Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Natur macht nichts inkorrektes. Jede Gestalt, sie mag schön oder häßlich sein, hat ihre Ursache, und unter allen existierenden Wesen ist keins, das nicht wäre, wie es sein soll.
Die Natur macht nichts inkonsequentes, jede Gestalt, sie sei schön oder häßlich, hat ihre Ursache, von der sie bestimmt wird, und unter allen organischen Naturen, die wir kennen, ist keine, die nicht wäre, wie sie sein kann.
So müßte man allenfalls den ersten Paragraphen ändern, wenn er etwas heißen sollte. Diderot fängt gleich von Anfang an die Begriffe zu verwirren, damit er künftig, nach seiner Art, Recht behalte. Die Natur ist niemals korrekt! dürfte man eher sagen. Korrektion setzt Regeln voraus, und zwar Regeln, die der Mensch selbst bestimmt, nach Gefühl, Erfahrung, Überzeugung und Wohlgefallen, und darnach mehr den äußern Schein als das innere Dasein eines Geschöpfes beurteilt; die Gesetze hingegen nach denen die Natur wirkt, fordern den strengsten, innern organischen Zusammenhang. Hier sind Wirkungen und Gegenwirkungen, wo man immer die Ursache als Folge und die Folge als Ursache betrachten kann. Wenn eins gegeben ist, so ist das andere unausbleiblich. Die Natur arbeitet auf Leben und Dasein, auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres Geschöpfes, unbekümmert ob es schön oder häßlich erscheine. Eine Gestalt, die von Geburt an schön zu sein bestimmt war, kann, durch irgend einen Zufall, in Einem Teile verletzt werden, sogleich leiden andere Teile mit. Denn nun braucht die Natur Kräfte, den verletzten Teil wieder herzustellen, und so wird den übrigen etwas entzogen, wodurch ihre Entwicklung durchaus gestört werden muß. Das Geschöpf wird nicht mehr, was es sein sollte, sondern was es sein kann. Nimmt man in diesem Sinne den folgenden Paragraphen, so ist weiter nichts dagegen einzuwenden.
Sehet diese Frau an, die, in der Jugend, ihre Augen verloren hat. Das allmählige Wachstum der Augenhöhle hat die Lider nicht ausgedehnt, sie sind in die Tiefe zurückgetreten, die durch das fehlende Organ entstanden ist, sie haben sich zusammengezogen. Die obern haben die Augenbraunen mit fortgerissen, die untern haben die Wangen ein wenig hinaufgehoben. Die Oberlippe, indem sie dieser Bewegung nachgab, hat sich gleichfalls in die Höhe gezogen, und so sind alle Teile des Gesichts gestört worden, je nachdem sie näher oder weiter von dem Hauptorte des Zufalls entfernt waren. Glaubt ihr aber, daß diese Entstellung sich bloß in das Oval eingeschlossen habe? glaubt ihr, daß der Hals völlig frei geblieben sei? und die Schultern und die Brust? Ja freilich für eure Augen und für die meinen. Aber, ruft die Natur herbei, zeigt ihr diesen Hals, diese Schultern, diese Brust, und sie wird sagen: dies sind Glieder eines Weibes, die ihre Augen in der Jugend verloren hat.
Wendet einen Blick auf diesen Mann, dessen Rücken und Schultern eine erhobene Gestalt angenommen haben. Indessen die Knorpel des Halses vorn auseinander gingen, drückten sich hinten die Wirbelbeine nieder, der Kopf ist zurückgeworfen, die Hände haben sich an den Gelenken des Arms verschoben, die Ellenbogen sich zurückgezogen, alle Glieder haben den gemeinschaftlichen Schwerpunkt gesucht, der einem so verschobenen System zukam; das Gesicht hat darüber einen Zug von Zwang und Mühseligkeit angenommen. Bedeckt diese Gestalt, zeigt der Natur ihre Füße, und die Natur, ohne zu stocken, wird euch antworten: es sind die Füße eines Bucklichten.
Vielleicht scheint manchem die vorstehende Behauptung übertrieben, und doch ist es im schärfsten Sinne wahr: daß die Konsequenz der organisierenden Natur, im gesunden Zustande sowohl als im kranken, über alle unsere Begriffe geht.
Wahrscheinlich hätte ein Meister der Semiotik die beiden Fälle, welche Diderot nur als Dilettant beschreibt, besser dargestellt, doch haben wir ihm hierüber den Krieg nicht zu machen, wir müssen sehen, wozu er seine Beispiele brauchen will.
Wenn die Ursachen und Wirkungen uns völlig anschaulich wären, so hätten wir nichts besseres zu tun, als die Geschöpfe darzustellen, wie sie sind; je vollkommener die Nachahmung wäre, je gemäßer den Ursachen, desto zufriedener würden wir sein.
Hier kommen die Grundsätze Diderots, die wir bestreiten werden, schon einigermaßen zum Vorschein. Die Neigung aller seiner theoretischen Äußerungen geht dahin, Natur und Kunst zu konfundieren, Natur und Kunst völlig zu amalgamieren, unsere Sorge muß sein, beide in ihren Wirkungen getrennt darzustellen. Die Natur organisiert ein lebendiges, gleichgültiges Wesen, der Künstler ein totes, aber ein bedeutendes, die Natur ein wirkliches, der Künstler ein scheinbares. Zu den Werken der Natur muß der Beschauer erst Bedeutsamkeit, Gefühl, Gedanken, Effekt, Wirkung auf das Gemüt selbst hinbringen, im Kunstwerke will und muß er das alles schon finden. Eine vollkommne Nachahmung der Natur ist in keinem Sinne möglich, der Künstler ist nur zur Darstellung der Oberfläche einer Erscheinung berufen. Das Äußere des Gefäßes, das lebendige Ganze, das zu allen unsern geistigen und sinnlichen Kräften spricht, unser Verlangen reizt, unsern Geist erhebt, dessen Besitz uns glücklich macht, das Lebevolle, Kräftige, Ausgebildete, Schöne, dahin ist der Künstler angewiesen.
Auf einem ganz andern Wege muß der Naturbetrachter gehn. Er muß das Ganze trennen, die Oberfläche durchdringen, die Schönheit zerstören, das Notwendige kennen lernen, und, wenn er es fähig ist, die Labyrinthe des organischen Baues, wie dem Grundriß eines Irrgartens, in dessen Krümmungen sich so viele Spaziergänger abmüden, vor seiner Seele fest halten.
Der lebendig genießende Mensch, so wie der Künstler, fühlt, wie billig, ein Grauen, wenn er in die Tiefen blickt, in welchen der Naturforscher, als in seinem Vaterlande, herum wandelt, dagegen hat der reine Naturforscher wenig Respekt vor dem Künstler, er sieht ihn nur als Werkzeug an, um Beobachtungen zu fixieren und der Welt mitzuteilen; den genießenden Menschen hingegen betrachtet er gar als ein Kind, das mit Wonne das schmackhafte Fleisch des Pfirsigs verzehrt, und den Schatz der Frucht, den Zweck der Natur, den fruchtbaren Kern nicht achtet und hinwegwirft.
So stehen Natur und Kunst, Kenntnis und Genuß gegen einander, ohne sich wechselweise aufzuheben, aber ohne sonderliches Verhältnis.
Sehen wir nun die Worte unseres Autors genau an, so verlangt er eigentlich vom Künstler, daß er für Physiologie und Pathologie arbeiten solle, eine Aufgabe, die das Genie wohl schwerlich übernehmen würde.
Nicht besser ist der folgende Periode, ja noch schlimmer, denn diese leidige, groß und schwerköpfige, kurzbeinige, grobfüßige Figur würde man wohl schwerlich in einem Kunstwerke dulden, wenn sie auch noch so organisch konsequent wäre. Überdies kann sie auch der Physiolog nicht brauchen, denn sie stellt die menschliche Gestalt nicht im Durchschnitte vor; der Patholog eben so wenig, denn sie ist nicht krankhaft, noch monstros, sondern nur schlecht und abgeschmackt.
Wunderlicher, trefflicher Diderot, warum wolltest du deine großen Geisteskräfte lieber brauchen, um durcheinander zu werfen, als zurecht zu stellen? Sind denn die Menschen, die sich, ohne Grundsätze, in der Erfahrung abmüden, nicht ohnehin schon übel genug dran.
Ob wir nun gleich die Wirkungen und Ursachen des organischen Baues nicht kennen, und aus eben dieser Unwissenheit uns an konventionelle Regeln gebunden haben, so würde doch ein Künstler, der diese Regeln vernachlässigte, und sich an eine genaue Nachahmung der Natur hielte, oft wegen zu großer Füße, kurzer Beine, geschwollener Knie, lästiger und schwerer Köpfe entschuldigt werden müssen.
Zu Anfang des vorstehenden Perioden legt der Verfasser schon seine sophistischen Schlingen, die er hinter her fester zuziehen will. Er sagt: wir kennen die Art nicht, wie die Natur bei der Organisation verfährt, und wir sind deswegen über gewisse Regeln überein gekommen, mit denen wir uns behelfen, und nach denen wir uns, in Ermanglung einer bessern Einsicht, zu richten pflegen. Hier ist es, wo sich gleich unser Widerspruch laut erheben muß.
Ob wir die Gesetze der organisierenden Natur kennen oder nicht, ob wir sie besser kennen als vor dreißig Jahren, da unser Gegner schrieb, ob wir sie künftig besser kennen werden, wie tief wir in ihre Geheimnisse dringen können? darnach hat der bildende Künstler kaum zu fragen. Seine Kraft besteht im Anschauen, im Auffassen eines bedeutenden Ganzen, im Gewahrwerden der Teile, im Gefühl daß eine Kenntnis die durchs Studium erlangt wird, nötig sei, und besonders im Gefühl was denn eigentlich für eine Kenntnis, die durchs Studium erlangt wird, nötig sei; damit er sich nicht zuweit aus seinem Kreise entferne, damit er das Unnötige nicht aufnehme und das Nötige versäume.
Ein solcher Künstler, eine Nation, ein Jahrhundert solcher Künstler, bilden durch Beispiel und Lehre nachdem die Kunst sich lange empirisch fortgeholfen hat, endlich die Regeln der Kunst. Aus ihrem Geiste und ihrer Hand entstehen Proportionen, Formen, Gestalten, wozu ihnen die bildende Natur den Stoff darreichte; sie konvenieren nicht über dies und jenes, das aber anders sein könnte, sie reden nicht mit einander ab, etwas ungeschicktes für das Rechte gelten zu lassen, sondern sie bilden zuletzt die Regeln aus sich selbst, nach Kunstgesetzen, die eben so wahr in der Natur des bildenden Genius liegen, als die große allgemeine Natur die organischen Gesetze ewig tätig bewahrt.
Es ist hier gar die Frage nicht, auf welchem Raum der Erde? unter welcher Nation? zu welcher Zeit? man diese Regeln entdeckt und befolgt habe. Es ist die Frage nicht, ob man an andern Orten, zu andern Zeiten, unter andern Umständen davon abgewichen sei? ob man hie und da etwas Konventionelles dem Gesetzmäßigen substituiert habe? Ja es ist nicht einmal die Frage, ob die echten Regeln jemals gefunden oder befolgt worden sind? sondern man muß kühn behaupten, daß sie gefunden werden müssen, und daß, wenn wir sie dem Genie nicht vorschreiben können, wir sie von dem Genie zu empfangen haben, das sich selbst in seiner höchsten Ausbildung fühlt, und seinen Wirkungskreis nicht verkennt.
Was sollen wir aber zu dem folgenden Perioden sagen? Er enthält eine Wahrheit, aber eine überflüssige; sie ist paradox hingestellt, um uns auf Paradoxe vorzubereiten.
Eine krumme Nase beleidigt nicht in der Natur, weil alles zusammenhängt, man wird auf diesen Umstand durch kleine nachbarliche Veränderungen geführt, die ihn einleiten, und erträglich machen. Verdrehte man dem Antinous die Nase, indem das übrige an seinem Platze bliebe, so würde es übel aussehen. Warum? Antinous hat alsdann keine krumme, er hat eine zerbrochne Nase.
Wir dürfen wohl nochmals fragen: was soll das hier bedeuten? was beweisen? und warum wird hier Antinous gebraucht? Jedes wohlgebildete Gesicht wird entstellt, wenn man die Nase auf die Seite biegt, und warum? weil die Symmetrie gestört wird, auf welcher die gute Bildung des Menschen beruht. Von einem Gesichte, das im Ganzen verschoben ist, dergestalt, daß man gar keine Foderung einer symmetrischen Stellung der Teile an dasselbe macht, sollte gar nicht die Rede sein, wenn man auch von Kunst nur zum Scherz spräche.
Bedeutender ist folgender Periode, hier geht der Sophist schon mit vollen Segeln.
Wir sagen von einem Menschen, den wir vorbei gehen sehen, er sei übel gemacht. Ja nach unsern armen Regeln; aber nach der Natur beurteilt, wird es anders klingen. Wir sagen von einer Statue: sie habe die schönsten Proportionen. Ja nach unsern armen Regeln, aber was würde die Natur sagen.
Mannigfaltig ist die Komplikation des Halben, Schiefen und Falschen in diesen wenigen Worten. Hier ist wieder die Lebenswirkung der organischen Natur, die sich in allen Störungsfällen, obgleich oft kümmerlich genug, in ein gewisses Gleichgewicht zu setzen weiß, und dadurch ihre lebendige, produktive Realität auf das kräftigste beweist, der vollendeten Kunst entgegengesetzt, die auf ihrem höchsten Gipfel keine Ansprüche auf lebendige, produktive und reproduktive Realität macht, sondern die Natur auf dem würdigsten Punkte ihrer Erscheinung ergreift, ihr die Schönheit der Proportionen ablernt, um sie ihr selbst wieder vorzuschreiben.
Die Kunst übernimmt nicht mit der Natur, in ihrer Breite und Tiefe, zu wetteifern, sie hält sich an die Oberfläche der natürlichen Erscheinungen; aber sie hat ihre eigne Tiefe, ihre eigne Gewalt; sie fixiert die höchsten Momente dieser oberflächlichen Erscheinungen, indem sie das Gesetzliche darin anerkennt, die Vollkommenheit der zweckmäßigen Proportion, den Gipfel der Schönheit, die Würde der Bedeutung, die Höhe der Leidenschaft.
Die Natur scheint um ihrer selbst willen zu wirken, der Künstler wirkt als Mensch, um des Menschen willen. Aus dem, was uns die Natur darbietet, lesen wir uns, im Leben, das Wünschenswerte, das Genießbare nur kümmerlich aus; was der Künstler dem Menschen entgegen bringt, soll alles den Sinnen faßlich und angenehm, alles aufreizend und anlockend, alles genießbar und befriedigend, alles für den Geist nährend, bildend und erhebend sein, und so gibt der Künstler, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete zurück.
Soll dieses aber geschehen, so muß das Genie, der berufne Künstler, nach Gesetzen, nach Regeln handeln, die ihm die Natur selbst vorschrieb, die ihr nicht widersprechen, die sein größter Reichtum sind, weil er dadurch sowohl den großen Reichtum der Natur als den Reichtum seines Gemüts beherrschen und brauchen lernt.
Es sei mir erlaubt den Schleier von meinem Bucklichen auf die medicäische Venus überzutragen, so daß man nur die Spitze ihres Fußes gewahr werde. Übernähme nun die Natur zu dieser Fußspitze eine Figur auszubilden, so würdet ihr vielleicht, mit Verwunderung, unter ihrem Griffel ein häßliches und verschobenes Ungeheuer entstehen sehen; mich aber würde es wundern, wenn das Gegenteil geschähe.
Der falsche Weg, den unser Freund und Gegner mit den ersten Schritten eingeschlagen, vor dem wir bisher zu warnen suchten, zeigt sich nun hier in seiner völligen Ablenkung.
Was uns betrifft, so haben wir viel zu große Ehrfurcht vor der Natur, als daß wir ihre personifizierte, göttliche Gestalt für so täppisch halten sollten, in die Schlingen eines Sophisten einzugehen, und, um seinen Scheingründen einiges Gewicht zu verschaffen, mit ihrer nie abirrenden Hand, eine Fratze zu entwerfen. Sie wird vielmehr, wie das Orakel jene verfängliche Frage: ob der Sperling lebendig oder tot sei? hier auch diese ungeschickte Zumutung beschämen.
Sie tritt vor das verschleierte Bild, sieht die Fußspitze und vernimmt warum der Sophist sie aufgerufen hat. Streng; aber ohne Unwillen ruft sie ihm zu: du versuchst mich vergebens durch eine verfängliche Zweideutigkeit! Laß den Schleier hängen, oder hebe ihn weg, ich weiß, was drunter verborgen ist. Ich habe diese Fußspitze selbst gemacht, denn ich lehrte den Künstler, der sie bildete; ich gab ihm den Begriff vom Charakter einer Gestalt, und aus diesem Begriff sind diese Proportionen, diese Formen entstanden; es ist genug, daß diese Fußspitze zu dieser, und zu keiner andern Statue passe, daß dieses Kunstwerk, das du mir zum größten Teil zu verbergen glaubst, mit sich selbst in Übereinstimmung sei. Ich sage dir: diese Fußspitze gehört einem schönen, zarten, schamhaften Weibe, die in der Blüte ihrer Jugend steht! Auf einem andern Fuße würde die würdigste der Frauen, die Götterkönigin ruhen, auf einem andern eine leichtsinnige Bachantin schweben. Doch dieses merke: der Fuß ist von Marmor, er verlangt nicht zu gehen, und so ist der Körper auch, er verlangt nicht zu leben. Hatte dieser Künstler etwa die törige Forderung, seinen Fuß neben einen organischen zu stellen? dann verdient er die Demütigung, die du ihm zudenkst; aber du hast ihn nicht gekannt, oder ihn mißverstanden, kein echter Künstler verlangt sein Werk neben ein Naturprodukt, oder gar an dessen Stelle zu setzen; der es täte, wäre wie ein Mittelgeschöpf, aus dem Reiche der Kunst zu verstoßen, und im Reiche der Natur nicht aufzunehmen.
Dem Dichter kann man wohl verzeihen, wenn er, um eine interessante Situation in der Phantasie zu erregen, seinen Bildhauer in eine selbsthervorgebrachte Statue wirklich verliebt denkt, wenn er ihm Begierden zu derselben andichtet, wenn er sie endlich in seinen Armen erweichen läßt. Das gibt wohl ein lüsternes Geschichtchen, das sich ganz artig anhört; für den bildenden Künstler bleibt es ein unwürdiges Märchen. Die Tradition sagt: daß brutale Menschen gegen plastische Meisterwerke von sinnlichen Begierden entzündet wurden; die Liebe eines hohen Künstlers aber zu seinem trefflichen Werk ist ganz anderer Art; sie gleicht der frommen, heiligen Liebe unter Blutsverwandten und Freunden. Hätte Pygmalion seiner Statue begehren können, so wäre er ein Pfuscher gewesen, unfähig eine Gestalt hervorzubringen, die verdient hätte, als Kunstwerk oder als Naturwerk geschätzt zu werden.
Verzeihe, o Leser und Zuhörer, wenn unsere Göttin weitläufiger, als es einem Orakel geziemt, gesprochen hat. Einen verworrenen Knaul kann man dir bequem auf einmal in die Hand geben; um ihn zu entwirren aber, um ihn dir als einen reinen Faden in seiner Länge zu zeigen, braucht es Zeit und Raum.
Eine menschliche Figur ist ein System so mannigfaltig zusammengesetzt, daß die Folgen einer, in ihren Anfängen unmerklichen, Inkonsequenz, das vollkommenste Kunstwerk auf tausend Meilen von der Natur wegwerfen müssen.
Ja! der Künstler verdiente diese Demütigung, daß man ihm sein vollkommenstes Kunstwerk, die Frucht seines Geistes, seines Fleißes, seiner Mühe unendlich herabwürdigte, gegen ein Naturprodukt herabsetzte, wenn er es neben, oder an die Stelle eines Naturprodukts hätte setzen wollen.
Mit Fleiß wiederholen wir die Worte unserer supponierten Göttin, weil unser Gegner sich auch wiederholt, und weil gerade dieses Vermischen von Natur und Kunst die Hauptkrankheit ist, an der unsere Zeit darnieder liegt. Der Künstler muß den Kreis seiner Kräfte kennen, er muß innerhalb der Natur sich ein Reich bilden; er hört aber auf ein Künstler zu sein, wenn er mit in die Natur verfließen, sich in ihr auflösen will.
Wir wenden uns abermals zu unserem Autor, der eine geschickte Wendung nimmt, um von seinen seltsamen Seitenwegen zu dem Wahren und Richtigen allmählig zurückzukehren.
Wenn ich in die Geheimnisse der Kunst eingeweiht wäre, so wüßte ich vielleicht, wie weit der Künstler sich den angenommenen Proportionen unterwerfen soll; und ich würde es euch sagen.
Wenn es der Fall sein kann, daß der Künstler sich Proportionen unterwerfen soll, so müssen diese doch etwas Nötigendes, etwas Gesetzliches haben, sie dürfen nicht willkürlich angenommen sein, sondern die Masse der Künstler muß hinreichende Ursache, bei Beobachtung der natürlichen Gestalten und in Rücksicht auf Kunstbedürfnis gefunden haben, sie anzunehmen. Das ists, was wir behaupten, und wir sind schon zufrieden, daß unser Verfasser es einigermaßen zugesteht. Nur geht er leider zu geschwind über das, was Gesetzlich sein soll, hinaus, er lehnt es bei Seite, um uns auf einzelne Bedingungen und Bestimmungen, auf Ausnahmen zu leiten, und aufmerksam zu machen, denn er fährt fort:
Aber das weiß ich, daß sie gegen den Despotismus der Natur sich nicht halten können; daß das Alter, der Zustand auf hunderterlei Art Aufopferungen bewirken.
Dies ist keineswegs ein Gegensatz gegen das, was wir behauptet haben. Eben weil der Künstlergeist sich erhoben hat, den Menschen auf der Höhe seiner Gestalt und übrigens ohne Bedingung zu betrachten, dadurch sind ja die Proportionen entstanden. Niemand wird die Ausnahmen leugnen, wenn man sie gleich erst bei Seite setzen muß, wer würde eine Physiologie durch pathologische Noten zu entkräften glauben.
Ich habe niemals gehört, daß man eine Figur übel gezeichnet nenne, wenn sie ihre äußere Organisation deutlich sehen läßt, wenn das Alter, die Gewohnheit und die Leichtigkeit tägliche Beschäftigungen auszuüben, wohl ausgedrückt ist.
Wenn eine Figur ihre äußere Organisation deutlich sehen läßt, und die übrigen Bedingungen erfüllt, die hier gefordert werden; so hat sie gewiß, wo nicht schöne, doch charakteristische Proportionen und kann in einem Kunstwerke gar wohl ihre Stelle finden.
Diese Beschäftigungen bestimmen die vollkommene Größe der Figur, die Proportion jedes Gliedes und des Ganzen; daher sehe ich das Kind entspringen, den erwachsnen Mann und den Greis; den wilden, so wie den gebildeten Menschen, den Geschäftsmann, den Soldaten und den Lastträger.
Niemand wird leugnen, daß Funktionen großen Einfluß auf die Ausbildung der Glieder haben, aber die Fähigkeit zu diesem oder jenem Zweck ausgebildet zu werden, muß zum Grunde liegen. Alle Beschäftigung der Welt wird keinen Schwächling zu einem Lastträger machen. Die Natur muß das ihrige getan haben, wenn die Erziehung gelingen soll.
Wenn eine Figur schwer zu erfinden wäre, so müßte es ein Mensch von zwanzig Jahren sein, der schnell, auf einmal, aus der Erde entstanden wäre, und nichts getan hätte; aber dieser Mensch ist eine Chimäre.
Dieser Behauptung kann man nicht gerade zu widersprechen, und doch muß man sich gegen das Captiose, das in ihr liegt, verwahren. Freilich lassen sich keine Glieder eines Erwachsnen denken, die sich ohne Übung, in einer absoluten Ruhe, ausgebildet hätten, und doch denkt sich der Künstler, indem er seinen Idealen nachstrebt, einen menschlichen Körper, welcher, durch die mäßigste Übung, zu seiner größten Ausbildung gekommen ist; allen Begriff von Mühe, von Anstrengung, von Ausbildung zu einem gewissen Zweck und Charakter muß er ablenken. Eine solche Gestalt, die auf wahren Proportionen ruht, kann gar wohl von der Kunst hervorgebracht werden, und ist alsdenn keineswegs eine Chimäre, sondern ein Ideal.
Die Kindheit ist beinahe eine Karikatur, dasselbe kann man von dem Alter sagen; das Kind ist eine unförmige, flüssige Masse, die sich zu entwickeln strebt, so wie der Greis eine ungestaltete und trockne Masse wird, die in sich selbst zurückkehrt, um sich nach und nach auf nichts zu reduzieren.
Wir stimmen mit dem Verfasser völlig überein, daß Kindheit und hohes Alter aus dem Bezirk der schönen Kunst zu verbannen sind. In so fern der Künstler auf Charakter arbeitet, mag er auch einen Versuch machen, diese zu wenig oder zu viel entwickelte Naturen in den Zyklus schöner und bedeutender Kunst aufzunehmen.
Nur in dem Zwischenraum der beiden Alter, vom Anfang der vollkommenen Jugend bis zum Ende der Mannheit, unterwirft der Künstler seine Gestalten der Reinheit, der strengen Genauigkeit der Zeichnung, da ist es, wo das poco piu und poco meno, eine Abweichung hinein oder heraus, Fehler oder Schönheiten hervorbringen.
Nur äußerst kurze Zeit kann der menschliche Körper schön genannt werden, und wir würden, im strengen Sinne, die Epoche noch viel enger als unser Verfasser begrenzen. Der Augenblick der Pubertät ist für beide Geschlechter der Augenblick, in welchem die Gestalt der höchsten Schönheit fähig ist; aber man darf wohl sagen: es ist nur ein Augenblick! die Begattung und Fortpflanzung kostet dem Schmetterlinge das Leben, dem Menschen die Schönheit, und hier liegt einer der größten Vorteile der Kunst, daß sie dasjenige dichterisch bilden darf, was der Natur unmöglich ist, wirklich aufzustellen. So wie die Kunst Zentauren erschafft, so kann sie uns auch jungfräuliche Mütter vorlügen, ja es ist ihre Pflicht. Die Matrone Niobe, Mutter von vielen erwachsnen Kindern, ist mit dem ersten Reiz jungfräulicher Brüste gebildet. Ja in der weisen Vereinigung dieser Widersprüche, ruht die ewige Jugend, welche die Alten ihren Gottheiten zu geben wußten.
Hier sind wir also mit unserm Verfasser völlig einig. Bei schönen Proportionen, bei schönen Formen ist allein das zarte Mehr oder Weniger bedeutend. Das Schöne ist ein enger Kreis, in dem man sich nur bescheiden regen darf.
Wir lassen uns von unserm Autor weiter führen, er bringt uns durch einen leichten Übergang auf eine bedeutende Stelle.
Aber, werdet ihr sagen, wie sich auch das Alter und die Funktionen (v)erhalten mögen, indem sie die Formen verändern, zerstören sie doch die Organe nicht – das gebe ich zu – so muß man sie also kennen? – das will ich nicht leugnen. Ja, hier ist die Ursache, warum man die Anatomie zu studieren hat.
Das Studium des Muskelmanns hat ohne Zweifel seine Vorteile, aber sollte nicht zu fürchten sein, daß dieser Geschundne beständig in der Einbildungskraft bleiben, daß der Künstler auf der Eitelkeit beharren werde, sich immer gelehrt zu zeigen, daß sein verwöhntes Auge nicht mehr auf der Oberfläche verweilen könne, daß er, ohngeachtet der Haut und des Fettes, immer nur den Muskel sehe, seinen Ursprung, seine Befestigung, sein Einschmiegen! wird er nicht alles zu stark ausdrücken? wird er nicht hart und trocken arbeiten? werde ich nicht den verwünschten Geschundnen auch in Weiberfiguren wieder finden?
Weil ich denn doch einmal nur das Äußere zu zeigen habe, so wünschte ich, man lehrte mich das Äußere nur recht gut sehen, und erließe mir eine gefährliche Kenntnis, die ich vergessen soll.
Dergleichen Grundsätze darf man jungen und leichtgesinnten Künstlern nur merken lassen, sie werden sich über eine Autorität freuen, die völlig wie aus ihrer Seele spricht. Nein, werter Diderot! drücke dich, da dir die Sprache so zu Gewalt steht, bestimmter aus. Ja, das Äußere soll der Künstler darstellen! Aber was ist das Äußere einer organischen Natur anders, als die ewig veränderte Erscheinung des Innern. Dieses Äußere, diese Oberfläche ist einem mannigfaltigen, verwickelten, zarten, innern Bau so genau angepaßt, daß sie dadurch selbst ein Inneres wird, indem beide Bestimmungen, die äußere und die innere, im ruhigsten Dasein, so wie in der stärksten Bewegung stets im unmittelbarsten Verhältnisse stehen.
Wie diese innere Kenntnis erreicht werde, nach welcher Methode der Künstler Anatomie studieren soll, damit sie ihm nicht den Schaden bringe, den Diderot richtig schildert, ist hier der Ort nicht, auszumachen; aber so viel kann man im Allgemeinen sagen: du sollst den Leichnam, an dem du die Muskeln kennen lerntest, beleben, nicht vergessen. Der musikalische Komponist wird, bei dem Enthusiasmus seiner melodischen Arbeiten, den Generalbaß, der Dichter das Sylbenmaß nicht vergessen.
Die Gesetze, nach denen der Künstler arbeitet, vergißt er so wenig, als den Stoff den er behandeln will. Dein Muskelmann ist Stoff und Gesetz, dieses mußt du mit Bequemlichkeit befolgen, jenen mit Leichtigkeit zu beherrschen wissen! und willst du wahrhaft wohltätig gegen deine Schüler sein; so hüte sie für unnützen Kenntnissen und für falschen Maximen, denn es hält schwer, das Unnütze wegzuwerfen, so wie eine falsche Richtung zu verändern.
Man studiert die Muskeln am Leichnam nur deshalb, sagt man, damit man lerne, wie man die Natur ansehen soll, aber die Erfahrung lehrt, daß man, nach diesem Studio, gar viel Mühe hat, die Natur nicht anders zu sehen, als sie ist.
Auch diese Behauptung beruht nur auf schwankend gebrauchten Worten. Der Künstler, der an der Oberfläche nur herumkrabelt, wird dem geübten Auge immer leer, obgleich, bei schönem Talente, immer angenehm erscheinen; der Künstler der sich ums Innere bekümmert, wird freilich auch das sehen, was er weiß, er wird, wenn man will, sein Wissen auf die Oberfläche übertragen, und hier ist auch das geringe Mehr oder Weniger, welches entscheidet, ob er wohl, oder übel tut.
Hat nun bisher unser Freund und Gegner das Studium der Anatomie verdächtig gemacht, so zieht er nun gleichfalls gegen das akademische Studium des Nackten zu Felde. Hier hat er es eigentlich mit den Pariser akademischen Anstalten, und ihrer Pedanterei zu tun, die wir denn nicht in Schutz nehmen wollen. Auch zu diesem Punkte bewegt er sich durch einen raschen Übergang.
Ihr, mein Freund, werdet diesen Aufsatz allein lesen, und darum darf ich schreiben, was mir beliebt. Die sieben Jahre, die man bei der Akademie zubringt, um nach dem Modell zu zeichnen, glaubt ihr die gut angewendet? und wollt ihr wissen, was ich davon denke? Eben während diesen sieben mühseligen und grausamen Jahren, nimmt man in der Zeichnung eine Manier an; alle diese akademischen Stellungen, gezwungen, zugerichtet, zurechtgerückt, wie sie sind, alle die Handlungen, die kalt und schief, durch einen armen Teufel, ausgedrückt werden, und immer durch ebendenselben armen Teufel, der gedungen ist, dreimal die Woche zu kommen, sich auszukleiden, und sich durch den Professor, wie eine Gliederpuppe behandeln zu lassen, was haben sie mit den Stellungen und Bewegungen der Natur gemein? der Mann, der in eurem Hofe Wasser aus dem Brunnen zieht, wird er durch jenen richtig vorgestellt, der nicht dieselbe Last zu bewegen hat und, mit zwei Armen in der Höhe auf dem Schulgerüst, diese Handlung ungeschickt simuliert. Wie verhält sich der Mensch, der vor der Schule zu sterben scheint, zu dem, der in seinem Bette stirbt, oder den man auf der Straße totschlägt? Was für ein Verhältnis hat der Ringer in der Akademie zu dem auf meiner Kreuzstraße? welches der Mann, der auf Befehl bittet, bettelt, schläft, nachdenkt und in Ohnmacht fällt, zu dem Bauer, der für Müdigkeit sich auf die Erde streckt, zu dem Philosophen, der neben seinem Feuer nachdenkt, zu dem gedrängten, erstickten Mann, der unter der Menge in Ohnmacht fällt? gar keins! mein Freund, gar keins!
Von dem Modelle gilt im Allgemeinen, was von dem Muskelkörper vorhin gesagt worden. Das Studium des Modells und die Nachbildung desselben ist teils eine Stufe, die der Künstler zwar nicht überspringen kann, worauf er aber nicht zu lange verweilen sollte, teils ist es eine Beihülfe bei Ausführung seiner Werke, die er, selbst als vollendeter Künstler, nicht entbehren kann. Das lebendige Modell ist für den Künstler nur ein roher Stoff, von dem er sich nicht muß einschränken lassen, sondern den er zu verarbeiten trachten muß.
Die übeln Wirkungen, die unser Freund von dem, freilich ewigen, Studium des Modells in der Akademie gesehen, verdrießen ihn so sehr, daß er fortfährt.
Eben so gut möchte man die Künstler, um ja das Abgeschmackte zu vollenden, wenn man sie dort entläßt, zu Vestris, oder Gardel, oder zu irgend einem andern Tanzmeister schicken, damit sie da die Grazie lernen. Denn wahrlich, die Natur wird ganz vergessen, die Einbildungskraft füllt sich mit Handlungen, Stellungen, mit Figuren, die nicht falscher, zugeschnittner, lächerlicher und kälter sein könnten. Da stecken sie im Magazin, und nun kommen sie heraus, um sich ans Tuch zu hängen. So oft der Künstler seinen Stift, oder seine Feder nimmt, erwachen diese verdrießlichen Gespenster, und treten vor ihn, er wird sie nicht los, und nur ein Wunder kann sie aus seinem Kopfe verjagen. Ich kannte einen jungen Menschen, voll Geschmack, der, ehe er den mindesten Zug auf die Leinwand tat, Gott auf seinen Knien anrief und vom Modell befreit zu werden bat. Wie selten ist es gegenwärtig ein Gemälde zu sehen, das aus einer gewissen Anzahl Figuren besteht, ohne, hie und da, einige dieser Figuren, Stellungen, Handlungen und Bewegungen zu finden, die akademisch sind, einem Mann von Geschmack unerträglich mißfallen, und nur denen imponieren, welchen die Wahrheit fremd ist. Daran ist denn doch das ewige Studium des Schulmodelles schuld.
Nicht in der Schule lernt man die allgemeine Übereinstimmung der Bewegungen, die Übereinstimmung die man sieht und fühlt, die sich vom Haupt bis zu den Füßen ausbreitet und schlängelt. Wenn eine Frau nachdenklich den Kopf sinken läßt, so werden alle Glieder zugleich der Schwere gehorchen, sie hebe den Kopf wieder auf, und halte ihn gerade, sogleich gehorcht die ganze übrige Maschine.
Durch die Behandlung bei der französischen Akademie, wobei man die Stellungen vervielfältigen mußte, entfernte man sich von dem ersten Zweck des Modells den Körper physisch kennen zu lernen, und um der Mannigfaltigkeit willen wählte man auch Stellungen, die Gemütsbewegungen auszudrücken. Da denn unser Freund freilich ganz im Vorteil steht, wenn er diese erzwungenen und falschen Darstellungen gegen den natürlichen Ausdruck hält, den man auf der Straße, in der Kirche, unter jeder Volksmenge beobachten kann, er kann sich des Spottens nicht enthalten.
Freilich ist es eine Kunst, eine große Kunst das Modell zu stellen, man darf nur sehen, was der Herr Professor sich darauf zu gute tut. Fürchtet nicht, daß er etwa zu dem armen, gedungenen Teufel sagen könnte: mein Freund stelle dich selbst! mache was du willst! viel lieber gibt er ihm eine sonderbare Bewegung, als daß er ihn eine einfache und natürliche nehmen ließe. Indessen ist das nun einmal nicht anders.
Hundertmal war ich versucht, den jungen Kunstschülern, die mir auf dem Weg zum Louvre, mit ihrem Portefeuille unter dem Arm, begegneten, gutherzig zuzurufen, Freunde wie lange zeichnet ihr da? Zwei Jahre. Das ist mehr als zu viel! Laßt mir die Krambude der Manier, geht zu den Cartheusern dort werdet ihr den wahren Ausdruck der Frömmigkeit und Innigkeit sehen. Heute ist Abend vor dem großen Feste, geht in die Kirche, schleicht euch zu den Beichtstühlen, dort werdet ihr sehen wie der Mensch sich sammelt, wie er bereut. Morgen geht in die Landschenke, dort werdet ihr wahrhaft erzürnte Menschen sehen; mischt euch in die öffentlichen Begebenheiten, beobachtet auf den Straßen, in den Gärten, auf den Märkten, in Häusern, und ihr werdet richtige Begriffe fassen über die wahre Bewegung der Lebenshandlungen. Seht! gleich hier! zwei von euren Kameraden streiten. Schon dieser Wortstreit gibt, ohne ihr Wissen, allen Gliedern eine eigne Richtung. Betrachtet sie wohl, und wie erbärmlich wird euch die Lektion eures geschmacklosen Professors, und die Nachahmung eures geschmackleeren Modelles vorkommen! Was werdet ihr nicht zu tun haben, wenn ihr künftig an dem Platz aller dieser Falschheiten, die ihr eingelernt habt, die Einfalt und Wahrheit des le Sueur setzen wollt; und das müßt ihr doch, wenn ihr etwas zu sein verlangt.
Dieser Rat wäre an sich gut, und nicht genug kann sich ein Künstler unter den Volksmassen umsehen; allein unbedingt wie Diderot ihn gibt, kann er zu nichts führen. Der Lehrling muß erst wissen, was er zu suchen hat, was der Künstler aus der Natur brauchen kann, wie er es zu Kunstzwecken brauchen soll. Sind ihm diese Vorübungen fremd, so helfen ihm alle Erfahrungen nichts, und er wird nur, wie viele unsere Zeitgenossen, das Gewöhnliche, Halbinteressante, oder das, auf sentimentalen Abwegen, falsch Interessante darstellen.
Etwas anders ist eine Attitüde, etwas anders eine Handlung. Alle Attitüde ist falsch und klein, jede Handlung ist schön und wahr.
Diderot braucht das Wort Attitüde schon einigemal, und ich habe es nach der Bedeutung übersetzt, die es mir an jenen Stellen zu haben schien, hier ist es aber nicht übersetzlich, denn es führt schon einen mißbilligenden Nebenbegriff bei sich. Überhaupt bedeutet Attitüde, in der französischen akademischen Kunstsprache, eine Stellung, die eine Handlung, oder Gesinnung ausdrückt, und in so fern bedeutend ist. Weil nun aber die Stellungen akademischer Modelle dieses was von ihnen gefordert wird, nicht leisten, sondern nach der Natur der Aufgaben und Umstände, gewöhnlich anmaßlich, leer, übertrieben, unzulänglich bleiben müssen, so gebraucht Diderot das Wort Attitüde hier im mißbilligenden Sinne, den wir auf kein Deutsches Wort übertragen können, wir müßten denn etwa akademische Stellung sagen wollen, wobei wir aber um nichts gebessert wären.
Von den Stellungen geht Diderot zum Kontrast über und mit Recht. Denn aus der mannigfaltigen Richtung der Glieder an einer Figur, so wie aus mannigfaltigen Richtungen der Glieder zusammengestellter Figuren, entsteht der Kontrast. Wir wollen den Verfasser selbst hören.
Der übel verstandene Kontrast ist eine der traurigsten Ursachen des Manierierten. Es gibt keinen wahren Kontrast, als den der aus dem Grunde der Handlung entspringt, aus der Mannigfaltigkeit der Organe, oder des Interesse. Wie geht Rafael, wie le Sueur zu Werke? manchmal stellen sie drei, vier, fünf Figuren gerade eine neben die andre, und die Wirkung ist herrlich. Bei den Cartheusern, in der Messe oder der Vesper, sieht man in zwei langen parallelen Reihen, vierzig bis fünfzig Mönche. Gleiche Stolen, gleiche Verrichtung, gleiche Bekleidung und doch sieht keiner aus wie der andre. Sucht mir nur keinen andern Kontrast als den, der diese Mönche unterscheidet! hier ist das Wahre! alles andere ist klein und falsch.
Auch hier ist er, wie bei der Lehre von den Gebärden, ob er gleich im Ganzen recht hat, zu wegwerfend gegen die Kunstmittel und empirisch dilettantisch in seinem Rat. Aus ein paar symmetrischen Mönchs-Reihen hat Rafael gewiß manches Motiv zu seinen Kompositionen genommen, aber es war Rafael der es nahm, das Kunstgenie, der fortschreitende, sich immer mehr ausbildende und vollendende Künstler. Man vergesse nur nicht, daß man den Schüler, den man ohne Kunstanleitung zur Natur hinstößt, von Natur und Kunst zugleich entferne.
Nun geht Diderot, wie er schon oben getan, durch eine unbedeutende Phrase zu einer fremden Materie über, er will den Kunstschüler, besonders den Maler, aufmerksam machen: daß eine Figur rund und vielseitig sei, daß der Maler die Seite, die er sehen läßt, so lebhaft darstellen müsse, daß sie die übrigen gleichsam in sich enthalte. Was er sagt, deutet seine Intention mehr an, als daß an eine Ausführung zu denken wäre.
Wenn unsere jungen Künstler ein wenig geneigt wären meinen Rat zu nutzen, so würde ich ihnen ferner sagen: ist es nicht lange genug, daß ihr nur die eine Seite des Gegenstandes seht, die ihr nachbildet? versucht meine Freunde, euch die Figur als durchsichtig zu denken und euer Auge in den Mittelpunkt derselben zu bringen. Von da werdet ihr das ganze äußere Spiel der Maschine beobachten, ihr werdet sehen, wie gewisse Teile sich ausdehnen, indessen andere sich verkürzen, wie diese zusammensinken, jene sich aufblähen, und ihr werdet immer, von dem Ganzen durchdrungen in der Einen Seite des Gegenstands, die euer Gemälde mir zeigt, die schickliche Übereinstimmung mit der andern fühlen lassen, die ich nicht sehe; und ob ihr mir gleich nur Eine Ansicht darstellt, so werdet ihr doch meine Einbildungskraft zwingen, auch die entgegengesetzte zu sehen. Dann werde ich sagen, daß ihr ein erstaunlicher Zeichner seid.
Indem Diderot Künstlern den Rat gibt, sich in die Mitte der Figur in Gedanken zu versetzen, um sie nach allen Seiten wirkend und belebt zu sehen, ist seine Absicht, besonders den Maler zu erinnern, daß er nicht flach, und gleichsam nur von einer Seite gefällig zu sein suchen solle. Denn gewiß schon eine richtige Zeichnung, ohne Licht und Schatten erscheint rund, so wie vor- und zurücktretend. Warum erscheint eine Silhouette so belebt? weil der Umriß der Gestalt richtig ist, daß man sowohl die vordere, als Rückseite der Figur hinein zeichnen könnte. Der junge Künstler, dem unsers Verfassers Rat nicht ganz deutlich sein sollte, mache den eben angezeigten Versuch mit der Silhouette, und sein Auge, von zwei Seiten auf denselben Contour gerichtet, wird das ohngefähr wirklich ausüben können, was Diderot, durch Abstraktion aus der Mitte der Figur herausgedacht haben will.
Wenn nun eine Figur im Ganzen gut zusammen gezeichnet ist, so erinnert der Verfasser nunmehr an die Ausführung, die nicht dem Ganzen schaden, sondern dasselbe vollenden möge. Wir sind, mit ihm, überzeugt daß die höchsten Geisteskräfte, so wie der geübteste Mechanismus des Künstlers hierbei aufgerufen werden müssen.
Aber es ist nicht genug, daß ihr das Ganze gut zusammenrichtet, nun habt ihr noch das Einzelne auszuführen, ohne daß die Masse zerstört werde. Das ist das Werk der Begeisterung, des Gefühls, des auserlesnen Gefühls.
Und so würde ich denn eine Zeichenschule folgendermaßen eingerichtet wünschen: wenn der Schüler, mit Leichtigkeit, nach der Zeichnung und dem Runden, zu arbeiten weiß, so halte ich ihn zwei Jahre vor dem akademischen Modell des Manns und der Frau. Dann stelle ich ihm Kinder vor, dann Erwachsne, ferner ausgebildete Männer, Greise, Personen von verschiedenem Alter und Geschlecht, aus allen Ständen der Gesellschaft genommen, genug alle Arten von Naturen. Es kann mir daran nicht fehlen, wenn ich sie gut bezahle, so werden sie sich in Menge bei meiner Akademie melden, leb(t)e ich in einem Sklavenlande, so hieße ich sie kommen.
Der Professor bemerkt bei den verschiedenen Modellen die Zufälligkeiten, welche, durch die tägliche Verrichtung, Lebensart, Stand und Alter, in den Formen Veränderung bewirken.
Ein Schüler sieht das akademische Modell nur alle vierzehen Tage, und diesem überläßt der Professor sich selbst zu stellen. Nach der Zeichnungssitzung erklärt ein geschickter Anatom meinem Lehrling den abgezognen Leichnam, und wendet seine Lektion auf das Lebendige, Belebte, Nackende an. Höchstens zwölfmal des Jahrs zeichnet er nach der toten Zergliedrung; mehr braucht er nicht, um zu empfinden, daß Fleisch auf Knochen, und freies Fleisch sich nicht überein zeichnen läßt, daß hier der Strich rund, und dort gleichsam winklich sein müsse; er wird einsehen, daß wenn man diese Feinheiten vernachlässigt, das Ganze wie eine aufgetriebene Blase, oder wie ein Wollsack aussieht.
Daß der Vorschlag zu einer Zeichenschule unzulänglich, die Intention des Verfassers nicht klar genug, die Epochen, wie die verschiednen Abteilungen des Unterrichts auf einander folgen sollen, nicht bestimmt genug angegeben seien, fällt jedem in die Augen; doch ist hier der Ort nicht mit dem Verfasser zu hadern. Genug daß er, im Ganzen, den einschränkenden Pedantismus verbannt, und das bestimmende Studium anempfiehlt. Möchten wir doch von Künstlern unserer Zeit, sowohl an Körpern als Gewändern keine aufgedunsene Blasen und keine ausgestopften Wollsäcke wieder sehen.
Es gäbe nichts manieriertes, weder in der Zeichnung, noch in der Farbe, wenn man die Natur gewissenhaft nachahmte. Die Manier kommt vom Meister, von der Akademie, von der Schule, ja sogar von der Antike.
Fürwahr, so schlimm du angefangen hast, endigst du, wackrer Diderot, und wir müssen zum Schlusse des Kapitels in Unfrieden von dir scheiden. Ist die Jugend, bei einer mäßigen Portion Genie, nicht schon aufgeblasen genug, schmeichelt sich nicht jeder so gern: ein unbedingter, dem Individuo gemäßer, selbst ergriffner Weg, sei der beste, und führe am weitesten? und du willst deinen Jünglingen die Schule durchaus verdächtig machen! Vielleicht waren die Professoren der Pariser Akademie vor dreißig Jahren wert, so gescholten und diskreditiert zu werden, das kann ich nicht entscheiden, aber, im allgemeinen genommen, ist in deinen Schlußworten keine wahre Sylbe.
Der Künstler soll nicht so wahr, so gewissenhaft gegen die Natur, er soll gewissenhaft gegen die Kunst sein. Durch die treuste Nachahmung der Natur entsteht noch kein Kunstwerk, aber in einem Kunstwerke kann fast alle Natur erloschen sein, und es kann noch immer Lob verdienen. Verzeihe du abgeschiedner Geist, wenn deine Paradoxie mich auch paradox macht. Doch das wirst du im Ernste selbst nicht leugnen, von dem Meister, von der Akademie, von der Schule, von der Antike, die du anklagst, daß sie das Manierierte veranlasse, kann eben so gut, durch eine richtige Methode, ein echter Styl verbreitet werden, ja, man darf wohl sagen: welches Genie der Welt wird, auf Einmal, durch das bloße Anschauen der Natur, ohne Überlieferung, sich zu Proportionen entscheiden, die echten Formen ergreifen, den wahren Styl erwählen und sich selbst eine alles umfassende Methode erschaffen? Ein solches Kunstgenie ist ein weit leereres Traumbild, als oben dein Jüngling, der, als ein Geschöpf von zwanzig Jahren, aus einem Erdenkloß entstünde, und vollendete Glieder hätte, ohne sie jemals gebraucht zu haben.
Und so lebe wohl, ehrwürdiger Schatten, habe Dank, daß du uns veranlaßtest zu streiten, zu schwätzen, uns zu ereifern, und wieder kühl zu werden. Die höchste Wirkung des Geistes ist, den Geist hervorzurufen. Nochmals lebe wohl. Im Farbenreiche sehen wir uns wieder.