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56. Kapitel

Ralph Nickleby bietet sich durch Zufall Gelegenheit zur Rache an seinem Neffen, und er nimmt dazu den Beistand eines erprobten Bundesgenossen in Anspruch.

Die Fäuste geballt und die Zähne fest zusammengebissen, war Ralph einige Minuten noch in derselben Stellung stehengeblieben, in der er zuletzt seinen Neffen angeredet hatte, dann atmete er tief auf, blieb aber so starr und regungslos wie ein Erzbild. Nur langsam kam Bewegung in seine Muskeln, wie etwa bei einem Menschen, der allmählich aus tiefem, schwerem Schlaf erwacht. Einen Augenblick schüttelte er ingrimmig und voll wilder Leidenschaft die geballte Faust gegen die Türe, durch die Nikolas verschwunden war, und wandte sich sodann zu dem minder beherzten alten Sünder, der immer noch am Boden lag.

Am ganzen Leibe zitternd und die paar grauen Haare, die er noch besaß, vor Entsetzen gesträubt, half sich Arthur Gride mühsam auf die Beine, bedeckte, als er Ralphs Blicken begegnete, mit beiden Händen sein Gesicht und kroch, beteuernd, daß die Schuld nicht an ihm liege, zur Türe.

»Wer hat denn so was je behauptet«, erwiderte Ralph mit gepreßter Stimme.

»Sie haben ein Gesicht gemacht, als ob Sie das Mißlingen unseres Planes mir zum Vorwurfe machten«, jammerte Gride ängstlich.

»Ach was«, brummte Ralph mit einem krampfhaften Lächeln, »ihm mache ich es zum Vorwurf, daß er nicht wenigstens noch eine Stunde am Leben blieb. Die eine Stunde hätte hingereicht. Nur ihm mache ich einen Vorwurf.«

»Nie–nie–nie–niemand anders?« fragte Gride.

»Wenigstens, was dies Malheur anbelangt, nicht«, versetzte Ralph. »Ich meine das Malheur mit dem – dem jungen Burschen da, der Ihnen Ihre Verlobte entführte. Übrigens habe ich noch von früher her ein Hühnchen mit ihm zu pflücken. Aber das hat nichts mit seinen jetzigen Prahlereien zu tun. Wir hätten ihn bald vom Hals gehabt, wäre dieser verdammte Umstand nicht eingetreten.«

Wer die künstliche Ruhe, mit der Ralph Nickleby sprach, mit seiner aschfahlen Gesichtsfarbe und dem wahrhaft greulichen Ausdruck in seinen Zügen verglich, in denen jede Muskel trotz seiner Bemühungen, den inneren Kampf zu verbergen, krampfhaft zuckte und sein Antlitz mit jedem Augenblick mehr verfallen machte, dem mußte der unnatürliche und geradezu entsetzenerregende Gegensatz zwischen der rauhen, festen und langsamen Sprechweise – ähnlich den Redeversuchen eines Betrunkenen, der deutlich sprechen will – und den Kundgebungen seiner racheglühenden Seele, die er gewaltsam niederzudrücken sich bestrebte, schreckhaft auffallen.

»Der Wagen!« krächzte Ralph nach einer Weile, während der er verbissen gegen einen neuen Wutanfall angekämpft hatte. »Wir kamen doch in einem Wagen? Ist – ist er noch unten?«

Dienstfertig eilte Gride zum Fenster, während Ralph, das Gesicht beharrlich abwendend, an seinem Kragen zerrte und heiser vor sich hin murmelte:

»Zehntausend Pfund. Er sagte: zehntausend. Genau diese Summe habe ich gestern für die beiden Anteilscheine bezahlt, die ich morgen mit hohem Agio weiterzugeben beabsichtigte. Was, wenn die Firma falliert hätte und er wäre der erste gewesen, der mir diese Nachricht brachte! – Ist der Wagen unten?«

»Ja, ja«, erwiderte Gride, eingeschüchtert durch das Ungestüm in Ralphs Worten. »Er ist unten. O Gott, was Sie doch für ein heftiger Mensch sind.«

»Kommen Sie«, sagte Ralph und winkte ihm. »Wir dürfen uns keine Verwirrung anmerken lassen. Gehen wir Arm in Arm hinunter.«

»Aber Sie drücken mich noch braun und blau«, jammerte Gride.

Ungeduldig ließ Ralph den Arm seines Geschäftsfreundes fahren, ging mit seinem gewohnten festen schweren Tritt die Treppe hinunter und stieg in die Droschke. Der enttäuschte Bräutigam folgte. Zweifelnd sah er Ralph von der Seite an, als der Kutscher fragte, wohin die Fahrt gehen solle, aber da keine Antwort erfolgte, nannte er dem Mann seine eigene Adresse.

Während der Fahrt saß Ralph mit verschränkten Armen und stumm in die Ecke gedrückt da. Sein Kinn war ihm auf die Brust gesunken, die Augen verschwanden fast unter den zusammengezogenen Brauen, und auch sonst ließ er kein Zeichen von Bewußtsein blicken, so daß ihn ein Unbefangener für schlafend gehalten hätte. Erst als der Wagen hielt, hob er den Kopf, blickte zum Schlag hinaus und fragte, wo sie wären.

»Bei meinem Haus«, antwortete Gride niedergeschlagen. »O Gott im Himmel, bei meinem einsamen Haus.«

»Ja, richtig«, brummte Ralph; »ich habe nicht darauf geachtet, wohin wir fuhren. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir ein Glas Wasser reichen ließen. Ich denke, es müßte sich doch eins im Hause auftreiben lassen.«

»Sie sollen ein Glas von – von was Ihnen beliebt haben«, antwortete Gride und stöhnte laut. »Das Klopfen nützt nichts, Kutscher, ziehen Sie die Klingel!«

Der Mann klingelte und klingelte und klingelte wieder, dann klopfte er, daß die Straße davon widerhallte, und horchte am Schlüsselloch. Aber niemand kam. Das Haus blieb still wie ein Grab.

»Was soll das bedeuten?« murrte Ralph ungeduldig.

»Ach, die alte Grete ist gar zu taub«, erwiderte Gride mit unruhiger und ängstlicher Miene. »O Gott im Himmel, klingeln Sie nochmal, Kutscher. Vielleicht sieht sie, daß die Glocke sich bewegt.«

Der Mann klingelte und klopfte und klopfte und klingelte durcheinander. Die Nachbarn rissen die Fenster auf und riefen über die Straße herüber, die Haushälterin des alten Mr. Gride habe wahrscheinlich der Schlag getroffen. Andere versammelten sich um die Droschke und ergingen sich in den verschiedentlichsten Mutmaßungen; die einen waren der Meinung, sie schliefe, andere wieder meinten, sie wäre verbrannt, und wieder andere hielten dafür, sie habe sich wahrscheinlich einen Rausch angetrunken. Ein wohlbeleibter Herr gab schließlich der Vermutung Ausdruck, sie hätte wahrscheinlich etwas Eßbares zu Gesicht bekommen und sei bei diesem seltenen Anblick in Ohnmacht gefallen. Dieser Scherz fand so großen Beifall bei den Umstehenden, daß sie ihre Freude darüber etwas tumultuarisch zu erkennen gaben und nur mit Mühe davon abgehalten werden konnten, über das Areagitter zu klettern, die Küchentüre aufzubrechen und sich über den Tatbestand im Hause Gewißheit zu verschaffen. Und das war noch nicht alles, denn es hatte sich bereits das Gerücht herumgesprochen, der alte Wucherer halte heute morgen Hochzeit, und Fragen, wer die Glückliche wohl sei, lagen auf aller Lippen. Die Mehrzahl der Leute schien der spaßhaften Ansicht zuzuneigen, Mr. Nickleby sei eine verkleidete junge Dame, was Anlaß zu spaßhaft entrüsteten Ausrufen gab, es verstoße gegen die gute Sitte, daß eine Braut öffentlich in Stiefeln und Hosen auftrete, und bald jubelte die Menge laut heraus. Endlich fanden die beiden Wucherer einen Unterschlupf in einem Nachbarhaus, wo sie sich mit einer Leiter versahen, über die nicht besonders hohe Mauer des Hinterhofs stiegen und so wohlbehalten auf die andere Seite gelangten.

»Ich fürchte mich fast hineinzugehen«, stöhnte Gride, als er mit Ralph allein war; »was, wenn sie ermordet worden wäre und man ihr den Schädel mit einem Brecheisen eingeschlagen hätte. Wie?«

»Na, was wär' da weiter«, erwiderte Ralph grimmig. »Ich sage Ihnen, es wäre mir ganz lieb, wenn etwas Derartiges öfter vorkäme und man widerwärtige Menschen so schnell loswerden könnte. Warum starren Sie mich so entsetzt an? Ja, ja, ich spreche im Ernst.«

Er trat zu dem Brunnen im Hof, nahm einen tüchtigen Trunk Wasser, benetzte sich Kopf und Gesicht, und nachdem er sich auf diese Weise wieder zu seiner gewohnten Ruhe verholfen, ging er in das Haus voran, wobei ihm Gride dicht auf dem Fuße folgte.

Das Innere des Gebäudes war so unheimlich wie je. Dieselben stummen und düstern Gemächer nahmen lautlos ihre Gäste auf, und jedes der gespenstigen Möbel stand wie festgebannt an seinem gewohnten Platz. Das eiserne Herz der grimmigen alten Wanduhr klopfte, ohne sich stören zu lassen, in seinem staubigen Gehäuse; die wackligen Schränke drückten sich bei dem Anblick der menschlichen Gestalten in ihre traurigen Winkel zurück, und schaurig ließ das dumpfe Echo die Fußtritte widerhallen. Eine langbeinige Spinne unterbrach ihren Lauf, erschreckt durch die Gegenwart der Lebenden, in ihrem düstern Heim und hing bewegungslos – ein Bild des Todes – an der Wand, bis die beiden vorübergegangen waren.

Jede knarrende Türe vom Keller bis zum Giebel öffneten die beiden Wucherer, um die öden Räume zu untersuchen, aber Grete war nirgends zu finden. Endlich setzten sie sich in Arthur Grides Wohnzimmer nieder, um ein wenig auszuruhen.

»Ich glaube, die alte Hexe ist ausgegangen, um noch einige Vorbereitungen für die Hochzeitsfeierlichkeit zu treffen«, sagte Ralph und stand auf, um wegzugehen. »Die Schuldverschreibung ist jetzt unnütz; da haben Sie den Wisch.« Wütend zerriß er das Papier.

Inzwischen hatte sich Gride in jedem Winkel des Zimmers aufs ängstlichste umgesehen und fiel jetzt plötzlich mit einem entsetzlichen Schrei vor der großen Truhe auf die Knie nieder.

»Nun, was gibt's denn?« fragte Ralph, sich finster umblickend.

»Ich bin beraubt; man hat mich bestohlen«, kreischte Arthur Gride.

»Beraubt? Fehlt Ihnen Geld?«

»Nein, nein, nein – es ist schlimmer, viel schlimmer.«

»Was denn sonst?« fragte Ralph.

»Etwas Wichtigeres als Geld, etwas viel Wichtigeres als Geld«, jammerte der Greis und wühlte in den Papieren in der Truhe wie ein Maulwurf in der Erde. »Es wäre mir lieber, sie hätte mir Geld gestohlen – all mein Geld –; ich habe doch so nicht viel. Hätte sie mich lieber zum Bettler gemacht als mir dies angetan.«

»Was angetan?« fragte Ralph. »Was angetan, Sie verrückter alter Narr?«

Gride gab noch immer keine Antwort, sondern kramte unter den Papieren und schrie und heulte wie ein böser Geist im Feuer der Hölle.

»Sie sagten, es sei Ihnen etwas abhanden gekommen«, mahnte ihn Ralph und schüttelte ihn wütend am Kragen. »Was ist es denn?«

»Papiere, Urkunden; ich bin zugrunde gerichtet – ich bin verloren – verloren. Ich bin beraubt, man hat mich zugrunde gerichtet. Sie hat gesehen, wie ich es gelesen habe – erst kürzlich noch – und ich habe es oft gelesen – sie merkte es – und sie sah, wie ich es hier in die Schublade legte – die Schublade ist fort – sie hat sie gestohlen – Hölle und Teufel über sie, sie hat mich bestohlen«, heulte Gride durcheinander.

»Um was hat man Sie denn bestohlen?« rief Ralph, dem plötzlich ein Licht aufzugehen schien, und seine Augen schössen Blitze. Sein ganzer Körper zitterte vor Erregung, wie er den knöchernen Arm des Alten umkrallte. »Was fehlt Ihnen?«

»Sie weiß nicht, was drinsteht«, schrie Gride, ohne auf die Frage zu antworten; »es gibt nur einen Weg, auf dem sie es in Geld verwandeln kann, und der besteht darin, daß sie es denen verkauft, die sich dafür interessieren. Sie wird sich's vorlesen lassen, und da wird man ihr sagen, was sie tun soll. Sie und ihre Helfershelfer werden sich dafür bezahlen lassen und noch obendrein frei ausgehen. Sie werden sich's noch zum Verdienst anrechnen – sie werden behaupten, sie hätten's gefunden – wären mit der Tatsache bekannt – und werden sich zum Zeugnis gegen mich erbieten. Die einzige Person, die darüber zu Fall kommen wird, bin ich – ich – ich.«

»Nur Geduld«, mahnte Ralph, packte den Alten noch fester und blickte ihm mit einem gespannten Blick ins Gesicht, aus dem sich deutlich erkennen ließ, daß er mit dem, was er zu sprechen im Begriffe stand, eine geheime Absicht verband. »Nehmen Sie doch Vernunft an! Sie kann noch nicht lange fort sein; ich werde die Polizei verständigen. Sagen Sie mir, um was es sich bei dem Diebstahl handelt, und verlassen Sie sich darauf, wir werden sie schon fassen. Heda – Hilfe!«

»Nein – nein – nein –«, winselte der Greis und hielt Ralph den Mund mit der Hand zu. »Ich kann nicht; ich darf nicht.«

»Hilfe, Hilfe!« rief Ralph abermals.

»Nein, nein, nein«, schrie Gride außer sich und stampfte wie ein Wahnsinniger auf den Boden, »ich sage Ihnen: nein! Ich darf nicht, ich darf nicht.«

»Was dürfen Sie nicht? – Diesen Diebstahl dürfen Sie nicht veröffentlichen?« fragte Ralph gespannt.

»Nein«, jammerte Gride die Hände ringend, »still, nur still! Kein Wort weiter, kein Sterbenswörtchen. Es ist sonst um mich geschehen; was ich auch tue, ich bin verloren. Ich bin verraten, man wird mich verhaften, ich werde in Newgate sterben.«

Allmählich ließ der alte Schurke in seinem lauten Geschrei nach, bis es sich zu einem dumpfen, verzweifelten Stöhnen abschwächte, das nur hin und wieder durch ein Geheul unterbrochen wurde, wenn er bei Revision seiner übrigen Dokumente auf irgendeinen neuen Verlust stieß.

Ralph wußte genug. Er entfernte sich, ohne sich wegen seiner plötzlichen Eile besonders zu entschuldigen, beschwichtigte die vor dem Hause versammelten neugierigen Müßiggänger mit der Erklärung, es sei weiter nichts Schlimmes vorgefallen, stieg in den Wagen und fuhr nach Hause.

Auf seinem Tisch fand er einen Brief. Eine Weile lang ließ er ihn liegen, als fände er den Mut nicht, ihn zu öffnen, endlich aber riß er ihn doch auf und überflog seinen Inhalt. Todesblässe überzog sein Gesicht.

»Das Schlimmste ist eingetroffen«, murmelte er; »die Firma hat Bankerott angesagt. Ich sehe, das Gerücht hat gestern abend schon die City erreicht und ist zu den Ohren dieser Kaufleute gedrungen. – Nun, auch gut.«

Ungestüm schritt er im Zimmer auf und ab und blieb plötzlich wieder stehen.

»Zehntausend Pfund! Und nur einen Tag hatte ich die Anteilscheine dort liegen – nur einen einzigen Tag! Wie viele lange Jahre voll peinigender Tage und schlafloser Nächte hat es mich gekostet, diese zehntausend Pfund einst zusammenzuscharren. – Zehntausend Pfund! Wieviel hochmütige geschminkte Dämchen würden geschmachtet und gelächelt, wieviel prasserische Dummköpfe mir ins Gesicht schöngetan und mich hinterher verflucht haben, hätte ich ihnen diese zehntausend Pfund gegen hundert Prozent geliehen. Was für Schmeichelworte, kriecherische Mienen und höfliche Briefe wären an mich verschwendet worden, hätte ich diese Jammerburschen zu meinem Nutzen und Vergnügen bis aufs Blut ausgesaugt. Ja, ja, das ist so die gewöhnliche Klage der verlogenen Welt, daß Männer meinesgleichen nur durch Hinterlist, Kriecherei und dergleichen reich würden. Wie viele Lügen aber, wie viele und dumme Ausflüchte, wieviel Demütigung von Seiten der Emporkömmlinge – die mich, hätte ich kein Geld, verächtlich beiseite drängen würden, wie sie es jeden Tag bei Besseren, als sie selbst es sind, tun – diese zehntausend Pfund an den Tag hätten fördern können, davon schweigt man; ja, und selbst wenn ich sie verdoppelt und mehr als hundert Prozent damit verdient hätte – jeden Sovereign in zwei verwandelt –, so wäre doch keine Münze in dem ganzen Geldhaufen, die nicht zehntausend gemeine Lügen repräsentierte; nicht von Seiten des Geldverleihers, nein, von Seiten der Geldborger, dieses gedankenlosen, verschwenderischen modischen Packs, das um alles in der Welt sich nicht zu der ›Gemeinheit‹ herablassen will, sich auch einmal ein paar Pence zu sparen.«

Wütend ging er in seinem Zimmer auf und ab. Endlich ließ er sich in seinem Stuhl nieder, umklammerte die Lehnen so fest, daß sie knarrten, und knirschte durch die Zähne:

»Es hat eine Zeit gegeben, wo mich nichts so niedergeschmettert haben würde wie der Verlust dieser großen Summe – Geburten und Todesfälle, Heiraten und andere Ereignisse, an denen die Menschen Interesse zu nehmen pflegen, hatten keinen Wert für mich, wenn sich nicht Gewinn oder Verlust damit verband, aber jetzt fällt mir dieser Verlust nicht annähernd so schmerzlich wie der Gedanke an den Triumph, mit dem gerade er mir dies verkündete. Wäre er die Ursache des Verlustes selbst gewesen, so könnte ich ihn nicht bitterer hassen, als ich es tue. Aber wenn ich nur einmal zu meiner Rache käme – und wäre es noch so spät –, wenn nur einmal ein Anfang gemacht wäre, ihn in meine Hände zu bekommen, wenn ich nur einmal die Möglichkeit vor mir sähe, meine Waagschale ihm gegenüber zum Steigen zu bringen, so wollte ich ja gern alles verschmerzen.«

Seine grimmigen Betrachtungen währten lange und fraßen sich ihm sichtlich tief ins Herz. Sie endeten erst, als er Newman einen Brief mit der Adresse Mr. Squeers' im »Mohrenkopf« übergab, mit dem Auftrag, man solle dort fragen, ob der Schulmeister in London angekommen sei, und im zutreffenden Falle auf Antwort warten. Ziemlich bald darauf kam Mr. Noggs mit der Nachricht zurück, Mr. Squeers sei heute morgen mit der Post angelangt und habe den Brief noch im Bett entgegengenommen; er ließe Mr. Nickleby seine Empfehlung vermelden und werde sofort aufstehen, um ihm seine Aufwartung zu machen.

Eine Stunde später kam Mr. Squeers selber. Die Zwischenzeit hatte Ralph benützt, jeden Rest von Aufregung in sich zu unterdrücken, und jetzt schien er wieder ganz der alte harte unbeugsame Mensch zu sein, auf den nichts einen Einfluß ausüben konnte.

»Nun, Mr. Squeers«, begann er, den wackeren Pädagogen mit seinem gewöhnlichen Lächeln begrüßend, das stets von einem scharfen Blick und einem gedankenvollen Stirnrunzeln begleitet war, »wie geht es Ihnen?«

»Erträglich, Sir«, erwiderte Squeers, »und meiner Familie desgleichen und auch den Zöglingen, von einem Ausschlag vielleicht abgesehen, der in der Schule grassiert und ihnen die Eßlust benimmt – aber es weht ein böser Wind, der niemand etwas Gutes bringt, wie ich den Jungen immer sage, wenn ihnen eine Heimsuchung zustößt. Heimsuchungen sind das Los der Sterblichen, Sir; das Sterben selbst ist eine Heimsuchung, sage ich immer. Die Welt fließt über von Heimsuchungen, und wenn ein Zögling darüber wehklagt und einem durch Gewinsel unangenehm wird, so muß man ihm eben ein Kopfstück geben. So erfülle ich buchstäblich das Wort der heiligen Schrift.«

»Mr. Squeers«, unterbrach Ralph trocken.

»Sir?«

»Lassen Sie gefälligst diese moralischen Schmonzes beiseite und reden wir vom Geschäft.«

»Mit Vergnügen, Sir«, eiferte Squeers. »Ich möchte Ihnen nur zuvörderst sagen –«

»Lassen Sie mich zuvörderst ausreden, wenn's Ihnen gefällig ist! Mr. Noggs.«

Newman erschien erst, nachdem er mehrere Male gerufen worden, und fragte dann harmlos, ob Mr. Nickleby nach ihm verlangt habe.

»Allerdings. Gehen Sie jetzt zu Ihrem Mittagessen – aber gleich. Hören Sie?«

»Es ist noch Zeit«, wendete Newman grämlich ein.

»Meine Zeit ist die Ihrige, und ich sage, es ist Zeit!« fuhr Ralph auf.

»Sie wollen auch jeden Tag was anderes, das ist nicht recht«, knurrte Newman.

»Ich denke, Sie halten wohl nicht besonders viele Köche und können sich ja wegen der Mühe, die ich Ihnen bereite, leicht bei ihnen entschuldigen. Gehen Sie jetzt.« – Ralph erteilte seinen Befehl nicht nur in sehr entschiedenem Tone, sondern überzeugte sich später auch noch persönlich unter dem Vorwand, ein paar Dokumente aus dem Schreibzimmer holen zu wollen, daß Newman wirklich ging. Dann verriegelte er die Tür von innen, um zu verhindern, daß sich sein Buchhalter wieder heimlich ins Haus schliche.

»Ich habe alle Ursache zum Verdacht auf den Kerl«, knurrte er, als er in sein Privatzimmer zurückgekehrt war; »es ist das beste, ich gebe scharf auf ihn acht, bis ich Mittel und Wege gefunden habe, ihn zu zertreten.«

»Das dürfte Ihnen wohl bei ihm nicht schwerfallen«, meinte Squeers grinsend.

»Wohl ebensowenig wie bei vielen anderen meiner Bekanntschaft«, erwiderte Ralph. »Sie wollten übrigens sagen?«

Seine direkte unverblümte Art, aufs Ziel loszugehen, übte – ohne Zweifel hatte er es darauf abgesehen – einen so starken Eindruck auf Mr. Squeers, daß dieser nach einigem Stocken in einem weit schüchterneren Ton als bisher das Wort ergriff.

»Ich wollte nur sagen, daß mich die Angelegenheit, den undankbaren verstockten Burschen Mr. Snawleys betreffend, ganz aus meiner Ruhe bringt. Sie macht meine Frau geradezu zur Witwe. Es ist mir natürlich ein besonderes Vergnügen, vereint mit Ihnen zu handeln –«

»Selbstverständlich«, versetzte Ralph trocken.

»Jawohl, selbstverständlich«, bekräftigte Mr. Squeers und rieb sich die Knie; »nichtsdestoweniger muß es einen Mann wie mich, der, um ein Zeugnis abzugeben, mehr als zweihundertfünfzig Meilen weit reisen soll, ganz abgesehen von der Gefahr, die er dabei läuft, sehr inkommodieren.«

»Und worin bestünde diese Gefahr, Mr. Squeers?« fragte Ralph.

»Ich sagte: abgesehen von der Gefahr«, wich der Pädagog der direkten Antwort aus.

»Und ich fragte, worin diese Gefahr bestünde.«

»Sie wissen ganz gut, Mr. Nickleby, daß ich mich nicht beklagen will«, entschuldigte sich Mr. Squeers; »mein Ehrenwort, ich habe niemals –«

»Ich frage nochmals, worin diese Gefahr bestehen soll?« wiederholte Ralph mit Nachdruck.

»Worin die Gefahr bestehen soll?« murmelte Squeers, verlegen seine Knie reibend. »Es ist unnötig, sich näher darüber auszusprechen. Über gewisse Dinge geht man am besten mit Stillschweigen hinweg. Sie wissen doch selbst, was ich darunter verstehe.«

»Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt«, entgegnete Ralph, »und wie oft muß ich es Ihnen noch wiederholen, daß von einer Gefahr gar nicht die Rede sein kann. Haben Sie denn etwas anderes beschworen, oder verlangte man von Ihnen einen anderen Eid, als daß zu der und der Zeit ein Knabe namens Smike Ihnen übergeben wurde, daß er sich soundso lange in Ihrer Schule befand und unter diesen und jenen Umständen davonlief, jetzt aber wieder aufgefunden wurde, und daß seine Identität durch Sie erwiesen werden kann? – Das ist doch alles, nicht wahr?«

»Ja«, gab Squeers zu, »und das ist auch alles wahr.«

»Nun, wie können Sie dann unter solchen Umständen von Gefahr reden?« fuhr Ralph fort. »Der einzige, der eine Lüge beschworen hat, ist Snawley; ein Mann, den ich obendrein weit schlechter bezahlt habe als Sie.«

»Snawley hat es allerdings sehr billig getan«, bemerkte Squeers.

»Ja gewiß, sehr billig«, gab Ralph verdrießlich zu, »und er hat seine Sache gut gemacht und die gehörige Heuchlermiene und das entsprechend scheinheilige Gesicht dabei geschnitten – aber Sie und Gefahr? Was verstehen Sie eigentlich unter Gefahr? Mit den Beglaubigungsdokumenten hat es seine vollkommene Richtigkeit. Snawley hatte einen Sohn – er war zweimal verheiratet – seine erste Frau ist tot, und nur ihr Geist könnte verraten, daß sie den Brief nicht geschrieben hat. Niemand als Snawley selbst kann bezeugen, daß Smike nicht sein Sohn ist, der in Wirklichkeit bereits gestorben ist. Die Schuld des Meineids ruht lediglich auf Snawley allein, und ich glaube, er hat in dieser Hinsicht eine ziemliche Übung. Wo liegt also Ihre Gefahr?«

»Nun, Sie wissen doch«, begann Squeers und rückte unruhig auf seinem Sessel hin und her, »daß, was das anbelangt, ich ebensogut Sie fragen könnte, wo die Ihrige liegt.«

»Diese Frage sei Ihnen gestattet«, spöttelte Ralph, »sagen Sie mir nur ruhig, worin die meinige besteht. Weder ich noch Sie sind in die Angelegenheit irgendwie verwickelt. Es liegt ganz in Snawleys Interesse, die Wahrheit der Geschichte, die er vorgebracht hat, weiter aufrechtzuerhalten. Wie können Sie also von Gefahr bei der ganzen Sache sprechen?«

»Ach bitte«, erwiderte Squeers, sich unruhig umblickend, »nennen Sie es nicht ›Gefahr‹ – tun Sie mir den Gefallen und nennen Sie es nicht so.«

»Nennen Sie es meinetwegen, wie Sie wollen«, fiel Ralph gereizt ein, »aber geben Sie acht, was ich jetzt sage. Die Geschichte wurde ursprünglich ersonnen, um einen Menschen zu züchtigen, der Sie in Ihrem Beruf beeinträchtigt und halb totgeschlagen hat. Überdies verhilft sie Ihnen dazu, den halb blödsinnigen Burschen wieder zurückzubekommen, den Sie in Händen zu haben wünschen, weil Sie wissen, daß Sie sich dadurch an Ihrem Feind am besten rächen. Ist es nicht so, Mr. Squeers?«

»Gewissermaßen ja, Sir«, erwiderte Squeers, durch die Offenheit eingeschüchtert, mit der Ralph alles, was gegen ihn sprach, bekannte.

»Was wollen Sie mit Ihrem ›gewissermaßen‹ sagen?«

»Nun, ich möchte damit nur sagen, daß die Sache sich wohl so verhalten mag«, versetzte Squeers. »Übrigens handelt es sich dabei nicht bloß darum, mir Genugtuung zu verschaffen, sondern gewiß auch Ihnen, nicht wahr?«

»Glauben Sie, ich hätte mich in die Sache gemischt«, sagte Ralph, nichts weniger als verlegen durch diese Frage, »wenn es nicht der Fall wäre?«

»Ja, ja, gewiß«, versicherte Squeers; »ich erwähnte es nur, um die Sache so zu beleuchten, wie sie ist.«

»Der Unterschied ist nur der, daß ich mich's habe Geld kosten lassen«, erwiderte Ralph, »um meine Rache zu befriedigen, während Sie es einsteckten und auf billigere Weise Ihr Mütchen an Ihrem Feinde kühlen können. Sie sind doch mindestens so habgierig wie rachsüchtig, und dasselbe ist auch bei mir der Fall. Wer fährt aber dabei am besten? Doch Sie! Da Sie Geld dabei gewinnen!«

Mr. Squeers antwortete nur mit einem Achselzucken und einem verlegenen Lächeln, und Ralph befahl ihm streng zu schweigen. Er möge Gott danken, daß er einen so hübschen Profit bei dem Geschäft gemacht habe. Dann fuhr er in seiner Rede fort und erzählte, erstens habe ihm Nikolas einen Plan durchkreuzt, der darauf hinausgelaufen sei, eine gewisse junge Dame zu verheiraten. Nikolas habe sich ihrer, den plötzlichen Tod Brays sich zunutze machend, bemächtigt und sie entführt. Zweitens sei genannte Dame durch ein Testament oder durch sonst eine Urkunde zum Antritt eines Vermögens berechtigt, das ihrem Gatten (nach Ralphs Ansicht niemand anderem als Nikolas, in Zukunft wenigstens) zufallen müsse, wenn dieser oder sie selbst davon erführe. Drittens sei diese Urkunde einem Mann, der sie selbst betrügerischerweise unterschlagen, gestohlen worden, aber dieser wage keinen Schritt zu tun, um sie wiederzuerwerben, trotzdem man den Namen des Diebes kenne.

Mr. Squeers spitzte gierig die Ohren und verschlang jede Silbe.

»Jetzt hören Sie den Plan, den ich mir ausgedacht habe und der zur Ausführung kommen muß – ich sage ›muß‹«, fuhr Ralph fest fort, beugte sich vor und legte seine Hand auf Squeers' Arm. »Diese Urkunde kann niemand einen Vorteil bringen als der jungen Dame selbst oder ihrem Gatten, und ohne das Papier kann keines von beiden das Vermögen antreten. Ich wünsche nun dieses Dokument hier auf meinem Zimmer zu haben; wer es mir verschafft, bekommt fünfzig Pfund in Gold und kann sich selbst überzeugen, daß ich es hier vor seinen Augen verbrennen werde.«

Damit machte Ralph eine Handbewegung zum Kamin, als überliefere er bereits das Dokument den Flammen. Mr. Squeers folgte unwillkürlich dieser Gebärde und erwiderte: »Alles recht gut und schön, aber wer soll es herbeischaffen?«

»Vorläufig niemand, denn es muß noch viel getan werden, ehe es soweit ist«, erwiderte Ralph. »Aber wenn es dazu kommt, so müssen Sie es tun!«

Die Bestürzung, die sich in Mr. Squeers' Mienen malte, und der Eifer, mit dem er das Ansinnen sofort zurückwies, würde wohl jeden anderen als Ralph veranlaßt haben, seinen Plan ohne weiteres fallenzulassen. Ralph ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Als sich Squeers außer Atem gesprochen hatte, nahm er so kaltblütig, als wäre er gar nicht unterbrochen worden, den Vorschlag wieder auf und beleuchtete ihn weiter in der Weise, die ihm die passendste schien.

Der Punkt, auf den er das größte Gewicht legte, waren das hohe Alter und die Schwäche und Gebrechlichkeit der Mrs. Sliderskew und ferner die große Unwahrscheinlichkeit, daß sie einen Mithelfer oder überhaupt nur einen Bekannten habe, wie er aus ihren wunderlichen Gewohnheiten und ihrer langen Dienstzeit bei Gride folgere. Der Diebstahl, meinte er, könne nicht das Ergebnis eines wohlüberlegten Planes sein, da sie sonst wohl auch ein hübsches Sümmchen mitgenommen haben würde, was ihr jedenfalls sehr gepaßt hätte. Wenn sie erst einmal über die Folgen ihrer Tat nachdenken werde, müßten ihr unbedingt Bedenken aufsteigen, und überdies dürfte es nicht schwerhalten, sich bei ihr Zutritt zu verschaffen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Und von da bis zu dem Punkte, wo man ihr das Dokument wieder abluchsen könnte, sei nur ein Schritt.

Er selbst sei Mrs. Sliderskew bekannt und könne daher nicht persönlich handeln, während bei Squeers die Sache schon angesichts des Umstandes, daß er fern in Yorkshire wohne, wesentlich anders stehe. Einem so welterfahrenen Manne wie Squeers könne es auch nicht schwerfallen, ein altes Weib zu überlisten; es müsse das für ihn doch ein reines Kinderspiel sein. Squeers möge sich weiters nur einmal das lange Gesicht vorstellen, das Nikolas machen werde, wenn er im Wahne, eine reiche Erbin zu heiraten, sich zu guter Letzt mit einem bettelarmen Mädchen verbände. Als Haupttrumpf spielte Ralph aus, daß es ihm im Falle eines günstigen Erfolges auf fünfzig Pfund, ja auf fünfundsiebzig, vielleicht sogar hundert Pfund nicht ankomme.

»Aber wie fange ich's nur an, mich an das Frauenzimmer heranzupürschen?« fragte Squeers, nachdem er sich die Sache lange hin und her überlegt und vergebens getrachtet hatte, Ralph zu einem höheren Angebot als hundert Pfund zu bewegen. – »Darüber bin ich mir immer noch nicht klar.«

»Möglich, daß es überhaupt nicht gelingt, ihren Aufenthalt zu eruieren«, gab Ralph zu, »aber versuchen will ich's immerhin. Ich habe hier in London seinerzeit schon so manchen aufgestöbert, der sich wahrhaftig besser versteckt hielt als sie, und ich kenne Stadtteile, wo ein paar richtig angewendete Guineen dunklere Rätsel lösen als diese – aber halt, mein Schreiber klingelt, wir müssen uns jetzt trennen. Es ist besser, Sie besuchen mich vorläufig nicht mehr, sondern warten, bis Sie von mir hören.«

»Gut«, sagte Squeers, »was aber, wenn Sie die Alte nicht auffinden? Werden Sie mich für die Spesen im ›Mohren‹ und für den Zeitentgang entschädigen?«

»Meinetwegen«, brummte Ralph verdrießlich. »Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?«

Squeers schüttelte den Kopf, und Ralph Nickleby begleitete ihn hinunter und öffnete die Haustüre, um seinen Schreiber herein- und den Schulmeister hinauszulassen. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück.

»So, jetzt soll kommen, was will. Jetzt bin ich wieder zufrieden. Wenn es mir nur gelingt, ihm diese eine Hoffnung zunichte zu machen, so wird das erste Glied an der Kette geschmiedet sein, die er in alle Ewigkeit nachschleppen soll«, murmelte er.


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