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In dem die Unhöflichkeit eines früheren Kapitels bestmöglichst wieder gut gemacht wird.
Da es der geringen Person eines Schriftstellers schlecht anstehen würde, einen so wichtigen Mann wie einen Kirchspieldiener mit den Rockschößen unter dem Arme am Feuer stehen zu lassen, bis es dem Autor eben beliebte, ihn zu erlösen; und da ihm seine Stellung oder seine Galanterie noch weniger erlaubt, auf ähnliche Weise eine Dame zu vernachlässigen, auf welche besagter Kirchspieldiener ein wohlgeneigtes und zärtliches Auge geworfen und in deren Ohren er süße Worte geflüstert, welche, aus dem Munde eines solchen Mannes kommend, in den Herzenssaiten jeglicher Jungfrau oder Matrone Anklang finden mußten: so eilt der gewissenhafte Erzähler dieser Geschichte, der die gebührende Ehrfurcht vor denjenigen hegt, welche mit hoher und wichtiger Autorität bekleidet sind, ihnen jene Achtung zu zollen, welche ihre Stellung erfordert, und ihnen die ganze pflichtmäßige, rücksichtsvolle Behandlung angedeihen zu lassen, zu welcher ihr hoher Rang und folglich ihre großen Tugenden sie auf das vollkommenste berechtigen. Es war seine Absicht, zu diesem Zwecke hier eine Abhandlung einzufügen, in welcher das göttliche Recht der Kirchspieldiener erörtert und der Satz, daß ein Kirchspieldiener kein Unrecht tun könne, ins Licht gestellt werden sollte, – eine Abhandlung, die für den verständigen und wohlgesinnten Leser sowohl angenehm wie nützlich hätte werden müssen; allein der Mangel an Zeit und Raum nötigt ihn unglücklicherweise, sie für jetzt noch zurückzustellen. Sobald es indes an Zeit und Raum nicht mehr gebricht, wird er zeigen, daß ein Kirchspieldiener in der wahren und höchsten Potenz – das will sagen ein solcher, der beim Kirchspielarmenhause angestellt ist und in seiner amtlichen Eigenschaft die Kirchspielkirche besucht – nach den Rechten und kraft seines Amts alle Vortrefflichkeiten und mit einem Worte die besten Eigenschaften der menschlichen Natur besitzt und daß bloße Vereins- oder Kapellen- oder Gerichtsdiener oder Pedelle auf jene Vortrefflichkeiten auch nur die mindesten begründeten Ansprüche keineswegs machen können.
Mr. Bumble hatte wiederholt die Teelöffel gezählt, die Zuckerzange gewogen, den Milchgießer geprüft und sämtliche Mobilien bis auf die Pferdehaarkissen der Stühle einer genauen Besichtigung unterworfen, ehe er daran dachte, daß es nachgerade wohl Zeit wäre, daß Mrs. Corneys zurückkehrte. Sie ließ jedoch noch immer nichts von sich weder sehen noch hören, ein Gedanke pflegt einen anderen hervorzurufen, und so dachte Mr. Bumble weiter, daß er sich zum Zeitvertreibe nicht unschuldiger und gottseliger beschäftigen könne, als wenn er seine Neugier durch einen flüchtigen Blick in Mrs. Corneys Kommode befriedigte.
Nachdem er daher an der Tür gehorcht hatte, ob auch niemand in der Nähe wäre, fing er seine Untersuchung bei der untersten Schublade an, und die Kleider aus guten Stoffen, welche er fand, schienen ihm ausnehmend zu gefallen. In der obersten entdeckte er eine verschlossene Büchse, die er schüttelte, und das Geldgeklapper däuchte seinen Ohren gar liebliche Musik. Nachdem er sich eine Zeitlang daran ergötzt hatte, stellte er sich wie zuvor an den Kamin und sagte mit feierlich-ernster Miene: »Ich tu's!«, schien durch ein schlaues, wohlgefälliges Lächeln hinzufügen zu wollen, was er doch für ein rüstiger, lustiger und pfiffiger alter Knabe sei, und betrachtete endlich mit vielem Vergnügen und Interesse seine Waden im Profil.
Er war noch in sotane befriedigende Wadenschau vertieft, als Mrs. Corney hastig hereintrat, sich atemlos auf einen Stuhl am Kamine warf, mit der einen Hand die Augen bedeckte, die andere auf das Herz legte und nach Atem rang.
»Mrs. Corney,« sagte Bumble, sich über sie beugend, »was ist Ihnen, Ma'am? Hat sich ein Unglück ereignet? Ich bitte, antworten Sie mir; ich stehe hier auf – auf –« Mr. Bumble konnte sich in seiner Bestürzung nicht auf das Wort »Kohlen« besinnen. Er sagte daher; »wie auf Zuckerzangen.«
»O, Mr. Bumble,« rief die Dame aus, »ich bin ganz wie zerschlagen!«
»Zerschlagen – wie!« zürnte Bumble. »Wer hat sich unterfangen – ah, ich weiß es schon,« fügte er mit angeborener Würde und Feierlichkeit hinzu, »abermals so ein Stück von den spitzbübischen, gottvergessenen Armen!«
»'s ist schrecklich, nur daran zu denken!« sagte die Dame schaudernd.
»So denken Sie nicht daran, Ma'am,« sagte Bumble.
»Ich kann's nicht lassen,« entgegnete Frau Corney zimperlich.
»So stärken Sie sich durch einen Tropfen Wein,« riet der Kirchspieldiener in mitleidigem Tone.
»Nicht um die Welt!« erwiderte Mrs. Corney. »Es wäre mir ganz unmöglich! Geistige Getränke – nein – nie – Ach, ach! auf dem obersten Simse rechter Hand; ach, ach!«
Die gute Frau hatte offenbar heftige Krämpfe und hatte schon die Besinnung verloren, als sie nach dem Eckschranke hinwies. Bumble flog auf denselben zu, fand eine grüne Flasche darin, nahm sie heraus, füllte eine Tasse mit ihrem Inhalt und hielt sie der Dame an die Lippen.
»Mir ist wohler!« sagte Mrs. Corney, nachdem sie die Arznei halb ausgetrunken hatte.
Bumble hob zum Zeichen seiner dankbaren Gefühle die Augen zur Decke empor, senkte sie nieder auf den Rand der Tasse und hielt dieselbe unter seine Nase.
»Pfefferminzwasser,« sagte Mrs. Corney mit matter Stimme, aber dem Kirchspieldiener zulächelnd. »Kosten Sie doch einmal – es ist noch ein wenig sonst noch was drin.«
Bumble kostete den heilkräftigen Trank, kostete noch einmal mit weiser, prüfender Miene, und stellte die Tasse leer auf den Tisch.
»Es bekommt vortrefflich,« bemerkte die Patientin.
Bumble erklärte, derselben Meinung zu sein, setzte sich neben Frau Corney und fragte zärtlich: »Was ist Ihnen aber begegnet, Ma'am?«
»O nichts,« erwiderte sie: »ich bin eine recht törichte, erregbare, schwache Frau.«
»Schwach, Ma'am,« sagte Bumble, ein wenig näher rückend. »Sind Sie wirklich schwach, Mrs. Corney?«
»Wir sind alle schwache Geschöpfe,« versetzte Mrs. Corney, einen allgemeinen Satz aufstellend.
»Sehr wahr,« stimmte Bumble ein.
Ein paar Minuten lang schwiegen beide, und nach Ablauf derselben hatte Mr. Bumble den allgemeinen Satz praktisch dadurch erläutert, daß er seinen linken Arm von Mrs. Corneys Stuhllehne entfernt und um ihr Schürzenband gelegt, wo er nunmehr mit sanftem Drucke ruhete.
»Wir sind allesamt schwache Geschöpfe,« wiederholte er.
Mrs. Corney seufzte.
»Seufzen Sie doch nicht, Ma'am!«
»Ach! wenn ich's nur lassen könnte!« Sie seufzte abermals.
»Dies Zimmerchen ist sehr nett und behaglich, Ma'am. Es würde mit noch so einem eine artige Wohnung ausmachen.«
»Es würde zu viel sein für eine einzelne Person,« murmelte die Dame.
»Aber nicht für zwei, Ma'am,« fiel Bumble schmachtend ein. »Was sagen Sie, Mrs. Corney?«
Mrs. Corney senkte den Kopf bei diesen Worten Mr. Bumbles, und Mr. Bumble senkte den seinigen gleichfalls, um ihr in das Gesicht schauen zu können. Mrs. Corney blickte mit großer Züchtigkeit seitwärts, machte ihre Hand los, um nach ihrem Taschentuche zu greifen, und ließ sie unwillkürlich in die Hand Mr. Bumbles sinken.
»Gibt Ihnen die Direktion nicht freie Feuerung, Mrs. Corney?« fragte der Kirchspieldiener, ihr zärtlich die Hand drückend.
»Und freies Licht,« erwiderte Mrs. Corney, den Druck leise erwidernd.
»Feuerung, Licht und Wohnung frei,« fuhr Bumble fort. »O, Mrs. Corney, welch ein Engel Sie sind!«
Die Dame war gegen einen solchen Gefühlserguß nicht unempfindlich genug, um noch länger widerstehen zu können, sondern sank in die Arme Mr. Bumbles, welcher Gentleman ihr im Sturme seiner Gefühle einen leidenschaftlichen Kuß auf die keusche Nase drückte.
»O, Sie Ausbund aller Kirchspielvollkommenheiten!« rief Mr. Bumble ganz verzückt aus. »Sie wissen doch, meine Himmlische, daß Mr. Slout heut' abend viel kränker geworden ist?«
»Ach ja,« sagte Mrs. Corney verschämt.
»Der Doktor sagt, daß er keine acht Tage mehr leben könnte,« fuhr Bumble fort. »Sein Tod hat die Vakanz des Haushofmeisterpostens zur Folge. O, Mrs. Corney, welche Aussichten eröffnen sich da! – welche Aussichten auf die allerseligste Herzens- und Haushaltsverschmelzung!«
Mrs. Corney schluchzte.
»O, meine bezaubernde Mrs. Corney!« sprach Bumble weiter, »das kleine Wörtchen – nur das eine kleine süße Wörtchen!«
»Ja – a – a!« hauchte Mrs. Corney.
»Und noch eins – nur das eine noch – wann soll es sein?«
Sie versuchte zweimal zu reden, doch vergebens. Endlich faßte sie sich ein Herz, schlang die Arme um Bumbles Nacken und sagte, sobald es ihm nur irgend gefiele, und er wäre ein gar zu lieber und ganz unwiderstehlicher Mann.
Nachdem die Angelegenheit auf diese freundschaftliche und befriedigende Weise geordnet war, wurde der Vertrag durch eine zweite Tasse Pfefferminzwasser feierlich besiegelt, was bei der Erregtheit und Beklemmung der Dame um so notwendiger war; und während die Tasse geleert wurde, erzählte Mrs. Corney ihrem Zukünftigen von dem Tode der alten Frau.
»Schön,« bemerkte Bumble, sein Pfefferminzwasser schlürfend. »Ich will auf meinem Rückwege nach Hause bei Sowerberry vorsprechen und die erforderlichen Anordnungen treffen. Was war es denn aber, worüber Sie so ganz außer sich zu sein schienen, meine Liebe?«
»O, es war nichts Besonderes, Bester,« erwiderte die Dame ausweichend.
»Ei, es muß doch etwas Besonderes gewesen sein. Warum wollen Sie es Ihrem Bumble nicht sagen?«
»Ein anderes Mal – wenn wir erst verheiratet sind, mein Teuerster.«
»Wenn wir erst verheiratet sind! Es wird sich doch kein Armer eine Unverschämtheit gegen Sie herausgenommen haben?«
»O nein, nein, durchaus nicht!« fiel die Dame hastig ein.
»Wenn ich das auch annehmen müßte,« fuhr der Kirchspieldiener fort, »denken müßte, daß es ein Armer gewagt hätte, seine gemeinen Augen zu dem liebenswürdigen Antlitze zu erheben –«
»Das hätte keiner gewagt – nimmermehr –«
»Ich wollt's ihnen auch wohl raten!« zürnte Bumble, die Faust schüttelnd. »Ich will den Menschen sehen, arm oder nicht arm, der sich's unterfinge, und kann ihn nur so viel versichern, daß er's nicht zum zweitenmal tun würde.«
Die Worte hätten vielleicht wie eine nicht eben große Schmeichelei gegen die Reize der Dame geklungen, wenn sie nicht durch heftiges Gebärdenspiel verschönt gewesen wären; da jedoch Bumble seine Drohung mit vielen kriegerischen Gestikulationen begleitete, so erblickte Mrs. Corney darin sehr gerührt nur einen Beweis seiner aufopfernden Ergebenheit und versicherte ihn bewundernd und mit großer Wärme, daß er wahrhaftig ein Täubchen wäre.
Das Täubchen knöpfte den Rock bis unter das Kinn zu, setzte seinen dreieckigen Hut auf, umarmte seine Taube zärtlich und lange und ging, um abermals dem Sturm und der Kälte Trotz zu bieten, nachdem es zuvor bloß noch fünf Minuten im Zimmer der männlichen Armen verweilt und gegen dieselben ein wenig getobt hatte, um zu erproben, ob es der Stelle des Haushofmeisters auch mit der gebührenden Autorität würde vorstehen können. Nachdem es sich von seiner Befähigung überzeugt, verließ es das Haus mit einem leichten, fröhlichen Herzen und glänzenden Vorausahnungen seiner bevorstehenden Beförderung.
Mr. und Mrs. Sowerberry befanden sich in einer Abendgesellschaft, und da Noah Claypole zu keiner Zeit geneigt war, sich einem größeren Maße physischer Anstrengung zu unterziehen, als durch eine gemächliche Betätigung der Funktionen des Essens und Trinkens erfordert wird, so war der Laden noch nicht verschlossen, obgleich die Stunde längst vorüber war, zu welcher es hätte geschehen sollen. Bumble klopfte mehreremal mit seinem Rohre auf den Ladentisch; allein da niemand erschien, und da er durch das Glasfenster des kleinen Zimmers hinter dem Laden Licht schimmern sah, so trat er näher, um nachzusehen, was in dem Zimmerchen vorginge, und war nicht wenig erstaunt zu sehen, was er sah.
Der Tisch war gedeckt, und auf ihm standen Brot und Butter, Teller und Gläser, ein Krug mit Porter und eine Weinflasche. Noah Claypole ruhete in nachlässigster Stellung in einem Sessel und hatte ein mächtiges Butterbrot in der Hand. Dicht neben ihm stand Charlotte und öffnete Austern, welche Noah sich herabließ, mit großem Behagen zu verschlingen. Eine mehr als gewöhnliche Röte in der Gegend der Nase des jungen Herrn und ein gewisses Blinzeln seines rechten Auges verkündigten, daß er ein wenig angetrunken war, und die besagten Symptome erhielten noch eine Verdeutlichung durch seine augenscheinliche Begier nach den Austern, die er offenbar hauptsächlich wegen ihrer kühlenden Eigenschaften bei innerlicher Glut genoß.
»Da ist 'ne prächtige fette, Noah!« sagte Charlotte. »Die mußt du probieren.«
»Wie wundervoll doch Austern schmecken!« bemerkte Noah; »und wie schade ist's, daß man sich immer unbehaglich fühlt, wenn man sie in einiger Menge genossen hat.«
»'s ist wirklich grausam und unrecht,« sagte Charlotte. »Hier ist wieder 'ne ganz herrliche.«
»Tut mir leid, ich kann nicht mehr. Komm her, Charlotte, daß ich dich küsse,« sagte Noah.
»Wie – was!« schrie Bumble, hineinstürzend. »Sag' das noch einmal, Bursch!«
Charlotte stieß einen Schrei aus und verbarg das Gesicht hinter der Schürze, während Noah, ohne seine Lage zu verändern, den Kirchspieldiener mit dem Starrblicke der Trunkenheit angaffte.
»Sag' das noch einmal, du schändlicher, schamloser Schlingel!« fuhr Bumble fort. »Wie kannst du es wagen, von Küssen zu sprechen? Und Sie, freches Weibsbild, wie unterstehen Sie sich, ihn dazu aufzumuntern? Küssen! Pfui!« rief er in starker und gerechter Entrüstung aus.
»Ich wollt' es gar nicht!« sagte Noah bestürzt und flehend. »Sie küßt mich immer, ich mag es haben wollen oder nicht.«
»O Noah!« rief Charlotte mit einem Blicke des Vorwurfs aus.
»Ja, es ist wahr,« sprudelte Noah, »du tust's immer. Mr. Bumble, sie läßt's und läßt's nicht, und klopft mich immer unter das Kinn und flattiert mir auf alle ersinnliche Weise.«
»Schweig!« donnerte Bumble. »Sie packen sich sogleich hinaus, und du, Musjö Noah, verschließest den Laden und sprichst, bis dein Herr nach Hause kommt, kein Wort mehr, auf deine eigene Gefahr; und wenn er nach Hause kommt, so sag' ihm, ich ließe ihm sagen, er möchte morgen früh nach dem Frühstück 'nen Sarg für 'ne alte Frau schicken. Hörst du? – Küssen! Die Sündhaftigkeit und Gottlosigkeit der geringeren Klasse in diesem Kirchspielbezirke hat eine schreckliche Höhe erreicht, und zieht das Parlament ihre Verdorbenheit nicht in Betracht, so ist das Land zugrunde gerichtet und die Sittlichkeit des Volks für immer zum Henker!«
Mit diesen Worten schritt er majestätisch und düster hinaus; und da wir ihn nun so weit auf seinem Heimwege begleitet und alle nötigen Anordnungen zum Begräbnisse der alten Frau getroffen haben, wollen wir uns nach Oliver Twist umsehen und unsere Wißbegier befriedigen, ob er noch in dem Graben liegt, in welchem Bill Sikes und Toby Crackit ihn haben liegen lassen.