Charles Dickens
Oliver Twist.Aus dem Englischen von Julius Seybt
Charles Dickens

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Fünftes Kapitel.

Oliver unter neuen Umgebungen und bei einem Leichenbegängnisse.

Sobald Oliver im Laden des Leichenbestatters allein gelassen war, setzte er seine Lampe auf eine Bank, und Furcht und Grauen durchschauerte ihn. Mitten im Gemach stand ein neuer, fast fertiger Sarg; die schon zugeschnittenen, an die Wände umher gelehnten Bretter erschienen ihm beim matten Lampenlichte wie Geister. Auf dem Boden lagen große Nägel, Holzspäne, Stücke schwarzen Tuchs und Sargembleme, und an der Wand über dem Ladentische hing das grauenhafte Bild eines Leichenzugs. Die Luft war drückend heiß; sie däuchte Oliver wie Grabesluft, die Öffnung zu seiner Ruhestätte unter dem Ladentische wie ein gähnendes Grab.

Er fühlte sich allein und verlassen in der Welt, und obwohl er keinen Schmerz über Trennung von Freunden oder Angehörigen empfand, so war ihm das Herz dennoch schwer; und als er in sein enges Bett hineinkroch, wünschte er, daß es sein Sarg sein und daß er darin hinaus auf den Kirchhof getragen werden möchte, wo das hohe stille Gras über ihm wüchse und im Winde säuselte und das Läuten der alten traurigen Turmglocke ihm schöne Träume zuführte in seinem süßen Schlummer.

Er wurde am folgenden Morgen durch ein lautes Pochen an der Ladentür aus seinem unruhigen Schlafe geweckt; dasselbe wiederholte sich, ehe er in seine Kleider schlüpfen konnte, ungefähr fünfundzwanzigmal und in ungestümer Weise. Als er die Kette zu lösen begann, hörten die Beine zu stoßen auf, und eine Stimme ließ sich vernehmen.

»Öffne die Tür, wird's bald?« rief die Stimme, die zu den Beinen gehörte.

»Sofort, Sir,« erwiderte Oliver, indem er die Kette losmachte und den Schlüssel umdrehte.

»Ich vermute, du bist der neue Lehrjunge, nicht wahr?« sprach die Stimme durch das Schlüsselloch.

»Ja, Sir,« antwortete Oliver.

»Wie alt bist du?« fragte die Stimme weiter.

»Zehn Jahre, Sir,« entgegnete Oliver.

»Dann werde ich dich prügeln, wenn ich hineinkomme,« sagte die Stimme; »du wirst gleich sehen, daß ich es tue, du Armenhäusler!«

Oliver hatte schon zu oft das angedrohte Schicksal über sich ergehen lassen müssen, um den leisesten Zweifel zu hegen, daß der Besitzer der Stimme, wer es auch sein mochte, sein Versprechen wahr machen würde. Er schob den Riegel mit zitternder Hand zurück und öffnete die Tür.

Ein paar Sekunden lang blickte Oliver die Straße auf und ab, weil er glaubte, der unbekannte Besucher, der ihn durch das Schlüsselloch angeredet hatte, habe sich einige Schritte entfernt, um sich zu erwärmen; denn es war niemand zu sehen, außer einem großen Armenknaben, der auf einem Pfosten vor dem Hause saß und ein Butterbrot verzehrte.

»Verzeihen Sie, Sir,« sagte Oliver endlich, da er keinen anderen Besucher erblicken konnte, »haben Sie geklopft?«

»Ja, ich habe mit den Füßen an die Tür gestoßen,« erwiderte der Armenknabe.

»Wünschen Sie einen Sarg, Sir?« fragte Oliver unschuldig.

»Es wird nicht lange währen, bis du selbst einen brauchst,« war die zornige Antwort, »wenn du Scherz mit Leuten treibst, die dir zu befehlen haben. Weißt du nicht, wer ich bin? Noah Claypole, und du bist mir untergeben, Musjö Ohnevater. Öffne die Fensterläden, Faulpelz!«

Oliver tat, wie ihm geheißen war, und gleich darauf erschien Mr. und Mrs. Sowerberry. Oliver und sein neuer Tyrann wurden in die Küche geschickt, um ihr Frühstück zu erhalten. Charlotte, die Köchin, bedachte Noah gut und Oliver desto schlechter, der obenein von jenem sehr unsanft in einen dunkelen Winkel gestoßen und vielfach gehänselt wurde.

Noah war ein Freischüler, aber doch keine Waise aus dem Armenhause. Sein Stammbaum war ihm sehr wohl bekannt; seine Eltern wohnten in der Nachbarschaft. Seine Mutter war eine Waschfrau und sein Vater ein pensionierter, täglich betrunkener Soldat. Die Ladenburschen nannten ihn verächtlich »Lederhose« und so fort, was er schweigend duldete, dagegen aber nunmehr mit desto größerem Übermut einen Schwächeren und Elternlosen behandelte, den er als solchen tief unter sich sah. – Welch' ein köstlicher Stoff zu Betrachtungen über die liebenswürdige menschliche Natur, deren vortreffliche Eigenschaften sich beim hochstehenden Lord wie beim Armenknaben offenbaren!

Oliver hatte sich drei bis vier Wochen bei Mr. Sowerberry befunden, als derselbe einst gegen seine Hausehre die Rede auf ihn brachte. »Der Knabe sieht wirklich gut aus,« bemerkte er.

»Kein Wunder,« entgegnete sie, »denn er ißt genug.«

»Er hat ein äußerst melancholisches Gesicht und sieht immer so trübselig aus, daß er wirklich einen vortrefflichen StummenDie stummen Diener des Leichenbestatters, die vor den Türen der Trauerhäuser stehen. Anm. d. Übers. abgeben würde.«

Seine Gattin sah ihn verwundert an, und er fuhr fort: »Ich meine nicht bei Erwachsenen, sondern bei Kinderbegräbnissen. 's ist etwas Neues, auch zu dergleichen kleine Stumme zu stellen, und man kann sich etwas davon versprechen.«

Mrs. Sowerberry, die für Geschäftssachen ein gutes Verständnis besaß, war von der Neuheit des Gedankens überrascht; da es aber gegen ihre Würde verstoßen haben würde, wenn sie dies zugegeben hätte, so fragte sie nur mit großer Schärfe im Ton, warum ihr einfältiger Eheherr denn nicht schon längst daran gedacht habe, und Mr. Sowerberry, der dies richtig als Zustimmung auslegte, beschloß, Oliver in die Mysterien des Leichenbestattergeschäfts einzuweihen und sich daher von ihm zum ersten besten vorkommenden Begräbnisse begleiten zu lassen. Die Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten, denn eine halbe Stunde darauf erschien Bumble mit dem Aufträge zu einem Kirchspielbegräbnisse.

Mr. Sowerberry ordnete die erforderlichen Vorbereitungen an und befahl Oliver, mit ihm zu gehen. Sie begaben sich nach dem bezeichneten Hause, um das Maß zum Sarge zu nehmen, wo sich ihren Blicken eine Szene des grauenvollsten Elends darbot, die auf Oliver, obgleich er an Elend so wohl gewöhnt war, den peinlichsten Eindruck machte.

Am folgenden Tage, der rauh und regnerisch war, wiederholten sie ihren Besuch, die Leiche wurde in den Sarg gelegt, jede Anordnung war getroffen. Mr. Sowerberry sagte den Trägern, sie möchten sich sputen und den Geistlichen nicht warten lassen; es wäre schon spät. Die Träger setzten sich in eine Art von Trab, und Oliver mußte fast laufen, um mitkommen zu können. Der Geistliche war noch nicht angelangt, der Sarg wurde in einem entfernten Winkel des Kirchhofs neben der Gruft einstweilen niedergesetzt, und Mr. Sowerberry und Bumble setzten sich zum Küster in die Sakristei an das Feuer und nahmen die Zeitungen zur Hand.

Nach einer halben Stunde erschien der Geistliche, Bumble verjagte die Gassenbuben, die sich damit unterhielten, her- und hinüber über den Sarg zu springen, der Geistliche las eilend die Gebete, entfernte sich wieder, der Sarg wurde eingesenkt, die Grube zugeworfen, und alle begaben sich auf den Heimweg.

»Nun, Oliver, wie hat dir's gefallen?« fragte Mr. Sowerberry.

»Recht gut, bedanke mich, Sir,« antwortete Oliver zögernd: »aber doch eigentlich nicht sehr gut.«

»Wirst dich schon daran gewöhnen,« sagte der Leichenbesorger; »und 's ist gar nichts, wenn du's erst gewohnt bist.«

Oliver hätte gern gewußt, wie lange es gedauert, ehe Mr. Sowerberry sich daran gewöhnt, wagte jedoch nicht zu fragen und kehrte gedankenvoll mit seinem Herrn nach Hause zurück.

 


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