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Der reife Schlaf fließt auseinander.
Immer lichter schimmern selige Schichten dem Bewußtsein zu. – Dort oben kreist, noch wolkig, das Dasein: Grünes und Gezwitscher. Hebt, was seinen Rand berührt, herauf in gleitenden Erdentag und geordnetes Wegeneinander.
Doch auch der zeitlose Abgrund bleibt beständig – samtene Nächte tief unter den Wirbeln –, und hintüberstürzend läßt sich's nach Willen in ihn zurücksterben: in lautlose Schwärze.
Nach einem dunklen Klumpen Ewigkeit rötet sich abermals die Zeit an den gewölbten Lidern. Ein Niederpressen, und wieder ist der ganze Kopf voller Sterne da; geschlängelte Goldfäden dazwischen und Wirbel bunter Atome.
Doch bananenfarbne Glorie lockt und lockt in die sanfte Geburt des Erwachens. Etwas steigt auf – stößt durch letzte Schimmerschichten – ist ein Ich und ruht in einem wunderguten Eck; jedes Glied zum Besten und ganz still, ja nicht zu stören, was der Muskelgeist im Unbewußten prächtig geordnet. – Wonne läuft von einem zum andern. Dort um das Ohr besonders, wo das Kissen eiderdaunig am Hals zergeht, staut sich ein kleines Privatparadies animalischer Seligkeit. Das Linnen ist eine laue Wolke über den Beinen und schwebt. – Unter ihm schwelen noch alle Wunder der Nacht: der Ichverlöscherin.
Aus lichten Gebärden und dunklen Trieben wirkt sie das Zwiegespinst allen Erdenglücks: verküßte Glieder jenseits von Ich und Du. Die Grenzen der Körper zergangen, Blütenweiches ineinandergegossen, Muskelwellen und Täler sich rhythmisch streifend; Duft – Hauch – Haar zu einem Frühling gemischt.
Allmählich aber in den Reigen blinder Sinne mengt es sich scheu, heiß, sehnsüchtig auch, wie ein Kind, das andere nicht mitspielen lassen: Das Schauen will sein Teil:
Horus hat die goldenen Knabenaugen aufgeschlagen. Das Ich und Du fällt auseinander. Unerbittlich nah, wie es nur Wesen in der Liebe sind, sieht er das holde Gespiel gleich einem Schleier leicht auf sich ruhen. Geisterhaft fein gebaut, vorweiblich edel in der Vollkommenheit ihrer dreizehn Jahre. –
Und er erschauerte ihrer Schöne.
Weise menschliche Bräuche des Tropenlandes, in denen der Knabe aufwuchs, hatten sie an den Grenzen der Kindheit zueinander gelegt. So blühten sie mit dem allmählichen Zentrieren der Sinne in die Ehe hinein; nach wonnig-langem Aneinanderhinbeben noch herbverschlossener Lust. Ohne Eheeinbruch: roh und frech. Horus Elcho löste sich tierweich von dem Liebesgespiel, hauchte hinkniend die Silberhalme der Schenkel hinauf zur noch verschlossenen Quelle des Lebens unter dem glatten jungen Frühlingshügel. Sie duftete nach den zartesten Harzen der Welt. Ein Falter aus atmendem Brokat, angelockt, ließ sich nieder mit gebreiteten Farben. Entrollte umständlich eine brünette, haardünne Spirale und begann starren Auges zu saugen aus diesem ganz unbegreiflichen Kelch. Dann stieg er lautlos auf in seinen einzigen, großen Lichttag.
Des Knaben Hände sehnten sich, das schlafende Kindergesicht wie einen Kelch zum Mund zu führen, mit den Lippen die befiederten Wimpern zu heben: dann schnitten sie flügelhaft weit in die Schläfen, und man sah lebendige Kerne in wunderbar wagrechten Schalen voll flüssiger Magie. Oder es waren klare Bergseen in der Form eines Fisches, leicht gebogen ruhend, wo aus bläulichem Tal der durchsichtige Nasenfelsen unbegreiflich edel steigt. Und auf einmal warf man alle Bilder weg, um nur »Auge« zu fühlen – nichts als: Auge. Man sah auch, daß der Schwung der Braue verströmte und eigentlich etwas Unendliches war … man sah … man sah; der Segen des Sehens an diesem jungen Liebeskörper war ohne Ende.
Doch feine Hemmung hielt: nie einen Schlaf zerbrechen – nie einen Traum ermorden und Jene vielleicht, die drüben in ihm sind.
Er berührt einen Hebel an der Brüstung aus rosigem Granit, die das Halbrund der offenen Schlafterrasse umläuft. Lautlos dreht sich eine Metallkuppel – wie der Sektor einer Sternwarte – schließt den Raum, auf daß die Sonne, der gelbe Tageslöwe, nicht ihren Schlaf bespringe, ruhiges Ausschwingen des Unbewußten in der Elfenschale störe.
Dann steigt er hinab zu den Bäderhallen. Nur an der Schwelle hat sich der Knabe noch einmal sanft zurückgewandt über seine Schulter, die hart ist und geschwungen wie eines Falken Fittich.
Torflügel aus lichtem Erz glitten in mächtigen Angeln zurück, und zum Ausgehen bereit, schritt Horus die Terrasse des südlichen Parks hinab. Es war noch früh. Mit schleppenden Schleiern kam zarter Tag herauf, doch in den Palmen hingen noch streitlustige Sterne: Falmahaud, Sirra, Antares: der Gegenmars.
Es war die Frühe vor den Morgennebeln und alles blasser Kristall. Da kamen durch die reine Weite her drei Wesen herangeflogen: Wettläufer. Strahlengrade Glieder, sprunggestreckt, schienen den Raum nach rückwärts treiben; Wehen war um sie, Gefunkel von Spiel und Frühe. Hellfarbig die Sarongs, bloß ihr Haar, das um der Mittleren Haupt als silbriger Schleierhelm stand.
»Agai – Sigiria«. – Doch sie flogen winkend weiter. Nur die Läuferin mit dem silbrigen Helm bog ab, Horus entgegen, der sie an der Treppe auffing. Es war seine Mutter. Er verbeugte sich. Küßte ihre Hände; erst deren Rücken, dann die Innengeburt jedes Fingers. Linde liefen seine Lippen die azurnen Aderfäden hinauf zum Ellenbogen. Dann ließ er ehrerbietig los – trat zurück – Licht im Blick, verneigte sich ein zweites Mal. Ganz tief.
Stets war es ein kleines Fest, Lady Elcho am Morgen zu treffen, oft blieb sie bis Mittag unsichtbar; nach späten Stunden in Laboratorium und Bibliothek, klaren Nächten auf der Sternwarte oder vor der großen Orgel allein. Erschien sie aber, gehörten alle Stunden ihm, bis der Mittagdämon mit bleierner Rüstung jedes Lebendige in den Schatten niederdrückt. Dann schweiften beide über die Tropeninsel, nach Laune den Träger der Bewegung wählend: vom Rolls-Royce bis zu Rama-Krishna, dem alten Reitelefanten. War es sehr früh, die Straßen blank, schien es dem Knaben Lust am Volant – als Herr des Raumes – Kokosplantagen an sich vorbei zu peitschen, Blöcke blauer Lichtungen: alles, was Zäune hat, Grenze ist, und, sein Schicksal zwischen den Fingerspitzen, vorzustürzen ins herzzersprengende Nichts. – Oder sie ritten auf Pferden durch alle Farben; übergrellt vom phantastischen Grün der Reisfelder: dem zitternden Smaragd, durch Kakaopflanzungen, Dörfer. Und hier war es gerade, daß Begrenztes wieder, Enges, Einzelnes unermeßlich werden konnte: der Brunnenrand, ein lichtes Tier, Paradiesesaugen brauner Kinder.
Stand aber die Sonne hoch, trug Rama-Krishna sie auf schlingernden Pneumatiksäulen in den Dämmer der Wildernis: Ceylons Reservat. Hoher Urwald, Freistatt aller Tiere; an Ausmaß einem deutschen Bundesstaate gleich und dem Fußgänger undurchdringlich wie haushoher Filz.
Flach auf des Elefanten Rücken liegend, um von den Luftwurzeln nicht herabgefegt zu werden, getürmten Pflanzenozean über sich, erzählten sie einander ihre Träume, und das leiseste Tier, mächtigster Beschützer zugleich, drang immer tiefer in das dumpfdunkle Abenteuer – den lautlosen Tumult – berstend vor Leben und duftend nach Brunst und Tod.
War es gar Frühling nach den Monsunen, dann brach wohl Rama-Krishna nach solchem Ritt aus dem Dschungel hervor, anzuschauen wie einer jener Elefantenfürsten des Hitopadéça: »dahinstürmend gleich einer Wetterwolke, schwefelgelb vom Staub der Banjanblüten, mit honigfarbnen Stoßzähnen, und um den Duft des Brunstsaftes, der ihm aus den Schläfenhöhlen quoll, kreiste ein Schwarm wilder Bienen.«
An diesem Morgen aber begab es sich anders. Der Sinn stand ihnen nach Weite und Maß zugleich, nach beweglichem, mancherlei Möglichkeiten umspannendem Tun. So flirrten sie auf Rädern in die schönste Tropenstunde hinein, jene, die beide polare Klarheiten scheidet. Aus weißer Seide war die Welt. Mit hängenden Flatterschlägen strebten Schwärme fliegender Hunde – schwer wie Hammel – den Dickichten zu, um in höchsten Wipfeln zu zackichten Säcken gefaltet, an einer Kralle aufgehängt, schlafend im Winde zu wehen.
Wallen und Brauen war es einer noch wolkigflüssigen Welt. Wie wenn aus Gischt und Licht das Lebendige sich eben zeuge. Noch unbegrenzt. Unverloren. Früh, sanft und ungeheuer. Aus verdunsteten Opalen gebären sich haarige Schäfte. Aus dem Nirgends kommen Luftwurzeln gehangen, saftgetränkt: Gelegenheitsorgane des Nichts. Durch niedre Regenbogen fahren beschweifte Vögel, leuchten auf – vergehen. Nebelgroß treibt ein Büffelhaupt aus schwarzen Nüstern seine Sonderwolken in den goldnen Dunst.
Und durch alles hindurch, über alles hinweg: Wissen um die Sonne. Daß sie wirkt, teilt, ordnet, die Luft dünn und schließlich fein werden muß wie Geist, und daß der letzte Rest des Chaos nur mehr als Tau-Franse in den Wimpern hängen wird.
Sie gleiten hügelab durch steigerndes Licht in weichgewelltes Land. Ein Streifen Löwenozean zergeht am Horizont. Vom unbändigen Grün bis an den Straßenrand gespült, klammern sich dort braune Dörfer an dem leblosen Strich fest; verteidigen sich mit Äxten und Spaten gegen den immer wieder anschwellenden Wald. Zahme Arbeitselefanten stehen als runzlige Ballons überall herum, lassen uralte Stämme unter gespannten Rüsseln knacken, schichten sie dann säuberlich lotrecht und wagrecht, ganz allein, mit weisem Wiegen des Hauptes und vielem Flappen der Ohren. Dann tritt man hinter sich, prüft das Werk und reibt unterdes mit lieben kleinen Verlegenheitsbewegungen ein Hinterbein am andern, wo zwischendurch das pauvre Schweineschwänzchen töricht hängt. Man ist auch sonst genau: Schlag zwölf die Mittagspause – und jeder der großen Professionisten läßt aus schon erhobnem Rüssel sein Stück Holz wieder fallen, alles liegen und stehen läßt er, geht einfach weg zum Lunch aus Reis und Zuckerrohr.
Die Straße herauf wandeln neben großäugigen Tieren Männer aus dem Blut der Sonne, schmale Frauenakte dazwischen, in einen einzigen farbigleuchtenden Schleier geschlagen. Kommen näher – sind Greisinnen; das Antlitz verfurcht, eingewelkt die winzigen, weitgespannten Kinderbrüstchen, so zart aber blieben die Lineamente – oder sind es Glied gewordene Gebärden? –, daß im wechselnden Sonnenstand der Lebensalter auch letzter, schräger Strahl reinen Kontur zeichnet, das Wunder geschieht und eine Greisin lieblich ist. Über nackten Männerschultern schwanken an Stangen Messingeimer oder Bananenbüschel, grellgelb und schwer. Wagschalen an diesem höchst edlen Menschenmaß. Es scheint das Maß zu sein »dieser ganzen in Namen und Gestalten auseinandergetretenen Welt, die der Brahman als Zauberer aus sich heraussetzt, wie der Träumer den Traum«.
An einer Stelle der Straße biegt der Wandelzug von Mensch und Tier in eine Kurve aus: Büffelgespanne, Reitelefanten, Rikshaw-kulis, Bananenträger, alles dämpft den Tritt. Es bildet sich eine stehende Welle von Rücksicht. Mitten im Weg liegt ein schlafender Hund.
Auf der feuchten Erde schweben viele Geisterspuren bloßer Füße; Zehenfächer mit leichter Ferse, vom unsichtbaren Bogen überspannt. Da und dort ein Blumenring, den Frauenfesseln abgestreift.
Unbeirrbar flirren die Räder hindurch.
Weiße Zebus: Gazellenrinder. Sie springen ab und hin, die helle Tierstirn in die Arme zu nehmen, den haarigen Stern mit seinen zottigen Radien zu streicheln – wie ein lauer Champignon fühlt sich der sanfte Schnüffel an – sie versinken in herrliche Geschöpfaugen. Dann führen Seitenpfade wieder leicht bergauf; grasbewachsene Dämme geleiten zwischen Wasserspiegeln der Reisfelder in das Überhangene der Haine.
Quer über Damm liegt ein alter schwarzer Wasserbüffel. Mit ihm verhandeln ist nicht leicht. Von Argumenten hält er wenig in seinem ungeheuren Schädel voll Wut. Doch volle zwanzig Sekunden braucht es, bevor er selber weiß, wie bös er ist. Die beiden ducken sich zu schnellster Fahrt. Knapp hintereinander sausen sie über den basaltnen Rücken weg.
»Flohzeug – – damisches – – damisches – – damisches! Solchen Unfug mit einem ernsten und anständigen Vieh treiben – – ich werd' euch!« Furchtbar steht er auf. Da flitzen schon die zwei blanken Insekten um eine Biegung ins Nichts.
Wo der Fluß im »Tal der nephritgrünen Wolke« sanft geworden, erwarteten sie die Fähre. Mit ihnen ein bunter Trupp; der wuchs an hennaroten Zehen als tiefe Farbeninsel vom Ufer verkehrt ins goldne Wasser hinab. In den dunklen Spiegel blühte es herunter: aus weißem Lendentuch braunsamtne Muskelkelche, arisch klare Züge, überzüchtet fast, und, feuchter als die Flut, Augen von der Farbe des Paradieses. Aus Körben zittert es hell, Mangos, Ananas, safrangelbe Reiskuchen tropfen unten wie Wasser von Riemen wehend ab ins Nichts.
Ein dünner Afghane hockte abseits. Splitternackt. Fädelte sich seine Hose ein. Zwanzig Meter war sie weit. Benützte statt der Nadel gleich einen jungen Bambusschößling, in dessen Spalt das Durchzugsband geklemmt war. Die Hose selbst lag als gestrandeter Ballon über die Landschaft gebreitet. Seine goldne Spitzmütze mit grünen Zauberzeichen auf Rabenlocken, saß er, ein vazierender Magier im Negligé.
Nun öffnete sich der wartende Kreis den Ankommenden; in ohnegleicher Anmut. Tamils, Singalesen, Bengali, Rhajputen: es waren die Ärmsten der Armen. Die Typen rein, dank der Kastentrennung unvermischt, unverkötert. Standen da in golddunkler Allbegabung und feinstem Wissen um den Eros: wie der schmale Kopf über den glatten Haarknoten stieg, der Sarong das Antilopenhafte zeichnete, eine Spange, ein Nichts an Linie war von gepflegstester Sinnlichkeit. Und die dankbare Natur achtete im Alter ihre schlanke Anmut, weil ja auch sie Süße und Wert des Daseins zu achten vermocht. An diesem abgelegenen Küstenstrich des östlichen Reservats hatten wohl noch die Wenigsten weiße Menschen gesehen, oder gar einherreiten auf glimmernden Skeletten. Doch in unverlierbarer, blutgewordener Gesittung behielt Jedes die zufällige Stellung des Augenblicks bei, führte in leichten Lauten die Wechselrede weiter, wandte nicht einmal, ängstlich sich selbst zügelnd, die Augen ab – ganz des eigenen Taktes sicher. Keine Gebärde, kein Blick, nur unaussprechliche Freundlichkeit nahm die Andersartigen auf.
Horus stand neben einem hochgewachsenen Rhajputen. Sonderbar ziehender Rhythmus, von dem er sich klare Rechenschaft nicht gegeben, hatte ihn hingeleitet, wiewohl merkbarer Abstand diesen von den übrigen schied.
Er war glatt, faltenlos wie Diorit. Breit in den Schultern, aus schmalsten Lenden wuchs sein Torso zum Dreieck aus dunklem Stein.
Paramahansa nach den Sektenmalen: vier Stücke lachsfarbenen Tuches, das fünfte um die Schläfen, der Rudrakshabeere am Hals – ein Auge aus Asche im Herzen der Stirn. Einer, der weder an Feuer, noch Geld, noch irgend Metall rührt – nichts genießt, was aus Arbeit stammt.
Lässig und doch strahlengerad an Haupt und Rücken stand er, das Profil dem Knaben zugekehrt. Da fühlte Horus, wie der Rhythmus seiner Pulse sich zu verändern – anders zu schwingen begann. Wußte, es hing an dem wunderbar langen, doch unhörbaren Atem des andern. Ihm war: Hände aus Hauch griffen an sein Herz, stellten es nach einer andern Sternenstunde. Die Wellenlänge seines Wesens schien sich zu wandeln – weiter schwang die Amplitude seines Ich, bis es riß – die Zeit zerriß – bis es unbegreiflich stark, wehrlos und geborgen sich ausblühend in ein neues Maß ergoß. Und ein silbern unirdisches Erinnern ward groß in ihm, daß es schon immer so gewesen – heute – in der Freiheit des Tiefschlafs, als sie im Spiegelbilde eines Morgentraumes kindlich und sanft verzerrt zerging.
Dann begann der lange, wunderschöne Atem ihn langsam wieder zurückzuspülen in sein eignes Maß.
Als wäre er in eine Froschkehle gestürzt, so zappelnd und klein tickte das jetzt. Dumpf, kurz. –
Sehr allmählich schmolz alles ins Gewohnte wieder. Der Rhajpute hatte sich ihm nun zugekehrt, unfaßbaren, ortlosen Blicks. Nur das Aschenauge sah einen Augenblick auf ihn.
Er fühlte: wie eine Flaumfeder herangesogen, hatte er einen Atemzug lang, solang ein einziger Ein- und Aushauch währt, an einem Wesen andern Ranges teilgehabt. Wußte zugleich: das blieb. Unverlierbar irgendwie. Ließ ihn stark, wehrlos und geborgen zurück.
Die Fähre legte an. Trug die Wartenden ans andre Ufer. Der Rhajpute aber ging zurück ins »Tal der nephritgrünen Wolke«, ohne sich umzusehen.
Auf grasiger, leicht abfallender Höhe, unter dem breiten Tempelblütenbaum – vor Weite und Meer – sprang ein Sonnenrausch sie an. Betäubung, Bezauberung des Lichts. Lachend fielen sie einander in die Arme. Begannen zu ringen; geballt, verschlungen, aufschnellend und gespannt. Ein Umeinandergleiten wie von Echsen, Aufgebäumtes und Kauerndes auch, Raubzeug im Ansprung: gepflegte Kunst japanischer Samurais. Es endete wie immer: bis hart an den Sieg ließ der so viel Stärkere die Gegnerin kommen, glitt, fast am Boden schon, mit stets erneuten Varianten unter ihr durch, hob die Leichte auf, gab ihr einen Kuß – warf sie dann auf beide Schultern weit ins Gras.
Vor wenig Jahren noch, auf einer Reise in Japan, als sie auf dicken Kokosmatten bei dem gelben Lehrer Griff und Gegengriff geübt, wußte er es anders. Dann eine Periode des Gleichgewichts – und jetzt! Ruchlos war der Siegestanz. Eine Schnur greiser Papageien, aus ihren Betrachtungen aufgestöbert und außerdem in der Mauser, traten vor Ekel von Bein zu Bein. Mißbilligten alles über Hornbrillen herab, schimpften mit dicken Zungen in einer uralten heiligen Gaunersprache. Flatterten schließlich fluchend davon.
Horus warf sich neben seine Mutter in den Schatten des Riesenbaumes. Sanfte Rührung dessen, der vom Beschützten zum Beschützer wird, allein durch die Magie der Zeit, griff an sein Herz.
Unheimlicher, verborgener ist nichts, als dies gespenstige Kontinuum, wenn es den Schwerpunkt unmerklich vom Schöpfer hinüberspült in das Geschaffene. Von der Gebärerin in das Geborene. Zu geisterhaftem, unzerreißbarem System sie schließend, in dem das eine schwillt, steigt, strahlend wird, indes das andre langsam scheidend sich verdunkelt und schließlich, ganz erloschen, nur mehr von reflektiertem Leben nachglänzt. War der Tag auch nur zu denken, da er in anderm noch, als bloßem Muskelspiel: als Persönlichkeit, der Mächtigere bliebe?
Sie hatten von je eine Art stiller Übereinkunft geschlossen, den großen Unterschied, den Leben und ungemeines Schicksal der Älteren schuf, diesen ganzen Fond unendlich überlegenen Wissens und Verstehens, in der Regel beiseite zu setzen. Den Knaben gleichsam »mit Vorgabe« spielen zu lassen. Er wußte es wohl, war sich's aber nicht immer bewußt. Doch kurze Trennung – noch so kleiner Anlaß – Umkehr des Gewohnten, und wieder wirkte der ergreifende Zauber dieser wissenden Güte auf ihn wie ein Schauer von Glück.
Als er vorhin die Überwundne von der Erde abgelöst, die Schleierschlanke über sich gehalten, das war ein Grenzenloses gewesen, einen Herzschlag lang. Jubelnd – tröstend:
»Du bist ja in mir. Und aus meinem Blut will ich dich weitergeben, und im Fernsten, wo die Lebenskette in Unfaßbares mündet, soll noch dein liebes Wesen sein.«
In der Stille sang das Licht. Schmeichelte zwischen den weißen Tempelblüten herab auf Schulter und Haar: ein heißes Händchen am Ende des weltenlangen Strahls. Er hätte das Händchen nehmen und küssen mögen. In ihm war das dumpfe goldne Bienensummen des Glücks. Auf seinen nackten Armen schwankten schwerelose Blätterschatten: schwimmende Gespenster von Edelsteinen, unirdische Opale aus Aladins Fruchtschalen, und an ihrem Aberglanz schien sein eigner Leib durchleuchtend wie belebter Beryll.
Riesige Varane zickzackten umher: bekrönte Drachenprinzen, Neurastheniker. Erschraken maßlos, standen still, steifen Hauptes, und während die Pigmentporen sich langsam öffneten, bis alle Regenbogenfarben ihrer Körper vor lauter Feigheit zu Erdbraun verebbt waren, tickten die butterweichen Kehlen wie die Unruhe in der Uhr. – Geraume Zeit verstrich. Da sagte er, ohne sich zu rühren:
»Heut nacht hat sich ein großer Falke wirklich reizend gegen mich benommen.«
– – »?« – –
»Er sah zu, wie ich mit einer Quadriga von Kolobris über unsrem Golfplatz aufzukreuzen versuchte, und bewies mir mit Hilfe kolossaler Differentialgleichungen, wie wenig Sinn das hätte. Er selbst aber sei gern bereit, mich mitzunehmen. Nur, vorher – darauf müsse er bestehen – sei ein Probeflug nötig. Womöglich auf einem Eisvogel.
Ein vermietbarer Eisvogel war sofort zur Stelle. Dort wo das Türkisblaue ist, legte ich mich auf die Flügel. Er schoß schräg herab, ritzte den Weiher dann so steil an Bethelranken vorbei zu Arekapalmenhöhe, daß mir das Licht ins Herz schnitt. Der Falke kommandierte. Das Weibchen des Eisvogels saß neben ihm, und zwischendurch erklärte er ihr das Ganze.
»Aber es gibt Sie doch gar nicht hier,« fuhr ich plötzlich mein Flugzeug an: »Eisvögel auf Ceylon!«
Es war ein dummer Wortwitz, aber er schien sichtlich betreten. Ich lenkte ein:
»Aber von mir aus können sie ruhig hier vorkommen.«
Er murmelte etwas von »verdammter Ornithologie«, versuchte es aber englisch auszusprechen, verwickelte sich rastlos im Akzent, wurde immer böser und schließlich so voll Trotz, daß er schwebend die Erde unter sich durchrotieren ließ, um an sein korrektes Vorkommen zu gelangen. Dreimal verpaßte er es, als es unter ihm durchsauste. Das wurde dem Falken zu dumm, und er nahm mich zu sich herüber. Es war ein braunseidner Falke, wie er auf unsren chinesischen Holzschnitten in Rhododendronwipfeln spitzgefiedert steht.
Von dort schweifte er mit mir auf. Wie ich so gebreitet lag im staubigen Zimtduft der großen Federn, schlossen sich meine Schultern genau dem Schwung seiner Flügel an. Meine Arme begrenzten sie als lichte Säume. In den gespreizten Federfingern war eine schwingende Kraft. Ich trug mich selbst durch die anstürmende Bläue. Auch im Herzen war ich ihm und in den goldnen Augen. Nur die Gedanken blieben mein. Ich genoß den Raum wie eine Symphonie der Richtungen. Leer von Dingen, mit nichts als diesem unirdischen Äthersturm unter den Flügeln, ließ ich mich in einer wundervollen Kurve, die der Wille meines Blutes schrieb, in den oberen Lichttrichter hinaufsinken. Den Sonnenkern im Auge.
Was mir dort geschah, war so schön, daß ich es nicht mehr weiß.
Mir ist nur, als wäre die Spitze meines Herzens leuchtend geworden und mit ihm die Adern an meinem Haupt. Und von der hundertundersten Ader ging ein Strahl hinaus – bis in den Herzkern der Welt, um den alle Ströme und Wirbel treiben. Nach zeitlosen Wonnen kam ich mir zurück aus Ader und Strahl. Lag wieder als Körper in braunseidenen Schwingen und sagte schwer von Abschied:
»Pardon, ich muß jetzt aufwachen.«
»Schade,« meinte der Falke, – »recht schade. Ich dachte, wir wollten im Westen landen, aber« – er schien nachdenklich – »vielleicht wäre es Ihrer Mutter nicht recht gewesen.«
Ich wollte verneinen – ihn zum Weiterfliegen bewegen: da floß der reife Schlaf auseinander.
»Nicht recht gewesen.« Sachte belustigt horchte er den Traumworten nach. War doch, so lange er denken konnte, jedes Schöne, jedes Geschenk seiner Mutter für ihn aus eben diesem geheimnisvollen Westen, über den Löwenozean, hergekommen.
Nur Gargi nicht: sein Liebesgespiel.
Lebendiges nie.
Aber all die glitzernden Zwitter aus Zweck und Zahl: Räder – Auto – Jacht, jedes wieder bedient von einem Stab wundervoller Werkzeuge. Durch das ganze Haus pulste dann Jubel; Erasmus van Roy verließ Bücher und Instrumente, er und der japanische Monteur des Hauses begannen zu zerlegen, zu erklären, bis der junge Besitzer den neuen Ankömmling wie seinen Leib beherrschte, im Gleiten der Achsen war wie in sich selbst: Lenker und in Wahrheit Herr.
Quer durch das Bilderspiel ging eine Stimme, sehr gepflegt, leicht gebrochen:
»Wärt ihr weitergeflogen, wir hätten uns im Westen treffen können: Bei Tag wirft man mich zwar ins Gras; heut nacht aber hab' ich im größten Zirkus Londons einen Elefanten im Diu-Diuzu besiegt. Schon bei der Ankunft in Charing-croß war alles voll Plakate. Peinlichst berührt, sah ich an allen Wänden, in Überlebensgröße den Elefanten und mich – mich und den Elefanten. Buchmacher liefen umher. Legten Wetten. Ich floh in ein geschlossenes Cab. Sauste ganz draußen immer rund um London herum in der Hoffnung, sie fänden mich nicht. Sie fanden mich aber. Kein Sträuben half.
Schwarz war alles vor Menschen, und inmitten der Arena stand schon der Elefant und krempelte sich die Ärmel auf. – Es begann wie der zweiundzwanzigste Gesang der Ilias: Achilleus und Hektor. Doch wie ich das drittemal um den Zirkus lief, kam mir der »große Drachengriff« wieder, von dem doch Jamagata uns immer zu sagen pflegte: » and then you finish your man – dann beenden Sie Ihren Mann«. Nun, ich beendete meinen verblüfften Elefanten. Packte seinen Rüssel und schloß ihn im »großen Drachengriff« wie in einem Schraubstock fest. Führte ihn gebändigt dreimal um die Arena unter dem Jubel der zehntausend entzückten Zuschauer.«
Auf einmal fühlte Horus sich von rückwärts sanft umarmt – in die Höhe gezogen und plötzlich im »großen Drachengriff« zu seinem Rade geleitet.
Erheitert fuhren sie heimwärts.
Das Haus der Elchos war von köstlicher Glätte.
Zwischen diesen Menschen, ihrem Wohnen, allen Dingen, die sie berührten, war jene adlig verwandte Lauterkeit, Reine und Noblesse, die aus der Knappheit aller Begrenzungslinien ersteht.
Wie sie selbst in jeder Gebärde stets die eleganteste Lösung der Gleichung »Mensch« darzustellen nicht müde wurden, so mußte auch der bescheidenste Gegenstand, der hier geduldet wurde, restlose Lösung seines Sinns verkörpern – bis in die letzte Linie hinein.
Neue Formen waren lediglich neuen Bedürfnissen entsprungen, wie die Kurve des Türgriffs nachgegossen dem Druck der Hand.
Dieses Heim enthielt keinen läßlichen Gegenstand. Jeder unerläßliche aber hatte den Reiz gewachsener, doch nicht unmittelbar gewachsener Dinge: als hätte die Natur dies alles durch das Medium eines Lieblings schaffen lassen wollen, der aus reineren Gesetzen schöpft als sie. Das Ding aus Zweck – Zahl – letzter Geisteszucht, hier berührte es sich wieder, ein Lebendiges höherer Ordnung, mit dem Organischen, das gleich ihm nie gewollt, nur geworden wirkt.
In diesem Heim gab es kein Kompromiß. Jedes Problem mußte restlos, wenn auch einmalig und höchst persönlich gelöst werden. Sonst völliger Verzicht. Und alles ward hier wieder zum Problem, denn jede Frage wurde neu gestellt.
Von den Fundamenten auf.
Schon in der beglückend reinen Kurve, mit welcher fugenlos die Wände aus der Decke in den Marmorboden übergingen, der mit dem Auge nachzugleiten pausenlose körperliche Wonne schuf.
Jeder Raum, geschlossen durch die Synthesis von Einordnung und Eigenleben der Dinge, wirkte als ein Monolith. Kein Gegenstand griff, optisch zudringlich, hinüber in das Gebiet der Bewohner, und die Reizfülle, die Anmut, mit der das Leblose im Dienen ganz sich darbot, verlieh ihm etwas Genienhaftes, wie aus Märchen her. Dinge, die ihren Herrn erraten – weiser sich benehmen, als er in seinem Alltag, sind sie doch Geisteskinder seiner höchsten Stunde: aus Phantastisch-Schöpferischem und dem Regulativ technischer Klarheit in wägendem Gefühl ans Licht getrieben. Wissen um die Struktur, um das Geheim- und Kristallleben der Materie; Marmoräderung, Holzflader, Reflex oder Biegsamkeit der Erze und Erden: dieser Komplex von Geist, Zucht, Wissen, Können …; die Gleichung all dieses: ein Torsturz – eine Fensterbank – ein Leuchtkörper.
Etwas vom Stil der Atriden.
Von der mächtigen bronzenen Milde Chinas auch.
Doch wiedergekehrt aus den Jahrtausenden in Abgeschliffenheit, Vertiefung, Beseeltheit und Präzision. Wie hindurchgegangen durch das Wesen der Newton, Lagrange, Helmholtz und Poncelet. Wiedergeboren aus einem höchst geistigen Äther: aus der gleichen Mühsal, Tapferkeit und Kraft, die den Bug einer Jacht, Kurve des Klüvers, der Wanten, einer Helice, Nieten am Dampfkessel, Drill des Rohres herausgeschliffen aus dem Amorphen.
Ähnlich all diesem. Artverwandt. Mit dem geschwisterlichen Zug jener Elite der Dinge, deren Mutter die Echtheit.
Atridenstil an Glätte, Fugenlosigkeit und Größe. Ihm unendlich überlegen an Problemstellung – Lösung – Erfüllung – auch an später Einfachheit, die letzte Verwöhntheit ist.
Horus genoß diesen idealen Wohnleib und die Kontinuität seiner Stimmung von je wie das vertraute Gefüge eigner Glieder: natürlich und leicht erregt zugleich. Doch schien ihm vollkommene Gestaltung eines Wohnleibes zu den von selbst verständlichen Formen abendländischer Lebenshaltung zu gehören. In Struktur und Bestandteilen zum mindesten ebenso herübergesandt vom Genius der weißen Rasse wie reine Typen edler Mechanik: Werkzeug, Maschine, Instrument.
»Der Bau«. – Immer wieder war das Wort aufgestiegen dort im ganzen Frühen, wo das Ich noch nicht recht zusammenhängt. Kein lückenloses Geschehen bleibt. Immer nur einzelnes aus dem Vagen ragt: eine rosa Torte – ein Klang, groß wie die Welt – das Gesicht der Katze als furchtbarer Magnet.
Zwischendurch aber war immer das Wort »Bau« gewesen. Im Bungalow Tische, auf Reißbretter gespannt knisternde Bögen, groß wie Leintücher, Mama mit wunderbar eckig-graden Geräten dran herabstreifend. Lärm, Leute, Lasten. Zu Wagen, zu Schiff. Dann geht man fort aus dem Bungalow in ein Großes, Lichtes, Liebes. Der »Bau«, was immer er gewesen sein mag, ist plötzlich weg, das Wort erloschen. Erst viel später weiß man langsam irgendwie, das Große, Lichte, Liebe sei eben der verschwundene »Bau«.
Vieles kam wohl erst später hinzu. Hing mit günstigen Kopra- und Teeernten, oder steigendem Ertrag der Graphitminen zusammen: so der Riesenrefraktor für Erasmus van Roy, das Laboratorium, der Instrumentensaal. Vielleicht waren noch Räume unvollendet. Er kannte nicht alle, hatte viele freiwillig nie betreten, wie manche Gemächer der Meditation. Denn jedem Bewohner des Hauses, auch ihm, auch Gargi seinem Liebesgespiel, war, östlicher Sitte gemäß, ein Raum zu eigen, den niemand als nur er betrat. Mit seinen Strahlen ganz erfüllt, lebendig von dem Fluidum seiner tiefsten Stunde: dem »kef« des Orientalen.
Die Gemächer der Meditation hatten weder Schloß noch Riegel.
Hoher Mittag. Nach seinem einsamen indischen Lunch schritt Horus durch die Bibliothek. Der mannigfache Raum ging über in Terrassen aus durchscheinendem Onyx. Auf ihnen breitete Weiches sich rundum hin – vor Luft und Meer – bereit, ein Buch im Niedergleiten aufzufangen, denn: der diesen Raum ersonnen, hatte wohl gewußt: im Freien liest man nicht, man hebt ein Schönes aus dem Buch und träumt ihm nach, bis es im Blauen groß wird und zergeht.
Luftmüde kehrte er in den Zentralraum zurück, der von Büchern ganz umgrenzt war. Schräg floß aus hochgelegenem breiten Fenster das Goldne nieder; ließ die gestuften Tafeln der ungeheuren Mahagonitische aufduften wie Tiefland. Es leuchtete von Geist und Stille. Ihn aber zog es zu ganz beschatteter Versunkenheit. Aus dem Niedren tat es sich auf wie Grotten: taube Alkoven, wo tief in Pfühlen die Körper ausgelöscht sind und die Gedanken sich befruchten, indes ein klar und zartes Licht als Hochzeitsfackel leuchtet.
Ein kultivierter Europäer hätte gar bald in dieser erlesenen Bibliothek etwas höchst Sonderbares entdeckt und in wachsender Betroffenheit die hartnäckige, ja manische Konsequenz seiner Durchführung bestaunt. Lückenlos stand als seelisches Riesenwerk das Ethos Asiens da. Wie es, hochaufgerichtet in den lebendigen Körpern seiner Rassen, noch in die Gebärde seines letzten ärmsten Sohnes ein Unbeschreibliches an weiser Anmut gießt.
Da waren die Veden, Upanishaden, Bhagavad-Gita, Gajatri und Upnekhad. Auch die Sutras mit dem Kama-Sutra. Die sieben großen Philosophensysteme Indiens, gekrönt mit dem Vedanta, verströmend im Buddhismus. Chinas Religion des »guten Bürgers«: das Wu-king Con-fu-tses. Lao-Tsu, das Buch vom quellenden Urgrund, die unvergleichliche chinesische Lyrik. Überdies fast der gesamte Formen- und Geistesinhalt Ägyptens, Kretas, Babylons, Persiens.
Auch Europas?
Hier begann das Sonderbare. Während die Großen im Reich der Naturwissenschaften in Originalen und einer Vollständigkeit, die jener des Britischen Museums wenig nachgab, vertreten waren; während Neues und Neuestes unaufhörlich in Fachschriften zuströmte, enthielt dieser offenbar tiefdurchdachte Geisterbau keine Zeile, aus der auf Geschichte, Religion, soziale Zustände Europas hätte geschlossen werden können: auf Sexualbräuche, Sitten, Jus. Die Unnaturwissenschaften fehlten gänzlich.
Die Existenz des Christentums war ignoriert und aus den großen Philosophen jene Teile ausgeschieden. die es – wenn auch in antithetischer Form – streiften. Auch das meiste aus den Werken der Dichter entfiel: Faust, die historische Mordfolge Shakespeares; nur wo Elfen lieben, Magier herrschen, Sylphe dienen, das blieb. Es blieben auch Schillers ästhetische Schriften, Lessings Laokoon, denn hier wurde Zeitlich-Gegenständliches durch unvergängliche Behandlung aus vergänglicher Umwelt ins Durchscheinend-Verklärte gehoben.
Auch das Süßeste des Minnesanges blieb, als dem Weltwesen der Liebe zugehörig. Außer Globen, Stern- und Weltatlanten gab es auch Spezialkarten Europas: Geographie, geologischen Aufbau, Städte, Kanal- und Eisenbahnnetz erläuternd. Da aber jegliche Historie fehlte, konnten die abgegrenzten Flecke: England, Deutschland, Frankreich, Spanien ebensogut die vereinigten Republiken von Europa, die Provinzen des Großmoguls der Schweiz – als den Aktienbesitz eines Wallstreettrusts bedeuten.
In die Bibliothek mündete der Orgelsaal, mit Flügel und Streichinstrumenten, enthielt auch die Musikliteratur, mit Ausnahme jener Opernauszüge, deren Text in die geächtete Zone ragte.
Bildhafte Darstellungen hörten mit dem Ägyptisch-Griechischen auf. Auch in der Baukunst. Das Letzte: der Parthenon. Aus sämtlichen europäischen Büchern waren die Porträts ihrer Verfasser sorgfältig entfernt.
Erwuchs hier ein begabtes junges Wesen, so war ihm eine Umwelt bereitet aus europäischer Wissenschaft, Technik und Musik, Asiens mystischem Ethos und allen freien, daher gepflegten Liebesformen des Gesamtorients als Morgengabe.
Tief in seinen Bücherschluf geschmiegt, rosenquarzgedämpftes Lichts zu Häupten, griff Horus nach einem Band Pascal. Er seltsam erregt heute. Alle Nerven lagen wehend wie in einem flüssigen Medium, das hinstrebte nach zwei Polen: dem Traum und dem Rhajputen. Wollte sich sammeln, beruhigen, oder falls das mißlang, die Erregung, wie oft schon, zu einem Stachel machen, ihn ins Geistige zu treiben – dorthin wo die großen Zusammenhänge waren in dieser ganzen rätselhaften Raum-Zeit-Welt, zu denen ihn seit früher Kindheit heilige Gier immer wieder unter Schauern trieb.
Erinnerte sich dabei eines Ausspruchs, den Erasmus unlängst halb im Scherz getan:
»Die meisten Menschen bleiben dumm, weil sie feig, nicht weil sie unintelligent sind; es fehlt ihnen einfach der Mut, so lange zu denken, bis es weh tut! Doch dort kommen erst die Einblicke und Ausblicke.«
Seine Jugend war der Räude des Alltags fast ganz entrückt.
All den elenden Köterleiden, die in den schmierigen Augenblick herabzerren von einer Spanne zur andern. So blieb seine Seele feinhäutig und wach für die fruchtbare Qual der großen Fragen aller Kreatur, die ins Ewige ziehen. Denn nur zwei Wege tiefster Erschütterung gibt es, auf daß der Mensch außer sich gerate und über sich hinaus: den Weg der Qual und den Weg der Freude. Qual aber ist, je nach der sensitiven Stufe des Gequälten: für einen Heloten auch hundert Peitschenhiebe am eigenen Leib noch kaum, – für Gotama Buddha war schon ferne Ahnung, daß es auf Erden etwas wie Alter und Siechtum gäbe, Leids genug und erschütterte ihn in die Vollendung hinein.
Horus hatte längst – nicht nur aus van Roys Worten – auch traumhaft erahnt: »das Wesen aller Dinge sei die Zahl.«
Wenn dann aus dem dreifachen Reich der Natur das Mannigfaltige hervorbrach, ihm die Sinne sprengen wollte, trat er zurück in die reinen Raumgebilde des Geistes: Schemata alles Erschaffenen und alles Erschaffbaren. Vor denen – wie ihn gelehrt worden war – der ärmliche Klumpen dieses Kosmos ganz bedeutungslos wird, versinkt, sind sie doch tiefer und weiter als er. Denn die Gesetze der Mathematik gelten für jede mögliche Natur, für alle physikalischen Universen, die Riemann sämtlich vorausberechnet hat, und von denen das Eine – Unsre, nichts als ein Spezialfall ist. Nicht aber gelten die Gesetze der Physik für Gegenden der Mathematik, denn: wo immer in der Natur eine bestimmte Zahl erscheint, gleichsam als Ursaite angeschlagen wird, da muß auch der gleiche Ton erklingen, muß gleiche Farbe, Gestalt und chemisches Geschehen sie begleiten. Die Zahlen und ihre Beziehungen sind Traversen der Welt, jenseits der Erscheinungen; wer in ihnen, ist in geheimnisvoller Weise auch im Baumeister aller Welten. Und van Roys Worte kamen ihm wieder:
»Was sind die kindischen und kläglichen Wunder aller Religionen, verglichen mit dem einen mathematischen Wunder der ›harmonischen Teilung‹, in Geometrie und Natur: dies Zueinanderstehen von Zahlen, aus dem die Proportionen der Musik und die Kegelschnitte sich gleicherweise erzeugen. – Das geisterhafte Schema, nach dem die Welt klingt und die Gestirne sich bewegen.
»Wo sonst ist ein Erahnen so herzerschütternd großartig für das Hineinragen eines Außerweltlichen – geheimnisvoll Ordnenden. Wer da innen ist, durch den gehen die Fäden der erschaffenden Gesetze, der hängt gleichsam im ewigen Fadenkreuz und rührt an Grenzen des Unzerstörbaren.«
Da war es dem Knaben Horus oft, als ob ganz große Gedanken, die im Unvergänglichen dahinwehen, außen am Rand seines Erfassens vorüberstrichen, knapp an der dunklen Monade vorbei. Nur ein Weniges noch an sehnender Kraft, und er müsse ihrer mächtig werden, sie hereinziehen in das passagere Ich. Doch dies Vorüberstreichen schon rührte mit einem klar und magischen Glück an sein großpochendes Herz.
Daß er gerade heute Pascal zur Hand genommen? Vielleicht um des Wunders willen, daß dieser – ein Kind von sechs Jahren – mit einem Stäbchen im Sande spielend, die ganze Euklidische Geometrie aus sich entwickelt hatte. Mit winziger Kinderfaust dies Wissen von zwei Jahrtausenden erspielte, wie andere Steinchen halten. Horus schlug jene weltberühmte Abhandlung auf, von dem Halbwüchsigen – kaum älter, als er selbst jetzt war – der Akademie von Paris überreicht. Und er begann zu lesen:
»Über die Kegelschnitte«.
Doch die leuchtende Geometrie, der ätherische Glanzraum Pascals, schien ihm heute in eisige Phantastik seherhaft entrückt. Wo war in dieser Kristallwelt Durchdringung mit dem Warmen, das in ihm schlug: ein Vogelherz in harter Hand? Er ließ den Band sinken, blickte auf. Am andern Ende des Raumes war eine einfache Gestalt. Unnachahmliche Bescheidenheit lag als stiller Ring um sie.
Ein irgend Etwas an Haupt und Haltung ließ Horus fühlen, er störe nicht. Sei erwartet und willkommen. Drüben dann, in den weiten easy-chair hineingeschmiegt neben den alten Freund, erkannte er, daß dieser nicht, wie er zuerst geglaubt, ein Buch, ein aufgeschlagenes Manuskript vielmehr in Händen hielt. Und Horus las:
»Die Hyperbel hat mir von jeher etwas Gespenstiges gehabt, ohne daß ich mir einen Grund davon anzugeben wußte. Ich fand ihn indes nachher in einer symbolischen Beziehung, die sich ihr unterlegen läßt, und ich bin überzeugt, daß alle, die sich unterlegen lassen, in dem ähnlichen Charakter zusammentreffen. Man muß sie aber gleich, in bezug auf die übrigen Linien betrachten.
Der Kreis symbolisiert mir die Eigenliebe: den Egoismus.
Die Ellipse das Ideal der Liebesfreundschaft.
Die Parabel das der Liebe gegen das Unendliche, Göttliche.
Die Hyperbel das Ideal des bittersten Hasses.
Der Brennpunkt in jeder der angeführten Linien stelle eine Seele vor; die Strahlen, die von da nach dem Umkreis gehen, die Bestrebungen dieser Seele, wiefern sie nach außen (durch Handlungen) wirksam sind, und die Richtung der zurückgebrochenen Strahlen den Zweck, zu welchem die Bestrebungen auf das Äußere gingen. – Ich kann z. B. nach außen handeln, teils um meinetwillen, teils um eines andern willen. Wenn die Strahlen also, die von dem Brennpunkt ausgehen, die aktiven Bestrebungen der Seele vorstellen, so müssen umgekehrt – wenn wir das Symbol treu verfolgen wollen – die Strahlen, die von der Peripherie in den Brennpunkt fallen, die Gefühle und Empfindungen vorstellen, welche die Seele passiv von außen in sich aufnimmt. Wird daher ein Strahl, der von einem Brennpunkt an die Peripherie fiel, in einen andern Brennpunkt zurückgebrochen, so sind des letzteren Gefühle – nach dem Symbol – durch Bestrebungen oder Handlungen des ersten Brennpunktes veranlaßt worden.
Der absolute Egoist handelt nur um seinetwillen. Er läßt nur Strahlen gegen die Peripherie ausgehen, damit angemessne Gefühle in seine Seele durch die Rückwirkung kommen; er ist ganz in sich abgeschlossen. Was er auch tun mag, davon hat nichts auf eine Seele außer ihm Bezug. Der Strahl, der aus dem Mittelpunkt des Kreises kommt, wird ewig wieder in ihn zurückgebrochen.
Die Ellipse läßt sich als ein Kreis mit in zwei Brennpunkten auseinandergetretenen Mittelpunkten betrachten.
Eine Seele hat sich in zwei gespalten, und beide existieren nur mit- und durcheinander; jeder ist die Seele eines Freundes; jede wirkt nur, um in der andern angemessene Gefühle und Empfindungen zu erregen, denn welcher Strahl auch von dem einen Brennpunkt an die äußere Peripherie fällt der nimmt seine Richtung nach dem andern Brennpunkt zu. Was der eine nur denkt und hat, das gießt er in des andern Seele aus. Um die Außenwelt bekümmern sich beide nur, insofern sie mittelst ihrer in bezug aufeinander wirken können; beider Gefühle ergänzen einander stets: alle gebrochenen Ellipsenradien sind gleich der großen Achse, die beide Brennpunkt-Seelen zunächst verbindet. Sie können jede einzeln nichts denken, nicht fühlen, was nicht mit des andern Gefühlen und Bestrebungen zusammenstimmte, daß es dieses Band darstellte: das Ideal der Liebesfreundschaft hat viel schönere Symbole – wohl kaum ein wahreres.
Nehmt die Hyperbel: beide Liebende sind durch einen ungeheuren Haß gespalten worden! Der eine hat sich von dem andern abgekehrt, jeder reißt seinen Brennpunkt heraus, hält ihn für sich fest und mag mit dem andern nichts zu schaffen haben. Sie fliehen sich in Ewigkeit – Nein, sie sind noch aneinander gebunden, aber durch die Bande des feindseligsten Hasses. Ihre Gesinnungen beben divergierend vor einander zurück bis ins Unendliche, aber doch bleiben sie hadernd einander gegenüberstehen, und daß jedes Gedanken nur von des andern Seele zurückfahren, sieht man daraus, daß die Divergenz der Strahlen ihr Zentrum in dem gegenüberliegenden Brennpunkt findet. – Was in der Ellipse das Band war: die große Achse ist in der Hyperbel in den Gegensatz übergegangen, und alle Strahlen, die von einem Brennpunkt in den andern fallen könnten, sind sich nur in der Differenz gleich.
Die Parabel ist ein erhabenes Symbol der Liebe zu einem Ideal, zum Übersinnlichen, zu jedem Großen und Schönen, was nur in der Unendlichkeit erreichbar, der Seele vorschwebt: alle Strahlen, die der Brennpunkt der Parabel aussendet, laufen in gleichförmiger Richtung nach dem andern Brennpunkt, der in der Unendlichkeit liegt; alle Bestrebungen und Gedanken sind nur dahin gerichtet. Umgekehrt kann kein Strahl in die Seele fallen, der nicht vom Unendlichen ausgegangen wäre. Alle Gefühle beziehen sich auf dieses.
Eine Liebe zum absolut Infernalischen – etwa im Gegensatz zur Parabel, dem absolut Idealen gibt es nicht: ja, das Symbol für sie ist sogar unmöglich! ( ) Es müßte eine Parabel sein, die sich vom Brennpunkt, der in der Unendlichkeit läge, abkehrte und seinem Gegensatz zueilte, aber die Mathematik zeigt, daß es ein solches Symbol gar nicht geben kann.
Noch Schlimmeres als der absolute Egoismus ist also, soweit unsre Denkformen reichen, nicht vorstellbar. Er und sein Symbol: der Kreis, bilden den geometrisch größten Gegensatz zur Parabel, den der Geist zu bilden vermag.
Wie die Selbstliebe alles auf sich zurückbezieht, so ist alles, was die Parabel tut, ohne allen Bezug auf sich, denn der Strahl hat erst in die Unendlichkeit zu laufen, ehe er zum Brennpunkt wiederkehren kann; daher ist die Parabel zugleich das Symbol der Tugend, welche nur dadurch, daß sie für das All gewirkt hat, für sich und auf sich zurückwirken will, und das Symbol der Tugend fällt mit dem Symbol der Liebe gegen das Unendliche zusammen.
Denkt man sich einen unendlich großen Kreis, der das All befaßt, so ist – wie sich Extreme stets berühren und im Unendlich-Großen all unsre Symbole ineinander laufen – dieser Kreis zugleich das Symbol des absoluten Egoismus und der absolutesten Liebe gegen andre: ein Göttliches als Mittelpunkt des Allkreises kann sich nur selbst lieben, insofern außer ihm nichts ist, denn die Peripherie: die Welt gehört ihm wesentlich als Körper zu. Aber indem er sich selbst liebt, liebt er zugleich alles, was es gibt. Die Liebe gegen seine Geschöpfe ist ihm Selbsterhaltungstrieb und er mag nur sich erhalten, indem er alle seine Geschöpfe: Teile des unendlichen Körpers, erhält.«
Das Manuskript brach ab.
»Laß es mir,« bat Horus, und da er des andern Zögern fühlte: »es ist wohl sehr kostbar,« – dann dringender: »nur für kurze Zeit; nur das über die Parabel.«
In ihn brauste der Traum zurück und das Traumlicht in jede Ader seines Hauptes, doch das war nur wie leichtes Zerrbild und heller Hauch, herausgeatmet aus dem reinen Mund des Hochschlafs. Nun floß es zusammen mit der Klarheit, in der sein Herz schwamm, als es der Rhajpute einen Pulsschlag lang nach einer andern Sternenstunde eingestellt.
Was jenseits jedes Wortes, jeder menschlichen Verständigung geschienen, kam nun aus gespenstigen Tiefen, als geisterhafte Beziehung reiner Lineargebilde zurück. Das ranzige Wort »Symbol« wurde stark und schrecklich neu. So blendend, als wenn man einen Ätherstrom durch beide Lungen breit in sich hineinreißt, so steigernd riß ein Dunkles jetzt in ihm entzwei.
»Behalte es ganz,« sagte Erasmus; »vergiß auch die Ellipse nicht.«
Als der Tag sich schon leicht zu neigen begann, waren Horus und Gargi auf der Schillerfalterjagd. Nach den Monsunen, gegen Abend im schrägen Strahl ist das seltene Geschöpf zu sehen, wo tief in tropischen Hainen Feuchtes spiegelnd steht.
Bei jedem Schritt bricht eine Wolke warmer Narden aus brünstiger Erde. Stachlichte Früchte, schwer wie Säcke, hocken blattlos an Stämmen. Drüber schießen Jukkapalmen hinauf in die Freiheit. Bersten als Raketen in Büscheln von Leuchtkugeln auseinander. Dann wird es dunkelgrün, dicht, still. Tollgeformte Vögel auf behaarten Ästen zieht ein ungeschlachtes Horn im Kopf vornüber. In wahnsinnige Stellungen verhext, stieren sie dann aus kahlen Augenkreisen überquer ins Leere.
Auf hohen, sehnigen Beinen schleichen die beiden Kinder durch schlingerndes Grün: Bethel und Pfefferranken, dann längs des Wassers eine Schlucht hinan, bis wo auf kreisrunder Lichtung Klares rieselnd auseinandertritt, um feuchte, schiefrige Platten. Kauern heran, fahren flach nieder wie ausgegossen vor der Sonne; kein Schatten darf auf das Braun-Graue fallen, das sich eben aus der Luft dort niederläßt.
Köpfe schief, Augen wie Phosphorbänder, tasten sie nach richtigem Blickpunkt. Jetzt ein schräger Strahl, und das Braun-Graue geht in weißem Feuer auf als brennender Brillant, bricht in blendendem Äther über seine Ränder, wird zu einem kleinen Strahlensee, der auf sechs abgeknickten Fadenbeinchen sitzt, und während die atmenden Flügel sich glätten, gehen Adern aus Juwelenfarben durch sie hin. Zwei Lichtketten rinnen über die spiraligen Fühler: Antennen der Liebe, endend in einem großen Tropfen Licht.
Es sitzt und zittert. Spannung in den Flügeln steigt und steigt zu tief erregendem Vibrieren ohne Pause: samtnem Elfenbrausen an. Da fährt ein zweiter kleiner Strahlensee im Gleitflug nieder zum ersten, und eine zarte Mythe hebt an: von Wesen, bei denen die Liebe zu einer Inkarnation für sich geworden. Wesen nur aus Organen der Wonne: ganz Auge, Flügel, Taster, Geschlecht. Keine Vorkehrungen mehr im Körper für diffamierende Funktionen: Kampf – Fraß. In einem Krampf von Stille, um Geschöpfe, die in der Liebe sind, ja nicht zu stören, schauen die Kinder das Weitergeben des Lebensfunkens in den atmenden Edelsteinen.
Unten im Tal saßen sie dann am Rand eines winzigen Beckens. An einem jener kleinen, brunnentiefen Trichter, wie sie der Fluß ausspült zwischen Felsen, deren Spiegel glatt sind und wo im Glasigen die Fische fließen. Gargis Füßchen spielten mit Staubgefäßen des rosenroten Lotos, der als Porzellan auf grünen Tafeln steht. Durchbrachen dann den lauen Smaragd und ließen sich schwimmend vom Strom dem Hause zutreiben; ließen sich fließen – tauchten – bildeten, eins ins andre verschlungen, seltsame Doppelwesen oder formten, die Beine verspreizt, aus ihren fast brüderlichen Körpern eine Art Kanu: Bug und Heck die Köpfe, Riemen die Arme.
Bei der »Höhle der weißen Träume« suchten sie das Ufer, wateten durch Seichtes, Gargi voraus. Im schrägen Strahl blühten die beispiellosen Farben ihres Sonnenblutes auf: über grünlichem Dunkel ein silbriger Samt. Gleißend von dem Gleichen wie Panther und Orchis: dem, was von tief innen heraus zu Leben verbrannt magisch aus Fellen und Kelchen bricht.
Das selige Silber rann an ihr nieder, Lustfurche des Rückens hinab, in der ein Wellchen sich brach. Lanzendünn blitzten die geisterfeinen Hüften.
Halb Fee, halb Knabe schien sie im Schaumschleier aus Licht und Wasser, leicht wie Schaum. Sie küßte zum Abschied die abfallenden Wassergewänder – das Verrieselnde von den Schultern, den glatten Kinderbrüstchen. Erschauerte einen Moment schmal und möwenhaft, warf dem Wind die Arme um den Hals und flog den Strand entlang.
Gut war das: die aus sich selbst bewegten Sprunggelenke spüren, ein Lebendes, Laufendes sein, das gehoben von Blut zwischen Himmel und Gestein dahinfliegt, die sich nicht bewegen können. Und hinter sich das andre laufende Leben. – Gut war das.
Denn ein Entflammter flog ihr nach.
Lange vermag ein wohlgebornes junges Wesen ohne Sexualität zu sein, wenn es die Liebkosung hat. Nur in nächtlich einsam eingesperrter Pubertät schwillt der primäre Trieb zu manisch-hündisch-hämischer Besessenheit: armselig, eintönig und roh. Ein Elend den Frauen, an denen er sich später vielleicht ehelich – jedenfalls weihelos entlädt.
Horus, frühzeitig einem holden Bettgespiel gesellt, stillte seine warme, junge Sehnsucht von je in fernerer Mannigfaltigkeit.
Das Leben war ihm – auch abgesehen vom Nur-Erotischen – so angefüllt mit Sinnenwonnen, daß er spät zur Zentrierung der Einen kam. So verweilte sich Eros lange auf allen Gliedern. War im Ozean der Tastempfindungen, irisierte vielgestaltig über die kleinsten Muskeln hin, die – winzige Kerne der Wollust – sich in zarten Schauern erlösten, und Liebe blieb ein süßer Grenzfall am Rande kühner Zärtlichkeiten.
Wird aber eines Tages der innre Lenker wach – wach über alles –, sieht er sich, von der ersten Stunde Gebieter über ein erlesenes Heer von Wonnen: dem Gefolge im Märchen, das lang vor seinem Herrn erwachen soll, den Traumbann abtun, sich schmücken, festlich bereiten, dienend zur Stelle sein, wo es am Schönsten wird: bei seines Prinzen Auferstehen.
Als der Knabe Gargi den Strand hinauffliegen sah, in der jungen Herrlichkeit eines Pfeils, vom Bogen der Spannungen entsandt, trieb ihn erst reine Beutelust ihr nach, auch das Glück, von ganz nah die Sprungsehnen in den langen Kniekehlen spielen zu sehen, dort wo die Haut fast unirdisch wird.
Doch Reiz ist Schönheit in Bewegung. Sein Blut riß ihn über den Blick hinaus, begann nach den Flammen ihrer Anmut zu schwingen, wie am Morgen nach dem Atem des Rhajputen. Groß und unruhig wurde die Luft. Schwüle strich ihm um die Flanken. Schwoll durchs Adernetz. Sie halten – umschlingen – tragen – beißen, es war nichts, aus taumelndem Bewußtsein schrak er auf mit dem manischen Drang, ihre Stimme zu küssen, ihr Fliehen, ihr Leben: dort ganz dort, auch ihm nur mit der Essenz seines Lebens erreichbar.
Vor ihm her strahlte sein Begehren. Leckte hinüber in ihr fliehendes Blut. Stahldunkel vor Gewalt, schoß es über sie hinaus. Da wurde sie zu einer einzigen flirrenden Linie der Flucht und genoß die Härte ihres kindlichen Schoßes.
Die Frau will die Erwartung – der Mann die Erfüllung. Lief wie sie noch nie gelaufen. Spürte an der Bestürzung ihres Herzens seine wachsende Nähe. Auf einem neuen Schauder kam er heran. Ihre Adern keuchten das weibliche: noch nicht – noch nicht. Ein manischer, wahndunkler Trieb: immer den gleichen Abstand zwischen sich und der Erfüllung wahren. Sei es um den Preis der Erfüllung selbst.
Nicht enden sollte die berauschende Angst.
Nie mehr enden die pulsende Not.
Und Freude an der Not.
Überhangen bleiben mit allen süßen Möglichkeiten
Dauern in einem Weltenbrennpunkt unaufhörlichen Begehrtseins.
Lief wie sie noch nie gelaufen. Konnte nicht mehr. Brach zusammen mit geschlossenen Augen. Klammerte sich an die Wonne ihrer Angst. Preßte die spiegelnden Gazellenbeine herb aneinander – zu einem langen Pfad der Verführung.
Ein Dämon der Inbrunst, war er über ihr. Sekunden perlten wie Champagnertropfen auf.
Dann: hart, langsam, gnadelos stemmte sich sein Knie auf ihre blaßgepreßten Schenkel. Der Block aus Bronze trieb die Zitternden ohne Schonung auseinander – so weit es ihm beliebte. Und gab sie frei. Leer, kühl strich Luft um ihren versiegelten Schoß. Nur über dem Haupt duftete noch das Glück seiner lebendigen Nähe. War sie verschmäht? Besiegt und dann verschmäht? »Er will seinen Willen, nicht mich,« fuhr es durch sie hin. Es war nicht mehr zu ertragen.
Das Herz schlug ihr die Augen auf. Sah ihn nah. Wimper an Wimper besprangen sie die goldbeschwingten Panther seiner Augen. Neigten ganz in sie hinein voll Verheißung und Geduld.
Da flog sie an ihm auf wie ein angewehtes Blatt. Barg das wunderbar junge Haupt im alten Mantel seiner Zärtlichkeit. Er hatte ihr die letzte Süße geschenkt: Erleiden der Gewalt genießen lassen ohne Demütigung.
Seine Hände kamen. Widerstandslos nun, in wartenden Aufruhr, ließ sie sich an ihm entlangführen. Über seine dröhnend harte Violinenbrust langsam abgleiten, hineinreißen in die Höhle seines Leibes – hineinsaugen in eine Schale von Kraft.
Sie stürzen ineinander.
Horchend hingegeben dem geheimen Rhythmus, mit dem die Essenzen des Lebens in ihren tiefen Kelchen – kraft so vieler Liebkosungen – einander wunderbar entgegenfluten. Gesteilt – gestürmt.
Sie verströmen in die verborgene Mond- und Sonnenspringflut: die Gezeiten des Eros.
Lang durch sie hin geht die selige Wehe.
Zur Stunde der Krähe, Tau im Haar, waren sie heimgekehrt. In wonniger Ermattung entschlummert, hoch oben auf der Terrasse aus rosigem Granit.
Inmitten der Nacht tauchte Horus aus dem Tiefschlaf. Heiß vor Wirklichkeit, ganz glücklich, wach zu sein – da zu sein.
War auch Gargi wach? Trunken taumelte sein Gesicht dem ihren zu. Vor dem Lichtjubel seiner Seele kreisten die riesigen Opale ihrer Augen, deren Wimpern wagrecht in die Schläfen schnitten, dem kindlichen Haupt etwas Durchleuchtetes gaben.
Sie erhoben sich vom weiten Lager, schritten – zu einem Wesen geschlossen – bis an die Brüstung, die das Halbrund der offenen Schlafterrasse umlief.
Dem Garten enthoben sich die Farben der Nacht. Über Blüten und Wegen stand strahlende Materie der Finsternis. Griffen tastend in Blumen, lehnten sich weit hinaus in den veilchenhaften Samt des oberen Abgrunds, aus dem Gestirne gehangen kamen, groß, frei schwebend: Kitalphar – Archanar – die Beteigeuze. Der Raum sog die Seelen an. Es war so schön, daß man nicht denken konnte – kaum fühlen – nur schauen.
Ihre Hände öffneten sich dem Astralschein: magnetischem Puls kosmischer Kerne. Die schlanken Finger streckten sich – Antennen – feinste Sender und Empfänger dem Äther und seinen namenlosen, unirdischen, alles lenkenden Wirbeln entgegen.
Fern aus dem Dschungl kamen, in Pausen, die Weltlaute reißender Liebe; schwimmend in einer Stummheit: Gepfauche auf Tatzen der Unrast – Brautgebrüll – Zischen – aus dem Ganz-schwarzen ein Blutschrei, kühn wie die Not.
Mitten inne zwischen Dschungl und Sternen stand, in machtvollem Aufriß, ruhend in seinen klaren Achsen, mit Toren aus lichtem Erz – das Haus der Elchos: Kristallform eines höheren Lebens.
Freiheit der Wildnis stieg an ihm auf mit tausend grünen Adern, zerbarst in Kelche, ward oben Duft am reinen Raum aus Zucht und Zartheit: dem kindlichen Ehegemach in rosigem Granit, dessen Kuppel wie der Sektor einer Sternwarte sich auftat in die bodenlos selbstblühenden Sterne.
Diana Elcho hatte an Gargis durchscheinendem Körperchen seit dem Frühlingslauf zur »Höhle der weißen Träume« neue, heißere Male entdeckt: »die getigerte Wolke« – »das Korallenband« – »zackichte Krone« – »Perlmuschel« geheißen, in Indiens lächelnder und gönnender Sprache, die erlesene Liebkosungen in heiligen Schriften vermerkt.
Ohne Wort, ohne indiskrete Miene, wie von selbst und ganz einfach stellte sich alles auf die hohe Zeit der beiden Kinder ein. Frei von gierendem Wohlwollen. Auch das Haus: der Raumkristall wandte ihnen eine neue Facette zu.
Sie hatten bisher nicht alle Räume gekannt. Außer dem Halbrund aus rosigem Granit standen ihnen jetzt drei Schlafgemächer offen. Zwei einsame: licht, frei, glatt, – fast leer. In der Mitte ein Gemeinsames, das ohne Fenster war; eckenlos zu einer Ellipse geschlossen. Ozonisierte und durchduftete Luft erneuerte sich unmerklich in ihm. Es war nichts als ein immenses, hingebreitetes Pfühl – nur verschieden überhöht und durchtieft.
Linde Kurven aus dunkelglühenden Samten, schräge Lichter und Spiegel, da und dort, klarer wie Tag, eine Pore im Kelch der Liane rügend, oder mit einem Griff zu opalisierenden Nebeln verschleierbar – warteten. In Andacht. Ganz der Nacktheit und ihren Festen geweiht.
Denn Erotik des Auges: die feinste, holdeste, ist die verletzlichste auch. Immer echt unter Gräsern und Sternen: im zartweiten Nebel von Leben als Liebesumschlingung sein geballterer Kern.
Doch im Alltagsraum: schon an der schutzlosen Haut beginnt die Fremde. Kein sinnlicher Zauberkreis hält da dicht. Kalt schaut ein Fenster zu. Möbel leiern hölzerne Litaneien taktlos weiter:
Halbwesen, Unwägbare, tasten sich liebeleer herein in einen tiefen Schauder, verzerren ein leidenschaftlich in sich Geschlossenes zu ungewollter Exhibition. Daß im Liebesraum kein Ding, von Alltagstun noch trächtig – niederträchtig, die hohe Tugend der Wollust beflecke, hat das Fundament aller menschlichen Lebenshaltung zu sein.
Vom Kopf bis zu den Füßen in die »fließenden Wasser von Bengalen« eingehüllt, betraten sie die samtne Tiefe, und die berühmten Musseline zitterten als plissierter Nebel um ihre Körper und um die Füße als lockiger Schaum. Fließen die »Wasser von Bengalen« über ein schlagendes Herz, Beben einer Schulter, alles was pulst, verborgen schauert, nehmen sie da und tragen es herauf an den Schimmer ihrer Oberfläche. Wie im geheimnisvollen, hellen Bad, beim roten Schein der Dunkelkammer, ein Bild aus blinder Platte gehoben wird und sichtbar. Ganz scheu steht es dann – rührend und groß auf einmal.
Auch alle Liebesspiele kannte das Gewand und spielte mit. Warf seidne Arme um den Hals bei stürmischem Nahen, floh weich in die Senkung einer Achsel, wehte dann wieder als Flügel dahin, listig mit entwendetem Duft beladen. Endlich gab es sich besiegt, hing vielleicht noch schmal an einem Knie, fiel auf einmal wie Asche in sich zusammen und war überhaupt nicht mehr der Rede wert. Die befreiten klaren Körper: Frühlingsäste im japanisch Leeren aber nahm der ganze Raum voll Inbrunst in seine samtnen Arme. Selbst das weite, gönnende Hochzeitsgewand.
In ihm meißelten sie ihre eignen Statuen unter dem anklingenden Rhythmus der großen Gewalt.
Dann, nach Stunden, aufschauernd aus Umarmungen an den Grenzen des Lebens, erblickten sie sich selbst, erblickten ehrfürchtig, was Shiva, der Herr der Glieder, sich aus dem edelsten, dem lebenden Material herausgeglüht, auf daß es – ungleich dem sparsamen Werk der Kunst – gleich wieder zu noch heißerem Leben, noch wilderer Anmut zergehen möge.
»Das sind wir.« – »So viel ist uns anvertraut.«
Glätte jedes Muskels, Feinheit jeder Phalanx, das Wunder des Knies, alles hatte plötzlich einen Wert ohnegleichen. Nur weil es so, gerade so, konnte der Gott es bespielen. Hoch über aller Eitelkeit beugten sie sich – heiß vor Verantwortung – Hüter zu sein von lauter Dingen ohne Preis. Dem Einmaligen, Heiligen, Unwiederbringlichen, das ein lebender Körper ist: Statue, die nie erstarren darf, weichglühender Kelch von Murano, dem edler Atem Tag und Nacht, von innen heraus, die immer leise schwankende, feine Form bewahren muß.
Jeder unreine Bissen, ein häßlicher Gedanke, eine unvornehme Geste droht schon ihn zu mindern, seine Einzigkeit zu trüben. Denn Vollendung ist freigewählte, unaufhörliche, lückenlose Zucht. So fühlten sie. Und das Licht, das Gewissen des Körpers, lächelte ihnen dabei zu. Und es lächelte sogar die Zeit, denn vom Anfang dieser Erkenntnis war sie noch einen weiten Weg mit ihnen, statt gegen sie.
Der Tag begann seine Form zu verlieren, weil die roten Wogen der Nächte über seine Ränder spülten, so daß letzter Schauer des Erinnerns mit dem ersten der Erwartung am hohen Mittag zusammenfloß. Noch viel zuviel Bedrängnis in der Entzückung. Hoch über dem Glück laufen ihre unerhörten Spannungen hin – zu Glück werden sie erst in der Erinnerung verblassen.
Menschen schienen zu nah und grell. Sie gingen zu Tieren und Musik. Beide Begleiter des Dionysos, des Herrn der Wollust, dem die Flöte heilig ist und der Astragalos: das Sprunggelenk des Panthers. Und das aus tiefen Gründen. Oft balgten sie sich stundenlang, wie große junge Katzen mit dem Pantherbaby herum, das, ein Findling vom Rand des Dschungels, von der Leonberger Hündin gesäugt wurde. Das setzte sich manchmal, mitten im Spiel – kein Mensch wußte warum – plötzlich tiefernst geworden, auf seinen runden Schwanz und versuchte in den Zenit hineinzubeißen. Da mußte man es auf die trocken glimmernde Granulierung der Nase küssen, trotz seines empörten Protestes. Um den moosigen Mund lag das Hold-Fremdweltliche noch: Verschlafenheit alles ganz Jungen. Durch die Wolke von Milch und Babytum aber strich schon fahler Dunst walddurchstreichender Flanken, und die wunderbar blauen Augen, in denen das künftige Gelb in Goldkörnern schwamm, besprangen königlich alle Dinge, kraft ihres leuchtenden Rechts.
Solche Arme voll allersaftigsten Zuckerrohrs hatte Rama-Krishna in seiner hundertzwanzigjährigen Erfahrung noch nicht erlebt, als jetzt täglich, von vier jungen Händen gereicht, in seiner dummen Säuglingslefze verschwanden.
Er nahm es als karmische Fügung: man frägt nicht viel und lutscht. Leise schaukelnd. Seine beborsteten Augen, geäderte Billardbälle, weichen vorbei, immer ins Leere, nur die Rüsselspitze, hellfühlend, äugt nach mehr.
Vor siebzig Jahren war er Buddhist geworden, damals, als das Malheur mit der Herde passierte. Die »Affäre« war zwar ohnehin verjährt, aber auch so – nein, er hatte sich durchaus nichts vorzuwerfen.
Wie etwa mit Benedek bei Königgrätz Anno 66 war es gewesen. Alle hatten das auch anerkannt und sich wirklich reizend benommen. Durchaus würdig. Keine Vorwürfe: »wären Sie nicht« … »und hätten Sie doch nicht« … »und sehen Sie, das kommt davon …!« – Nein, nicht einmal die Kühe hatten gekeift. Wie hätte er auch wissen sollen, daß der neue Vize-Roy, so einer von den fahlen Affen mit dem komischen Geruch, einen Kraal: Einfangen wilder Elefanten in heimtückisch kaschierter Umzäunung, anzusehen gewünscht?
Monate der Qual waren das gewesen: immer gescheucht, abgetrieben vom Wasser; wo man nur eine Quelle roch, fielen Schüsse, und Feuerbrände jagten die verdurstende Herde weiter. Die armen Babys, zum Schutze unter den Müttern laufend, wie unter einem galoppierenden Säulenportikus, waren schon ganz eingeschnurrt, mit verdorrenden Rüsselchen die saftlosen Brüste sehnsüchtig drückend. Da – endlich eine Nacht des Friedens, der Ruhe, auf dicht umhegter Lichung Wasser. Einen Augenblick zauderte er: der Führer. Alles roch so verdächtig nach fahlen Affen rundum. Wäre er umgekehrt, die Herde hätte vielleicht noch gehorcht. Aber so–o–o– viel Wasser! Bis zum Bauch. Man war schließlich auch nur ein Elefant. Röchelnd vor Gier stürzte er sich hinein. Ihm nach die schwere, graugebuckelte Wolke.
Da schwang wie ein Tor der schmale Eingang der Lichtung zu, sie war nichts gewesen als umzäuntes Gehege, und ein Kranz von Geschrei stand plötzlich um sie auf, von Fackeln und Raketen, daß man an die elenden, mit Lianen umschnürten Pflöcke nicht herankönne, sie zu zersplittern.
Da hatte er noch einen Rüssel voll Wasser geschluckt, auf die fünf Minuten kam es auch nicht mehr an, dann alles hinaus ins Zentrum der Lichtung beordert. Babys und Kühe in der Mitte, die Bullen ringsum: Rücken an Rücken, Stoßzähne und Rüssel nach außen geschlossen, zu einem verzweifelten Kreis. So erwarteten sie den letzten Kampf; in Disziplin und Selbstachtung. Die ganze Nacht stand man. Nichts geschah. Dann am Morgen geschah: eine Gemeinheit. Auf Gongs, Schüsse, Feuer, war man gefaßt gewesen, doch es kamen – Elefanten. In hoffärtigem Zug, und jeder trug auf seinem Haupt als Krone einen fahlen Affen mit Schlinge und Seil.
Sprachen durch die Rüssel in einem völlig vertrottelten Slang von »Kulturfortstrom« – »Gliedpersönlichkeit« – »individualistischer Irrlehre«. Schließlich blieben es aber die alten Hauer, mit denen sie erst die Schwächsten gewaltsam aus der Phalanx drängten, und die alte Hundsgemeinheit, mit der sie zuließen, daß ehrlich Kämpfenden von dem fahlen Affen oben hinterrücks eine Schlinge ums Bein geworfen wurde. Sofort packten die eignen Entartgenossen dann den Strick, schleppten den wehrlos Gewordenen zur Fesselung an den nächsten Baum.
Qualvoll schnitten die Riemen ins Fleisch. Tag und Nacht. Nie mehr ganz heilten die Wunden. Nach vierundzwanzig Stunden waren erste Bestechungsversuche genaht: Ananas, Kokosnüsse, Zuckerrohr. Aber die Bande hatte alles wieder an den Schädel retour gefeuert bekommen, daß es nur so krachte. Später freilich, wenn niemand hersah, hatte man wohl sachte – sachte mit dem Rüssel hinter sich getastet nach einer Ananas, sie im Kernschatten des geblähten Ohres zum Mund geführt, dabei aber möglichst umdüstert nach der andern Seite gestarrt. Ja – viel durchgemacht in diesen Tagen.
Später, als Rama-Krishna genug vom Leben verlernt hatte, um »gelehrig« zu werden, trat er in den englischen Staatsdienst: ins Colonial Service mit Pensionsberechtigung nach dem hundertachtzigsten Jahr. Damit war es zwar wieder nichts, seitdem er zu Elchos gekommen, aber dafür galt man hier mehr als Freund und Ratgeber des Hauses.
»Liebes, großes Rüsselschwein, so sieh einem doch einmal in die Augen,« und Gargi versuchte, durch Rama-Krishnas Sehfeld gleitend, seinen kurzsichtigen Blick zu fangen. Es schlug fehl. Da berührte eine schwebende Spitze ihre Schulter: die zweifingrige Rüsselmuschel, aus der es satt und lau duftete, wie aus einem Riesenfaß voll Met. Es war eine Liebkosung von überraschend zarter Weisheit, verklärtem Hedonismus. Aus flaumiger Nähe, die keusch das Berühren ins Ätherische hob, küßte er Arabesken aus Hauch über ihre Haut. Gargi verstand. Machte die Kinderarme knochenlos und muskelhaft geschmeidig, wie das Wunder des grauen Nasenarms vor ihr. Nun begann es in den Lüften: schwebendes Spiel dreier Schlangenkurven. Jede an jede funktionell gebunden, einander nie berührend, schufen sie reizende Raumgebilde aus unwägbarer, reueloser Lust.
Kurzsichtig oder nicht kurzsichtig, nein, mit so einem Rüssel ist niemand zu bedauern, und eine Elefantenkuh sein, muß auch seine Meriten haben.
Es kam naturgemäß die Zeit, wo zwei Körper der schöpferischen Phantasie nicht mehr genügen konnten. Auf einem Eiland von Frühling, ineinandergeschlossen zu einem Block von Glück, waren sie bisher gewesen. Unter ihnen trieb das Leben, daß sie wie auf Kelchen standen – blühte an ihren Gewändern hinauf bis zu verstreuten Sternen im Haar. Um sie keine Welt mehr, nur Gold.
Schritten sie jetzt Hand in Hand dahin, zuckte es allenthalben im Äther rundum auf. Frohe Flammen, die langhin durch ihre azurnen Adern gingen, leckten hinüber in andre Wesen, und Freudenfeuer grüßten zurück: liebe Helfer für die strahlenden Zwei. Ein körperlicher Liebeszauber ging von ihrem jungen Wandel aus, Entzücken für Menschen, befähigt, Empfinden sogleich in lebendige Anmut umzusetzen, und die, welcher Kaste immer zugehörig, der Essenz des Daseins mit so weisem Brauche zu huldigen gewohnt waren, daß vor jeder bindenden Vereinigung von Mann und Frau, Er – Ihr eine Banane, Sie – Ihm einen Mango sendet; als Maß ihrer erotischen Wesenskerne. Ob sie zur Erfassung und Erfüllung für einander geschaffen.
In den westlichen Zimtgärten begegnete ihnen einmal eine Straßenkehrerin von solchem Wohllaut der Gliederung, daß sie trunken innehielten. Sonne fiel durch einen krokusgelben Sarong, in dem die Nahende als Docht in der Flamme stand. Sie schien fast ohne Schwere. Nur so viel der Last, als Kraft bedarf für ihre allerbesten Spiele. Unter den Sohlen ward ihr der Staub zu tragendem Sperlingsgefieder. Aus der Schmalheit ihrer Knie ging sie auf Flaum dahin, im Klingen der Choorees: der Kupferspangen; nach rechts und links die Blätter von den Wegen fegend. Ihres Füßchens Ferse hinterließ keine sichtbare Spur; die erbsengroßen Mulden der vier Zehen – die kleinste berührte den Boden nie – aber waren so rührend abgetieft, so vollkommen gerundet, daß Horus niederkniete, die Innigkeit des Abdrucks mit dem Finger zu umlaufen. Und ihrer immer mehr wurden es: bei jedem Schritt fiel wieder so ein Feenhusch auf den Sand. Aus ihren Abständen, in den Raum hinauf, ersann man dann des Dreiecks süßen Scheitel sich hinzu, aus dem der Schritt entsprang.
Eine zahme Antilope ging ihr nach, in geschwisterlichem Anstand. Der sternigen Stirn des zarten Tiers entstieg klirrendes Gehörn. Messingamulette spielten um die Männlichkeit des sanften Hauptes, um eine Tönung höher abgestimmt als der Herrin dumpfere Kupferfesseln.
Es wollte Abend werden. Inne hielt die junge Frau, breitete ein dunkel- und weißgeflecktes Fell der Axishindin, wie einen privaten, kleinen Sternenhimmel, neben dem Brunnen aus. Begann in der Haltung der Sandalenbinderin am Parthenon den Staub von sich zu baden. Dann – einen Fuß noch gesteilter auf dem Brunnenrand – lag der Schenkel als Sehne dem Abdomenbogen an, der edeleingewölbt, sichelförmig hoch darüber hinging.
Und des Phidias selige Kore verplumpte, ward unmöglich neben ihr.
Tiefer beugte sich die Badende. Erfrischte eine Kette aus Tempelblüten, die lang vom Halse niederfiel, neben der hanfenen Schnur. Die Luft war von silbriger Feuchtigkeit. Steigernder Geruch lebendigen Zimtes, heraufgerissen durch Wurzel und Stamm, bis er lanzettscharf aus Blattspitzen brach, trieb kühne Abkehr jeglicher Erdenschwere durchs Blut. Als brauchte man nur blaue Adern ausspannen, um vibrierend an doldenüberstürzten Wipfeln sausend still zu stehen, wie die Honigvögel dort oben, wenn sie mit langen, gekreuzten Nagelscheren aus Gold tief hineingriffen in flammichtes, grelles, malvenkühles Geschlecht, daß duffer Fruchtstaub aufflog.
Nun wandte das Wesen am Brunnen auf sanftem Hals den diademgestirnten Kopf: aus ihrem Haarknoten, der auf dem langen Nacken schwamm, lockten sich winzige Flocken frei, umstanden als Fest und Feier die fünfkantige Stirn. Nun hatte sie das kindliche Paar aus dem Hause der »Beleberin der Herzen«, wie Diana Elcho bei den Eingeborenen hieß, erkannt.
Wie um eine Kostbarkeit bat Gargi um den Besen. Ging denn das an, aus einem Ding niedrigster Verrichtung ein Instrument solcher Anmut zu machen, solcher Augenweide?
Und die Diademgestirnte zeigte es: von Schulter zu Fingerspitze müsse es laufen, sei eigentlich nichts anderes als Freude, so fein fühlen zu können, daß die Enden des Besens immer nur Blätter träfen – nie Sand. Kein Körnchen dürfe auffliegen. Wie der ganze Körper mitschwingen müsse und etwas an sich haben von der Kunst des Rutengängers; auch sei es rätlich, seine Besen selbst zu binden. Fertiggekaufte taugten nichts. Gargi ward einer versprochen aus Pisangrippen mit federndem Bambusstiel. Dann sei es viel leichter. Denn es ergab sich, daß es nichts weniger als leicht war. Freilich, einfach Schmutz fliegen machen, rechts und links, das konnte jeder. Das war Sklavenfrohn. Dann sah man aber auch anders aus dabei.
Sie ruhten am Brunnen. Nun wandte die Diademgestirnte dunkle Augenblüten in klaren Schalen Horus zu. Sah ihn zum erstenmal an. Ganz groß, ganz tief. Gönnenden Wissens voll. Er überküßte sie: mit aufreizenden und wieder beruhigenden Küssen. Plötzlich ganz neuen, niegewußten, während Gargi, die holden Füße der Fremden im Schoß, mit ihnen spielte, als wäre jede Zehe ein kleines Feenweibchen, auf Seidenkissen zur Liebkosung bereit. Nun legte er die Diademgestirnte auf seine Arme. Den linken ganz umspült von ihren Sprunggelenken und Gargis Glieder wie Schleier über seinen Rücken fließend, riß es ihn nach vor; den Kopf in der Fremden Schoß gewühlt, daß sein leichtes Haar wie eine Anemone auseinanderfiel, warfen seine Zähne Anker in der ewigen Bucht. Wo aber dies sein Haar warm im Nacken auseinanderfiel, entstand zwischen zwei gebräunten Sehnen aus betörender Männlichkeit eine winzig harte Mulde. Flaum silberte in ihr. Dort trafen sich in einem kleinen Gruß die zärtlich entrückten Hände beider Frauen.
Als ein ungemeines Glück empfanden sie den mächtigen Zwang dieser plötzlichen Annäherung. Noch scheu, ganz steil heraufgerissen werden in Intimität mit Überspringung aller Zwischenstufen, nur der des Taktes nicht. Denn irgendwie blieb jene ehrfürchtige, diskrete Distanz, mit der man Fremdheit ehrt – auf die sie Anspruch hat – die blieb bestehen. Auf unbegreifliche, nur dem Takt begreifliche Weise standen noch Formen und Schalen makellos. Nur war aus jeder dieser gesitteten Menschenschalen deren tiefster Kern unwiderstehlich hinübergewallt in die geheimnisvolle Dimension der Liebe. Auch dort gesetzlos nicht – nur anders eben.
Dann nahmen sie die Diademgestirnte in ihre Mitte – Schwertlilien ihrer Schenkel spielten dahin – führten sie dem Hause zu: den Bäderhallen des Erdgeschosses, den Ruheräumen. Nur in die samtnen Wände führten sie auch diese nicht. Keinen von all den heißen Knaben- und Frauenkörpern, die durch ihre Arme gingen und die sie erkannten: im einzigen Sinn, da Erkenntnis zwischen Sterblichen für einen Augenblick möglich ist oder – scheint.
Kamen oft in dieser Zeit zu Ganapati Sastriar: dem Märchenerzähler. Immer wieder gut, wie im Schatten der Weltesche, ruhte sich's in seiner machtvoll-breiten Unzüchtigkeit.
Hockend am Fuß seiner Träume, erzählte er. Verkaufte Früchte dazwischen. Aß, was er nicht verkaufte, selber. Lebte doppelt: vom Erlös und Nicht-Erlös zugleich. War so dick, weil er immer im Schatten saß. Kein Sonnenstrahl durfte ihm das Fruchtfleisch der Bananen wieder aus den Poren ziehen. Schien aus einem süßen, prallen Stoff gemacht. Manchmal blieb ein kleines, nacktes Kind stehen, steckte den Finger an ihn, meinend, er schwitze Zuckerharz gleich einer Palme; klimperte dann enttäuscht mit seinem Aramudhi, dem Lendenamulett zwischen den Beinen davon. War Ganapatis Mehlsack: die Brotfrucht, ausverkauft – der Mango auch –, nicht die dünnste Ananas für ihn übrig geblieben, pries sein Mund jene asketischen Bräuche, vor deren Macht alle Götter zittern, dann sprühten aus seinem Schlund ungeheuerliche Kasteiungen der Sadhus, wie Kraft aus einem Krater, bis die drei Reiche erbebten vor seinem Mangel an Obst … oder seine Lippen funkelten von Dhruva, dem Polarstern:
»Der König Uttanapada hatte zwei Frauen, von jeder einen Sohn. Einst saß der König auf dem Throne, auf seinem einen Knie das Kind der Lieblingskönigin Suruchi. Das sah Dhruva, sein zweites Kind, und voll Sehnsucht nach gleicher Zärtlichkeit, versuchte es des Königs andres Knie zu erklettern. Doch die Lieblingsfrau wies es mit höhnischen Worten zurück. Scham schlug in sein kleines Herz gleich dem einsilbigen Blitz, stumm ging es hinaus, hielt die Tröstungen seiner Mutter von sich und sprach in seiner großen Empörung:
›ch will aus mir selbst so hohen Rang erreichen, daß des Königs Thron und sein Knie und auf seinem Knie mein Bruder Uttama tief unter mir liegen sollen, und das für immer, nur erreichbar ihrem Gebet; ob ich gleich nicht von Suruchi, der Lieblingsfrau, geboren bin, sondern von dir, und du, meine Mutter, sollst meine Herrlichkeit schauen.‹
Dann ging dieses Kind von fünf Jahren aus der Stadt bis in den Dschungel. Dort saßen sieben Munis auf schwarzen Antilopenfellen; von ihnen erbat es Rat.
›Prinz, die Kraft deines Willens ist über uns,‹ sprachen sie und neigten sich ihm. ›Wir müssen dir den Weg zum Ziele zeigen: er ist in dir. Tue alle äußeren Eindrücke, tue Sonne, Mond und Sterne von dir ab, tue den jungen Frühling aus deinem Herzen, die äsenden Antilopen aus deinen Augen, die süßen Gräser von deinen Lippen, die singenden Erze von deinen Ohren. Lösche alles aus und für immer. Die furchtbare Leere aber lege um dich wie einen Gürtel, bis du entworden. Dann versenke dich in das Eine Tag und Nacht: das »Seiende«, in dem die Welt ist. Presse dein Bewußtsein des »Seienden« hinab, bis wo am Grund der Wirbelsäule, dreieckig zusammengerollt, Kundalini wartet: die schlummernde Gottkraft in allen Wesen. Auf sie laß die nach innen gedrehten Sinne wie ein Brennglas glühen, versenkt jetzt alle in das Eine, das »Seiende«, bis Kundalini sich aufzurollen beginnt und durch die Wirbelsäule steigt und steigt … Hat sie endlich den tausendblättrigen Lotos im Haupt berührt, so zwingst du das ›Seiende‹, du selbst zu sein, aus ihm heraus aufs neue zu werden, was immer du willst. A. U. M.‹
Dhruva zog sich an die Ufer des Jumna zurück, tat, wie ihm die Munis geheißen. Tag und Nacht, ohne Nahrung, ohne Schlaf vibrierte sein ungeheurer Wille einwärts gewandt in ihm, erweckte Kundalini, verwandelnd seinen Leib, daß er durchsichtig ward wie ein Schatten und Vishnu zwang, in ihm offenbar zu werden. Als aber das geschah, ward er auf einmal so schwer, daß die Erde das Gewicht des winzigen Asketenschattens nicht mehr zu tragen vermochte.
Verstört suchten die unteren Götter auf jegliche Art Dhruva aus seinen Devotionen zu reißen. Umsonst. Da flehten sie zu Vishnu um Hilfe:
›O Vasudeva,‹ klagten sie, ›wie der Mond Tag um Tag an seiner Scheibe wächst, so wächst dieses unbezwingliche Kind, kraft seines Willens, in übermenschliche Macht hinein. Wir wissen nicht, wonach er strebt: ist es der Thron Indras, die Herrschaft der Sonne, oder sind es die Schätze der Tiefe, die ihn reizen. Erbarme dich, Herr, nimm den Alb von uns, mache, daß der Sohn des Uttanapada abläßt von seinem Tun.‹ Da stieg Vishnu in Person herab, mit Dhruva zu verhandeln und gewährte des Asketenkindes Wunsch: für immer so hoch zu stehen, daß nur Gebete ihn erreichen, indem er Dhruva zum Polarstern des sichtbaren Universums erhob.«
Manchmal wieder ward Ganapati Sastriar flammicht ritterlich in seinen Fasten, erzählte den strahlenden Haß der Prinzessin Amva von Benares:
»Um Bhishma zu vernichten, hatte sich die holde Tochter des Königs von Kaçi jahrelang den furchtbarsten Kasteiungen unterworfen, bis ihre Macht groß genug geworden, um dem Gott Mahadeva das Versprechen abzuzwingen: nach ihrem Tode solle sie ungesäumt als Krieger wiedergeboren werden, der den unbesiegbaren Bhishma schlüge. Mit dem Wort des Gottes ging die Lotosfüßige an die Ufer des Yamuna, häufte und entzündete einen Holzstoß, bestieg ihn sodann im Angesicht aller großen Rishis mit dem Ruf: ›Zu Bhishmas Vernichtung‹.
Doch die Flammen bogen rundum aus vor ihr, daß sie unversehrt im feurigen Kelche stand, und es kräuselten sich die Lippen des Rauches und sprachen: ›Oh, Lotosfüßige, wir wollen so Holdes nicht vernichten.‹
Da ließ die Prinzessin den reinen Haß aus ihrem Herzen flammen, entzündete eins ihrer Glieder nach dem andern an ihm und verbrannte aschelos wie ein Diamant. Stürzte ungesäumt ihre Seele in den härtesten Schoß, tauchte aus ihm als junger Kriegsheld, unter dessen gnadelosen Händen der sterbende Bhishma noch einmal in das Auge der Amva von Benares sah.«
Keine Scheibe der Horcher heute. Sie waren enttäuscht. Dann getröstet: »Oh, er macht ›neti Karm‹, da wird abends seine Nase neu sein und seine Kehle freundlich.« – Aus jedem Nasenloch hing dem Märchenerzähler ein gedrehtes Seil von ungesponnener Baumwolle; die andern gewachsten Enden, innen bis zur Nasenwurzel hinauf und hintüber durch den Rachen gezogen, kamen wieder beim Mund heraus. Wie Zügel hielt er alle vier in Fäusten, zog sie ab und auf, her und hin. Stunden dauerte die Reinigung.
Abends erzählte er wieder, um ihn die Scheibe der Horcher wie das Blatt um den Lotos: »Die Episode der tausend Jahre«.
»Unübersehbare Zeiträume schon hatte die Rivalenschaft in der Askese zwischen dem Kshatriyakönig Vismavitra und dem Brahmanen Vasishta gewährt. Schließlich hatte der furchtbare Kshatriya elf unerhörten Kasteiungen durch elf Jahrtausende obgelegen, aber immer noch hatte er die Brahmanenschaft, deren er zum Endsieg über Vasishta bedurfte, nicht zu erringen vermocht, seine Macht aber war bereits ins Unermeßliche gewachsen. So beschloß er, seinem Gegner wenigstens zum Tort, einen gewissen Trisanka, den die Priesterschaft in Bann getan, wie er da war in seinem menschlichen Fleische, unter die Himmlischen zu erheben.
Diese verweigerten seine Aufnahme. Da drohte Vismavitra in seiner Wut einen zweiten Indra zu machen – oder die Welt ganz ohne Indra zu lassen – ja, er begann bereits vor den erstaunten Göttern neue Gestirne und Sternkonstellationen aus sich herauszuschleudern. Da gaben die Entsetzten nach. Doch immer noch nicht zufrieden, kehrte der unermüdliche König auf den Himalaya zurück, um in der Triebkraft seiner furchtbaren Devotionen fortzufahren. Da erkannte Brahma, so könne das unmöglich weiter gehen, und er sandte nach Menaka, der allerbesten seiner Nymphen, sie möge den Meisterasketen ablenken und sein Karma zu beflecken suchen, auf daß der bedrohliche Berg seiner Verdienste dahinschmelze in Lust. Menaka erbat hundert Jahre Frist, um noch schöner zu werden, denn ob sie gleich allen ohne Fehl dünkte, erwuchs ihr eben aus der eignen Vollendung auch wieder um so höheres Wissen um neue Vollkommenheit.
Als die Goldgliedrige – endlich mit sich selbst zufrieden – vor Vismavitra erschien, verließ er sogleich alles, um mit ihr der sechsundsiebzig Arten des Liebesgenusses zu pflegen. Bald war ihre Liebe die des Hengstes mit der Gazelle: jene die Sehnen der Knie von rückwärts im Sprung genießende. Oder es war die bespringende des Löwen – die des Marders mit der Schlange – auch die der Schlingranken, Vögel und Dämonen. Doch niemals jene des Hasen mit der Elefantenkuh, weil diese Art der Liebe unter allen Umständen zu vermeiden ist.«
An dieser Stelle legte sich Ganapati Sastriar breit in die Sielen der Erzählung. Er hatte ausschweifende Gebilde aus elastisch dehnbarem oder auch herb stoßkräftigem Stoff ersonnen – nur spannenlange Zauberwesen, mit denen er die Vorgänge zwischen der Nymphe und dem König zu erläutern pflegte. Doch ließ er sie dazwischen oft lange ruhen, um von den wunderbaren Gesprächen der beiden zwischen der Liebe zu berichten. Denn ist eine Frau weise, dann schmeckt ihre Weisheit süßer als die Brahmas, weil der Speise ihrer Weisheit noch die entflammende Droge »Anmut« beigemengt ist. Das wußte auch der große Sankara Acharya, denn er unterbrach eigens einmal seine Inkarnation, um auf kurze Zeit den toten Körper des Königs Amru zu bewohnen und solchermaßen vorübergehend der Königswitwe Gatte zu werden, damit er in den Stand gesetzt würde, aus eigner Erfahrung mit Madana, der Frau eines Brahmanen, Zwiesprache auch über Liebesdinge pflegen zu können, dem einzigen Wesen, das er an weiser Rede nie zu besiegen vermocht.
»Du warst vorhin bei der neunundsechzigsten Art der Nymphe Menaka, den Sonnenschirm des Liebesgottes aufzuspannen,« sagte Gargi.
Und Ganapati ging über zur siebzigsten und einundsiebzigsten … »Nach der sechsundsiebzigsten aber waren tausend Jahre in Liebesekstase vergangen. Da verabschiedete Vismavitra die Nymphe sehr freundlich und sprach zu ihr: ›Sage Brahma, ich danke ihm, daß er mir nur vom Allerbesten, was er besaß, gesandt, wohl wissend, daß einzig du, Goldgliedrige, mich von meinem Ziele abzulenken die Macht besitzen könntest.‹
Dann gab er ihr noch bis zum Rand des Mondes das Geleit, empfahl sich ehrerbietig, kehrte um, setzte sich wieder auf den Himalaya und begann neue Reihen noch nicht dagewesener Kasteiungen, so daß die Berge anfingen, davon zu glühen. Hielt seinen Atem an die tausend Jahre lang. Da stieg Rauch aus seinem Haupt zur großen Konsternation der drei Welten, denn alle Regionen fingen an durcheinander zu stürzen, kein Licht schien irgendwo mehr, und die Götter flohen in Angst zum Herrn der drei Welten:
›Hilf, Mahadeva! Denn es hält sonst der Entsetzliche den Atem an, bis dieser an Länge gleich geworden dem Ein- und Aushauch Parabrahms, der die Schöpfung ist. Dann vermag der Entsetzliche mit einem Einhauch die Schöpfung und alle Götter in sich zu saugen und eine neue Schöpfung mit neuen Göttern im Aushauch aus sich zu stoßen.‹«
Da aber drehte Ganapati Sastriar plötzlich auf dem Absatz der Erzählung wieder um, denn er hatte noch eine vortreffliche Zärtlichkeit der Nymphe Menaka in der »Episode der tausend Jahre« zu schildern vergessen.
Eines Tages zog Gargi sich von ihrem jungen Gatten zurück. Verlangte nach der Sitte indischer Damen von Stand an einer bestimmten Wende des Blutes nach abgesonderten Frauengemächern, die der Herr des Hauses bei Tage nie und auch des Nachts unangemeldet nicht betritt. Wo sie in Ferne und Geheimnis sich jedesmal für den Entbehrten bereitet, wie für einen fremden Gott. Pfauenäugiges Nachtgeschöpf am Zaubergewirk aus Trieben und Hemmungen: Bauherrin – Dichterin – Bildnerin am ohnegleichen Werk hoch über aller Wissenschaft und Kunst: Liebe. Des Nebeneinander entratend um des Ineinander willen. Sie durften sich ja jede steigernde und edle Künstlichkeit gestatten, ohne Furcht vor Entfremdung, Dank ihrer Kinderehe, die lang vor dem Zentrieren der Sinne sie zu Nachtgeschwistern versiegelt.
Denn es ist gewiß, daß unabhängig vom Nur-Geschlechtlichen, durch Schlafvermischung allein, aus einem tieferen Eros her ein Etwas kommt: unerforscht, verhangen mit Geheimnis, das doch, gewaltiger wie Umarmung, mächtiger wie Tag und Tat, die Wesenskerne der Bewußtlosen ineinander zu ketten vermag zu einem dunklen Zwiegeschöpf. Hat sich dieses erst einmal gebildet und fährt das Schwert eines Schicksals dann hindurch: bis zum Tode gehen die Entzweiten umher, wie mit einem Schnitt durch die Persönlichkeit; ja aus dem Schnitt heraus blutet neue Bindung: ein Band aus hartem Blut, stärker als Leidenschaft – länger als Gewöhnung.
Ohne dürren Instanzenweg der Überlegung, von dem die köstliche Glätte ihrer Stirn nichts wußte, hatte Gargi die Zeit ihrer Entrückung gewählt. Sie, nicht Horus, auch Diana Elcho nicht. Denn sie war eine asiatische Dame, somit für die Essenz des Lebens gebildet – nur für sie.
Wenn man will, ein rein weibliches Dasein.
Verstände sich darunter:
Generationenlang nie einer Trägheit nachgegeben haben und nie einer Gier. Um der Anmut willen viel getan haben an zarter Mühsal. Viel gelassen, um des Geschmackes willen.
Vom fünfzehnten Lebensjahre bis zum Tod nie zu-, nie abnehmen im Dienst geschmeidiger Glätte und nie eine derbe Speise berühren im Dienst des Duftes.
Mit einem durch Jahrhunderte geklärten und durchglühten Blut die Sehergabe des Schoßes erwerben. Als Hüterin des köstlichen Potentials zu entgleiten verstehen ohne Entfremdung, auf daß die süßen Wasser der Sehnsucht sich wieder sammeln.
Wissen, wie jener unentrinnbare Haß der Übernähe zu lösen, damit auch die Qual noch ihre Stelle unter den Seligkeiten finde. Die Abstürze kennen zwischen: Liebe – Erotik – Orgasmus – Ehe. Über sie alle hin mit fragilem Arm die kühne, junge Brücke schlagen, an deren Ende schon die Hand den Gefährten mit warmem Druck erwartet, und auf dem Frühlingszweig des Armes jubelt noch sein Kuß.
In den seltenen, vielgliedrigen Festen des Blutes nach Ergänzungen suchen, die sie selbst nicht bieten kann. Mit und an ihnen sich abschatten oder entflammen. Die Liebe über den Geliebten stellen, damit das Weltenkunstwerk des Entzückens sich vollende. Und erkannt haben, daß ein Eros, der dieses Namens wert, auf jedem Instrumente anders spielt, und daß die Flöte nichts der Geige raubt.
Ein rein weibliches Dasein: an der Feinheit der Polygamie frei – großartig – taktvoll – und weise geworden.
Im zweiten Jahr nach dem Frühlingslauf zur »Höhle der weißen Träume« sah Horus nur einmal seine Frau bei Tag. Es kam so:
Diana Elcho lag flach auf dem Bauch in der Halle und spielte mit dem Spektrum.
Pendelte den Wasserspiegel im halbgefüllten Kelchglas linde vor sich auf und ab. In ätherischen Kanten schlug die Sonnenpyramide hindurch, schlug ihre winzige Farbengarbe auf die Hand der Frau. Ein Cabochon am kleinen Finger daneben verschleimte – ward unmöglich. Nur ein Edelstein: Licht, schon verunreinigt durch Erden. Sie streifte ihn ab. Auch die Hand nicht hell genug. Sie suchte nach anderer Foliierung. Wollte den Sonnenbruch ins schmerzhaft Herrliche heben. Papier – Seide – Porzellan? Suchte passives Weiß, nicht spiegelnd, nicht körnig, nur gleich und rein. Über Alabaster endlich wuchs – wie von flüssigen Brillanten getragen – das winzige Band zu solcher Intensität in einen Paroxysmus des Glanzes hinein, der betäubte. Sie spürte ihr Herz.
Die anderen kamen, kauerten herum, spielten schauend mit. Ein kleines Insekt aus der Luft knallte seine Chitindeckel zu, schlenderte zu Fuß verblüfft durch die flimmernde Wandelbahn von Purpur nach Violett; an der unstofflichen Wonne des Gelb lutschte es ein wenig. Sie nickte ihm zu, sah auf:
»Gut haben's die Ganzkleinen. Schönes ist immer so groß für sie. Ihnen wachsen fugenlose Häuser aus elastischem, leuchtendem, duftendem Blumenstoff, mir sieben Jahre Mühen, bis sich nur das Furnier der Bibliothekslamperie restlos schloß. Der da aber geht gar in den sieben ersten ›Taten des Lichts‹ spazieren. – Wir sind zu groß. Reines reicht kaum für den kleinen Finger; der Rest tunkt schon wieder rundum in den Sudel.«
Und dann bekam Diana Elcho langsam ihr großgewordenes Kindergesicht.
Van Roy lächelte Horus in die Augen:
»Das wird ein Nachspiel geben.«
Sechs Monate später lud sie beide in den neuen Annex am südlichen Park. Umplankt von freiwilliger Diskretion war sein Inhalt Geheimnis geblieben. Passierten das Atrium, glitten auf eine Rundbank in der lichtlosen Apsis aus silbrig-finsterem Labrador. Die dreht sich mit ihnen langsam hinein in ein alabasternes Riesenei; nur Raum, strahlender Materie voll bis zum Rand. Wabernde Spektra, dick wie Wildbäche, stürzen in ihn und lautlos zueinander, von äußeren Spiegelreflektoren durch Prismenbänder längs der Wände rundum hereingebrochen in das lebendigweiße Ei. Eiskalter Staub von süßem Wasser fängt die Spektra in der Luft – hält sie schwebend im Raum. Kühlt zugleich.
Doch es ist zuviel. Die Blicke werden hart, erstarren in einer Lichttrance zu Stein. Der Reiz dieses leeren, beziehungslosen Glanzes steigt zum Bersten an! schreit nach Zentrum – nach Kern.
Da kommt aus dunkler Zwillingsapsis gegenüber die Erlösung. Durchsichtig wie Libellenschatten. Zittert vor Sonne. Legt opalisierende Hände weich vor sich auf die Farben, wie trinkende Vögel. Kommt auf langen, zarten Schenkeln durch die fließenden Edelsteine gewandelt bis in die Mitte des Raums: steht nacktklar im gewalttätigen Licht. Schräg schlagen Flimmersäulen von Purpur bis Violett hart durch den feinen Körper, durch Hals – Herz – die fingerdünnen Weichen hin: ein junger Büßer steht gepfählt an ein geheimnisvolles, sehr wonniges Martyrium, das er auf weisen Lidern trägt.
Dann weicht die Luststarre allmählich holder Ungeduld und magischem Sang der Glieder. Was rhythmisch wechselnd von Strahl zu Strahl durch die Farben gegangen, ist jetzt ein neues, ganz liebliches Gemüt – dem Licht nicht mehr entgegen. Es wiegt und spielt sich, löst sich ganz, zu schwingen, heller wie Geist, in strahlendem Äther, wie die gleitende Welle im Leib eines diaphanen Meergeschöpfs: Sylph vom fließenden Licht.
Es schaute der Knabe Adorant. Und die zerfallenen Hälften der Welt: die voll feurigen Atems unten – die zeitlos ätherische oben, schlossen sich in ihm zu einer Vollendung. Denn was durch das Auge eingeht, wandert den Weg der Entzückung ins Geschlecht – den Weg der Entrücktheit zu Geist. Im Auge aber sind sie eins.
Ein Etwas um Diana Elcho ließ Erasmus sich ihr zuneigen:
»Was ist, ›Beleberin der Herzen‹?«
Ihre Wimpern wiesen vor sich, stürmischer Sieg stand auf in dem jünglinghaften Gesicht:
»Jugend soll unaufhörlich Feste feiern! Jugend ist das Leben. Welcher Wahn, welche Torheit sie in Vorbereitung auf das Leben verschwenden, also auf etwas, das mit ihr selbst erlischt. Alles den unlädierten Wesen. Es lebe die Immatura.«
»Falls die Erziehung vor der Geburt vollendet war, dann« – er verbeugte sich leicht gegen sie »mögen die Feste in Freiheit kommen.«
Sie nickte. »Wissenswertes läßt sich ja so nicht lehren, nur gebären, das ist: unbeirrbarer Sinn für das Echte. Er, aus dem die unbeweisbare, allmächtige Prämissenbildung aller Urteile erfließt. Das geht nicht von Mund zu Ohr, nur von Blut zu Blut. Die wahre Alma mater aller Fakultäten, Fähigkeiten bleibt ewig die Plazenta.«
Ihr Auge weidete auf den Farbensäulen, in die sie das Licht zerbrochen, so groß sonst nur als unfaßlich freie Glorie über Wolkenrändern – hier von einer Frau in ihr Gemach verdichtet, gezwungen, es zu füllen bis zum Rand.
»Bildung« – eine Welle rann unbewußt durch ihre Hand und wie eine Erhellung in die Luft hinüber – »alles liegt schon im Wort – ›gebildet‹, was von innen heraus ringsum ausgeblüht, sich planmäßig Gestalt erzwang: Struktur. Im Gegensatz zu dem, was noch amorph ›ungebildet‹, ein Haufen Schlauheiten – Meinungen, Instinkte – Urteile bestenfalls. Erbmassen, durcheinanderkollernd wie Schrotkörner in einem schlaffen Beutel, an den Schwanz eines kopfscheuen Affen gehängt.
Nein, Bildung ist keine Angelegenheit des Großhirns, – ist Puls, Haar, Haut, Geschlecht – das – das.«
Und ehrfürchtig, fast zaghaft, fast ein wenig errötend, nahm sie, wie etwas über die Maßen Köstliches, Gargi in ihre Arme, die lautlos in die halbdunkle Apsis zurückgeflogen kam und mit Füßen – schmal wie Schwalben – durch die Fesselringe in ihre Sandalen aus weißem Antilopenleder. Bückte sich zugleich nach dem Stück silbergesäumter Seide am Boden; drei, vier unbegreifliche Griffe: ein Sarong. Vor Sekunden noch nacktklarer, halbdurchscheinender Sylph, stand Gargi nun da, ganz Dame wieder und bekleidet ohne Fehl.
»Die Erziehung eines Kindes hat vor seiner Geburt vollendet zu sein.« Diesem chinesischen Lieblingssprichwort treu, hatte Diana Elcho sich zwar stets bemüht, ihrem Sohn die besten Lebensgelegenheiten zu schaffen, es aber völlig ihm überlassen, wie er sie verwende.
Stets erreichbar, wenn er sie brauchte, war es gerade ihr Stolz als Mutter, möglichst wenig gebraucht zu werden, es sei denn in bewußtlosem Wohlgefühl organischer Nähe. So genossen beide gesegneter Freiheit voreinander, die der älteren ermöglichte, ihr schwieriges und vielfältiges Leben restlos auszuwirken.
»Denn,« – hatte sie einmal zu Erasmus geäußert, – »wer sich nur als Durchgangsglied empfinden will, wird auch nur Durchgangsglieder hervorbringen. Wer nicht den langen Atem hat, über die Elternschaft hinaus an der Linie eigener Vollendung fortzuwirken, wer sich unter irgendeinem Vorwand ›aufgibt‹ – ›aufgeht‹ in seinen Kindern, wie er das beschönigend nennt, belastet mit verschleiertem Bankrott die eigne Nachkommenschaft. Wie der fette Alb auf Sindbads Rücken hocken seine ranzigen Träume – sein fauliges Versagen – als ungetaner Lebensrest auf ihrem frischen Dasein, seiner Seele totes Gewicht, weil er sich ihnen ja ›geopfert‹. Nein, diesen Mütter- und Weibertrick macht ein Mensch mit Selbstachtung nicht mit.«
Die besten Lebensbedingungen. Neben der Schöpfung des Hauses Elcho war Gargi zu seiner ersten Frau zu gewinnen die schwierigste gewesen. Hatte Hilfe gesucht bei der Rani von Travankor, der jahrelange Freundschaft sie verband.
Die Rani zog die langen Augen schmal zu einem Phosphorband, dann mit fernem Lachen in der Stimme, auf alles gefaßt: »Eine Brahmanin«? –
Die andre neigte »nein«. Wußte: es war unmöglich. Und wäre es selbst denkbar gewesen, aus einer der vierundsechzig Stufen, in die – nach Reinheit des Blutes – die Kaste zerfällt, Horus ein Wesen zu gatten, ihr eigenes Gewissen hätte verwehrt, daß planvollere Blüte des Menschentums, als ihrem Sohn zu sein vergönnt, durch ihn gemindert werde an sinnlicher Lebenshaltung; betrogen vielleicht um seine köstlichsten Reaktionen, jenen nur an letzter Wechselwirkung entflammbaren, die nur der von Schauern ganz erfüllte Weg ans Licht zu treiben vermag. –
Daß eine Kette zerriß von solcher Verzartung, Verdichtung, Verglutung der Instinkte: Kette, der jede Generation in Selbstbezwingung bis in den Schlaf hinein, an Wahl der Nahrung, in Atmung, Gedanken, Gebräuchen ein Glied hinzugefügt, – daß so etwas zerriß; ihr einziger Sohn war es nicht wert. Sie hatte zuviel Ehrfurcht davor. Es war zu kostbar, hatte Jahrtausende gekostet.
Sagte leise: »Entsetzlich zu denken, wieviel die Frau in der Liebe riskiert.«
Die Rani sah den Weg des Worts zurück, daß er frei von Anmaßung, spürte das Menschliche, wurde milder.
»Also eine Kshatriya? – Suchen Sie – als mein Gast –, man wird sehen.«
Sie suchte inbrünstig und lang. Fand ein Wesen vom Typ der kindlichen Prinzen auf persischem Elfenbein: unter Agraffen Augen der Antilope, von grünlichem Libellenkörper, dem seidnen Galoppsprung ihres Hengstes unbegreiflich lind und kühn vermählt. – Hingerissen umfühlte, umwitterte, verglich sie jetzt eignes Blut mit jenem. Erkannte, wie und wodurch in seltenen Fällen sich der Spitzentypus Europas: das Normannisch-Angelsächsische mit Arisch-Asiatischem berührt.
Hier erst schien Ehe möglich, eben jene Anziehung, die sich aus den Wesenskernen zweier Menschen immer wieder erneut. Polare Wesen, parallel geboren, denen die » lendemains« erspart sind, weil sie gleichen Ranges, und die purpurnen Nächte beschieden, weil sie Pole des Ausdrucks. Denn jedes Geschöpf will ja soweit aus sich herauslieben wie nur möglich, damit das Gefälle der Lust – der Bogen der Spannungen wachse, dann hineinstürzen in eine Erlösung ohnegleichen. » Fall in love«: in die Liebe fallen; doch wer möchte in die Ehe fallen? Das Wunder über allen Wundern; daß die ewigen Fremdlinge: Mann-Frau in vorbestimmter Harmonie die gleiche Lebenslinie wandern; wie unverantwortlich, dieses fast perverse Wagnis einem schauerlichen, vielleicht verspäteten Zufall auszuliefern. Nur Menschen, die in ihrem Frühling sind – fremdartig – gleichkastig, mag vielleicht ein gütiger Eros das Helle mit dem Heißen, Tag und Traum, Licht und Blut in einer Schale reichen. Und wenn es mißlang! Sie haben von der Morgenröte im Aufgang getrunken – kein Gott kann ihnen das mehr rauben.
Entflammt jetzt, machte sie das Unmögliche möglich. Mutterrecht erleichterte. Das war in diesen kleinen, von Mohammedanismus verschonten Reichen Südindiens nie ganz erloschen. In Travankor erbte sich sogar die Krone in weiblicher Linie fort, und lagen die Weltgeschäfte auch in des Rajah Händen, Bräuche straffer wahren, oder leise lockern, einfach durch innere Haltung, das wehte von der Rani aus wie Schleier, Rauch der Harze aus ihren Gemächern, aus ihren Gärten Staub der Fontänen. Endlich durften alle Abgründe als zur Not überbrückt gelten. Nach Kautelen, Garantien aller Art; Bräuche, Erziehung, Lebenshaltung ordnend – eventuelle Rückkehr auch. Als Gepränge und Zeremoniell der Scheinehe vorbei waren, brachte sie Gargi – zehnjährig – heim.
Ihren Schoß erzog Agai, ihre Glieder Sigiria, die Tempeltänzerin, Erasmus ihren Geist, und alles Diana Elcho. Hatte sie durchdrungen, bis Seele durch jede Zelle wie Saft in Pflanzen stieg, jedes Gefäß geschmeidig zu Geschmeide, bis alles Anmut geworden, Takt und Licht. Hirn, Becken, Darm, Zehennägel, Atem, Stimme – ebenbürtig eins dem andern; zusammen freie Diener jenes Unbegreiflichen, nie zu Erklärenden, nur zu Fühlenden: Harmonie, Persönlichkeit.
Agai, »die Gewalt der Brandung«, hatte jetzt ausgesorgt. Hockte gleißend schwarz umher. Fletschte Wonne, beschenkt und stolz. Wartete auf ein Schiff in die Heimat, von einer ganzen Mädchengeneration zwischen neun und dreizehn dort im Schulhaus erwartet. Freute sich auf die Männer – nach drei Jahren. Unter allen Tropenstämmen verstehen die Suaheliweiber sich am besten auf die glühende Kunst: frei sein. Auf das Frauenrecht: Mutter aus Wahl – nicht Zwang, Herrin, nicht Sklavin der Generation. Und das durch Überhöhung, nicht Hemmung der Hingabe.
Atmen des Schoßes. Das Schließen und Spannen, Entgegenschwellen dem noch Unbekannten. Die verborgenen jungen Innenwände geschmeidig übend so zu erstarken, daß zu den Gezeiten des Eros aus ihnen die Mondwelle sich der Sonnenflut entgegenwerfe, sie fort- und überspüle an trunkener Kraft. Nach jedem Liebesstrahl wie mit inneren Zauberzangen den blumenglatten Ring zurückschließen in Unberührtheit.
Das alles hatte Agai, »die Gewalt der Brandung«, gelehrt.
Mit dem Frühlingslauf zur Höhle der weißen Träume endete ihr Amt. Sie heulte und grinste Abschied – leckte tierhaft hingegeben die Fersen ihrer jungen Herrin, kniete dann auf und übergab einen erbsengroßen Mondstein dem inneren Griff der geschmeidigen Schließkraft:
»Agai denken – immer halten – bei Tag.«
Gargis Arme kamen um ihren Hals geflogen: »Agai«.
Doch die dunklen Handflächen hoben sich nach außen gespreizt bis zur gesenkten Stirn, wehrten ab, wie ein verkehrtes Gebet.
So schritt sie, voll Würde in ihren Grenzen, langsam hinter sich und durch das Tor der Bäderhallen hinaus, über denen geschrieben stand:
»Welche Schmach zu altern, zu sterben, ohne die ganze Herrlichkeit, deren unser Körper fähig ist, kennengelernt zu haben.«
Dann bog das Auto mit Agai aus dem Park. Der japanische Chauffeur brachte sie zwei Tage weit nach Trinkomali, der nächsten Anlege.
Kraftanlagen wurden nötig: eine Niederdruckturbine in die Mahaveliganga – eine Hochdruckturbine in den Wasserfall eingebaut. Genügten nicht. Man schloß mit einer Firma in Jokohama ab. Gelbe Ingenieure kamen, redeten aus Notizbüchern in Differentialgleichungen, überwachten später die Montagen. Horus lebte nur noch im Maschinenhaus. Zum erstenmal vor dem Gehäuse der Dampfturbine, stand er wie unter Ätherrausch. Ein Liniensturz, an Geschlossenheit unbekannt in der organischen Welt; von einem geraderen Willen erschaffen als höhere Ordnung der Dinge. Ein Liniensturz, erzwungen von dem Gaswesen in ihm und es bezwingend zugleich. Aus Hunderten haardünner, metallner Schaufeln im Innern – jede einzeln, jede anders voll Genie in den Druck geneigt, erfloß hier ein neues Kurvengeschöpf; wie das Gesetz es befahl. Das Wort »Kontinuum« kam aus dem Magischen herab – ward Grenzfall von Schaufel zu Schaufel, fast greifbar – unbegreiflich.
Eine Ader auf der Stirn stand er im Ozon des stillen Kraftsaales: Hörselberg nüchterner Phantastik. Stummgeladne Weite, vibrierend von Spannung, ließ seinen Speichel metallisch zittern, hob ihn an den Nieren in die Höhe – durch alle Isolierung hin. Ein Rund aus riesigem Tod, der draußen – transformiert – das Dasein leichtmachte, hell, Mühsal abnahm.
Ging dann wie abbittend hinüber zur alten Dampfmaschine. Konnte ganz versinken in ihre achsenglatte Wucht – das Anschwellen einer Nabe – die Wunderform der Welle, wenn Reibung Fortbewegung ward.
Und wie schön, daß dies alles diente: dem Leben untergeordnet als Zweck, wiewohl übergeordnet als Form.
Latentes brach jetzt aus, langhin vorbereitet durch Werkzeuge, Jacht, Rolls-Royce. Er fieberte nach Schöpfung, nicht ohngefährlichem Wissen – saloppem Verstehen, wie bisher. Selbst Schöpfer werden in dieser reineren Nebenwelt aus Zweck und Zahl.
»Gut – aber mindestens fünf Jahre Arbeit.« Van Roys Mund konnte sehr hart werden. »Keine Edelspielerei, keine Rosinen aus dem Kuchen.« – »Intuition –? So, da ginge es vielleicht rascher. Meinst du? – Nun, man kann Höhen erfliegen oder ersteigen. Erflieger kennen vier Quadratfuß Gipfel. Ersteiger den ganzen Berg. Schritt um Schritt. Von jeder Spanne Rechenschaft ablegen können – den Weg besitzen – Möglichkeit, ihn immer wieder zu gehen, ist Wissenschaft. Gauß hat einmal gestöhnt: ›das Resultat hab' ich, wüßte ich nur schon, wie zu ihm gelangen‹. Kepler sah in einer Art Kristallvision sein drittes Gesetz: sah die ersten fünf regelmäßigen Körper ineinander eingeschrieben als die mittleren Planetenabstände von der Sonne; eine kosmische Beziehung als Klumpen Stereometrie. Sehr schön, aber wertlos noch, ohne Beweis. Ein abgerissener Tropfen Genialität im Leeren.
Nein, ich werde dir nichts schenken. Denn bleibt irgendwo unten, auf einem Seitenpfad, auch nur die kleinste Lücke, unvermutet aus der Höhe wird eines Tages deine ganze Weisheit gerade in dieses Loch fallen, wann es dir am wenigsten paßt; ja, dieses spezielle Loch im Wissen wird plötzlich überall vor dir sein, und du wirst aus allen Himmeln steigen müssen, es zu stopfen oder ewig Dilettant bleiben.«
»Aber dann – nach fünf Jahren – werde ich auch vor weißen Meistern bestehen können?« und erbleichte schon der eignen Ungerechtigkeit. Stand ja hier vor einem weißen Meister. Große Namen unter Widmungen – wüßte er es sonst nicht – zeugten dafür.
Erasmus schien belustigt. Dann, einen langen Weg in der Stimme: »wenn ich dich einmal auslasse, kannst du getrost deinen Dr.-Ing. in Charlottenburg machen.«
Eines Tages stieg aus dem Drillbohrer eine Frage und wuchs in eine wundervolle Vision:
Wie mögen Wesen aussehen, die das erdacht? Wenn bereits dies geringe Werkzeug hier: etwas, das nichts als ein Loch in ein Stück Ding zu machen hat, mich so mit Entzücken schlägt, wie erst die Herren solcher Diener. Die weiße Rasse: wohl Wesen, wie aus Schnee und Gold, kühn, arglos, wahr und anmutig. Ganz frei geworden an den gleitenden Erzgeschöpfen ihres Haupts und ihrer Hände, in ein ohnegleiches Cherubtum hinein! Ihr Dasein eine ganze solche Welt. Arbeit: Schöpfung – nicht Erschöpfung mehr. Was ihn so hinausriß über sich, waren ja erst Abfälle ihres Lebendigen – leeres Gehäuse – das wie Muschelschalen kam, an seinen Strand gespült.
Oder diese Gelben mit ihren Notizbüchern: gleich Gesandten aus Wunderländern, Märchenboten mit Kostbarkeit: da greift einer in die Tasche, etwa nach dem Taschentuch, streut dabei zufällig ein Vergessenes mit heraus, ein Dortiges, achtet's gering. Und wie da ein Staunen anhebt, alles sich sammelt um das Niegesehene; so wenig wußte er ja noch. Hatte allerdings damals ein bißchen gehofft, auch europäische Ingenieure würden kommen. Das war wohl anmaßend gewesen; gerade ihm, Horus Elcho, sollten weiße Herrn der Welt höchst persönlich ein Kraftwerk bauen! Dazu waren Hilfs- und Schülervölker da. Auch mochten ihrer wohl wenige sein. Der lebendigsten – adeligsten Geschöpfe sind immer wenige. Nur Träges wirft drauf los ohne Hemmung: Karnickel, Schweine. Ihr Wurf die Beute aller. Wer durch Kühnheit und Weisheit ungefährdet geworden im Äußeren, darf inneren Stimmen horchen, selten zeugen – in lebendigsten Augenblicken nur – aus feinster Wahl.
Nicht ganz unebenbürtig fühlte er sich hierin der weißen Welt. In diesem ihr ferner Sohn, kein Fremder. Wenn sie alle auch gewiß weit schöner, an der hohen Luft ihres Lebens vollkommener geworden als er. Vielleicht war höchste Sprosse hier unterste dort? Oder überhaupt alles ganz anders. Anschauung fehlte eben.
Warum? wieso fehlte sie?
Er stieß zum erstenmal gegen das Sonderbare in seiner Erziehung – blieb perplex.
Kannte nur Wissenschaft, Technik, Musik der weißen Rasse. Nicht ihre Körper, noch den Geist ihrer Körper: Bräuche – Sitten. Also nichts. Warum? Schwieg dazu. Hatte zu oft die Köstlichkeit des Schweigens erfahren. Ihm schien, er hätte durch die Unzartheit der Frage schon volle Befriedigung aus der Antwort vertan. Hier lag ja offenbar ein feiner, höchst komplexer Plan zum Grunde; fragloser Einweihung allein war volle Freiheit, Weite gesichert, nur sie befriedigte ganz, weil nicht von vornherein in den Engpaß einer Frage gezwängt.
Und dann wurde er langsam sehr glücklich, denn er meinte verstanden zu haben.
Hatte sich oft vor Gargis Augen, oder auch manchmal vor nichts Besonderem: einem Zweig, eines Zweiges blauem Schatten, was man so »nichts« nennt, in einen jungen Löwenwurf hineingeträumt, den eine dünne Haut noch von der Lichtwelt trennt. Das saugt, tappt umher, atmet, glaubt sich schon ganz geboren, und dies sei nun eben alles. Da reißt die Eihaut des Auges, in unerhörte zweite Lichtgeburt. Und welche Chance, daß unter allen Europäern gerade ihm – als erwachtem Menschen – solch zweite Lichtgeburt in die weiße Welt sollte vorbehalten sein. Durch seine Mutter. An allen Nerven überflutet werden, wie nur ein Entblendeter überflutet werden mag, in den erster Sonnenaufgang hereingebrochen kommt; diese ungeheure Freude hatte sie ihm gönnen wollen, weise aufsparen für sein erwachtes Herz.
Wann? Bis er reif, würdig geworden. Fähig, es ganz zu genießen.
Arbeitete von nun an so, daß Erasmus meinte: »Vier Jahre nur – vielleicht.«
Da suchte Horus nach einer Wendung, wiegte sich, funkelte in ihr – wagte es schließlich doch – sagte schüchtern, etwas zögernd, zum erstenmal: »Wir – wir Europäer.«
Dies ungeheure weiße Dasein, von ihm gebildet aus dem Hellsten, das er kannte: hohen Violinen – gleitendem Nickel; geisterhaft ging es immer mit, durch alles Tun, ragte ätherisch herein; ihm straffte er sich entgegen, durch jeden Alltag hin. Doch gab es Lieblingsstunden, da nahm er es träumend vorweg, meinte sich ihm nah. Etwa an der Orgel als brausender Gott, Demiurgos in Person, wenn er mit einem Griff den Wald in der Hoboe erschuf, sumpfiges Grunzen der Büffel im Kontrafagott, und zu diesen das schrille Silber stieß aus den flimmernden Registern. Eisblaue Knabenstimmen dazwischen aus mutierendem Metall. Nun trat sein Fuß mit dem Starrsinn seiner Ferse aus dem Tiefen wuchtendes Gesetz, jenes, nach dem die Gestirne und die großen Herzen wandeln. Das stampfte ins Silber hinauf, rüttelte an waldigen Schultern, bis alles umschwang in die Doppelfuge seines Tierkreiswillens.
Jetzt, durch alles hindurch, ließ er ein Wehen anheben auf der dritten Klaviatur, schlingendes Pfeifen, das zum » grand jeu« wuchs, Klanggischt an die Wände warf, aus Ertönen Ergreifen machte – den Raum ergriff, wie jene grenzenlose Hand aus Hauch sein Herz, um es nach einer andern Sternenstunde einzustellen. Ortlos, ein Scheinwerfer aus dem Unendlichen, stand es wieder als Blick auf ihm – brach ihn auf – blühte ihn auseinander. Da wußte er sich im Sehfeld des Aschenauges – stark, wehrlos und geborgen. –
Durch geschlagenes Glas fiel die Oktave des Lichts in den erschütterten Raum, und nun vermeinte er Newton zu sehen – als Kind, wie er zum erstenmal in den Klang der großen Orgel tretend aufsah, glaubend, nur aus der Farbenrose oben im Dom könnten diese Stimmen kommen.
Da neigte er sich dem kindlichen Schemen tief. Schloß die Orgel.
Nüchterner gestimmt, zog er zuweilen Resümees: was er wußte, erschloß Neues daraus. Nach eigner Meinung sachlich kühl. Das war dann Reiz und leichte Qual. Wie Streichen um den verhangenen Geburtstagstisch früher Jahre. Hätte ja sogleich eine Ecke lüften können, das Auto nehmen und in zwei Tagen Orte erreichen, wo – er wußte es wohl – Europäer lebten oder durchreisten. Als verstreute Fremde in fremder Umwelt. Nein, so nicht. Hatte vor einem Jahr noch weiße Ingenieure erhofft, ehe er diese Feengabe seiner Mutter: diese lebenslang vorbereitete, köstlich einzigartige Erschütterung, die seiner harrte, recht begriffen. Jetzt nicht mehr. Blind bis zum Sonnenaufgang. Nur Vorfreude träumen, aus Vorzeichen bauen, sich bereiten – für dort.
Mit den vier großen Sprachen Europas war er von Kind auf vertraut. Wundergefüge, aus unbegreiflich schwebendem Geist, wie alle Sprachen. Doch Schößlinge nur, sogar weniger breit gewurzelt und fein in der Krone wie der Mutterbaum: Sanskrit. Er konstatierte das gerne; bewies sich Objektivität damit. Europäer redeten eben außerdem in neuen Sprachen – über dem Wort, in Gleichungen und Musik. Euler, Beethoven waren ihre Grammatiker. Auch er, Horus Elcho, sprach europäisch: vor dem Reißbrett in der Gleichung der Lemniskate – vor dem Cello im Cis-Moll-Quartett.
Ging dann in den Abgußsaal. Blieb nicht mehr vor den Ägyptern wie früher; blieb vor dem zeitlich Letzten dort: den Griechen. Wenn die weiße Rasse schon vor zweieinhalb Tausend Jahren – in ihren Outsiders – so wohl geraten, in dieser kleinen hellenischen Provinz, die wie eine Seeanemone ganz unten vom Rand des eigentlichen Kontinents abwehte; von da in gerader Linie, ungehemmt, ansteigend, wie verfeinert, in Anmut ganz gelöst mochte sie heute schon sein? Sich zu jenen verhalten wie etwa eine Schwebekonstruktion zu einem Pfahlbau. Waren doch die blumenäugigen jungen Rehmenschen Indiens an Linienblüte, Adel des Aufrisses über den griechischen Kanon vielfach hinausgewachsen, besonders die Frauen, und lebten doch noch erdgebunden nach alter Art.
Eigentlich nur hellenische Köpfe – jene wenigen aus bester Zeit – beglückten ihn echt, durch Unzerrissenheit, Wohllaut, mit dem sie in den Leib hinüberlebten. – In dieser schwierigen Süße, heimgekehrten späten Schlichtheit Lysippscher Häupter, sah er sie gerne wandeln, seine weißen Herrn des gleitenden Erzes.
Konnten sie denn überhaupt noch das Weltwesen vor Jahrtausenden auch nur begreifen, etwa ihrer homerischen Vorvettern, die noch Kriege geführt, sich Spieße in den Leib gerannt, sie, deren kühne Not – Siege – Leiden in transzendenten Schlachten, auf Geisterpfaden sich erfüllten! Auf dem wundervollen Abenteurerweg der Physik, dem verwegensten Weg! Eroberer, die das Heranschleichen kannten, gespanntesten Sinns, zitternd und eisig zugleich, der Erscheinung den Lasso überzuwerfen, um sie als Strahlen, Kräfte, Elemente umzugießen in Ungeheuer aus gebändigtem Geist.
Wie ihre Frauen wohl aussehen mochten? Gewiß Gargis Linien in den Farben Diana Elchos.
Ihr Wesen: aus dem der Pallas und Nausikaa gemischt.
Und das alles stand ihm noch bevor; das alles aber hatte er auch einer Frau zu bieten, die ihm angehörte. Dachte froh bei sich: »Und sie weiß noch gar nicht, was ihr da blüht.« Sagte seither auch zu Gargi: »Wir – wir Europäer.«
Am Anfang seiner technischen Ekstase, verbohrt in Exzentergetriebe, Turbogeneratoren, Ventilsteuerungen, konnte sich Horus oft erbosen, schlenderte er mit Erasmus durch die Pettah. Nicht über die edlen Maße ihrer epischen Menschen – das mochte hingehen. Auch war er mit ihnen allen in einer Art dauernder Liebeshellsichtigkeit, sorglos, ohne manischen Zwang der Lustvollendung, dank seiner Kinderehe. Der gleichsam genießende Gang des Schikari Aditja gefiel ihm in seinen Augen, wie das Geruhsame in Ganapati Sastriar, zu dem er immer noch gerne ging. Doch die Dinge – die Geräte, das gehörte sich nicht.
»Warum ist so ein dummer alter Brunnenrand so schön, wie kommt er dazu?«
»Nur weil er so alt ist,« tröstete Erasmus, der sofort wußte, um was es ging. »Dinge, beschlafen von der Zeit, zerbrechen in ihren Armen oder gebären eine Art Vollendung.
Diese dunkle Glätte an Bolzen, alten Stalltüren, an Trögen, Brunnenrändern; warme Griffe – Tiermäuler ohne Zahl haben sie ausgekurvt ins Endgültige. Vielleicht scheinen uns die wenigen antiken Torsi so edel, weil die Zeit – ein unbestechlicher Kritiker – unerbittlich entfernte, was gegen den Geist des Materials. Was daran überhaupt abbrechen konnte, war eben falsch. Der verbesserte, endgültige Umriß – der Ewige ist, was wir bedauernd ›nur‹ einen Torso nennen.«
»Dann vermag aber die Zeit doch lediglich weg zu nehmen?«
»Allerdings. Darum vermöchte sie allein wohl nie, durch bloßes Abschleifen, die Vollkommenheit einer Helice zu erzeugen, weil ihr hiezu das Konstruktive fehlt. Aktive Schönheit der bloß passiven gegenüber. Diese wird primär von innen heraus vollendet, – sekundär, von außen hinein – jene. Echt aber sind sie beide. Und wie echt zu echt stets paßt, so deiner Mutter Haus, bei aller Verschiedenheit im Konstruktiven, zu dieser Pettah – zu diesen Brunnen, Trögen, Türen, Bolzen.«
Horus erstaunte. »Ja, gibt es denn auch auf der Welt ›unechtes‹ Gerät? – Wo? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Etwas eigens für etwas machen, zu dem es nicht taugt. Ungeratene Geräte!«
Er lachte. War's aber im übrigen zufrieden. Gab nun im Vorübergehen Brunnenrändern ab und zu einen aufmunternden Klaps in die läuternde Zeit hinein, sich ja fleißig von ihr aussparen zu lassen, da ihnen nun einmal das Glück versagt geblieben, aus dem Geist europäischer Technik entsprungen zu sein.
Erasmus aber sagte schnell etwas Falsches – etwas ganz und gar Banales; hatte schon zu viel besser gewußt heute. War auch je und je auf der Hut gewesen, sein Axiom zu verraten, auf welche Art ein Mensch das Höchste aus sich zu ziehen vermöge: mindestens zwei, von einander so weit wie möglich abliegende Wissenschaften betreiben und dazwischen versuchen, in einem Sport der erste zu werden. Er ließ Horus selbst darauf verfallen.
»Du hast immer einen so wunderbar durchbluteten Geist,« meinte dieser eines Tages. Er war ins Laboratorium gekommen, Erasmus zum Bade abzuholen. »Woher das kommen mag?« Er hatte ihn in vorzüglicher Stimmung getroffen.
»Weiß nicht. Vielleicht, weil ich faul bin. Ich ruhe mich immer so schön frisch aus: vom einen beim andern.« Sie liebten beide, wo es anging, kindliche Diktion. Schätzten den Reiz gepflegten Vorsichhinblödelns zuweilen.
»Und dazwischen schwimmst du wie toll, besser sogar wie Aditja – so gut wie die allerbesten Krokodile. Aber das wird es eben sein: erst da denken – dann ganz wo anders und dazwischen gar nicht – nur leben, die Nerven entlang das letzte herausholen für etwas, das so vornehm ist, keinen Zweck mehr zu brauchen.«
Eifervoll entwickelte er nun alle Vorzüge polarer Interessen rechts und links von einem Sport. Da Erasmus zu zweifeln schien: »Du glaubst mir nicht – an mir selbst will ich es dir beweisen.«
Nach einem halben Jahre kam er dann und klagte ein wenig:
»Es scheint mir manchmal, als gebe es gar keine ›weit auseinanderliegenden‹ Gebiete. Ich wenigstens kann keine finden. Immer dort, wo es wirklich interessant wird oder wichtig, scheinen sie zu konvergieren, und im Ganzaufregenden, da schneiden sie sich sogar.«
»Schade,« meinte Erasmus, »also ist der Kosmos zu pover geraten, als daß man im Auf und Ab an ihm einen – wie hieß es – ›gut durchbluteten Geist‹ bekommen könnte. Somit fällt die ganze schöne Theorie dahin.«
»Aber du selbst bist doch gegen deinen Willen mein lebender Beweis, und ich werde noch der deine werden. Diesen senilen Starrsinn aber,« – – er kniff ein Auge ein, – »muß man brechen.«
Unentstellt – wie ein kühnes Tier, eine Gazelle, aufkniet hinter der entgleitenden Geburt – so schloß sich Gargi hinter ihrem Sohn. Jetzt achtzehnjährig. Doch schon am Morgen ihrer Mädchenschaft hatte sie zu ringen begonnen um diese neue Jungfräulichkeit, jenseits des Kindes.
Ihr und aller indischen Damen scheinendes Ziel: jene Sultana Mumtaz i mahal, die ihrem Gatten mit jedem Knaben sich selbst als Mädchen wiederschenkte. Und Schah Dschehan wertet es weit höher als eine gewonnene Schlacht, denn hier ward durch Zucht, List, Mühsal, Mut, Hingabe, das Glück zurückerobert, – enthauptet sogar die Zeit, von dem zarten und zähen Willen, der aus jeder Geburt sich eine neue Unberührtheit für seinen Herrn erzwang. Sieben. Die Achte wurde ihr Grab – und: der Tadj-mahal. Denn in seinen Kuppeln standen leuchtend die sieben harten Marmorkelche ihrer Jungfrauschaften wieder auf. Nicht als Bauwerk zu werten, noch Kunst: der Tadj-mahal ist die Sehnsucht des Mannes nach dem Kelch des Glücks.
Und so groß war Schah Dschehans Sehnsucht nach der Heimat dieses Kelches, daß er durch Blumen und Flammen seines immer erneuten Harems hindurch ging wie ein Schwert, dreiundzwanzig Jahre lang, und nicht müde wurde, die Weiße des weißesten Marmors zu prüfen, gegen das Gold und Grün der Lasuren, ob sie seine Weiße erhöhten. Ließ plötzlich die Flanke eines Berges auseinanderreißen in der Hoffnung, seine Tiefe sei heller noch, ähnlicher im Adergang.
Die eckigen Wasser aber, in denen alle Weiße sich spiegeln sollte, ließ er noch auf ihrem Grund mit geschmolzenem Silber ausgießen, und aus seiner unzerstörbaren Sehnsucht preßte er die Erinnerung an ihren Duft, ließ das Geheimste aus den Korollen und die Drüsen aus den feurigsten Tieren reißen, und manchmal meinte er, das Laue in der Luft sei es und warf, die Arme darum, bis endlich – endlich die Alchymisten Arabiens, die Sanjassins Hindostans aus dem Fruchtfleisch der ganzen Welt es ihm erpreßten.
Da stieg die Essenz des Duftes der Mumtaz i mahal als sieben Quellen aus dem Spiegelbild des Marmorkelches in den eckigen Silberwassern. Weiße Nachtigallenmännchen, deren Flügel in Netzen aus Rubinen lagen, tranken Trunkenheit daraus, daß ihnen der fließende Duft klingend aus den heißen Herzchen barst zum Preis der sieben Jungfrauschaften, die sieben süße Kinder waren.
Das ist zu Agra das Grab der Mumtaz i mahal: das Grab der Krondame. Als es vollendet war, ging Schah Dschehan noch einmal ein in ihren tiefsten Kelch, und das für immer. Seine Asche ergoß sich ihr.
Im siebenten Jahr nach dem Frühlingslauf zur »Höhle der weißen Träume« brachte Horus aus China eine zweite Gattin mit, als seine erste legitime Nebenfrau. Seine Mutter, Gargi und er hatten die Regenzeit zu einem Besuch jener südchinesischen Provinz benutzt, deren Statthalter damals vorübergehend Lady Dianas alter Freund Li-Hung-Tschang war.
Wieder ostwärts, auch diesmal, statt nach Westen! Seit der weiße Kult von Horus Besitz ergriffen, war es schier zum Staunen, wie Hindernisse förmlich aus dem Nirgends her sich niederschlugen wider seinen Wunsch. Nicht von Menschen kommend. Warum auch? Wo alles ihm so wohl wollte – insonderheit seiner Mutter keine Mühe je zu groß, kein Preis zu hoch erschienen, galt es etwa Beschaffung eines neuen Instruments für ihn aus Glasgow, aus Jena. Wie edler, körperhafter Gruß der weißen Rasse, war jedes durch das Medium ihrer großen Liebe in seine ehrfürchtigen Hände überliefert worden. Nun aber, als Schüler von Erasmus längst entlassen, als Mitarbeiter – Ebenbürtiger, fühlte auch er sich würdig, nach dieser weisen, planvoll steigernden Gewöhnung, die Klarheit solch einer ganzen Welt zu atmen.
Stillschweigend schien all das ja längst geordnet – beschlossen. Einmal aber hatten technische Verbesserungen am Graphitwerk: seine Erfindung, die halbe Regenzeit verschlungen – andre Jahreszeiten kamen wegen der wichtigen Kopra- und Teeernte nicht in Betracht – dann wieder war unbegreiflicherweise fast in letzter Stunde ein schwerer Schraubendefekt an der Jacht entstanden. Jetzt diese Einladung Lis!
Gargi hatten die Tänze der Königsfrauen erst nach Siam gezogen: zartschultriger Kult perverser Cherubim mit Schlangen und Ranken. Die äußern Behelfe: Stachelhelm, rieselnde Schnüre, irre klirrendes Metall, von Silberflöten durchküßt, wurden ihr Gastgeschenk. Dann verließen sie das Land der grünlichen Frauenblüten; nicht zum wenigsten bereichert um je ein Pärchen Tempel- und Palastkatzen, den zweierlei siamesischen Spielarten; silberbraun beide mit saphirblauen Augen, Tiere, die sich halten wie ägyptische Götter und einfach sind wie ein ganz großes Kunstwerk.
Wie immer auf Diana Elchos Reisen, wurden alle Hafenstädte gemieden, in denen ein entraßtes Esperanto des Vordergrundlebens den Lack hätte zerkreischen können um diese Porzellan- und Seidenwelt. In entlegener Bucht warf die Jacht Anker. Riksha-Kulis, Reit- und Tragtiere geleiteten die bald Vertrauten in das schwerfällig-milde Reich des Mitten-Innestehens, und seines Herzens Spruch –
»Mach süß ihre Speise
Und schön ihre Kleidung,
Freundlich ihre Wohnung
Und fröhlich ihre Sitten.«
Gern als Gäste in Häusern, die Lis Empfehlungsbriefe auf langen Seidenblättern ihnen öffneten, lernten sie die Verschlingungen des treuherzigen Drachens: Höflichkeit. Er sperrt sein Maul auf, und die Zeit fällt hinein – gar nicht abzusehen, bis wohin.
So übten sie die Zeremonie des Reichens und Empfangens – Kult des Grußes, des Dankes und des Abschieds. Versuchten sich auch bald in den Lauten der großgewordenen Herzenssprache: glattgeschliffene Jade- und Onyxkugeln rollen lose ihre Silben, jede eine runde Anschauung: größten Inhalts, bei geringster Oberfläche; ebenso reibungslos gegeneinander verschiebbar und sich verschiebend, wie die wimmelnden blauen Menschen selbst, von deren Lippen sie fallen. Daß diese Menschen glattrasiert an Körper und Köpfen sind, bis in Nase und Ohren hinein, scheint irgendwie auch seelisch keinerlei Widerborstigkeit aufkommen zu lassen. Gibt ihnen etwas Keglig-Spiegelndes, läßt eben noch freies Durcheinandergleiten zu. Stellte dagegen einer dem andern ein Bein, würde irgendwo etwas verfahren, verspreizt, verquert – China müßte sofort zu einem kompakten Leuteblock verfilzen. So aber gleitet das fast haßlos umeinander, in starken Bahnen einer Zivilisation der Übervölkerung:
»Sie scheint nur zwei Imperative zu kennen« – meinte eines Tages Diana Elcho – »diskret sein und ausweichen. Dieses verbürgt ein friedlich wechselndes Geschehen überhaupt. Wichtiger aber scheint mir jenes: Diskretion allein garantiert da dem Einzelnen die unerläßliche Einsamkeit, muß wenigstens versuchen, ihm Ersatz zu sein für kostbare Raumtiefe, gefressen von der Art.«
Noch nie hatte Horus so ein Gewimmel gesehen. Menschen, wie sie im fließenden Wasser warmer Quellen schliefen, einen Stein als Kissen unter dem Kopf, einen zweiten auf dem Bauch, um nicht bewußtlos ins Tiefe gespült zu werden; Menschen, die nicht wagten, mit ihren schlafenden Leibern Erde brachzulegen, auf der Reis wachsen konnte.
Hatte beobachtet, wie im Morgengrauen unbegreiflich arme Menschen aus Kanälen herausgekrochen waren, rotblinzelnd ins Licht, eine halbzerkaute Ratte zwischen den Zähnen. Die gleichen rattenblutigen Lippen aber klangen bald von einem reinen, kindlich frohen, überaus gepflegten Gruß, weil auch sie von dem duftenden Geist des Li-tai-po und Thu-fu geschmeckt hatten und skandierend seine edlen Maße über regengelbe Ströme hinsangen, wo halbnackte, vor Kälte zitternde Kulis, den kupfernen Fahrlohn ins Ohr geklemmt, Antwort gaben in Perlmutterworten sehnsüchtiger Kaiserinnen, wenn sie Fächerdüfte dem Sohn des Himmels in den Thronsaal senden. –
Und immer noch schossen Melonenköpfchen in allen Größen – blanke Mausaugen drin – in die kargen Räume zwischen den sanften Großen – ihre Mühsal zu mehren – die Welt zuzuleben, alle Natur in sprossende Chinesen umzusetzen. Horus hätte abwinken mögen: »Schon gut – genug. Dem Ahnenkult ein einziger Sohn«. Warum übte diese sinnenreiche Rasse, im Sexuellen vielerfahren, nicht, was primitiven Stämmen Afrikas weder Geheimnis noch Problem? Warum speiste nicht auch hier das lebendige Wasser im uralten Zier- und Wundergarten des Geschlechts samenlose Feuerlilien, die seinen Strahl zu glühendem Duft verbrennen?
Doch eines Abends unterlag auch er dem Zeichen der Paganinis: der Kinder.
Tief im Innern des »südlichen Blütenlandes« war ein Fest: Teebuden, Bücherstände, Shuo-Shu-Tis: Geschichtenerzähler. Massen stauten sich, Sandalenklappern verstummte, Feuerwerk begann. Horus überragte fast um Kopfeshöhe die kürzeren Südchinesen. Da stahlen sich geräuschlos von Frauenhüften, Männerhänden eins nach dem andern kleine Wesen, schlossen um den Fremden lautlos einen Kreis. Berührten ihn nicht. Belästigten ihn in keiner Weise. Die Mündchen, klein wie Knopflöcher, blieben geschlossen. Doch eine freundlich unentrinnbare Suggestion ging von dem Babykranz aus – etwas, weit zwingender, weil taktvoller als Worte. Etwas, das unmittelbar zeigte, wie dunkel und ganz zugemauert von Hosen es da unten bei einem selbst war, während um den Kopf des älteren Bruders oben Feuerräder schnurrten, Leuchtkugeln ihm nur so aus beiden Ohren spritzten, violett aus dem linken – golden aus dem rechten; Preis dem großen älteren Bruder.
Der ältere Bruder hielt sich wacker, nach eigner Wertung erstaunlich gut sogar. Dann mit eins zog es ihn – Gegner oder nicht Gegner der Übervölkerung – zu seinem heiteren Erstaunen tief herab, wie man zu einem zärtlichen Kätzchen sich niederbeugen muß, und er hob den kürzesten dieser komischen Kegel sich auf den Kopf, einen zweiten auf die rechte Schulter, einen dritten auf den rechten Arm. Freiwillig trat der erste – nach einigen Minuten Höhenrausch – den Abstieg vom Gipfelkopf, diesmal über linke Schulter und Hüfte an, damit andre von rechts nachrücken könnten. Und es begann ein Kontinuum von Paganinis pyramidenförmig über den großen Bruder hinzuziehen. Eirunde, immer wechselnde Köpfchen säumten ihn um. Eine Bergprozession gelblicher Lampions, jeder mit zwei schwarzen Lichtern drin und einem Knopfloch. Das krönende Paganini oben aber hielt stets die seidenglatten Beinchen so, daß dem gastfreundlichen Kopf ja nichts von dem großen Funkel im Himmel verdeckt würde; sah auch manchmal selbst nach dem Rechten, umspannte das fremde Lotosgesicht mit seinen kleinen Händen, um es besonders grünen unter den stürzenden Leuchtkugeln zart entlang zu führen.
Eine Art gedämpfter Vertraulichkeit begann sich aus der ganzen Situation zu entwickeln. Aus Knopflöchern hüpften Kugelsilben, um vieles heller, komischerweise um die Hälfte kleiner als bei Erwachsenen, doch herübergelebt aus gleicher Höflichkeit des Herzens. Liebes und Tiefes, weltgültiger Anstand in der Freiheit stand um diese Babypyramide wie ein junges, bezauberndes Fluidum. Versuchten die Frauen später aus ihm herauszuschmeicheln, was die Kleinen zu dem großen Kopf gesprochen, wurde er nur ausgelassen, spitzbübisch und unbändig heiter; schwur, einzig Rama-Krishna – weil er so schon alles wisse – dürfe auch das noch erfahren.
Sprache, Schriftzeichen, Schmuck: zu diesen dreien vermochte Horus vom ersten Tag ehrfürchtig das große Du zu sagen. Nicht daß er an Bauten, Bronzen, Keramik deren Echtheit verkannt hätte, ihren Anspruch auf Stil – das ist: die Dinge aus ihrem Herzen heraus mit neuen Namen nennen.
Doch seelisch an den Pythagoräern, geistig an Newton und Lagrange, optisch am Haus Elcho erzogen, sah er in jeder planlosen Weitschweifigkeit, Gewölle von Zufall an den Dingen, mit Recht einen Mangel an kritischem Ideal: jenem, so heiß, so ernst vor Leben, daß es nicht Ruhe finden kann, bis auch der letzte Gegenstand, den es erschafft, zu einer neuen Reduktion der ganzen Welt auf wenige, gerade für ihn entscheidende Linien und Flächen geworden. So war er es gewohnt, jeden Türgriff, jede Sohlbank, jeden Leuchtkörper werten zu dürfen mit der Härte ganz großer Liebe – von heimlicher Surrogatempfindung frei, in jubelnder Sicherheit, restlos beglückt zu bleiben. Bis zu den kritischen Spaziergängen mit Erasmus in der Pettah hatte er all das unbewußt in seinen wachsenden Organismus aufgenommen, an solchem Maß natürlich sich geformt. Von da ab genoß er seinen Wohnleib auch geistig, wie etwan ein Mensch durch anatomisches Studium seinen Körper ein zweites Mal zum Geschenk erhält.
Am besten besprachen solche Dinge sich immer mit Lady Diana. Beider Wesenskerne waren so verwandt, und doch lag, durch Altersunterschied, auch wieder genug schöpferische Zeit zwischen ihnen, daß sie hoffen durften, fast aus jeder Diskussion irgendwie belebt hervorzugehen. Hat es doch stets nur Sinn und Zweck, mit jemandem, der gleicher Ansicht ist, zu diskutieren; auch da ergeben sich gegnerischer Kanten noch übergenug, aus ihnen lebendige Funken zu schlagen. Polemiken aber, aus unharmonischer Empfindung heraus oder gar verschiedener Unterscheidungskraft für Echtheit, entarten, werden bitter, lang und steril.
Er resümierte: »Chinesische Gegenstände sind mir zu geschwätzig. Dinge des Gebrauchs haben nur gefragt und in ihrer Fachsprache zu antworten. Da ruhe ich in einem Kissennest. Nicht daß es vom ›ruhen machen‹ nichts verstände, aber statt vollauf damit beschäftigt zu sein, mir das Sitzen zum Nirvana zu machen, erzählt so ein Polster nebenher meiner rechten Schulter eine lange Geschichte in Blau und Gelb von einem Fuchsdämon und einer Drachentochter; mag ich dazu aufgelegt sein oder nicht. Schon um acht Uhr früh. Schon beim Frühstück. Form ist hier oft nur versteinerte Laune und Schöpfung: phantastisch-träges Hinzufügen.«
»Weglassen ist aber auch noch nicht Vollendung,« meinte Diana Elcho, »da hat Erasmus recht. Das wäre leere Einfachheit, nicht jene aus verdichtetem Leben, deren Anblick allein, wie mir scheinen will, Beruhigung im Endgültigen gibt. Es ist, als habe diese schwierige Schlichtheit etwas von den ewigen Ideen auf sich herabzuzwingen vermocht, weil sie erst einmal unbeirrbar, phrasenlos und rein den Zweck zum Grund sich gab. Der war ihr Fundament: Isolator gegen schlammige Saloppheit – versandetes Ohngefähr. Erst auf dieses reinliche Piedestal kann ein Geheimnisvolles, das wir ›Schönheit‹ nennen, sich dann senken.«
Li-Hung-Tschangs großes, glattes Gesicht hatte höflich aufmerksam zugehört. Nun ließ er – in graue Seide gehüllt, – zwei gewölbte Bronzegefäße aus der Han-Dynastie hereintragen, Lady Elcho zum Geschenk.
Sie zitterte vor Freude. Etwas von der Leere des tönenden Erzes aus der neunten Symphonie war an ihnen. Einem schauend Entrückten mochte scheinen, als könnten hier – nur hier – aus dem dunklen Adel dieser Mulden die tauben, unfaßbar außerweltlichen Nebengeräusche des ersten Satzes fahl heraufgezuckt sein, aus einem verhangenen Drüben.
Horus war hingerissen wie nur vor den wenigen Syenit- und Liparit-Gefäßen der Pyramidenkönige, deren Abbilder er kannte. Nun erst fiel ihm auf, wie sehr der großartige alte Chinesenkopf vor ihm eigentlich selbst dem eines Pharao glich. Das selbe flächenhafte Lächeln, breitabrollend von dem Monolithgesicht. Einfach wie ein Dioritgott saß er da, flache Hände auf den Knien, freute sich der Freude seiner Gäste.
»Heute abend wird er mir die Hand reichen«, dachte Horus.
Es war einer der sichern, täglich wiederkehrenden Genüsse, die fernrassige große Hand ebenbürtig auf die seine zukommen zu sehen, nach europäischer Sitte, Horus zu Ehren, – Lis Finger zu spüren und die übertriebene Wölbung seiner vollkommen geschliffenen Nägel mit den halbkreisförmig gezüchteten Perlmuttermonden, deren Bett das ungebrochene weiße Häutchen elastisch, losgelöst und rein umlief.
Dieser sichern, täglich wiederkehrenden Genüsse aber gab es noch mehr. Zur Stunde der Krähe klangen jenseits der Kamelbuckelbrücke, im Pavillon aus Flötenholz und aus Lasur, des Vorhangs gläserne Falten auseinander, und Lis jüngste Nebenfrau erschien, für ihn und die Gäste den Tee zu bereiten.
Hieß: »geflügelte Perle«. War erst vor wenigen Monaten an die Stelle einer Dame getreten, die Li mit unerbittlicher Höflichkeit zurückgeschickt, weil sie nicht nur absichtlich den Tee verdorben, sondern – es waren seine eignen Worte –: »ihn behandelt hatte, als wäre er der Schwanz des Hauses statt sein Kopf«. Die Teebereitung ging stets mit dem ganzen Zeremoniell der Meister aus der Sung-Schule vor sich. »Geflügelte Perle« brachte in den Pavillon eine Privatregion mit, in der nichts zu Boden fallen konnte, das Menschenohr geborgen war vor Scherben und Gekreisch. Ein Zaubervogel mit wohlfrisiertem Damenkopf in Perlengehängen schlüpfte sie zutraulich getragen durch ein Dickicht von Hin und Her, machte sich schmal wie eine Meise oder spannte auf einmal feierliche Flügel im Teeduft; erfüllte den Raum mit Wehen und Weiche.
Sprach die Vogelfee, fielen aus ihrer Kehle Silben als Regen von Pfirsichblütenblättern – jedes mit einem Jaspistropfen beschwert – in Herzen hinein. An sie wandte sich stets der Hausherr, kam die Rede auf Dichter und Philosophen, und mit kleinen flächenhaften Bewegungen, ohne je aus unsichtbarem Rahmen zu treten, begleitete sie dann ihre Worte, den zitronenblassen Kopf ein wenig schief. Wenn aber die heiße Blume vollendet vor jedem in einem Doppeltäßchen stand, jeder, die blaulazurnen Ränder gegen einander verschiebend, aus dem Spalt den ersten Schluck getan, verbeugte sich die Vogelfee dreimal, sank in sich selbst nieder, wie in ein Nest von Seide, und sang.
Ließ dabei überaus vorsichtig von den Libellenflügeln ihrer Nägel zehn Goldhülsen gleiten – barg sie in der Schale von Prasem. Nun erst begann mit geblähter Kehle in ihrem Arm ein dickes braunes Instrument zu singen wie ein Nachtigallenmännchen. Eine Grille – ihr winziger Bambuskäfig hing an einer Scharlachschnur in den Nebel von Teeduft – geigte mit. Überzüchtete Tiere, pagodenhaft hochgestellte Fische mit goldenen Krötengesichtern, zogen indeß lange rote Fäden hinter sich durch Wasser, das sich kuglig aus dem Kristall der Schalen bog, mündeten, naiv und weise lasterhaft, irgendwo wieder in den Dienst des Geschlechts.
Menschenhäupter und Träume aber schwebten über den ruhenden Körpern in einer zweiten, verklärten Heimatwolke, gewoben aus dem Arom von Quitten, Opium, Sandelholz und Ingwer.
Immer häufiger baute die Vogelfee ihr Seidennest inmitten des fremden jungen Paares. Als die Zeit der Abreise gekommen war, hatte Li seine Ehe bereits in aller Ruhe gelöst, und geflügelte Perle war, nach Erfüllung der Bräuche, Horus Elchos legitime Nebenfrau geworden. Aus einer weiten Milde her waren nur wenige, wohltuend menschliche Verständigungen zwischen den Beteiligten getauscht worden. Dieser große chinesische Herr war Verschwender in allem Glanz des Menschentums, doch sparsam an überflüssigem Weh.
»Meine Ärmel wären mir nicht mehr getrocknet in meinem Leid, hätte das erhabene Lotosgesicht das südliche Blütenland verlassen ohne geflügelte Perle,« sagte die Vogelfee zu ihrem neuen Gatten.
Er war erregt in seiner tiefsten Lebensneugierde. Beugte sich gerührt zu der lieblichen Form, die ihm die Essenz des Seltsamen der großen Rasse bieten wollte, – so berauschend fremd von einem Liebeswirbel ihm in den Schoß geflogen kam, mit kleinen Zügen, eingeritzt in die Schale eines Taubeneis, nur mit hellen Wimpern zu bestreicheln.
»Bangt dir nicht, mit einem Fremden so in die Ferne zu gehen, seidnes Wesen? Was weißt du denn von mir?«
Ihr ganzer junger Körper war sanftes Erstaunen. Vor Erstaunen fielen die Schleppen ihrer Ärmel in Trichtern zurück von Vorderarmen: rund und durchsichtig, als wären es Röhrenknöchelchen ganz leichter Vögel.
»Da mein älterer Bruder schön, klug und gebildet ist, wie sollte er da nicht auch gütig, gerecht und vertrauenswürdig sein? – Zum Dank –« sie wurde ernst und bebte ein wenig; dann mit geheimnisvoll wollüstiger Verwöhntheit ohnegleichen:
»Soll mein älterer Bruder das ›Geheimnis des Fußes‹ erfahren und meine ältere Schwester ›das Geheimnis der Blume Lan‹.«
So kam »geflügelte Perle« in das Haus der Elchos.
Wie jede chinesische Dame mit Dichtern und Philosophen aus drei Jahrtausenden ihrer Rasse blutvertraut, zeigte sie sich beglückt, all diese in der Bibliothek des neuen Heims wieder zu finden. Neben Übersetzungen auch in der Ursprache.
Horus und Gargi kannten nur erstere. Sie baten:
»Lehr' uns die Kugelsprache. Doch nicht nur die hölzernen der Kulis, auch die aus Onyx und Elfenbein reihe auf für uns.«
Nun hob der Chinesin Vogelkehle aus jeder Silbe den inneren Lautwert, bestimmt, die Schwebungen des Herzens aufzufangen, und aus der Tusche ihres Pinsels kroch über Seide zugleich wie ein Geschöpf das Schriftbild aus, halb Raupe halb Kristall, in breiten Kurven, doch unsichtbar umeckt von solch konziser Kraft, daß sich das Leere rundum an ihm kantig stößt und wie ein Würfel steht. Nicht Urnen, Dämonen und Drachen, Chinas Plastik ist die Schrift. Erst Bild und Klang, verzweigt mit Rhythmus und Grammatik, faßt diese Sprache ganz; man muß sie sehen, um sie ganz zu hören, weil in ihr alle Künste sind und Geist geworden.
Wenn solchermaßen die seidne Vogelfee aufflog in einen tönenden Märchenbaum und aus der Krone seiner Weisheit sang, dann, nicht wie ein Gatte und Liebender nur, gern wie ein Schüler auch, wie ein Vater und Bruder, empfand Horus zu ihr.
Überaus leicht faßlich erschien an chinesischem Maß gemessen geflügelter Perle, was die beiden andern als Tausch und Dank zu bieten hatten, doch etwas primitiv, um nicht zu sagen, tölpicht auch. Nur die Chöre der griechischen Tragiker fanden Gunst vor ihrem winzigen Ohr, das als Quittenblüte am Lack der Haare saß. Nur hier war das Biegsame, das, zart und aderreich wie Geist, in unirdischen Lungen flutet, rot von Leben und stark nach Gesetz.
Gern verglichen sie die »Religion des guten Bürgers« oder das »Tao« mit Gotama Buddhas achtfachem Pfad und dem Vedanta.
Hier gab die Chinesin meist neidlos zu, daß »Sanskrita« mit Recht »die Vollendete« heiße, denn wo andre Zungen immer nur wieder hilflos das Wort »Seele« vor sich hin zu stammeln vermögen, steigt hier aus tieferer Versunkenheit die Fülle.
»Es ist an dem,« meinte Horus, »daß die Inder sich als eine lebendige Siebenfaltigkeit zu empfinden gelernt haben, an der jede Stufe fast kontinuierlich in die andre überleitet, wenn auch nur Ahnungen zu ihren drei letzten führen, mehr als Richtlinien, in denen die innere Entwicklung zu gehen hat.
Außen und zuerst ist nur ein aus Nahrung bestehendes Selbst. In diesem steckt wie in einer Kapsel das ›Odemartige‹, in diesem das Emotionelle: Liebe und Haß erzeugende, dann das manas- oder erkenntnisartige Selbst. In diesem endlich als Innerstes die drei Stufen des wonneartigen Selbst, von dem es heißt: ›Fürwahr, dies ist die Essenz. Denn wer die Essenz erlangt hat, den erfüllet Wonne. Wer möchte atmen und wer leben, wenn in dem Weltenraum nicht diese Wonne wäre. Denn wann einer in diesem Unsichtbaren, Unkörperlichen, Unaussprechlichen, Unergründlichen den Standort findet, dann ist er zum Frieden eingegangen. Wenn er hingegen in ihm – wie in den vier ersten noch eine Höhlung – ein andres annimmt, dann hat er den Unfrieden. Es ist der Unfriede, der sich weise dünkt‹.«
»Ist dieses ›wonneartige Selbst‹ ein Teil der Weltseele?«
Er stand auf, nahm ein Buch. Oft gebraucht, schlug es an rechter Stelle auseinander.
»Nein, geflügelte Perle, es heißt, das Innerste jedes Menschen sei nicht eine Emanation, ein Teil des ›Brahman‹, der Weltseele, sondern voll und ganz dieses selbst. Wer das erkannt hat, für den gibt es weder mehr eine Wanderung der Seele, noch eine Erlösung. Er ist schon erlöst, wenn Erlöstsein bedeutet: Befreiung von der Notwendigkeit des Wahns, immer und immer wieder zu sterben.« Und er las weiter: »Das Fortbestehen der Welt und des eignen Leibes erscheint ihm nur noch als eine Illusion, deren Schein er nicht heben, die ihn aber auch nicht weiter täuschen kann …«
Des Lesenden Stimme wurde tief und ganz ruhig: »… bis nach Dahinfallen des Leibes er nicht wie die andern auszieht, sondern bleibt, wo er ist, was er ist und ewig war: das gestaltlose Prinzip alles Gestalteten, das seiner Natur nach ewige, reine, freie Brahman.«
»Dann haben eure Saddhus und Büßer,« meinte geflügelte Perle, »wiewohl sie Beherrscher innerer Kräfte zu sein vorgeben, das ›wonneartige‹ Selbst noch nicht gefunden, denn die Sage geht, ›sie strebten ihren Leib zu vertausendfachen, um in den einen Gestalten die Sinnendinge zu genießen und zugleich in den andern ungeheuern Kasteiungen obzuliegen‹?«
»Gewiß, der Jogi erstrebt das › tat twam asi‹: das bist du, die Befreiung vom Kerker des Ich, nicht in der Essenz, sondern noch in der äußern Illusion. Dieses Ringen der Meisterasketen mit den Göttern um Macht, daß Vismavitra droht, einen neuen Indra zu schaffen, es spielt sich alles noch im Schein ab. Sich vertausendfachend, will der Jogi das ganze Weltgespinst der Maja zugleich sein, leiden und genießen, alle Dus in seinem Ich vereinen. Versucht auch den schmerzlichen Druck jener Kette, die Karma heißt, dadurch zu verteilen.«
»Von jedem Geschöpf sei wohl anzunehmen, meint hier der Vedanta, daß es in einem früheren Dasein viele Werke angehäuft habe, die zu erwünschten und unerwünschten Früchten gereift. Der ganzen Welt Geschehen in jedem Augenblick sind eben diese Früchte. Das ist Karma. Da nun der Jogi in die machtvoll erweiterte Schale seines Ich die Herben und die Süßen vieler Leben zugleich preßt, stumpft er mit der Süße der einen bittres Gift der andern, das sonst vielleicht unvermischt auf ein blindes, kleines Einzelleben gefallen wäre und es ganz zerfressen hätte, wie ein Tropfen Säure eine Ameise. ›Joga‹ scheint mir in manchem ein mystisches Dju-Djuzu: Jongleur-Trick, sich den karmischen Druck zu erleichtern. Vom wahren Wissen aber steht: ›es verbrennt die Werke und den Samen der Werke‹.«
»Welches sind die Vorbedingungen für das Stadium des Vedanta?«
Etwas befremdet sah er sie an: »Natürlich die gleichen wie beim ›Tao‹ eures Lao-Tsu, oder dem achtfachen Pfad des Gotama Buddha: Verzicht auf Genuß des Lohnes hier und im Jenseits.«
Sie schwiegen. Dann bekam er sein glitzerndes, ganz junges Spitzbubengesicht. Neigte sich zur winzigen Quittenblüte im Lack:
»Die geflügelte Perle möchte nichts übereilen. Erst wer sich völlig ausgeliebt – ausgehaßt, ausgeglaubt – ausgezweifelt, kann den Weg des Vedanta beschreiten.« – Dann mit einem fast väterlichen Wohlmeinen: »den Morgen seiner Inkarnationen genießen, dann als Grihasdha das Amt der Generation auf sich nehmen, erst das letzte Drittel des Lebens dem eignen ›Brahman‹ weihen: mit Mantel und Schale in den Wald gehen, ein golden Geschlechtsloser, vollkommen Erwachter, Leidverlöschter. So befiehlt der Vedanta.«
»Befiehlt?« – Aus dem Lotossitz, im dem sie wie ein zarter Buddha gekauert, erhob sich Gargi, die Hände im Schoß. Erhob sich aus sich selbst, wie ein wachsender Halm. Stand vor ihm. Sie hatte manchmal eine Art, vor Menschen zu stehen, das Haupt zu neigen oder ein klein wenig zu schütteln, wenn sie nicht ganz einverstanden war, mit geschlossenen Lidern, die lächelten. Um das zu sehen, widersprach er ihr bisweilen.
»Der Vedanta befiehlt nie, er belehrt nur.« Sie zögerte. »Seine Worte sind wohl viel zu groß für meinen Mund, doch möchte ich ihren Sinn nicht meinem kleinen Zufallsausdruck überliefert sehen. Ich glaube, es heißt dort: ›Der Vedanta befiehlt nicht, er belehrt nur: ähnlich wie bei Belehrung über eine Sache dadurch, daß man sie dem Auge nahebringt. Darum werden alle Imperative, auf die Erkenntnis des Brahman angewendet, ebenso stumpf wie ein Messer, mit dem man Steine schneiden will. Denn das ist unser Schmuck und Stolz, daß nach Erkenntnis des Brahman alles Tun-Sollen aufhört, sowie alles Getan-Haben‹.
Wer in sein wahres Selbst einziehen will: das Seiende, Unzerstörbare, muß seine guten und bösen Taten draußen lassen.«
»Seine guten und bösen Taten draußen lassen, wie schön. Meine ältere Schwester soll weiter sprechen,« bat geflügelte Perle.
Und Gargi fuhr fort; so einfach, als kämen ihr eigne Worte, doch in jener unnachahmlichen Haltung wie zuvor.
»Weise und ohne Falsch und frei von Begier in dem Gewoge steht er als Schauender und ohne Zweiten, er, dessen Welt das Brahman ist.
Wahrlich, dieses große, ungeborne Selbst, das ist unter den Lebensorganen jener aus Erkenntnis bestehende selbstleuchtende Geist. Hier im Herzen inwendig ist ein Raum, darin liegt er, der Herr des Weltalls – der Gebieter des Weltalls –, er wird nicht höher durch gute Werke, er wird nicht geringer durch böse Werke; er ist der Herr des Weltalls, er ist der Gebieter der Wesen, er ist der Hüter der Wesen, er ist die Brücke, welche diese Welten auseinanderhält, daß sie nicht verfließen.
Wer solches weiß, den überwältigt beides nicht, ob er darum, weil er im Leibe war, das Böse getan hat, oder ob er das Gute getan hat.
Ihn brennet nicht, was er getan und nicht getan hat.«
»Wie aber verbreitet sich das Gute in der Welt der Sinne, des Scheins, die doch seiner noch bedarf, haben die Erleuchteten es längst vergessen?« fragte die Chinesin.
»Dadurch, daß sie sind. Wie beim Mangobaum, den man der Früchte wegen pflanzt, Schatten und Wohlgeruch daneben herauskommen, so kommen bei Entfaltung der Seele die nützlichen Zwecke in der Körperwelt daneben heraus.«
Die jungen Frauen hatten die Bibliothek verlassen. Horus zögerte noch. Ihn drängte, ein paar Bücher an ihren Ort zurückzustellen. Wie barbarisch abgehackte kleine Glieder kamen sie ihm vor, so quer und verloren hingestreut, und der lebendige Leib der Wand verstümmelt ohne sie.
Wie er so lieb mit ihnen hantierte, über das Korn des Leders, die braunen Rücken, gewölbt vor Klugheit, strich: getastetes Plaudern, bis jedes wieder in seinem Häuschen stand, fiel ihm von ohngefähr an entlegener Stelle ein unbekanntes Buch in die Hände. Verwunderlich schien das keineswegs. Erasmusens und seiner Mutter Interessen waren zahlreich und verschieden genug, um ihn selbst noch kaum berührt zu haben. Er öffnete es eigentlich auch nur, weil es so schwarz, dick und auf dem Rücken ohne Titel war. Durchblätterte mechanisch lange, dünne, engbedruckte Seiten. Erstaunlich bösartige, ja flegelhafte Sentenzen stießen allerorten wie unsaubre Fäuste nach ihm: »Der Herr wird dich schlagen mit Feigwarzen, mit Grind und Krätze, daß du nicht kannst heil werden.«
Er staunte: »Ich weiß zwar nicht, was Feigwarzen sind, aber es wird schon danach sein.«
»Der Herr wird dir die Pestilenz …« nein, weiter –
»Der Herr wird dich schlagen mit Darre, Fieber, Hitze, Brand, Dürre, hitziger Luft und Gelbsucht und wird dich verfolgen, bis er dich umbringe …«
Instinktiv hielt er das Buch weiter von sich ab, als zum Lesen unbedingt erforderlich.
»Verflucht wird sein die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Rindes, die Frucht deiner Schafe verflucht …« Eine ganze Seite lang. Aber wozu der ganze Gallenerguß? – »Der Herr wird unter dich senden Unfall, Unruhe, Unglück, bis du vertilget werdest und bald untergehest, um deines bösen Wesens willen und daß du mich verlassen hast.« –
Ja, hörte denn dieses offenbar senile Keifen nicht mehr auf? Wer war überhaupt dieser dubiose » Herr?«
»Und des Herrn Zorn ergrimmte zur selbigen Zeit und er schwur und sprach: ›… ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott‹.«
Wie? – Ein Gott? – Mit schlechten Manieren, der fluchte – bad language gebrauchte? – Es gab also einmal irgendwo eine Barbarenhorde, die sich ihren Gott so vorgestellt? – Wie aber war es denn, wenn sie ihn nicht »verließen«, ihm »folgten«? Das mußte doch auch bisweilen vorkommen. Er suchte und fand. Nun ward es ethisch aber noch bedeutend anrüchiger:
»Wenn dich der Herr, dein Gott, bringen wird in das Land und geschworen hat, dir zu geben: große und feine Städte, die du nicht gebauet, und Häuser alles Guten voll, die du nicht gefüllet hast, und ausgehauene Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölberge die du nicht gepflanzt hast …«
»Ah – da staun' ich,« dachte Horus belustigt.
»Und sie führeten das Heer, wie der ›Herr‹ geboten, und erwürgeten alles, was männlich war. Dazu die Könige der Midianiter erwürgeten sie samt ihren Erschlagenen und nahmen gefangen die Weiber der Midianiter und ihre Kinder. All ihr Vieh, all ihre Habe, all ihre Güter raubeten sie und verbrannten ihre Städte, all ihre Wohnung und alle Zeltdörfer. Und nahmen allen Raub und alles was zu nehmen war: Mensch und Vieh. Darum bringen wir dem ›Herrn‹ Geschenke, was ein jeglicher gefunden hat an goldnem Gerät, Spangen, Ohrringen … Denn die Kriegsleute hatten geraubet ein jeglicher für sich … und brachten's zur Hütte des Stiftes zum Gedächtnis … vor dem ›Herrn‹.«
So?
Völker aber, die ihre schönen Städte selber bauen konnten, belegte diese kleine Zuchthäusler-Tribus regelmäßig in wegwerfender Weise mit einer Art verächtlichem Sammelnamen: » Heiden«. – Horus amüsierte sich. Also dann waren Con-fu-tse, Pythagoras, Buddha alles »Heiden«, von denen es da hieß: »Also sollt ihr an ihnen tun: Ihre Altäre sollt ihr zerreißen, ihre Säulen zerbrechen, ihre Haine abhauen …«
Welch gewalttätige Borniertheit, Anmaßung, Bosheit und Intoleranz!
Gelegentlich schien der »Herr« wieder eitel einen guten Eindruck auf diese »Heiden« zu machen. Als er – zum wievielten Mal, war nicht ersichtlich – drohte, sein Volk um den versprochenen Länderraub endgültig zu prellen, überlistete ihn einer durch die Erwägung, es wäre doch blamabel vor den »Heiden«; die würden sich am Ende darob mokieren. Das leuchtete dem Gott ein. Horus las nur so mit den Blickspitzen, machte Stichproben. War denn hier keine Spur von Natursinn? Entzücken an edlen Tieren und der beseelten Landschaft? Darum diese dürre, klägliche Angst; das Sich-als-lebendige-Welle-fühlen, das fehlte eben. Nie wurde hier die Schönheit der Welt zum Gottesbeweis, immer nur Krätze oder wie hieß das andre? Richtig: Feigwarzen.
Da war ein auserwählter König: David. Von dem stand: »Er führete aus der Stadt sehr viel Raubes, und das Volk drinnen führete er heraus und zerteilete sie mit Sägen und eisernen Dreschwagen und Keilen.« Als er später eine Volkszählung vornahm, schien das dem Gott aus rätselhaften Gründen nicht recht, wiewohl er selbst dergleichen doch wiederholt selbst anbefohlen. Zur ›Strafe‹ sollte nun der König wählen: Teuerung, Flucht vor dem Schwert seiner Feinde oder Pestilenz im Volk.
Traun, er möchte gehorsamst um Pestilenz für sein Volk gebeten haben. »Da ließ der ›Herr‹ Pestilenz in Israel kommen, daß siebenzigtausend Mann fielen.« – Völlig Unschuldige also, an der Sache Unbeteiligte. Gleich darauf sahen Gott wie König auch ein, das Ganze habe keinen rechten Sinn gehabt. Über den Mord an den Siebenzigtausend regte sich aber keiner der beiden weiter auf.
Da ekelte es Horus zwar, aber lachen mußte er doch.
Gegen Ende des Buches machten die Leute einen ziemlich reduzierten Eindruck. Ein einziger kleiner Anführer schien ausschließlich das Wort zu haben. Auch die Diktion hatte sich erheblich vermindert, die alte Barbarei, doch quasi um ein Stockwerk tiefer. Kleineres Keifen hub an:
»Und des Menschen Sohn wird seine Engel senden und die Bösen von den Gerechten scheiden und werden sie in den Feuerofen werfen, da wird sein Heulen und Zähneklappern.« – Dann wieder: »Ihr Schlangen und Otterngezücht, wie wollt ihr der ewigen Verdammnis entrinnen.« – Ja, eigentlich wo immer man es aufschlug: »Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget und er ersäufet würde im Meer, wo es am tiefsten ist.«
Komisch. Der junge Mann behauptete von sich, er sei »sanftmütig und von Herzen demütig!« – Dann umblätternd: »Und wird sagen zu denen zur Linken: gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln … und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben.« – Er schlug ein paar Seiten zurück. Schon wieder: »Da wird sein Heulen und Zähneklappern.« Er gähnte.
Ein Welterlöser, ein Gottessohn mit dem Leitmotiv: »Na wartet, ich werd's dem Vater sagen!« Eben immer noch die gleiche schlechte Kinderstube. »Es scheint in der Familie zu liegen,« dachte Horus.
»Wehe dir, Bethsaida. Wären solche Taten zu Tyrus und Sidon geschehen, als bei euch, sie hätten vorzeiten im Sack und in der Asche Buße getan. Doch ich sage euch: es wird Tyrus und Sidon erträglicher gehen am Jüngsten Gerichte, denn euch … und du, Kapernaum, die du bist erhoben an den Himmel, du wirst bis in die Hölle hinuntergestoßen werden … Und wo euch jemand nicht annehmen wird … so gehet heraus von demselben Hause oder Stadt … wahrlich, ich sage euch, dem Land der Sodomer wird es erträglicher gehen am Jüngsten Gericht, denn solcher Stadt.«
Nicht annehmen – warum? Ja richtig: gerade vorhin hatten sich ja alle gesitteten Leute mit Recht beschwert, daß diese Rowdies sich nicht einmal vor dem Essen die Hände wuschen.
»Strafe – Verdammnis – Sühne – Sünde – ewige Pein.« – Er griff sich an den Kopf. Dieser ganze pover-brutale Vorstellungskomplex war ihm bisher an Religionen gänzlich unbekannt. Als Symbol gewertet aber schien das alles ausschließlich dem Niveau kretinisierter Sechsjähriger angemessen, wobei noch sehr zu fragen war, ob nicht gerade Kindern solche Zuchthäuslersymbolik unter allen Umständen fernzuhalten wäre. »Steinzeitbarbaren eben.« Das tröstete. Mitten inne diesem kindischen Gekeif stand ab und zu etwas wie ein Druckfehler: » Liebe«. Ja, wahrhaftig, Liebe wie Geifer vor dem Mund.
»Ich aber sage euch: liebet eure Feinde … denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?«
– – Also auch hier – selbst hier noch das ehrwürdige Wort! Alt und süß wie die Welt! Allen Söhnen der Sonne eingeboren mit dem ersten Hauch. Da stand es: Sturmbock in Vordersätzen – als Kontraimitation der Zöllner – oder gar prostituiert mit » Lohn«? War das noch Liebe? Alles Warmblühende, Taumelnde, Sternenkühne dahin, als wäre das ewige Wort in einen Mülleimer gefallen, aus dem Bucklige mit schiefen Fingern einander damit bewürfen. Seine klare Keuschheit war irgendwie dahin, das von selbst Verständliche: somit Anmut – Weite – Würde. Selbstgefällig, aufgeblasen, mit Protzerei, ja Schadenfreude fletschte es seine Zähne, dieses: »Liebet eure Feinde«. Ausschließlich um strahlende Sieger zu belästigen, wie es schien: »So – jetzt habt ihr auch nichts davon.« – Liebe als Antithese: aggressiv statt schöpferisch.
» Louche,« – fühlte er, »schlechthin louche.« Und wie kam es, daß hier immer nur vom »Nächsten« – vom »Feind« als Objekt der Liebe die Rede war? Wo blieben Tiere als Ebenbürtige? Wo Blumen, Wellen, Sonnen? Wenn Erkenntnis das Ich aus seinen Rändern reißt ins grenzenlose tat-twam-asi; wenn in die wogende Fläche des Geistes: den Träger der ganzen Erscheinungswelt, die Iche stürzen und sich erkennend zergehen: was soll da klein und futil herausgeeinzelt der »Nächste«, der »Feind«? Das Wort ist sinnlos geworden. Welche Präpotenz dieses kleinen Volkslehrers, dauernd so zu tun, als habe er die Liebe erfunden. Überdies: Kein Wort vermeidet doch ein Mensch von Feingefühl so sehr wie eben dieses. Er spricht es nicht – schweigt es aus. An ihm wird die Zunge ein dunkler Vorhang voll Scheu. Doch hieß es nicht irgendwo in einem grotesken Sprichwort: »Wer keinen Schnaps hat, spricht wenigstens von ihm.«
»Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden«.
»Heiden«. Also immer noch die alte Arroganz aus Ignoranz. –
Nun, der Mann schien selbst nicht eben wenig zu sprechen. Da waren Dutzende der ermüdensten Tautologien: Gleichnisse, unanschaulich aus dem ewigen Mangel an Natursinn, einige dezidiert verunglückt: »Das Himmelreich als das Größte unter dem Kohl …« – Auch eine Predigt war da: gegen die Bildung, wie es schien. Überhaupt komisch, diese Wut gegen alles Wohlgeratene; dieser Hang zur Kontraimitation mit gehässiger Tendenz: »Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöhet werden. Viele werden die Letzten sein, die die Ersten sind, und die Ersten sein, die die Letzten sind.« Keine schöpferische Idee. Nur aggressiv: »Ihr sollt nicht glauben, daß ich kommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht kommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.«
»Und weiter sage ich euch: es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.«
Was hatte denn Armut oder Reichtum: äußere Zustände, mit dem mystischen Aufbrechen der Lotusse in den Ganglien zu tun? Diese allein durften doch das »Reich Gottes« heißen, sofern es für Erwachsene Sinn haben sollte.
Doch genug. Noch immer peinlichen Befremdens voll schob er das Buch an seinen alten Platz. Schloß dann die Augen – hob das Haupt zurück in die goldne Wolke des Vedanta:
»Hier im Herzen inwendig ist ein Raum, darin liegt er, der Herr des Weltalls, der Gebieter des Weltalls: er wird nicht höher durch gute Werke, er wird nicht geringer durch böse Werke. Denn das ist unser Schmuck und Stolz, daß nach Erkenntnis der Seele als Brahman alles Tun-Sollen aufhört, sowie alles Getan-Haben.«
»Wer in sein wahres Selbst einziehen will: das ›Seiende‹, Unzerstörbare, muß seine guten und bösen Taten draußen lassen.«
»Weise und ohne Falsch und frei von Begier in dem Gewoge, steht er als Schauender und ohne Zweiten, er, dessen Welt das Brahman ist.«
»Ihn brennet nicht, was er getan und nicht getan.«
Die lange Welle des großen Atems – wie so oft – ging wieder durch ihn, und rein, als etwas, das irdisch nur dem lebendigen Glockenbrausen in einem Bienenschwarme sich vergleicht: unantastbares, geflügeltes Glück aus Glocken und duftendem Gold.
Wusch die Hände. Während der Strahl über seine glänzenden Nägel sprühte, kam noch einmal unangenehm das Staunen zurück:
»Ethnographie in Ehren. Aber ist es denn wirklich nötig, den Privatfetischismus jeder kleinen Barbarenrotte, die je gelebt, zu registrieren und zu bewahren?«
Und dann vergaß er es. Denn er wollte mit den Frauen noch unter die Frühlingsgestirne in den Garten spielen gehen.
Vor dem letzten Rasthaus schwingen im Mondlicht die schlafenden Elefanten.
Durch den Silbernebel der vier ragenden Massen geht lautlos ein Riesenrhythmns lebendigen Traums. Schlingern und Rollen vor und zurück, die Tonnenflanken und das gehöckerte Haupt hinauf; von Kautschuksäulen elastisch aufgefangen – wieder rückgeleitet zu dem stillen Herzen, das voller Sanftmut mitten inne steht.
Jenseits dert kleinen Lichtung schwingen noch leise die Luftwurzeln der Banjanbäume mit, aufgeweht vom Wind der Fächer-Ohren, wenn sie um die geschlossenen Augen streichen. Ewig wache Rüssel aber umtasten wie in leiser Orgastik die silberne Schwerelosigkeit der Nacht. Da reckt Rama-Krishna den seinen weit – mit dem schönen Schwung eines weisenden Frauenarms. Steht still. Hat träumend die Herrin erfühlt. Und die zu Tragende erwartend, bricht er lautlos in ein mächtiges Knie – das andre zart gespreizt und vorgeneigter Schulter –: leichte Leiter für die leichte Last, die er so manche Tage nun schon über Land getragen, und endlich hier herauf die duftenden Terrassen bis unter den Gipfelkopf des heiligen Bergs.
Daß es jetzt zu steil würde für ihn, zu schmal für seinen Bauch, daß er und die andern Reitelefanten bei dem Mahaut mit dem Ankus zurückbleiben sollten, das konnte er nicht wissen, wiewohl er ein Weiser war unter den Weisen.
Gargi, die ihn so dienen – knien sah, schlang die Arme um seinen Hals, steckte ihm ein Lianensträußchen hinter den Ohrenfächer, ein langes Zuckerrohr aber in die ganz und gar dumme Säuglingslefze. –
Dankend schmeichelt die Rüsselspitze – wie eine Hand voll Geist – um ihre unbegreiflich edeln Arme. Ein Wink heißt Rama-Krishna sich in die Höhe richten, dann nimmt der Banjanschleier die Herrin auf; Luftwurzeln rinnen hinter der Diaphanen zusammen. Nur vom Zuckerrohr, dem saftsüßen, ist noch ein Stückchen da. Und wie es zergeht, zergeht auch die Persönlichkeit, an der die Welle des großen grauen Traums sich brach. Wieder einfallend in den Riesenrhythmus lebendigen Schlafes schwingen im Mondlicht die vier wartenden Elefanten.
Zwischen drei Fackeln steht der Schikari Aditja. Zwei brodeln grün aufwärts in fleischiges Laub. Drunter hängt sein weißer Turban: eine phantastische Ampel im Schwarzen über schwebenden Elfenbeinäpfeln: den Augen. Der dritten schräggesenkter Schein beleckt einen Klumpen metallner Eheringe an den Wurzeln seiner ausdrucksvollen Zehen. Jeder Ring ein ineinandergeflochtenes winziges Paar: das Männchen Messing, das Weibchen Silber. Jedes eine neue Liebesverschlingung; alle von grandioser, übermenschlicher Unanständigkeit. Zwischen Turbanampel oben, Zehenringen unten ahnt man, als Schweifendes, den sehnigen Jägerkörper aus verdichteter Nacht.
Sie steigen ins Steile – jeder mit seiner Leuchte; der Schikari voraus auf trocken schmalen Sohlen, fegt Flammen ins obere Dunkel, aus dem, treibt Hunger sein Eingeweide, der Panther sich zuweilen auch auf Menschen niedertropfen läßt. In Pausen stößt aus Aditjas Kehle etwas wie gezischter Vogelschrei: verwildertes, gleichsam bewaldetes: heiii – – heiiiiii! Damit die Giftwesen unten rechtzeitig zur Seite schmelzen können, was durchaus in ihrem eignen Interesse gelegen ist. Denn wozu schwer nachzuschaffenden Betriebsstoff an Beute verschwenden, bei der ein so dickes Ende nachkommt, daß an gedeihliches Verdauen doch nicht zu denken ist. Kein realer Fond in der Unternehmung. Mit steigender Höhe wird der Boden härter, Aditjas »heiiii« schütterer, bis es ganz erlischt.
Stille hängt – ein schwarzer Kessel – über den Dschungel gestülpt. Lautloses Schicksal geht suchend durch die Finsternis mit phosphoreszierenden Lichtern. Niemand schläft, niemand gibt Laut. Nur dumme Papageien dösen irgendwo oben vor sich hin. Manchmal ratscht ein Halbwüchsiger aus seinem Angsttraum eine Formel herunter, oder ein ganz Alter, der es an der Leber hat, versucht mit dem Nachbarn unzeitgemäße Betrachtungen: dann ein Hacken, Horn auf Horn. Und immer muß er recht behalten. Auch gegen die Wildkatze. Unten räumt man ihm schon den Bauch aus, und oben spricht er noch. Endlich ist sie im Menü so weit, beißt ihm das letzte Argument in die Kehle zurück, und alles atmet auf.
Wieder steigt Stille im Dschungel bis zum Bersten. Schweifende Formen entschälen sich dem Dunkel, schmelzen zurück, treten ins Blut; einbezogen, zugehörig, wird der Mensch auf göttlichem Umweg Tier.
Kleine, harte, vielgestaltete Herzen klopfen nach innen hinauf in die gesteigerte Stunde des Lebens vor dem Tod. Wollüstiger Irrsinn der Furcht, Seherschaft der Angst, seidne Pracht des Sprunges und der Flucht: Kuß, Biß, Hunger, Mord, Liebe, geballt wieder zu einziger, zitternder Intensität. Täter und Leider: Genießer beide.
Es lauert aus den Nieren der Dinge.
Unter dem Gipfelkopf rasten sie, vogelhaft eingehüllt in Grün. Pflanzen lecken ihre Hände mit fleischigen Zungen. Irgendwo aus einem Felseninnern kommt dunkles Dröhnen, vage Erregung vieler Körper. Als zitterten Metalle und Menschen im Berg. Aditjas spitze Ohren zucken auf, wie bei einem träumenden Schakal. Dann, sein flimmerndes Gebiß entblößend:
»Rhodias, Sahib. Es ist die Nacht der Shivatänze.«
Horus erhob sich, angesogen von ziehendem Tumult. Fühlte sich nicht gehen, eher gleiten als Nadel ins magnetische Feld. – Ließ es geschehen. Denn es lag im Gefüge seines Karma, an nichts vorbei, durch alles hindurch zu streben aus einer hochgemuten Art heraus, denn: Gargi und das Haus Elcho hielten ihn, zwei Polen gleich, blanker Sohle zu schlendern durch die Willkür jedes Sudels.
Bog Schlingranken vom Eingang. Ihre Laternenblüten, weich wie Kinderhaut, bestäubten ihm Schulter und Brust. Trat ein. Die Gongwelle schlug ihn fast um. Fackeln in Ringen atmeten gelbwehendes Messing über die Felsenwände. Doch blieben dort und da quecksilberne Lachen von Nacht, in die des Jasmins wächserne Ketten als Senkblei verschwanden. Ihr Duft überredete gleich einer Frau. Mit den Armen schwamm er hindurch.
Fiebrig Männliches aus geröstetem Hanf traf seinen Atem. Bläulicher Aasgestank stieß von irgendwo in den Ritus. Auch das Saure von Metall, anliegend Menschenkörpern. Wie Meer gekrümmte Rücken wogten ringförmig um ein Piedestal. Ring in Ring, Welle hinter Welle: ölig – nackt. Die Gesichter unsichtbar, bodenwärts zugekehrt einem Zentrum: Shiva. Schneeweiß, entrückt, ascheübergossen hockte der Gott. Neben ihm sein Stier Nandi. Vorn, aufgereckt aus Palmenmark: Durga, die fischäugige Gattin. Durch ihren herrlichen Tigermund geht querhin ein wagrechtes Schwert voll Blut.
Horus fühlte einen Atem aufrecht neben sich. Mit hochausgeschnittenen Zügen, ein schöner Ephebe, wohl Fremdling so wie er in dieser Höhle, sah auf die gierbereiten Rücken, aus Augen, blauschwarzer Gedanken voll. In Sehnsucht und Verachtung. Jetzt stiegen die Gongs zu einem Taifun. Auf seiner Spitze brach ein Riß durch die Rückenwellen, als wirbelten Trichter aus Fleisch: jeder zweite konzentrische Ring warf sich um seine Achse herum. Rücken sog sich nun an Rücken fest, zu einem obszönen Bogen. Obszön, denn es war kein wählendes Auge an ihm. Jeder Mund verbiß sich in einen Mund, der nicht zum Leibe gehörte, mit dem er in blinde Vermischung fiel. Hanf, Jasmin, Aasgestank trieben durch die Nüstern Unzucht miteinander. Eine Pause, und, aufgetrieben von metallenem Geheul, warfen die verfleischten Ringe sich aufs neue blind herum. – Aus dem Schweif des Auges erkannte Horus, daß der schöne Knabe mit den hochausgeschnittenen Zügen nicht mehr an seiner Seite war. – Jetzt, inmitten der Orgie, sah er auch die Köpfe der outcasts: der kastenlosen Rhodias. In rassigen Tierkörpern allerhand rasselose Menschengesichter, schlechte Nasen, schief, flach – noch von keinem edlen Atem hochgewölbt. Outcasts eben, die das züchtende Joch der Kaste auf sich zu nehmen unfähig geblieben.
Mit kalter Schulter drehte er dem Ausgang zu. Unerregt, kaum angeekelt, so fern diesen in seinem klaren Blut. Ein Queres vor dem Eingang ließ ihn stocken. Da lag der schöne, leidend stolze Knabe der Schlingranke vermählt. Erlöste sich in einen ihrer fleischig zarten Kelche, indes sie: eine androgyn Geliebte, aus drei Blüten sich ihm in Mund und Hände als golden-mildes Mehl ergoß. Sanft – fast andächtig stieg er über ihn hinweg.
Feiner Schauder der Frühe erhob sich gipfelwärts. Kleiner, intensiver wurden alle Dinge hier oben. Greller, herber. Gerannen zu Klumpen Herzblut an den Rhododendren. Nur Deodar-Zedern stiegen noch hoch auf, und abgeplattet im Himmel lagen die ringförmigen Federsterne der Araukarien.
Es roch nach der Essenz Gottes.
Leichte Schritte lebten auf, verdichteten sich aus allen Richtungen der Pyramidenspitze des heiligen Berges zu. Ein Pilgertag. Stimmen silberten in Lachen, das ein tönendes Lächeln war. Aus Büschen streifte ein Nachtpfauenauge hervor oder das Samtgesicht einer Frau. Von überall feine Wesen, ein Kind auf der Hüfte, waren die ganze Nacht gestiegen und doch wie unbeschwert auf ihrem Sandalenfächer, der nach den Zehen wunderbar abgestuft, die erste übertrieben von den übrigen schied, so daß Spitze, Ballen und Innengeburt der Ferse eine Gerade zu bilden gezwungen waren. Neben Schmäle von Schenkel und Knie das Geheimnis tropischen Frauengangs.
Noch ein paar Sprünge aus dem Moosigen ins Kahle und in den Tag. Denn schon trug hier oben die süße Brust der kleinen Vögel des Nestes Rundung entbunden durch die Luft.
Da erschuf sich mit eins riesenhaft aus dem Leeren ein saphirner Kegel – hing durchsichtig: wie geisterhafter, tiefblauer Kristall, an zwanzig Vollmonde groß, frei im Raum; den ganzen westlichen Himmel erfüllend. Blendend, beängstigend und unbegreiflich, als hätte ein sehr aparter und eigenholder Djinn geruht, sich einen Leib aus Äther und aus Stahl zu bauen. Schwebte ohne Ort – hart, doch unirdisch, fast mit Händen greifbar und auch wieder an den Grenzen der Erdatmosphäre zugleich; stahlblauer aus-sich-selber-seiender Gott.
Bis, wie von Glanz befiedert, ein Büschel goldner Pfeile von der schwirrenden Sonnensehne her quer durch die Welt brach – und in seinen Leib. Da, nach rückwärts auseinander weichend in immer weiteren, eisgraueren, durchsichtigeren Kegeln, schwand er, bis der letzte so groß war wie das Nichts.
Leicht aufschauernd sah Horus in das zerplatzte Juwel. Es war nur der Schatten des Gipfels gewesen, auf dem er selber stand, von der östlichen Sonne in seinem Rücken auf eine trübe Dunstbank geworfen, die jetzt zerrann. Nicht mehr fasziniert von dem westlichen Phänomen, merkte er sich auf einmal abgekehrt, arhythmisch, in seiner Blickrichtung allein, denn alle andern neigten dem Lichte, zu.
Da wandte sich auch er. Und im Augenblick des Querstands sah er die Menschen, alle flimmernd vor Aufgang, wie noch nie. Sah die ätherischen Lichtbündel von drüben in ihnen endend als Figur. Fühlte: so stehen können in freier Ehrfurcht ist alles. Ununterjocht von seinen Gliedern, in Gewändern edel und belebt. Begriff die Ränder der Dinge, begriff: wie sich etwas gegen alles andere, gegen das Gestaltlose abgrenzt, macht seine Berechtigung aus, da liegen Wert und Unwert der Persönlichkeit; und zu dem der Kontur jedes Wesens redet, der ist lebendig geworden an seinen Augen, der geht den Weg des Auges in das ewige Licht.
Sah Männer – Frauen – Kinder: jedes in geheimnisvoller Sonnenschrift mit dem Ende des Strahls auf ein Stirnblatt von Stoff geschrieben. – In freier Würde, nobler Folgsamkeit gegen ein hoch über seine Einsicht hinausragendes Kräftespiel glitt jedes an die gewiesene Stelle: reiner Buchstabe, gehorsam seinem Ort, auf daß mit seinem Leib das verborgene Wort aus unerschöpflicher Tiefe her sich bilde; auch jederzeit bereit, weggelöscht zu werden von der Tafel jener großen Sonnenschrift.
Ohne würdeloses Zappeln. Denn er hatte sie sterben sehen, diese Wesen aus dem Blut der Sonne – wie oft: in Pest und Hungersnot. Wie sie die edelbewahrte Persönlichkeit, den wundervollen Umriß verließen, um lächelnd im Tod alles andre wieder werden zu können, und doch wuchsen ihnen kühne Paradiese hinter den schmalen Stirnen, und aus ihrer Mitte traten Gewaltige heraus, auf deren Wink die Zeit gerann – zitternd stand – oder zerfiel.
Er sah in diesem Sonnenaufgang an ihnen das tropisch schwerelose Blühen und Sterben als Untrennbares gelebt. Sah in das wallende Gespinst aus Laubkronen, Vogelflug, Sonne, Küssen, Quellen den leuchtenden Todesfaden geschlungen: Ariadnefaden in die Freiheit; jederzeit wieder alles sein zu können: Blume, Tier, Licht. – – –
Wahn des Tuns fiel ab von ihm:
»Vielleicht ist Arbeit Sünde«. – Der mit dem Aschenauge: sein verborgner Führer, wußte es gut: nichts berühren, was aus Arbeit stammt. Nur dort leben, wo die schöpferischen Wellen vieles Lebendigen durch uns gehen, das magische Fluidum aller freien Geschöpfe uns erfüllt und trägt wie zeugender Äther. Verwoben all diesen war er mit dem Blutnetz seiner ganzen wundervollen Jugend. Wußte es wie noch nie in diesen Tagen des Abschieds, da er, reif und frei, auf festlich erhöhtem Deck seiner Jacht, endlich hinübergleiten sollte zu den Wesen wie aus Schnee und Gold, in ihre weiße Welt.
Einen Augenblick sprang sein Herz an das Gitter des Entschlusses. Doch er hielt. Würde – mußte halten, auch bei anderm Abschied noch: Erasmus.
Die Elefanten drehten heim. Da warf er sich aus dem Palankin von Gargis Seite flach nach vor – nichts mehr vom Abschied sehen – preßte das Gesicht zwischen die Stirnbuckel Rama-Krishnas, verging dort im Geruch von Met und Sand. Wie Taft rauschten die zerfransten Ohren auf. Im luftigen Wiegen des Elefantenganges kamen und fielen rhythmisch in ihn die Jahre vor seiner Mutter Tod. Waren ein unaufhörliches Fest gewesen, als fühle jede Stunde sich gedrungen, ihre ganze Wahrheit auszujubeln. Fließende Steigerung, klarer Rausch schien auszugehen von den silbrig erweiterten Augen – dem Schatten verhohlenen Drogengeruchs um die Nasenflügel der Nicht-Kranken, Nichts-Leidenden, nur immer Zarteren, als verwehe sie in Dekoktionen von Halmen und Gräsern, zwischen Ausbrüchen ihrer kindlich frohen, burschikosen, purzelbäumigen Lustigkeit. Es war etwas so Menschliches: dies Über-allem-Stehen, gab ihr den zeitlos-alterlosen Zauber: hatte ihn gegeben. Nun lag ihre Asche im Fundament des Riesenrefraktors eingeurnt.
Langsam stieg er zum Kuppelraum und seinem Flügel auf, den Erasmus selten mehr verließ, seit dort, über Diana Elchos zerfallenem Herzen, das große Auge in den Raum wuchs.
Wie lang so eine Wendeltreppe war: ein ganzes Leben lang. Er stieg sehr still, denn viel kam er zu bitten. Ihm war, als zertrete er Geist mit jedem Schritt.
Kam, den großen Freund niederzuzerren aus dem Reich, wo man, der niedren Sorgen frei, »vermittelst eines unzerstörbaren Erzgefäßes aus den fünf Brunnen schöpft«. – Auch hemmte ihn Erinnerung an etwas in van Roys Gesicht vor seiner Mutter Tod. So, als wöge ihn dieser mit den Augenschalen, ob er »es« wert. Irgendeinen verborgenen Preis wert, – vielleicht war es Einbildung gewesen? Die Herzlichkeit im Geistigen hatte niemals nachgelassen – Erasmus zog sich nur auf ein großes, jahrelanges Werk zurück. Duldete außer Gargi niemanden um sich. –
Horus trat ein. Etwas wie Glas und Schnee lag in dem stillen Kopf über der elastischen Gestalt. Sterngraue Augen sahen in seine goldnen. Sahen den Abschied. Er frug nicht, wie lang.
»Sei meinem Kind, was du mir warst. Solange ich fort bin.«
Erasmus wies um sich: »Ich habe noch so viel zu tun und vielleicht nicht mehr viel Zeit.«
»Sei Gargis Sohn, sei meiner Mutter Enkel, was du mir warst.«
»Geht Gargi mit dir?« – Sah die Augenbrauen des Erstaunens, winkte lachend ab. Dann resigniert: »Es soll geschehen – ich werde alles tun, so gut ich es nur irgend weiß und kann.«
Noch hatte er an Gargi nicht die Zumutung gestellt, um seinetwillen ihr Kind so lange allein zu lassen. Besonders, da geflügelte Perle, von der er Liebe, doch niemals Kinder so fremder Rasse sich gewünscht, nach China heimgekehrt war, um eines Jugendfreundes erste Frau und Mutter seiner Erben zu werden. –
Da nahm sie die Pein des Wortes von ihm. Dem ungeheuren weißen Dasein endlich so nah, war er in seliger Versunkenheit zu den Kraftanlagen, dann durchs Haus der Elchos gewandert, vom Orgel- bis zum Statuensaal. Blieb, das Wesen der Pallas und Nausikaa im Blute, wie grüßend vor einer Kore stehen: »Bald werde ich dich leben spüren.«
Da rührte ihn eine Stimme an – ganz zart:
»Darf ich sie suchen helfen?«
Er beugte sich über ihre lange Hand: »Meine liebe Gazelle.«