißtrauen und – Grausamkeit, wo sie ohne eigenes Risiko zu befriedigen war, am sichersten somit an der graviden Dame, hat man sie vorsichtshalber erst durch Scheidung, Schmach und Schmutz getrennt von ihrem schützenden Milieu. Erfreulicher für den Ästheten jedenfalls, als der Geschäftsverkehr mit seinesgleichen, für den Gelehrten so spannend wie der Tierversuch, und lukrativer obendrein, da man vom Adler, dem gefesselten, ehe ihm die Augen ausgeschnitten werden, kein Geld entlehnen kann.
Nun glaubte er sich frei von ihr, nachdem er ja in diesem Jahr den ganzen Tierkreis seiner Perfidien durchlaufen. Somit bereit:
»Zu neuen Taten teurer Helde.«
Doch siehe: auf dem Kursblatt seiner Emotionen notierte sie noch immer »pari« wie es schien, und die Verfolgte spürte seinen namenlosen Haß, ja sein Entsetzen, lieben zu müssen, wo nichts mehr herauszuschinden blieb, denn: Mittel war ihm jede Kreatur.
Was aber gab ihm solche Macht?
Die purpurne Wärme Asiens: sein Erbe. Unter erotischen Schwerblütlern, mit niederem Wissen um den Körper, in einem Ozean lauer Geilheit, schoß dieser Menschenhai umher nach Beute, und alles Liebesreiche, Blühende fiel ihm voll Inbrunst zu.
In Schönheit glühen: auf dieser Sehnsucht aller Kreatur kam er dahergeschlichen, hinter den strahlenden Gaben seines Maules.
Der absolute Egoist.
Unschädlich machen! Mitsamt seiner Zutreiberin, mit der ganzen Brut – alles unschädlich machen – sofort.
Doch erst quitt sein, nichts ihm schulden. Und für jede Mahlzeit, je in seinem Haus genommen, für jeden Tag in seinem Haus verbracht, und für die erste Liebesnacht insonderheit, schickte sie die angemessene Summe an das Bankhaus Herschsohn. Raffte dann in irrer Trunkenheit ihr letztes Geld zusammen, – es reichte eben für die Reise, – und fuhr zu ihm.
Als Chauffeur verkleidet, zwei Revolver in den Ledertaschen, klingelte sie am Tor des alten Landhauses.
Eine fremde Person kam herausgeschlürft:
Alles verreist.
Der Herr und Mylady, auch das neue Kind seien fort. Nach Madeira, vielleicht auch Tunis, jedenfalls auf lange.
In ihren muffigen Gasthof zurückgekehrt, warf sie das Fenster auf. Es verspreizte sich, Anstrich blätterte ab. Vor ihr stieg, reich und frei, das herrliche Land, sein Eigentum, so weit man sah.
Da riß der allzu überspannte Wille jäh und traf das Herz. Also entflohen, unerreichbar weit, denn wie das Gesetz den Gauner schützt, so diesen wieder sein Raub, der ihm Freizügigkeit des Reichtums gibt – dem Opfer nimmt.
Sie kroch in die entwürdigende Verlassenheit des Fremdenbettes.
Lag so eine ewige Nacht.
Diese Nacht trat langsam, wie ein drehender Absatz, etwas in ihr aus, ohne das kein Mensch weder leben will noch kann. Etwas, das niedergeknüppelt doch – wie oft – verharrt. Nicht größer zuweilen, als im Riesendom ein gasblauer Stecknadelkopf, doch gespeist mit heimlichem Herzhauch, der von Gott kommt oder ganz aus seiner Nähe: Hoffnung.
Eben noch, in steigernder Gewalttat, waren Vernichtung und Hoffnung einander nicht feind gewesen. Auf unbegreifliche Art hätte aus dem blauen Stecknadelkopf heraus gerade dann aller Äther noch einmal aufflammen können zu Glorie, weil in dem Blick des Sterbenden vielleicht etwas erschienen wäre, um darzutun: auch dies sei nur ein armer, irrender Mensch.
Diesem Ende hatte sie heimlich zugehofft. Nun war der blaue Nadelkopf erloschen.
Und es ward grau. Oder war das öde Blei auf den Augen schon wieder Tag? So einer, der sich nicht aufknien kann aus dem Fahlen. An der übeln Kälte bis in die Herzkammern hinein erkannte sie: jetzt müsse der tiefste Stand des Blutes sein. Jene heillose halbe Stunde, ganz grün von verwester Nacht, wo die zähen Greise es aufgeben und sich strecken. Im Stuhl die müde Schwester nickt dazu.
Mühsam, widerwillig hob sie die zerquälten Lider. Herein schnitt das grenzenlos gemeine Hotelloch. Im Fensterviereck stand als grauer Pflasterstein die Luft.
Sibyl hielt den Atem an. Ließ das Verfaulte aus der Nacht in allen Adern sich zu Klumpen der Zersetzung stocken.
Wartete.
Da kam, erst schwach, weit herauf eine Straße ohne Anfang, Holpern eines Karrens, und auf ihm festgebunden ein Geheul.
Kein Schritt, kein Huf von etwas, das den Karren zog. Es fehlte wohl ein Rad. Der Karren hinkte.
Immer näher kam das liegende Geheul. Ein gemartertes Tier? Ein Kind? Eine Frau? Kein Erkennungszeichen mehr: die Qual hatte jede Form zerbrochen. Was vielleicht einst Merkmal gewesen: Klage, Empörung, Angst, war längst matt herabgeglitten auf die Straße ohne Anfang.
Jetzt war es da. Gerade unter dem Fenster. Da schwoll das Geheul zu einem Laut von so hemmungsloser Erniedrigung, daß das Graue aus der Luft an ihm gerann.
Ein gemartertes Tier? Ein Kind? Eine Frau?
Oder Schauer gereizter Ermattung, die sich aus Klang ein Gleichnis schufen? Sie würde es nie erfahren. Lag festgefroren an das Bett – die Brust bis oben voll bleicher Herzen im Krampf.
Langsam knirschte der Karren seinen schauerlichen Bogen vom Zenit des Fensters hinunter, wieder eine Straße ohne Ende, über der langhin das verblassende Geheul stand. – Fern und immer noch.
Sie erhob sich, um zu sterben. Tastete, in allen Knöcheln zerbrochen, nach der Waffe. Etwas klirrte. Das Graue schwand.
Endlich ganz schwarz.
Aus der tiefen Nacht, auf der andern Seite der Zeit, trieb es sie langsam wieder zurück.
Der Tod schmolz ab, doch sie grub sich mit allen Fingern in ihn ein, wollte nicht mehr weg aus dem linden Schwarz.
»Genug« war ihr erstes Wort. Dann brachen, angesogen von einer tiefen Wonne um sie her, die Lider auf. Über ihrem Gesicht schwebten zwei wagrechte Augen aus unbegreiflich sanftem Samt, deren Wimpern flügelhaft bis in die Schläfen schnitten.
»Wie gut« und die Zurückgeholte ließ sich von nun an leben, ohne Widerstand.
Zwei Augenpaare waren es, die abwechselnd über ihr kreisten: wie große, fremde Vögel und bebrüteten ihr Herz.
War es der Ort, wo man die unerfüllten Wünsche lebte? In scheuer und tiefer Vertraulichkeit legte sie eines Tages um jeden einen Arm: als Durklang gefügt in die reine Quint der beiden. Wußte ihre Namen nicht, nichts – frug nicht einmal, wie es gekommen, wie ihre Spur verfolgt, wie sie gefunden worden war. Lag hier selig und vollendet eingefügt als kühne Liebesstufe zwischen ihnen: frauenweicher als der Freund – jünglingherber als die Freundin, dies köstlich fremde Damenwesen, am ganzen Körper so vollkommen, wie es der Ringfinger ganz junger Mädchen zuweilen ist.
So einfach, so natürlich schien alles, als hätte sie es immer schon gewußt, daß sie dazugehöre, seit jenem ersten Mal, da, einer ungeheuren Erweiterung der eignen Seele gleich, zwei wundervolle Menschenangesichter durch ihre einzige Sekunde Glück gezogen kamen, als sie den fremden Mann im Schoß gehabt, bis zu der Stunde, die wie Gold gewesen, weil der warme Schatten des brüderlichen Gentleman den ihren fand und ehrte. Die Haltung seines Schattens hatte alles offenbart.
Dazwischen aber war ein fremder Mann in ihrem Schoß gelegen: Der Lebenswucherer – der absolute Egoist.
Empörung überbebte in Stürzen der Erinnerung ihr aufgescheuchtes Blut.
»Mein Elf von einem großen Stern« – Gargis entsetzte Zärtlichkeit umschlang das vor Haß grau gewordene Gesicht.
»Gazellenfee, wie könntest du begreifen, was Unbeschütztsein heißt.«
Dann löste sich der Krampf der Einsamkeit zum erstenmal, und Sibyl sprach – deutete an, nur herb, schamdurchblutet, was ihr geschehen.
Eines Tages breitete Horus sehr zart, sehr ernst ein Manuskript über ihre Knie: jenes, das Erasmus dem Knaben in der Bibliothek gegeben, am Tag des Traumes und der Schillerfalterjagd, als sein Leben einschwang für immer in die beiden Bahnen: Ellipse und Parabel der Kegelschnitte Gottes.
Vor ihrem Lager hingekniet, legte er sie ganz in die Stärke seiner Hände, sprach: »Alles ist darin: West und Ost – Ihr und Wir.«
Und sie las, wie einstmals er:
Der Kreis symbolisiert mir die Eigenliebe: den Egoismus.
Die Ellipse das Ideal der Liebesfreundschaft.
Die Parabel das der Liebe gegen das Unendliche, Göttliche.
Die Hyperbel das Ideal des bittersten Hasses.
Der Brennpunkt in jeder der angeführten Linien stelle eine Seele vor; die Strahlen, die von da nach dem Umkreis gehen, die Bestrebungen dieser Seele, wiefern sie nach außen (durch Handlungen) wirksam sind, und die Richtung der zurückgebrochenen Strahlen den Zweck, zu welchem die Bestrebungen auf das Äußere gingen. – Ich kann z. B. nach außen handeln, teils um meinetwillen, teils um eines andern willen. Wenn die Strahlen also, die von dem Brennpunkt ausgehen, die aktiven Bestrebungen der Seele vorstellen, so müssen umgekehrt wenn wir das Symbol treu verfolgen wollen – die Strahlen, die von der Peripherie in den Brennpunkt fallen, die Gefühle und Empfindungen vorstellen, welche die Seele passiv von außen in sich aufnimmt. Wird daher ein Strahl, der von einem Brennpunkt an die Peripherie fiel, in einen andern Brennpunkt zurückgebrochen, so sind des letzteren Gefühle – nach dem Symbol – durch Bestrebungen oder Handlungen des ersten Brennpunktes veranlaßt worden.
Der absolute Egoist handelt nur um seinetwillen. Er läßt nur Strahlen gegen die Peripherie ausgehen, damit angemessene Gefühle in seine Seele durch die Rückwirkung kommen; er ist ganz in sich abgeschlossen. Was er auch tun mag, davon hat nichts auf eine Seele außer ihm Bezug. Der Strahl, der aus dem Mittelpunkt des Kreises kommt, wird ewig wieder in ihn zurückgebrochen.
Die Ellipse läßt sich als ein Kreis mit in zwei Brennpunkten auseinandergetretenen Mittelpunkten betrachten.
Eine Seele hat sich in zwei gespalten, und beide existieren nur mit- und durcheinander; jeder ist die Seele eines Freundes; jede wirkt nur, um in der andern angemessene Gefühle und Empfindungen zu erregen, denn welcher Strahl auch von dem einen Brennpunkt an die äußere Peripherie fällt, der nimmt seine Richtung nach dem andern Brennpunkt zu. Was der eine nur denkt und hat, das gießt er in des andern Seele aus. Um die Außenwelt bekümmern sich beide nur, insofern sie mittels ihrer in bezug aufeinander wirken können; beider Gefühle ergänzen einander stets: alle gebrochenen Ellipsenradien sind gleich der großen Achse, die beide Brennpunkt-Seelen zunächst verbindet. Sie können jede einzeln nichts denken, nichts fühlen, was nicht mit des andern Gefühlen und Bestrebungen zusammenstimmte, daß es dieses Band darstellte: das Ideal der Liebesfreundschaft hat viel schönere Symbole – wohl kaum ein wahreres.
Nehmt die Hyperbel: beide Liebende sind durch einen ungeheuren Haß gespalten worden! Der eine hat sich von dem andern abgekehrt, jeder reißt seinen Brennpunkt heraus, hält ihn für sich fest und mag mit dem andern nichts zu schaffen haben. Sie fliehen sich in Ewigkeit – nein, sie sind noch aneinander gebunden, aber durch die Bande des feindseligsten Hasses. Ihre Gesinnungen beben divergierend voreinander zurück bis ins Unendliche, aber doch bleiben sie hadernd einander gegenüberstehen, und daß jedes Gedanken nur von des andern Seele zurückfahren, sieht man daraus, daß die Divergenz der Strahlen ihr Zentrum in dem gegenüberliegenden Brennpunkt findet. – Was in der Ellipse das Band war: die große Achse, ist in der Hyperbel in den Gegensatz übergegangen und alle Strahlen, die von einem Brennpunkt in den andern fallen könnten, sind sich nur in der Differenz gleich.
Die Parabel ist ein erhabenes Symbol der Liebe zu einem Ideal, zum Übersinnlichen, zu jedem Großen und Schönen, was nur in der Unendlichkeit erreichbar der Seele vorschwebt: alle Strahlen, die der Brennpunkt der Parabel aussendet, laufen in gleichförmiger Richtung nach dem andern Brennpunkt, der in der Unendlichkeit liegt; alle Bestrebungen und Gedanken sind nur dahin gerichtet. Umgekehrt kann kein Strahl in die Seele fallen, der nicht vom Unendlichen ausgegangen wäre. Alle Gefühle beziehen sich auf dieses.
Sie ließ den Kopf an seiner Schulter ruhen, dann mit verdunkeltem Gesicht:
»Der Kreis und die Hyperbel; so bin ich immer noch durch einen achsengraden Strahl von Haß mit ihm verbunden.«
»Haßt du ihn noch?«
»Bis zum Tod, ich – ihn, er – mich.«
»Du warst wie tot, dies ist eine neue Wiederverkörperung, und alle Bindung gelöst. Du ziehst in unsere Bahnen hinüber als meine Frau, und mit meinem Haupt zwischen den Füßen frage ich:
Willst du das sein?«
Zweifelnd sah sie auf Gargi:
»Bist du ein Europäer?«
Er hob die Schulter nur:
»Nein, ich bin Asiate, gehorche den Sitten Asiens, in wenig Wochen zergeht der ganze Irrenkerker hier, ganz klein und schmutzig, an unserem Horizont für immer. Und jedes Jahr nur kreuzt meine Jacht herüber und bringt dir Charmion mit.«
Sie atmete auf, zu glücklich – müd, um viel zu fragen.
Sobald der Lungenschuß verheilt war, fuhr Horus mit Sibyl nach England, ließ sich dort so rasch wie möglich trauen, dann kehrten sie auf den Kontinent zurück.
In Hamburg lag schon die milchweiße Jacht unter Dampf bereit.
Sie eilten über den Kai, Horus und Gargi, am Ende ihres weißen Traums.
Zwischen sich, eingeschlossen in ihres Ganges morgenländischen Guß, entführten sie den »Elf von einem großen Stern« in seine neue Heimat.
Ringsum barsten Beete von Sirenen, vomierten üble Trichter von Geheul in eine widerwillige Luft, gleich einem Unding, das sich selbst bejammert. Schneller schritten sie dahin, fast laufend schon, und wie Horus, im Andrang seines Herzens, bei der Ankunft von Bord gesprungen war, so breitete er jetzt, den Landungssteg schon unter sich, die Arme weit der süßen Freiheit Asiens zu – und – fühlte sich gepackt an diesen liebesoffenen Armen, zurückgehalten, wie das erstemal.
Zwei Polizisten standen da. Blech vor dem Hirn. Und an dem einzigen Streifen freier Haut, dort wo der harte Kragen rieb, hatte der eine ein aufbrechendes, der andere ein abheilendes Furunkel im Nacken.
»Halt.«
Ein Dritter in Zivil trat vor, wies seine Karte:
»Sie sind verhaftet wegen Bigamie. Die Frauensperson da auch.«
Er streckte die Hand nach Sibyl. Sie riß ihre Waffe heraus, von der sie sich nicht mehr getrennt, traf diesmal gleich das Herz. Glitt still in sich zusammen.
Horus, herumgeworfen, brüllte auf, daß die Sirenen schwiegen, bäumte sich los; rechts und links traf sein erbarmungsloser Schlag. Dann nahm er die unvergleichliche geliebte Form aus Gargis Arm und fühlte sie an seiner Schulter sterben.
Die armen Sternsaphire wurden blind. Ein langer Strähn bananenfarbenen Haars durchschnitt, gleich einem bleichen Säbelhieb, das ganz verirrte Gesicht; bei aller Kühne wie eines übermüdeten, zu Tod gehetzten Kindes.
Die Kaution war, dringender Fluchtgefahr wegen, vom Gericht abgelehnt worden. Er blieb in Haft, wehrte sich verzweifelt, pochend auf sein Indertum, begriff nicht.
»Sie mußten doch wissen, daß Monogamie in Europa herrscht,« mahnte sein Verteidiger und schüttelte den Kopf.
Da lachte er zum erstenmal seit Sibyls Tod.
»Ein Jahr bin ich jetzt hier und hab' sie nie gesehen. Wußte bisher nur, daß bei den Weddas, dem beinah ausgestorbenen Affenurvolk Ceylons, das nicht bis fünf zu zählen vermag, etwas wie Monogamie als Gesetz und Zwang besteht. Wie hätte ich bei der berühmten weißen Rasse darauf verfallen sollen? Nun erst verstehe ich den Größenwahn, den Zynismus, die widerliche Arroganz des weißen Männchens gegen alle Frauen ganz. Die Gnade und Affäre, wen er mit seiner einen, einzigen, kostbaren Hand beglückt, umkrochen von den überzähligen Weibern. Welche Schmach der Europäerin, daß sie das duldet, ihm Macht gibt, so viele ihrer Schwestern notwendig zu erniedrigen, dies Wettwimmeln der Eierchen um das Sperma: welche Perverston der Natur!«
»Doch was geht all das mich – was geht einen gesitteten Asiaten dieser Qualstall an, in dem bösartige Irre einander dafür bezahlen, sich gegenseitig in infernalischen Netzen Hirn, Kehle, Gedärm und Geschlecht abzuschnüren? Wie bin ich in die Gefangenschaft weißer Barbaren geraten? Wirklich durch nichts, als eine einzige Tat natürlichen Anstandes allein?«
»Monogamie ist die größte ethische Errungenschaft des Christentums,« sagte der Verteidiger gekränkt in seiner tiefsten Rasseneitelkeit, denn er war Jude.
»So habt ihr es sogar dahin gebracht, das klare Urfeuer eurer Lenden stinkend zu machen? So ordnet sich bei euch Geschlechtsverkehr nicht nach Physiologie, Medizin, Bevölkerungszahl des Augenblicks –, nein, nach irgendeinem Hokus-Pokus, viel tausend Jahre alt? So bedroht euer Staat – wie immer man es machen möge – in der Liebe den einen oder anderen Teil mit schwersten Strafen: durch Einehe, den Mann mit lebenslangem Sexualkerker, ohne Ehe, die Frau mit Ächtung, Verlust der Kaste und Ruin? So bringt Europa es richtig fertig, all seine passager entstandenen Wahnsinne noch zu verewigen, ohne daß gegenteiliger Blödsinn sich etwa aufhöbe – welch ein Wunder wider die Natur.«
Bis zur Verhandlung glaubte er es doch nicht recht, wußte es noch immer nicht, wie ihm geschah.
Dann saßen eines Tages fünf beisammen und hielten wirklich über ihn Gericht, Barette auf den Glatzen.
Dem einen ragten Knöpfelschuhe, dem anderen Schnürstiefel, dem dritten das Ende eines Sockens unter priesterlichem, unreinlich wallendem Gewand hervor. Dann stand ein sechster auf: der Staatsanwalt. Begann ein langes, trostloses Geschwätz von der Verletzung ethischen und sittlichen Gefühls, als höchsten Gütern der Kultur. An allen Wänden hingen Zettel: das freie Ausspucken ist untersagt.
Erst ganz am Ende, als sein Verteidiger sich erheben wollte, da fuhr auch er empor:
»Nein, ich; Sie schweigen.«
Sibyl zu Tod gehetzt, und da saß Gargi: seine liebe Gazelle »als Zeugin«, von Fragen geschändet für ihn – durch ihn. Nun wuchs er klar über die Empörung und stand auf. Höflich, ruhig war seine Stimme, wie eines Wägenden und Richtenden.
»Ich bin ein Fremder und kenne nun die grauenhafte Not, in die ein Mensch auf diesem Kontinent geraten kann, wenn er ein Recht begeht.
Ich bin Asiate und daher gewohnt, wohl jeder Frau, die ich besitze und die mir teuer, Ehre, Würde und Geborgenheit zu bieten bis zum Tod.
Ahnte nicht, daß man nur gegen eine einzige hier sich gut benehmen dürfe, wohl aber gegen alle wie ein Schuft.
Doch war's nicht dies – ich stünde doch als Angeklagter hier, denn irgend etwas Würdiges, Natürliches und Wahres, das hätte ich sicherlich einmal begangen, da ich kein Europäer bin.
Ethisches und sittliches Gefühl soll meine Tat verletzt haben?
Was weiß Europa von Gefühl? Von Sittlichkeit? Nie noch war einer Rasse Sinn und Maß des Schicklichen so sehr entfallen, besteht sie doch aus Wesen, deren Blut seit zwei Jahrtausenden verlernt, aus freien, holden, heilen und verwöhnten Sinnen sich dieses Maß selbst aufzubauen in Notwendigkeit und Harmonie.
So kam der Pöbel durch Europa in die Welt:
Pöbel: was Hemmungen nur kennt aus Zwang, nicht Wahl, was sich vor nichts und niemandem zusammennimmt, wenn es nicht muß. Es scheint – vor vielen hundert Jahren nahm sich der Europäer noch Sonntag vormittag, so zwischen zehn und elf, vor einem fremden Judengott zusammen. Adel und Bürgertum nahmen sich vor ihren Herrschern zusammen, der vornehme Mensch aber, der nimmt sich vor sich selbst zusammen: also immer.
Doch hier! Wohl nirgends noch hab' ich solch geile, kalte, rüpelhafte Brunst gesehen, jetzt da der Zwang gefallen, wie in dem tausendjährig ungepflegten Eros von Europa. Endlich ausgebrochen aus dem fremden Pferch, gröhlt die verkommene Sinnlichkeit durch eure weiße Welt wie eine tollgewordene Mißgeburt, der jedes Edelmaß abhanden kam, denn alles will gepflegt, geehrt, geheiligt sein, damit es hold und herrlich werde. Da tragen eure trägen Weiber Kind auf Kind in ihren kalten Bäuchen aus, die Welt mit Unlustfrüchten überfüllend, weil sie noch nicht einmal gelernt, was jede Negerfrau vermag.
Und neben dem verworfenen Ungeschick der Leiber wächst das verworfene Geschick der Hirne auf, belebt der Stahl sich zur Maschine.
Was Hochgezüchteten in ihren Sinnen Erlösung geworden von aller Erdenlast: die Mechanisierung der Welt, reißt den erblindeten, instinktirren, amorphen Lebenshaufen unters Rad, statt ihn in Freiheit auf den Lenkersitz zu heben.
Diesen Erhobenen zu finden kam ich her. Ihn suchte ich: den Menschen hinter seinem Werk. Das Wesen wie aus Schnee und Gold, kühn, arglos, wahr und anmutig.
Doch eure Werke sind nur Sehnsuchtsprojektionen eurer Mängel:
Weil ihr armselig seid, reißt ihr den letzten Reichtum dem Planeten aus den Eingeweiden.
Weil innerlich ohne Harmonie, schuft ihr – nach außen – euch Musik.
Weil ohne Phantasie, laßt ihr in blechernen Waggons, in Ruß und Dampf, euch kalt, blasiert und frech, zu allen Märchen dieser Erde rasseln.
Euer verarmter Kreislauf pulst in hundertpferdigen Motoren.
Euer Minus setzt ihr mit umgekehrten Vorzeichen aus euch heraus, als vielgerühmte Technik, Kunst und Wissenschaft.
Was ihr erschuft: Prothesen sind es nur, darunter vollgeeitert, schwärt ein brandiger Stumpf: ihr selbst.
Habt immer eure Münder voll Geist und Theorie, ihr ethischen Barbaren; sinnt neuer Staatsform nach. Wie wenn ein Rudel von Hyänen sich Paladine oder Republikaner, Monarchisten, Sozialisten, Kommunisten nennen mag: immer der gleiche Hyänenhaufen, der die platzende Gier seiner blauen Eingeweide mit neuen Namen nennt.
Doch weil kein Wesen völlig ohne Wahrheit existieren kann, habt ihr sie – sie unwirksam zu machen – in eure Wissenschaft gesperrt.
Dort lebt Europas letzter Wahrheitsdrang sich in zerwühlten Hirnen, bloßgelegten Nerven gefesselter Geschöpfe, stets »objektiv« und für den Sucher schmerzlos aus.
Das eingefangene Opfer zahlt den Preis – nicht er.
So übt ihr alle Infamien frei:
Forensische Verlogenheit gestattet sie euch gegen Menschen, und gegen Tiere euer Wahrheitsdurst.
Was tun?
Demütig zu edlen Tieren – nein, erst zu den plumpsten viehischesten Tieren in die Lehre gehen; sie anschauen, erst nur die Wahrheit ihrer Form erschauen. Auf dem Weg des reinen Auges wieder Gehen – Liegen – Ruhen – Atmen – sich Bewegen lernen: Sehen und durch das Sehen – Leben.
Erst wenn ihr die verworfene Behendigkeit aus euren schiefgezüchteten Gehirnen ausgetrieben, für die ihr noch nicht reif, dann kommt zu fragen, ob man euch wieder aufnimmt in den Ring beseelter Wesen, nicht mehr gehaßt, verachtet, gemieden wie Pestilenz von allem, was da atmet.«
Nur auf wenige Minuten zog der Gerichtshof sich zurück. Das Urteil lautete:
Fünf Jahre Gefängnis wegen Bigamie.
Der Verurteilte verbeugte sich tief:
»In diesem Wahrspruch grüße ich den Bankerott Europas.«
Bewährungsfrist ward abgelehnt. So nahmen denn die Gatten Abschied voneinander.
Allen Glanz des Menschentums sammelte Gargi in die Onyxampel ihres schmalen Antlitzes und in den unbegreiflich sanften Samt der Augen:
»Mein süßer Herr, was habe ich für dich zu tun, solang du fort bist?«
»Flieh, und warte auf mich zu Hause zwischen Dschungel und Sternen. Ich komme wieder. Ich werde nicht zu grunde gehen. Leben will ich und helfen mit Hirn, Herz und Händen, mit allem Geld, das ich besitze und aller Kraft, bis der Planet gereinigt ist von dieser Pest.«
Da reichte sie ihm einen Brief:
»Erasmus gab ihn mir für dich von deiner Mutter.«
»Meinem Sohn in Europa, blieb er länger als ein Jahr,« stand auf dem Umschlag. – Nur wenige Zeilen drin. Er trank die lieben Züge wie ein Elixier. Diana Elcho schrieb:
»Ein Unglück muß geschehen sein, wenn Du dies liest. Freiwillig bliebst Du nicht so lang. Haben sie mein Sonnenkind gefangen in einem bösen Netz? Verzeih, wenn ich geirrt, Dich vor Europa ungewarnt zu lassen. Dich warnen aber hieß, Dich zum Empörten machen, zum Belasteten, Getrübten. Die Einzigkeit Deiner Jugend schien mir eben dies: die Unbeschwertheit, daß Dein Bewußtsein unbesudelt blieb. So rettete ich Dir das Beste Deiner Rasse: Technik, Wissenschaft, Musik an Asiens Herz hinüber. Weil Du aus ihrem Werk an Wesen glaubtest, wie aus Schnee und Gold, kühn, arglos, wahr und anmutig, so wurdest Du dem Bildnis gleich. – Vor der Enttäuschung hielt ich Dich dann jahrelang zurück, hütete Dir Deinen weißen, so fruchtbaren Traum, wie ich gehofft, für immer. Ließ mich langsam sterben, damit Du bliebest. War alles doch umsonst? Nicht, daß ich Dir das Leid ersparen wollte! O nein, nur alle Kraft wollte ich Dir sparen für die sublime Zeit des Leids, damit Du ungebrochen, unverbittert, siegreich auf seiner fernen, großen, süßen Seite durchbrächst ans Licht.
Verzeih, wenn ich geirrt.«
Er küßte einzeln jede Zeile:
»Nein, nein, du warst im Recht.«
Stark, frei, sonniger als je ließ Horus Elcho sich wie im Triumph nach seiner Zelle bringen.
Er, den Sibyl im Haßstrahl als Lebenswucherer gesehen, saß am ligurischen Strand in seinem Landhaus und rechnete ab.
Lloyds hatten die Versicherungssumme wieder anstandslos ausbezahlt, wiewohl Selbstmord vorlag: ein überaus kulanter Betrieb. Den ungeheuren Grundbesitz hatte er an ein Hotelkonsortium sehr günstig verkauft. Es war eine seiner glücklichsten Terrainspekulationen gewesen.
Nur das von Sibyls Geld erworbene Land behielt er.
»Ich trenne mich zu schwer davon. Wieviel Erinnerungen an die Frau, der ich Jahre meines Lebens geopfert.«
»Brangäne« wedelte zu ihm auf:
»Du hast ja so viel Pietät.«
Sie blieb, was immer geschah. War geblieben als Haushälterin, Mätresse, uneheliche Mutter, Zutreiberin, Komplize. Wartete, schlau und zäh, bis er ermüdete, und doch vielleicht noch ihre Stunde kam.
Er machte eine milde, bedauernde Bewegung mit der Hand.
»Ein Wesen, das mir so lange nahe stand: Ich mußte die Behörden verständigen, zu verhindern suchen, daß sie verschleppt werde, in einen asiatischen Harem. Daß eine Dame so weit sinken konnte?«
Dann, mit großen, braunen Augen, gerührt:
»Ich aber hab' ihr längst verziehen.«
»Brangäne« nickte verzückt:
Anmerkung: Das Zitat Seite 35-39 stammt von Theodor Fechner. Dem Vedanta Entnommenes folgt Prof. Paul Deussens Übertragung aus dem Urtext.