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Wir betraten die Ewige Stadt gegen vier Uhr nachmittags am 30. Januar, durch die Porta del Popolo, und stießen sogleich – es war ein dunkler, schmutziger Tag, und es hatte sehr geregnet – auf den Karneval. Wir wußten damals noch nicht, daß wir nur das letzte Ende des Maskenzuges sahen, der langsam um die Piazza fuhr, bis er eine geeignete Gelegenheit fand, in den großen Strom der Wagen einzurücken und mit der Zeit mitten in das festliche Gewühl zu gelangen, und waren, ganz reisemüde und staubig, nicht besonders zum Genusse des Schauspieles gestimmt, als wir so unerwartet darauf stießen.
Wir hatten den Tiber bei Ponte Molle überschritten. Er war so gelb, wie er sein sollte, und hatte, wie er zwischen seinen zerrissenen und schmutzigen Ufern dahineilte, ein vielversprechendes Aussehen von Öde und Verwüstung. Die versprengten Karnevalsmasken standen mit diesem Versprechen ganz und gar nicht im Einklang. Man sah keine großen Ruinen, keine feierlichen Denkmäler des Altertums – sie liegen alle auf der andern Seite der Stadt. Man erblickte nur lange Straßen mit ganz gewöhnlichen Läden und Häusern, wie sie in jeder europäischen Stadt zu finden sind; geschäftige Leute, Equipagen, Spaziergänger, eine Unmasse schnatternder Fremder. Es war so wenig mein Rom, das Rom, wie es sich jeder Mann oder Knabe denkt, beraubt seines Glanzes und verfallen und in der Sonne schlummernd auf einem Haufen Ruinen, wie es die Place de la Concorde in Paris ist. Auf einen bewölkten Himmel, einen gemütlichen Regen und schmutzige Straßen war ich gefaßt, aber nicht darauf; und ich gestehe, ich ging diesen Abend sehr ernüchtert und mit beträchtlich gedämpfter Begeisterung zu Bett.
Unser erster Gang am nächsten Morgen führte uns zur Peterskirche. Sie sah in der Ferne unermeßlich groß aus, aber, als man näher kam, vergleichsweise klein. Die Schönheit des Platzes, auf dem sie steht, mit den herrlichen Säulen und den plätschernden Springbrunnen, kann niemand übertreiben. Der erste Anblick des Innern in seiner ganzen Majestät und Pracht und vor allem der Blick hinauf in die Kuppel bringt eine nie zu vergessende Empfindung hervor. Aber man traf gerade Vorbereitungen zu einem Fest. Die hohen Marmorsäulen wurden mit plunderhaftem Zeug von roter und gelber Farbe umhüllt. Der Altar und der Eingang zur unterirdischen Kapelle, welche sich vor demselben in der Mitte der Kirche befindet, sah aus wie ein Goldschmiedeladen oder wie die Eröffnungsszene eines sehr prunkvollen Balletts. Und obgleich ich eine so lebhafte Empfindung von der Schönheit des Gebäudes hatte, wie man nur besitzen kann, fühlte ich doch keine sehr lebhafte Bewegung. Ich bin viel gerührter gewesen in englischen Kirchen und in englischen Domen, wenn die Orgel spielte, und in englischen Dorfkirchen, wenn die Gemeinde sang. Ich hatte eine viel stärkere Empfindung des Geheimnisvollen und des Staunens in der St.-Markus-Kirche zu Venedig.
Als wir wieder aus der Kirche traten (wir standen fast eine Stunde unter der Kuppel und sahen hinauf und hätten uns um keinen Preis jetzt die Kirche zeigen lassen mögen), sagten wir zu dem Kutscher: »Zum Kolosseum.« In einer Viertelstunde etwa hielt er vor dem Tore, und wir traten ein.
Es ist keine Einbildung, sondern einfache, nüchterne, ehrliche Wahrheit, wenn ich sage, daß, wer Lust dazu hat, einen Augenblick lang, während er hineintritt, das ganze große Gebäude vor sich sehen kann, wie es ehedem war, mit Tausenden von gierigen Gesichtern, die in die Arena hinabstarrten, und einem solchen Wirrwarr von Kampf und Blut und Staub, wie ihn Worte nicht beschreiben können. Seine Einsamkeit, seine schauerliche Schönheit und seine gänzliche Verödung machen auf den Beschauer im nächsten Augenblick den Eindruck einer milden Trauer; und vielleicht nie in seinem ganzen Leben wird er von einem Anblick, der nicht unmittelbar mit den Empfindungen seines Herzens verbunden ist, so bewegt werden.
Es langsam verfallen zu sehen, jedes Jahr einen Zoll; seine mit Grün überwucherten Mauern und Bogen, seine dem Tageslicht offenen Gänge; das hohe Gras in den Pforten, junge Bäume von gestern, die aus den halb zertrümmerten Simsen sprießen und Früchte tragen; zufällige Sprößlinge von Samen, welchen die Vögel, die in seinen Spalten und Klüften Nester bauen, fallen gelassen haben; seine Arena mit Erde angefüllt und das friedenbringende Kreuz in seiner Mitte angepflanzt zu sehen; zu den oberen Hallen hinaufzuklimmen und hinabzublicken auf Trümmer und Verfall ringsum; die Triumphbogen Konstantins, des Septimius Severus und des Titus, das römische Forum, der Palast der Cäsaren, die Tempel der alten Religion in Trümmer sinkend oder verschwunden; das heißt das Gespenst des alten Rom, der bösen, alten, wunderbaren Stadt, auf derselben Stelle umgehen sehen, wo es einst lebte. Es ist der erschütterndste, großartigste, feierlichste und betrübendste Anblick, den man sich denken kann. Nie in seinem blutigsten Glanze kann der Anblick des riesenhaften Kolosseums, überströmend vom lebendigsten Leben, ein Herz so bewegt haben, wie es jetzt alle bewegen muß, die es als Ruine sehen. Gott sei gepriesen: eine Ruine!
Wie sie sich hoch über die andern Ruinen erhebt und als ein Berg mitten unter Gräbern dasteht, so überdauern seine alten Einflüsse alle andern Überreste der Mythologie und der alten blutigen Roheit Roms in dem Charakter des wilden und grausamen römischen Volkes.
Das Gesicht Italiens wird anders, je mehr sich der Fremde der Stadt nähert; seine Schönheit wird teuflisch, und es gibt kaum einen unter Hunderten aus dem gemeinen Volk in den Straßen, der nicht morgen in einem erneuerten Kolosseum zu Hause und zufrieden sein würde.
Hier war endlich wirklich Rom, und ein Rom, wie es sich niemand in seiner vollen und schauerlichen Größe denken kann! Wir gingen auf der Appischen Straße hinaus und schritten weiter, immer an verfallenen Gräbern und Mauertrümmern vorbei, und nur hier und da stand ein einzelnes unbewohntes Haus; vorüber an dem Zirkus des Romulus, wo man die Bahn der Wagen, die Plätze der Richter, der Wettfahrenden und der Zuschauer noch so deutlich sieht wie ehedem; vorüber an dem Grab der Caecilia Metella; vorüber an Hecken, Umhegungen, Mauern und Gräbern, bis wir hinauskamen in die offne Campagna, wo man auf dieser Seite von Rom nichts sieht als Trümmer. Außer wo links die fernen Apenninen die Aussicht abschließen, ist der ganze weite Raum ein Trümmerfeld. Verfallene Aquädukte, jetzt höchst malerische und schöne Bogenreihen; verfallene Tempel; verfallene Gräber. Eine Trümmerwüste, über alle Beschreibung düster und öde, in der jeder Stein, der auf dem Boden liegt, eine Geschichte hat.
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Am Sonntag assistierte der Papst bei dem Hochamt in der Peterskirche. Der Eindruck, den sie bei diesem zweiten Besuche auf mich machte, war genau wie der erste und blieb so nach vielen Besuchen. Die Kirche erzeugt keine religiös-erhebende Wirkung. Es ist ein ungeheures Gebäude ohne einen einzigen Punkt, auf dem der Geist verweilen könnte, und er wird müde durch das ewige Herumschweifen. Selbst die Bestimmung des Gebäudes spricht sich nirgends aus, wenn man nicht die Einzelheiten untersucht – und jede Besichtigung von Einzelheiten verträgt sich mit dem Orte ganz und gar nicht; es könnte ebensogut ein Pantheon, ein Senatshaus oder eine große architektonische Trophäe mit keinem andern Zweck als seinem architektonischen Triumph sein. Allerdings steht unter einem roten Baldachin eine schwarze Statue des heiligen Petrus; sie ist überlebensgroß, und ihre große Zehe wird von guten Katholiken ständig geküßt. Man kann dieses Standbild nicht übersehen, so hervorstechend und populär ist es. Aber es erhöht die Wirkung des Tempels als Kunstwerk nicht, und es drückt – wenigstens für mich – seine hohe Bestimmung nicht aus. Ein großer Raum hinter dem Altar war mit Sperrsitzen gleich denen des italienischen Opernhauses in London, aber viel bunter verziert, ausgefüllt. In der Mitte dieses Theaters war eine Erhöhung, auf der unter einem Baldachin des Papstes Sessel stand. Der Fußboden war mit einem Teppich vom glänzendsten Grün bedeckt, und durch dies Grün und das unleidliche Rot und Carmoisin und die goldenen Fransen der Behänge sah das ganze aus wie ein riesiges Bonbon. Auf jeder Seite des Altares war eine große Loge für fremde Damen; sie war voll von Damen in schwarzen Kleidern und schwarzen Schleiern. Die Nobelgarde des Papstes in roten Röcken, Lederhosen und Kanonenstiefeln bewachte diesen abgesperrten Platz mit gezogenem Schwert, und vom Altar an durch das ganze Schiff wurde ein breiter Gang von der Schweizergarde frei gehalten, deren Soldaten ein wunderlich gestreiftes Wams und gestreifte enge Hosen und Hellebarden tragen, wie man sie gewöhnlich auf den Schultern jener Statisten sieht, die niemals schnell genug die Bühne räumen können und die gewöhnlich noch im feindlichen Lager verweilen, nachdem das offene Land vom Gegner besetzt und durch eine Naturerschütterung in der Mitte zerrissen worden ist.
Ich gelangte bis auf den Rand des grünen Teppichs in Gesellschaft vieler anderer Herren in schwarzer Tracht (ein anderer Paß ist nicht nötig) und stand dort während der ganzen Messe ganz bequem. Die Sänger steckten in einer Ecke hinter einem Drahtgitter, einem großen Fleischschrank oder Vogelbauer ähnlich, und sangen ganz fürchterlich. Um den ganzen grünen Teppich herum bewegte sich langsam ein Gewühl von Menschen, die miteinander plauderten, den Papst durch Augengläser anstarrten, sich in Augenblicken einseitiger Neugier unsichere Sitze an den Sockeln der Pfeiler abschwindelten und die Damen häßlich angrinsten. Hier und da sah man kleine Gruppen Mönche (Franziskaner und Kapuziner in ihren groben braunen Kutten und spitzen Kapuzen), seltsam abstechend von den prunkhaft gekleideten Geistlichen höheren Grades und zur höchsten Steigerung ihrer Demut von allen Seiten gestoßen und geschoben. Einige hatten schmutzige Sandalen und Regenschirme und befleckte Kleider, denn sie waren vom Lande hereingekommen. Die Gesichter der meisten waren so grob und gemein wie ihre Tracht; und der stumpfe geistlose Blick, mit dem sie alle die Pracht und den Glanz rundum anstarrten, hatte etwas halb Jämmerliches, halb Lächerliches an sich.
Auf dem grünen Teppich und um den Altar stand eine ganze Armee von Kardinälen und Priestern, in Rot, Gold, Purpur, Violett, Weiß und feinem Leinen. Einzelne von ihnen gingen unter dem Gedränge umher und sprachen mit anderen oder erteilten und empfingen Vorstellungen oder tauschten Grüße aus. Andere Beamte in schwarzer Tracht und andere in Hofkleidern waren auf ähnliche Weise geschäftig. Mitten unter allen diesen und unter vorsichtigen Jesuiten, die umherschlichen, und der wunderbaren Unruhe der Jugend von England, die beständig hin und her wanderte, wurden ein paar gesetzte Personen in schwarzen Priesterröcken, die, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, niedergekniet waren und sich in ihre Meßbücher vertieft hatten, unabsichtlich zu einer Art menschlicher Fallstricke und brachten durch ihre frommen Beine andere Leute zu Dutzenden zu Fall.
Nicht weit von mir lag auf dem Boden ein großer Haufen Kerzen, welche ein sehr alter Mann in einem verschossenen schwarzen weiten Rock, mit einer durchbrochenen Mütze, sehr eifrig stückweise unter die Geistlichen verteilte. Eine Zeitlang hielten sie dieselben unter dem Arm, wie Spazierstöcke, oder in der Hand, wie Kommandostäbe. Bei einem gewissen Teile der Zeremonie aber tritt jeder mit seiner Kerze vor den Papst, legt sie auf ein Knie desselben, damit sie gesegnet werde, nimmt sie wieder zu sich und entfernt sich. Das Erscheinen einer sehr langen Prozession nahm, wie man sich leicht denken kann, viel Zeit in Anspruch. Nicht weil viel Zeit dazu gehört, eine Kerze durch und durch zu segnen, sondern weil so viele Kerzen zu segnen sind. Endlich waren sie alle gesegnet, und dann wurden sie angebrannt; und dann wurde der Papst mit seinem Stuhl in die Höhe gehoben und rund um die Kirche getragen.
Ich muß gestehen, daß ich niemals etwas sah, was dem volkstümlichen englischen Gedächtnisfest am 5. November ähnlicher gewesen wäre. Ein Bündel Lunten und eine Laterne hätten es vollkommen gemacht. Auch der Papst selbst verdarb die Ähnlichkeit ganz und gar nicht, obgleich er ein angenehmes und ehrwürdiges Gesicht hat; denn da dieser Teil der Zeremonie ihm Schwindel verursacht, schließt er während derselben die Augen, und mit seinen geschlossenen Augen und der hohen Tiara und dem Haupte, das mit den Schritten der Träger hin und her wankte, sah er aus, als wollte ihm seine Maske abfallen. Die zwei großen Fächer, die beständig neben ihm getragen werden, begleiten ihn natürlich auch bei dieser Gelegenheit. Wie sie ihn durch die Kirche trugen, segnete er das Volk mit dem mystischen Zeichen, und wo er vorüberkam, knieten alle nieder. Als er den Rundgang durch die Kirche vollendet hatte, wurde er wieder zurückgetragen, und wenn ich nicht irre, wurde diese Zeremonie im ganzen dreimal wiederholt. Jedenfalls war sie weder feierlich noch von Wirkung, und sehr vieles war komisch und gauklerisch. Diesen Charakter trägt die ganze Feierlichkeit, außer wenn die Hostie gezeigt wird, wo jeder Gardist augenblicklich auf ein Knie fällt und das nackte Schwert senkt, was eine sehr gute Wirkung macht.
Ich sah das nächstemal die Kirche zwei oder drei Wochen später; als ich hinauf in die Kuppel stieg; und da sahen die Reste der Ausschmückung, da alle Vorhänge und Teppiche abgenommen, aber die Gestelle geblieben waren, wie ein abgebranntes Feuerwerk aus.
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Da der Freitag und Sonnabend große Festtage waren und der Sonntag für den Karneval gar nicht vorhanden ist, harrten wir mit einiger Ungeduld und Neugier auf den Beginn der neuen Woche; denn Montag und Dienstag sind die beiden letzten und besten Tage des Faschings.
Am Montagnachmittag um ein oder zwei Uhr begann ein großes Wagengerassel im Hofe des Hotels, ein Hin- und Herlaufen aller Diener; dann und wann sah man an einem Torweg oder Balkon einen einzelnen maskierten Fremden vorbeihuschen, der an die Maskentracht noch nicht genügend gewöhnt war, um sie mit Selbstvertrauen zu tragen und der öffentlichen Meinung zu trotzen. Alle Wagen waren offen und inwendig mit weißem Kattun überzogen, damit sie nicht durch den unaufhörlichen Regen von Zuckerwerk verdorben würden; an jedem Wagen, während er auf seine Bürde wartete, standen Leute, die ungeheure Tüten und Körbe voll Konfetti und solche Haufen von Blumensträußen hineinstopften, daß einige Wagen nicht nur bis zum Rande voll waren, sondern im wörtlichen Sinne von Blumen überflossen und bei jedem Stoß ihren Überfluß zum Teil auf den Boden verstreuten. Um in diesen wesentlichen Erfordernissen nicht zurückzubleiben, ließen wir zwei ganz anständige Tüten Zuckerwerk (jede etwa drei Fuß hoch) und einen großen Waschkorb voll Blumen in unsern gemieteten Wagen tragen; und von unserem Observatorium auf einem der oberen Balkone des Hotels sahen wir diesen Anordnungen mit der lebhaftesten Zufriedenheit zu. Da die Wagen jetzt ihre Gesellschaft aufnahmen und sich entfernten, stiegen wir auch in den unsern und fuhren fort, das Gesicht mit kleinen Drahtmasken geschützt; denn das Zuckerwerk ist wie Falstaffs verfälschter, mit etwas Gips versetzter Sekt.
Der Corso ist eine etwa eine Meile lange Straße; eine Straße von Läden, Palästen und Privathäusern, die sich zuweilen zu einer geräumigen Piazza ausdehnt. Fast an jedem Hause sind Verandas und Balkone von jeder Größe und Gestalt – nicht bloß in einem Stock, sondern oft vor diesem oder jenem Zimmer in jedem Stock – im allgemeinen mit so wenig Ordnung und Regelmäßigkeit angebracht, daß, wenn es ganze Jahre hindurch Balkone geregnet, Balkone geschneit, Balkone gehagelt und Balkone gestürmt hätte, sie kaum auf verwirrtere Weise hätten entstehen können.
Dies ist der große Brennpunkt des Karnevals. Da aber alle Straßen, in denen der Karneval gehalten wird, von Dragonern wachsam gehütet werden, so müssen die Wagen zuerst in einer Reihe eine andere Straße hinabfahren und in den Corso an seinem äußersten Ende an der Piazza del Popolo gelangen. So schlossen wir denn auch uns an eine Kutschenreihe an und fuhren eine Weile ziemlich ruhig dahin; jetzt schlichen wir im Schneckengang, jetzt trabten wir zwanzig Schritt, jetzt wieder mußten wir fünfzig zurück oder hielten ganz still, wie es das Gedränge vor uns nötig machte. Wenn ein ungeduldiger Wagen in der abenteuerlichen Meinung, schneller vorwärts zu kommen, aus der Reihe fuhr und vorwärts rasselte, holte ihn schnell ein Soldat zu Pferde ein, der, so taub wie sein Schwert gegen alle Bitten, ihn sogleich wieder an das letzte Ende der Reihe geleitete, daß er in der fernsten Perspektive zu einem dunklen Fleck wurde. Dann und wann wechselten wir eine Salve Zuckerwerk mit dem Wagen vor uns oder mit dem hinter uns; aber bis jetzt war das Wegfangen der aus der Reihe ausbrechenden Kutschen das Hauptvergnügen.
Endlich gelangten wir in eine schmale Straße, wo neben einer hinfahrenden Wagenreihe eine zurückkehrende herfuhr. Hier war das Feuer von Zuckerwerk und Sträußen schon ziemlich lebhaft; und ich war glücklich genug, einen als griechischen Helden verkleideten Herrn zu bemerken, der einen blondbebarteten Räuber (er warf eben einer jungen Dame in einem Fenster im ersten Stock einen Blumenstrauß zu) mit einer Genauigkeit, die von den Zuschauern lebhaft beklatscht wurde, auf die Nase traf. Als dieser siegreiche Grieche mit einem dicken Herrn in einem Torweg – er war auf der einen Seite schwarz, auf der andern weiß, als ob er halb geschält wäre – ein Witzwort wechselte – der dicke Herr hatte ihm nämlich wegen seiner Heldentat gratuliert –, schlug eine Orange von einem Hause herab gerade an sein linkes Ohr, worüber er sehr erstaunt, um nicht zu sagen erschrocken war, zumal da er gerade stand; und da eben auch der Wagen sich plötzlich in Bewegung setzte, wankte er schmachvoll und fiel bis über die Ohren in die Blumen.
Nach einer viertelstündigen Fahrt kamen wir in den Corso; und ein so heiteres, glänzendes und lustiges Schauspiel, wie er gewährte, wird man sich kaum denken können. Von allen den zahlreichen Balkonen, von den fernsten und höchsten, wie von den nächsten und tiefsten, wehten bunte Teppiche, rot, grün, blau, weiß und golden, im glänzenden Sonnenschein. Aus Fenstern, von Dachrändern und Häusergiebeln flatterten Flaggen und Tücher in den grellsten und feurigsten Farben herab. Die Häuser schienen im wörtlichen Sinne umgewendet zu sein und all ihren Glanz der Straße zugekehrt zu haben. Die Vorderseiten von Läden waren herausgenommen und die Fenster mit Gesellschaft angefüllt wie Logen in einem glänzenden Theater; Türen waren aus den Angeln gehoben und ließen lange tapezierte Gänge, mit Blumengirlanden und immergrünen Pflanzen geschmückt, entdecken; Baugerüste waren zu prächtigen Tempeln geworden, die in Silber, Gold und Purpur strahlten; und in jedem Winkel und jeder Ecke, vom Erdboden bis zu den Feueressen, wo nur Frauenaugen glänzen konnten, da tanzten und lachten und funkelten sie wie Licht auf dem Wasser. Jede denkbare Art bezaubernder Tollheit der Kostümierung war da zu sehen. Kleine absonderliche scharlachrote Jacken; wunderliche Brustlätzchen, neckischer als die hübschesten Leibchen; polnische Pelze, knapp und drall wie reife Stachelbeeren; niedliche griechische Mützen, schief auf einem Ohre sitzend und der Himmel weiß wie an dem dunklen Haar haftend; jede abenteuerliche, wunderliche, kecke, schüchterne, mutwillige Laune fand ihre Darstellung in einer Tracht; und jede Laune war von ihrem Inhaber im Aufruhr der Freude so ganz und gar vergessen, als ob die drei alten Aquädukte, die noch vorhanden sind, diesen Morgen auf ihren massenhaften Bogen den Lethestrom nach Rom geleitet hätten.
Die Wagen fuhren jetzt zu dreien nebeneinander, an breiten Stellen zu vieren; oft mußten sie lange Zeit still halten; immer waren sie eine dichtgedrängte Masse buntester Pracht, so daß die ganze Straße durch den Blumenregen hindurch selbst wie ein großes Blumenbeet aussah. Manche Pferde waren reich mit prächtigen Schabracken herausgeputzt, andere vom Kopf bis zum Schweif mit flatternden Bändern bedeckt. Manche leiteten Kutscher mit großen doppelten Gesichtern: das eine starrte auf die Pferde, das andere schielte mit seinen wunderbaren Augen in den Wagen, und auf beide rasselte der Hagel des Zuckerwerks herab. Andere Kutscher waren als Weiber verkleidet und hatten lange Locken und keine Hüte auf und nahmen sich lächerlicher aus, als Zunge oder Feder beschreiben kann, wenn eine wirkliche Verwirrung unter den Pferden entstand, was bei diesem großen Gedränge natürlich nicht selten vorkam. Anstatt im Wagen auf den Sitzen nehmen die schönen Römerinnen in dieser Zeit allgemeiner Freiheit in der zurückgeschlagnen Kutschendecke Platz und setzen die Füße auf die Kissen, um besser zu sehen und gesehen zu werden – und ach, die wehenden Kleider und schmucken Taillen, die schönen Gestalten und lachenden Gesichter, die man da sah! Auch große lange Wagen gab es voll schöner Mädchen – wohl dreißig und mehr in einem –, und die Salven, die aus diesen Feenbrandschiffen kamen oder sie bestürmten, erfüllten die Luft immer zehn Minuten lang mit Blumen und Bonbons. Wagen, die lange halten mußten, begannen ein regelrechtes Gefecht mit anderen Wagen oder mit Leuten in einem tiefer gelegenen Fenster; und die Zuschauer in einem höhern Balkon oder Fenster mischten sich in den Streit und schütteten, beide Parteien angreifend, große Tüten voll Konfetti herab, das wie eine Wolke herabkam und sie in einem Augenblick weiß wie die Müller machte. Immer Wagen auf Wagen, Masken auf Masken, Farben auf Farben, Scharen auf Scharen ohne Ende. Männer und Knaben, die sich an die Ränder der Kutschen klammern oder sich hinten festhalten oder nachziehen oder unter die Pferde kriechen, um verstreute Blumen zum Wiederverkauf aufzulesen; Masken zu Fuß (gewöhnlich die drolligsten) in phantastischen Übertreibungen von Hoftrachten, das Gewühl mit ungeheuren Augengläsern betrachtend und immer in wahnsinniges Liebesentzücken verfallend, wenn sie eine besonders alte Dame in einem Fenster entdecken; lange Reihen von Polichinellen, die mit Schweinsblasen an ihren Stöcken um sich schlagen; ein Wagen voll Tollhäusler, die getreu nach der Natur schreien und heulen; eine Kutsche voll ernster Mamelucken, um den Roßschweif geschart; eine Gesellschaft Zigeunerinnen im schrecklichsten Kampfe mit einem Schiff voll Matrosen; ein Affe auf einer Stange, umringt von seltsamen Tieren mit Schweinsköpfen und Löwenschweifen, die sie zierlich unter dem Arm oder über die Achsel tragen; Wagen auf Wagen, Masken auf Masken, Farben auf Farben, Scharen auf Scharen ohne Ende. Es werden im Verhältnis zu der Menge der Masken eben nicht viel wirkliche Charaktere dargestellt; das Hauptvergnügen besteht mehr in der allgemeinen vollkommenen Heiterkeit, in der glänzenden und unendlichen Mannigfaltigkeit der Szenen, in der gänzlichen Hingabe an die tolle Lust – eine so vollkommene, ansteckende und unwiderstehliche Hingabe, daß selbst der ernsteste Fremde, bis an die Hüften in Blumen und Konfetti stehend, wie der mutwilligste Römer kämpft und an nichts anderes bis halb fünf Uhr denkt, wo er plötzlich zu seinem großen Bedauern, durch den Schall der Trompeten und die galoppierenden Dragoner, welche die Straße frei machen, erinnert wird, daß dies nicht der einzige Zweck seines Daseins ist.
Wie die Straße überhaupt für das um fünf stattfindende Rennen frei gemacht wird oder wie die Pferde das Rennen vollbringen, ohne die Menschen niederzurennen, ist mehr, als ich sagen kann. Aber die Wagen fahren in Nebenstraßen auf oder auf der Piazza del Popolo; einige Leute nehmen Platz auf zu diesem Zweck errichteten Galerien auf der Piazza, und Tausende und aber Tausende stehen zu beiden Seiten des Corso, wenn die Pferde auf die Piazza gebracht werden – an den Fuß derselben Säule, die jahrhundertelang auf die Spiele und Wagenrennen des Circus Maximus herabsah.
Auf ein gegebenes Zeichen beginnen sie den Lauf. Wie der Sturmwind fliegen sie in den lebendigen Schranken die ganze Länge des Corso hinab, reiterlos, wie die ganze Welt weiß, schimmernde Bänder auf dem Rücken und in die Mähnen geflochten, während kleine Kugeln mit vielen Spitzen an ihren Seiten hängen, um sie anzustacheln. Das Klingeln dieses Schmuckes und das Getöse ihrer Hufe auf dem Pflaster, ihr wilder Flug durch die widerhallende Straße, ja selbst die Kanonenschüsse, welche abgefeuert werden, sind nichts gegen das Brüllen der Menge, ihr Geschrei und ihr Händeklatschen; aber es ist bald vorüber, fast augenblicklich. Neue Kanonenschüsse erschüttern die Stadt. Die Pferde sind gegen die Teppiche gestürzt, die über die Straße gespannt sind, um sie aufzuhalten; das Ziel ist erreicht, die Preise sind gewonnen (sie sind zum Teil von den armen Juden ausgesetzt, damit sie nicht selbst zu rennen brauchen); und damit ist die Lust des Tages zu Ende.
Aber wenn die Szene heiter und fröhlich und menschengedrängt am vorletzten Tage ist, so erreicht sie am letzten Tag einen solchen Höhepunkt bunten Glanzes, lärmenden Lebens und mutwilligen Tobens, daß die bloße Erinnerung daran mich jetzt noch schwindeln macht. Dieselben Scherze, noch erhöht durch den größeren Eifer, mit dem man sie betreibt, werden bis zur selben Stunde fortgesetzt. Das Rennen wird wiederholt, die Kanonen abgefeuert, das Geschrei und Händeklatschen der Menge ertönt wieder; die Kanonen donnern von neuem, das Wettrennen ist vorüber, und die Preise sind gewonnen. Aber die Wagen – ganz bedeckt mit Zuckerwerk und außen so staubig und mehlweiß, daß man sie kaum noch als dieselben erkennt, die man vor drei Stunden gesehen hat – drängen sich, anstatt sich nach allen Richtungen zu verlieren, in den Corso, wo sie bald zu einer sich kaum bewegenden Masse zusammengeschoben sind. Denn das Spiel der Moccoletti, die letzte tolle Lust des Karnevals, naht jetzt, und Verkäufer von kleinen Kerzen schreien überall laut: »Moccoli, moccoli! ecco moccoli!« – ein neuer Ton im Tumult, der ganz und gar den andern »ecco fiori! ecco fior-r-r!« verwischt, der den ganzen Tag über vernommen wurde.
Sobald die bunten Decken und Teppiche in der Abenddämmerung in ein einförmiges Grau sich kleiden, fangen Lichter an zu funkeln, hier und da in den Fenstern, auf den Häusern, in den Balkonen, in den Wagen, in den Händen der zu Fuße Gehenden: zuerst sehr wenig, dann mehr und mehr, bis die ganze lange Straße ein feuriger Schimmer ist. Jetzt ist jeder Anwesende nur mit einem Streben beschäftigt, nämlich das Licht anderer Leute auszulöschen und sein eigenes brennend zu erhalten, und jedermann, Mann, Weib oder Kind, Herr oder Dame, Prinz oder Bauer, Eingeborner oder Fremder, jauchzt und schreit und brüllt unaufhörlich als ein Spottwort für den Unterliegenden: »Senza moccolo, senza moccolo!« (Ohne Licht, ohne Licht!), bis man nichts mehr vernimmt als einen riesenmäßigen Chor dieser zwei Worte, mit lautem Gelächter vermischt.
Das Schauspiel ist eines der außerordentlichsten, das man sich denken kann. Wagen fahren langsam vorüber, und alles steht auf den Sitzen oder auf dem Bock und hält die Lichter in Armeslänge ausgestreckt, der größeren Sicherheit wegen; einige in Papierschirmen, andere mit einem Bündel unbeschützter kleiner Kerzen, die alle brennen, einige mit winzigen Lichtern; Männer zu Fuße, die zwischen den Rädern herumkriechen und auf eine günstige Gelegenheit lauern, um über ein besonderes Licht herzufallen und es auszulöschen. Andere klettern in den Wagen, um sich ihrer mit Gewalt zu bemächtigen, andere jagen einen unglücklichen Wanderer im Kreis um seinen eigenen Wagen, um das Licht, welches er erbettelt oder gestohlen hat, auszulöschen, ehe er wieder zu seiner Gesellschaft gelangen und ihre Kerzen anzünden kann; andere wieder stehen mit abgenommenem Hut an einem Kutschenschlag und bitten demütig eine gutherzige Dame, ihnen Feuer für ihre Zigarre zu geben, und wenn die Dame noch überlegt, ob sie es tun soll oder nicht, blasen sie das Licht aus, welches sie vorsichtig mit der kleinen Hand schützt; andere an den Fenstern, die mit Angeln und Haken nach Kerzen fischen, oder lange Weidenruten mit Tüchern herablassen und geschickt das Licht auswehen, wenn der Träger auf der Höhe seines Triumphes zu sein glaubt; andere warten ihre Zeit in Winkeln ab, mit ungeheuern Lichtlöschern wie Hellebarden, und fallen plötzlich über flammende Fackeln her; andere schicken einen Regen von Orangen und Sträußen auf eine hartnäckige kleine Laterne oder entfachen einen regelrechten Sturm auf eine Pyramide von Menschen, die in ihrer Mitte einen Mann stützen, der über seinem Kopf ein einziges schwaches Lichtchen trägt, mit dem er allen trotzt. »Senza moccolo, senza moccolo!« Schöne Frauen, in Kutschen aufrecht stehend, spöttisch auf verlöschte Lichter zeigend und im Vorüberfahren in die Hände klatschend und rufend: »Senza moccolo, senza moccolo!« Niedrige Balkone voll anmutiger Gesichter und bunter Kleider, im Kampfe begriffen mit Leuten, die von der Straße herauf stürmen; einige drängen sie zurück, wie sie herauf klimmen, andere beugen sich über, wieder andere treten schüchtern zurück – liebliche Arme und Busen, anmutige Gestalten – glänzende Lichter, wehende, rauschende Kleider. »Senza moccolo! senza moccolo! senza moc-co-lo-o-o!« bis in der wildesten Wut des Geschreis und im tollsten Wahnsinn der Lust das Ave Maria von den Kirchtürmen läutet und der Karneval in einem Augenblick vorüber ist – ausgelöscht wie eine Kerze mit einem Hauch.
Abends war im Theater ein Maskenball, so langweilig und ledern, wie er nur in London sein kann, und bloß merkwürdig wegen der summarischen Art und Weise, mit der das Haus um elf Uhr geräumt wurde: es geschah dies durch eine Reihe Soldaten, die sich an der Wand im Hintergrund der Bühne aufstellten und die ganze Gesellschaft vor sich her kehrten, als wären sie ein breiter Besen.
Das Spiel der Moccoletti (das Wort im Singular, moccoletto, ist ein Diminutiv von moccolo und bedeutet ein kleines Licht) wird von einigen für eine burleske Trauerzeremonie um den Tod des Karnevals gehalten – denn Kerzen sind von katholischer Trauer unzertrennlich. Aber mag es nun an dem sein, oder mag es ein Überrest der alten Saturnalien oder ein Überrest von beidem sein, oder seinen Ursprung in etwas anderem haben, immer werde ich mich des Brauchs und des Spaßes als des entzückendsten Anblicks erinnern, nicht weniger merkwürdig wegen der unzerstörbaren gutmütigen Heiterkeit aller Mitwirkenden, bis zu den Niedrigsten (und unter denen, welche die Wagen erkletterten, waren viele, Männer und Knaben aus dem gemeinsten Volke), als wegen seiner unschuldigen tollen Lustigkeit, denn so seltsam es auch erscheinen mag bei einem Scherz, der so voll Mutwillen und Vertraulichkeit ist, er bleibt so frei von dem geringsten Makel der Unanständigkeit, wie nur ein ausgedehnter Verkehr zwischen beiden Geschlechtern sein kann, und während der ganzen Feier scheint ein Gefühl allgemeiner, fast kindlicher Einfalt und naiven Vertrauens zu herrschen, an das man, sobald das Ave Maria es verscheucht hat, mit einer schmerzlichen Empfindung das ganze Jahr hindurch zurückdenkt.
Wir benutzten einen Teil der Zwischenzeit zwischen dem Ende des Karnevals und dem Beginn der Karwoche, wo jedermann nach dem ersten abgereist und nur wenige wegen der andern schon zurückgekehrt waren, um Rom ordentlich zu besichtigen. Und durch frühzeitiges Ausgehen jeden Morgen und spätes Zurückkommen am Abend und hartes Mühen den ganzen Tag über gelang es uns endlich, mit jedem Pfeiler und jeder Säule in der Stadt und in der Umgebung Bekanntschaft zu machen und hauptsächlich so viele Kirchen zu besichtigen, daß ich es, ehe ich halb durch war, endlich aufgab, aus Furcht, nie wieder, solange ich lebe, freiwillig in eine Kirche zu treten. Aber ich richtete es fast jeden Tag so ein, daß ich zu der einen oder andern Zeit zum Kolosseum und in die Campagna bis zum Grab der Caecilia Metella hinauskam.
Auf diesen Expeditionen stießen wir auf eine Gesellschaft englischer Touristen, die näher kennenzulernen eine heiße, aber unbefriedigte Sehnsucht mich verzehrte; es waren ein Mr. Davis und ein kleiner Kreis von Freunden. Es war unmöglich, den Namen der Mrs. Davis nicht kennenzulernen, denn sie wurde von der Gesellschaft sehr viel verlangt, und ihre Gesellschaft war überall. Während der Karwoche waren sie in jedem Teil jeder Szene jeder Zeremonie zu erblicken. Vierzehn Tage oder drei Wochen lang fand man sie in jedem Grabe, in jeder Kirche, in jeder Ruine und in jeder Gemäldegalerie, und schwerlich habe ich Mrs. Davis einen Augenblick lang stumm gesehen. Tief unter der Erde, hoch oben auf dem Petersdom, draußen in der Campagna oder in den engen Winkeln des Judenviertels erschien Mrs. Davis, beständig die alte. Ich glaube nicht, daß sie etwas sah oder etwas betrachtete; sie hatte immer etwas aus einem Strohkorb verloren und suchte es mit allem Eifer unter einer Unmasse englischer Halfpence, welche wie Sand an der Seeküste auf dem Boden ihres Korbes lagen. Die Gesellschaft (die, fünfzehn bis zwanzig an der Zahl, durch Kontrakt von London herübergebracht worden war) hatte beständig einen Cicerone bei sich; und wenn dieser Mrs. Davis nur anblickte, unterbrach sie ihn mit den Worten: »Mein Gott, wie mich der Mann quält! Ich verstehe kein Wort von dem, was Ihr sagt, und würde nichts verstehen, wenn Ihr sprächet, bis Ihr schwarz würdet im Gesicht!« Mr. Davis hatte immer einen schnupftabakfarbigen Überzieher an und einen großen grünen Regenschirm in der Hand und war mit einer langsam ihn verzehrenden Neugier behaftet, die ihn antrieb, merkwürdige Dinge zu tun, zum Beispiel den Deckel von den Urnen in Gräbern zu nehmen und die Asche anzugucken, als ob sie Eingemachtes wäre – oder mit der Spitze seines Schirmes Inschriften zu entziffern und mit tiefster Nachdenklichkeit zu sagen: »Sehet, da ist ein B, und da ist ein R, und da haben wir's!« Seine antiquarischen Gelüste verursachten oft, daß er hinter den übrigen zurückblieb; und eines der Hauptleiden von Mrs. Davis und der ganzen Gesellschaft war die ewige Furcht, Mr. Davis könnte verlorengehen. Dadurch wurden sie bewogen, an den seltsamsten Orten und zu den ungeeignetsten Zeiten ihn laut zu rufen. Und wenn er dann langsam aus einem Grabmal hervorkam wie ein friedlicher Ghoul und ausrief: »Hier bin ich!« entgegnete Mrs. Davis todsicher: »Du wirst in einem fremden Lande lebendig begraben werden, Davis, und es ist ganz unnütz, wenn man dich davor bewahren will.«
Mr. und Mrs. Davis und ihre Reisegefährten waren wahrscheinlich binnen neun oder zehn Tagen von London hierhergekommen. Vor achtzehnhundert Jahren weigerten sich die römischen Legionen unter Claudius, in Mr. und Mrs. Davis' Vaterland zu gehen, weil es jenseits der Grenzen der Welt liege.
Unter den kleineren »Löwen« Roms machte mir einer außerordentlichen Spaß. Er ist immer dort zu finden, und seine Höhle ist auf der großen Treppe, die von der Piazza di Spagna nach der Kirche Trinità del Monte hinaufführt. Mit einem Wort, diese Treppe ist der Hauptversammlungsplatz der Künstlermodelle, und sie stehen hier herum und warten auf Beschäftigung. Das erste Mal, als ich hierherkam, konnte ich nicht begreifen, warum mir die Gesichter so bekannt erschienen; warum sie mich seit Jahren in jeder möglichen Stellung und Tracht verfolgt zu haben schienen und wie es kam, daß sie mir jetzt plötzlich in Rom bei hellem lichtem Tage in Fleisch und Blut erschienen. Ich fand bald, daß wir schon seit mehreren Jahren an den Wänden verschiedener Ausstellungssäle Bekanntschaft gemacht hatten. Ein alter Herr ist darunter, mit langem weißem Haar und ungeheurem Bart, der, soviel ich weiß, in jedem Katalog der Königlichen Akademie zu finden ist. Er ist das ehrwürdige oder patriarchalische Modell. Er hat einen langen Stab in der Hand, und jeden Knoten des Stabes habe ich unzählige Male auf das getreueste abgebildet gesehen. Dann ist ein anderer Mann in einem blauen Mantel, der sich immer stellt, als schliefe er in der Sonne (wenn sie scheint), und der, das brauche ich nicht zu sagen, die Augen weit offen hat und sehr genau auf die Lage seiner Füße achtet. Das ist das Dolce-far-niente-Modell. Dann ein anderer in einem braunen Mantel, der gegen eine Mauer lehnt und mit verschränkten Armen aus den Winkeln seiner Augen blickt, die unter dem breitkrempigen Hute gerade noch sichtbar sind. Das ist das Banditenmodell. Dann ein anderer, der ständig über die Achsel blickt und ständig drauf und dran ist, zu gehen, aber nie geht; das ist das stolze Modell. Häusliches Glück und heilige Familien sollten eigentlich sehr billig sein, denn von einem Ende der Treppe bis zum andern sind sie in Überfluß da. Das köstlichste dabei ist aber, daß sie die heuchlerischsten Vagabunden von der Welt sind, die ganz besonders zu diesem Zweck aufgeputzt sind und ihresgleichen weder in Rom noch in einem andern Teile der Welt haben.
Die obige Erwähnung des Karnevals erinnert mich daran, daß man behaupten will, es sei in seiner Schlußszene ein spaßhaftes Trauern um die Lust und Heiterkeit vor dem Fasten, und das erinnert mich wieder an die wirklichen Leichenbegängnisse und Trauerzüge Roms, die wie in den meisten andern Städten Italiens dem Fremden vorzüglich durch die Gleichgültigkeit auffallen, mit der der bloße Staub betrachtet wird, nachdem das Leben entflohen ist. Und dies geschieht nicht, weil die Überlebenden Zeit gehabt hätten, die Erinnerung an die Toten von ihrer wohlbekannten Erscheinung und Gestalt auf Erden zu trennen, denn dazu folgt das Begräbnis zu schnell auf das Ableben, indem es fast immer nach vierundzwanzig und manchmal sogar nach zwölf Stunden stattfindet.
In Rom hat man dieselbe Einrichtung von Gruben auf einem großen kahlen offenen Platz, die ich schon bei Genua beschrieben habe. Als ich den Ort, es war gegen Mittag, besuchte, sah ich einen einfachen Sarg von einfachen Brettern, ohne Leichentuch oder Decke und so dünn, daß der Huf eines Maultieres ihn hätte zerschlagen können. Er war ohne Umstände neben einer der Gruben hingeworfen worden und lag auf der Seite – so stand er einsam in Wind und Sonnenschein. »Wie kommt es, daß man ihn hiergelassen hat?« fragte ich den Mann, der mir den Ort zeigte. »Er wurde vor einer halben Stunde hergebracht, Signore«, sagte er. Ich besann mich jetzt, dem Leichenzug bei seiner Rückkehr begegnet zu sein, wie er mit scharfem Schritt nach Hause eilte. »Wann wird er in die Grube kommen?« fragte ich weiter. »Sobald der Karren ankommt und die Grube heute abend aufgemacht wird«, sagte er. »Wieviel kostet es, auf diese Weise hierher geschafft zu werden, anstatt im Karren?« fragte ich ihn. »Zehn Scudi«, erwiderte er. »Die anderen Leichen, für die nichts bezahlt wird, werden zur Kirche Santa Maria della Consolazione gebracht«, fuhr er fort, »und dann abends im Karren hierher.« Ich blieb einen Augenblick vor dem Sarg stehen, auf dem zwei Anfangsbuchstaben gekritzelt waren, und als ich mich abwandte, mochte mein Gesicht verraten, daß mir eine derartige Ausstellung nicht eben gefalle, denn der Mann zuckte die Achseln mit großer Lebhaftigkeit und sagte mit einem freundlichen Lächeln: »Aber er ist tot, Signore; was macht's da schon aus?«
Unter den zahllosen Kirchen ist eine, die ich besonders erwähnen möchte. Das ist die Kirche Ara coeli, angeblich auf der Stelle des alten Tempels des Jupiter Feretrius erbaut; man gelangt zu ihr auf der einen Seite vermittelst einer hohen steilen Treppe, die ohne eine Gruppe bärtiger Wahrsager auf ihrer Höhe unvollständig zu sein scheint. Die Kirche ist merkwürdig durch den Besitz eines wunderwirkenden Bambinos, einer hölzernen, das Jesuskind darstellenden Puppe, und ich sah diesen wunderwirkenden Bambino zuerst bei folgender Gelegenheit.
Wir waren eines Nachmittags in die Kirche getreten und sahen die lange Flucht düsterer Pfeiler hinab (denn alle diese aus den Trümmern alter Tempel erbauten Kirchen sind finster und melancholisch), als der Wackere zu uns geeilt kam und uns bat, ihm ohne Verweilen zu folgen, da man eben einer ausgewählten Gesellschaft den Bambino zeigte. Wir eilten sogleich zu einer Art Kapelle oder Sakristei, dicht beim Hauptaltar, aber nicht in der Kirche selbst, wo die auserlesene Gesellschaft – zwei oder drei katholische Herren und Damen – bereits versammelt war und wo ein hohlwangiger junger Mensch verschiedene Kerzen anzündete, während ein anderer über seine grobe braune Kutte ein Priesterkleid warf. Die Kerzen standen auf einer Art Altar, und über ihm waren zwei absonderliche Gestalten zu sehen, wie man sie auf jedem englischen Jahrmarkt findet, die heilige Jungfrau und St. Joseph, andächtig über einen hölzernen Kasten, der verschlossen war, gebeugt.
Nachdem der hohlwangige Mönch Nummer eins die Kerzen angebrannt hatte, fiel er in einer Ecke auf die Knie nieder, und der Mönch Nummer zwei, nachdem er erst ein paar reichverzierte und von Gold strotzende Handschuhe angezogen hatte, nahm mit großer Ehrfurcht den Kasten herab und stellte ihn auf den Altar. Dann öffnete er ihn mit vielen Kniebeugungen, und nachdem er viele Gebete gemurmelt hatte, nahm er verschiedene Decken von Atlas und Spitzen heraus. Die Damen hatten von Anfang an auf den Knien gelegen, und die Herren sanken auch ehrerbietig nieder, als er ihnen eine kleine hölzerne Puppe zeigte mit einem Gesicht wie das von General Tom Thumb, prunkhaft gekleidet in Atlas und goldene Spitzen und ganz funkelnd von reichen Juwelen. Kaum ein Fleckchen war auf der kleinen Brust, dem Hals oder dem Leib zu sehen, das nicht von kostbaren Spenden der Gläubigen gestrahlt hätte. Dann nahm er es aus dem Kasten, trug es im Kreis der Knienden herum, legte das Gesicht der Puppe an die Stirn jedes Einzelnen und reichte ihnen den plumpen Fuß zum Küssen – eine Zeremonie, die sie alle vornahmen bis auf einen schmutzigen zerlumpten kleinen Buben herab, der von der Straße hereingetreten war. Sobald dies geschehen war, legte er die Puppe wieder in den Kasten, und die Gesellschaft stand auf, trat näher und pries flüsternd die Juwelen. Bald darauf deckte er sie wieder zu, machte den Kasten zu, stellte ihn wieder an seinen Platz und verschloß die ganze Geschichte (die heilige Familie und alles) hinter ein paar Flügeltüren, legte das Priesterkleid ab und nahm die gewöhnliche »Kleinigkeit« in Empfang, während sein Gefährte mit einem Lichtdämpfer an einer langen Stange die Lichter auslöschte. Nachdem die Lichter alle ausgelöscht und das Geld eingesammelt worden, entfernten sie sich, und ihnen folgten die übrigen.
Ich traf kurze Zeit darauf denselben Bambino auf der Straße, als er mit großem Prunk zum Haus eines Kranken gebracht wurde. Er ist zu diesem Zweck fast ständig in Rom unterwegs; aber ich vernehme, daß auf seine Wunderkraft nicht immer so zu bauen ist, wie es wünschenswert wäre; denn wenn er in Begleitung eines zahlreichen Gefolges am Bett todkranker und sterbender Personen erscheint, so erschreckt er sie nicht selten zu Tode. Am beliebtesten ist er bei Geburten, wo er solche Wunder getan hat, daß, wenn eine Dame länger als gewöhnlich in den Wehen liegt, sofort ein Bote abgeschickt wird, um die schnelle Ankunft des Bambino zu erbitten. Er ist ein sehr wertvolles Besitztum und steht in großem Ansehen – vorzüglich bei der religiösen Bruderschaft, der er gehört.
Es freut mich, daß er von einigen guten Katholiken, die hinter die Kulissen blicken, nicht so ganz vertrauensvoll angesehen wird; so muß ich wenigstens nach dem schließen, was mir der nahe Verwandte eines Priesters, selbst ein Katholik und ein Mann von Wissenschaft und Bildung, erzählte. Dieser Priester ließ sich von dem obenerwähnten Mann versprechen, daß er auf keine Weise den Bambino in das Krankenzimmer einer Dame bringen lassen wollte, für welche sie sich beide interessierten, denn, sagte er, wenn sie (die Mönche) die Dame damit belästigen und sich in das Zimmer drängen, so muß sie daran sterben. Mein Bekannter sah daher aus dem Fenster, als er ankam, und weigerte sich mit vielen Danksagungen, die Tür zu öffnen. Bei einer andern Gelegenheit, der er nur als Vorübergehender beiwohnte, bemühte er sich zu verhüten, daß er in ein kleines ungesundes Zimmer, wo ein armes krankes Mädchen lag, getragen werde. Aber seine Bemühungen waren vergebens, und sie verschied, während sich die Menge um das Bett drängte.
Unter den Leuten, welche dann und wann in die Peterskirche hereintreten, um hinzuknien und ein stilles Gebet zu sprechen, sind gewisse Schulen und Seminarien, geistliche und andere, die zwanzig und dreißig Mann stark hereinkommen. Diese Knaben knien in einfacher Reihe, einer hinter dem andern, während ein großer ernsthafter Schulmeister im großen schwarzen Rock die Reihe beschließt; so gleichen sie einem Spiel Karten, so aufgestellt, daß es bei der geringsten Berührung umfällt, mit einem unverhältnismäßig großen Treffbuben am Ende. Wenn sie etwa eine Minute vor dem Hauptaltar gelegen haben, stehen sie wieder auf, ziehen in die Kapelle der Madonna oder des Sakramentes und knien wieder in derselben Ordnung nieder; so daß, wenn jemand über den Schulmeister stolperte, ein allgemeines und plötzliches Zusammenstürzen unvermeidlich wäre.
Der Eindruck in allen diesen Kirchen ist der seltsamste, der nur möglich ist. In einem fort dasselbe eintönige, empfindungslose, schläfrige Singen; dasselbe dunkle Gebäude, noch dunkler erscheinend durch die Helligkeit der Straße draußen; dieselben düster brennenden Lampen; dieselben Leute hier und da auf dem Boden kniend; vor dem einen oder anderen Altar derselbe Priester, der euch mit demselben großen Kreuz den Rücken zukehrt. Wie verschieden auch in der Größe, in der Form, im Reichtum, in der Bauart diese Kirche von einer andern sein mag, immer ist es ganz dasselbe. Dieselben schmutzigen Bettler halten in ihren leisen Gebeten inne, um zu betteln; dieselben elenden Krüppel stellen ihre Mißgestalt an den Pforten zur Schau; dieselben Blinden klappern mit kleinen Töpfen gleich Pfefferbüchsen, in denen sie ihre Almosen sammeln; dieselben wunderlichen Kronen von Silber erscheinen über dem Kopf einzelner Heiligen und Madonnen auf gestaltenreichen Gemälden, so daß eine kleine Figur auf einem Berg einen Kopfputz hat, der größer ist als der Tempel im Vordergrund oder ganze Meilen der Ferne; derselbe allbeliebte Schrein oder Heilige, erstickt mit kleinen silbernen Herzen oder Kreuzen oder Engelchen; dasselbe seltsame Gemisch von Ehrfurcht und Unehrerbietigkeit, Glaube und Phlegma, niederkniend auf dem Steinboden und darauf ausspuckend, aufstehend vom Gebet, um ein wenig zu betteln oder eine andere weltliche Angelegenheit zu verrichten und dann wieder niederzuknien, um die zerknirschte Bitte da, wo sie abgebrochen, wieder anzufangen. In einer Kirche stand eine kniende Dame ein paar Augenblicke vom Gebet auf, um uns ihre Karte als Musiklehrerin anzubieten, und in einer anderen unterbrach ein gesetzter Herr mit einem sehr dicken Spazierstock seine Andacht, um seinen Hund durchzuprügeln, der einen andern Hund anknurrte und dessen Gewinsel und Geheul durch die ganze Kirche hallte, als der Herr ruhig seine Andacht wieder fortsetzte, aber doch dabei den Hund nicht aus dem Auge verlor.
Vor allem findet sich überall etwas zur Aufnahme der Beiträge der Gläubigen. Zuweilen eine Geldbüchse, die zwischen den Betenden und dem lebensgroßen Bilde des Erlösers steht; zuweilen eine kleine Kasse zum Instandhalten der Jungfrau; zuweilen eine Bitte im Namen eines beliebten Bambino; oder auch ein Beutel am Ende eines langen Stabes, der plötzlich unter dem Volke erscheint und von einem rührigen Sakristan eifrig geschüttelt wird; aber da ist es immer, sehr oft in einer und derselben Kirche in vielen Gestalten, und scheint ganz gut zu gedeihen. Auch fehlt es nicht in der freien Luft, auf Straßen und Wegen, denn oft, wenn man ruhig dahinschreitet und an nichts weniger als eine Blechbüchse denkt, da erscheint sie plötzlich aus ihrem Hinterhalt in einem kleinen Hause an der Straße, und oben darauf steht: »Für die Seelen im Fegefeuer«, eine Bitte, welche der Träger viele Male wiederholt, während er vor einem klappert, etwa wie Punch mit der zersprungenen Glocke klappert, die sein hoffnungsreiches Temperament für eine Orgel ansieht.
Das erinnert mich, daß einige römische Altäre von besonderer Heiligkeit die Inschrift tragen: »Jede an diesem Altar gelesene Messe befreit eine Seele aus dem Fegefeuer.« Ich habe nie herausfinden können, wieviel ein solcher Dienst kostet, aber teuer muß er sein. Auch verschiedene Kreuze gibt es in Rom, durch die man, wenn man sie küßt, Ablaß für verschieden lange Zeiten erlangt. Das in der Mitte des Kolosseums stehende gibt hundert Tage; und vom Morgen bis zum Abend kann man Leute sehen, die es küssen. Einige dieser Kreuze erfreuen sich einer Popularität, die man sich nicht erklären kann; von dieser Art ist das letzterwähnte. In einem andern Teile des Kolosseums steht ein Kreuz auf einer Marmortafel mit der Inschrift: »Wer dieses Kreuz küßt, kann auf zweihundertundvierzig Tage Ablaß Anspruch erheben.« Aber sooft ich in der Arena saß, sah ich niemand dies Kreuz küssen, sah aber beständig ganze Scharen von Bauern vorübergehen, um das andere zu küssen.
Einzelheiten aus dem großen Traum der römischen Kirchen herauszunehmen wäre die abenteuerlichste Beschäftigung von der Welt. Aber San Stefano Rotondo, ein dumpfes, modriges Gewölbe einer alten Kirche, an einem der Enden Roms gelegen, wird sich durch die abscheulichen Gemälde, mit denen seine Wände bedeckt sind, in meiner Seele immer oben erhalten. Diese Bilder stellen den Märtyrertod von Heiligen und Urchristen dar; und ein solches Panorama von Entsetzen und Blutvergießen kann sich kein Mensch im Traume denken, und wenn er ein ganzes Schwein zu Abend äße. Graubärtige Männer, die gekocht, gebraten, geröstet, gerädert, von wilden Tieren gefressen, von Hunden zerfleischt, lebendig begraben, von Pferden zerrissen, in kleine Stückchen zerhackt werden; Frauen, denen man die Brüste mit eisernen Zangen abreißt, die Zungen ausschneidet, die Ohren abdreht, die Kinnladen zerschmettert, die man auf der Folter ausstreckt oder schindet oder am Feuer brät – das sind noch die mindest gräßlichen Darstellungen. Und diese Greuel sind mit solcher Mühsamkeit ausgeführt, daß jedes Opfer denselben Gedanken erweckt wie der alte König Duncan bei Lady Macbeth, als sie sich wunderte, daß er so viel Blut hatte.
In den mamertinischen Gefängnissen ist ein Raum, der einst das Gefängnis des heiligen Petrus gewesen sein soll – was übrigens sehr leicht möglich ist. Das ehemalige Gefängnis ist jetzt ein dem Heiligen geweihtes Oratorium; sein Bild lebt noch lebhaft in meinem Gedächtnis. Es ist sehr klein und niedrig gewölbt; die Schauer des finstern alten Kerkers herrschen darin, als wären sie in einem düsteren Nebel aus dem Boden herausgestiegen. An den Wänden sind unter den zahlreichen Votiven Gegenstände, die zu gleicher Zeit seltsam im Einklang und seltsam im Mißklang mit dem Ort stehen – verrostete Dolche, Messer, Pistolen, Knüppel und andere Instrumente der Gewalt und des Mordes, die noch warm von der Tat hierhergebracht und aufgehängt worden sind, um den beleidigten Himmel zu versöhnen, als wenn das Blut daran in der geweihten Luft verschwände und keine Stimme hätte, um zum Himmel zu schreien. Überall ist es so still, so dumpfig und so gruftartig, die Kerker unten sind so schwarz und unheimlich und kahl, daß diese kleine dunkle Stelle zu einem Traum in einem Traume wird und in der Vision von großen Kirchen, die an mir vorüberrollt wie ein Meer, eine kleine Welle für sich bildet, die sich mit keiner andern vermischt und nicht mit den übrigen von dannen fließt.
Es ist grausig, an die ungeheuren Höhlen zu denken, in die man unter einigen römischen Kirchen gelangt und welche die Stadt unterminieren. Viele Kirchen besitzen Krypten oder unterirdische Kapellen von bedeutender Größe, welche früher einmal Bäder und geheime Tempelräume oder was sonst waren; aber von diesen spreche ich nicht. Unter der Kirche San Giovanni und San Paolo ist der Eingang zu einer in den Felsen gehauenen Höhlenreihe, die einen zweiten Ausgang unter dem Kolosseum haben soll – schauerliche nächtige Räume von ungeheurer Ausdehnung, halb begraben in der Erde und undurchforschbar, wo die mühsam brennenden Fackeln durch lange Reihen ferner Gewölbe, die sich links und rechts wie Straßen in einer Stadt der Toten abzweigen, hinabschimmern und die kalte Feuchtigkeit erkennen lassen, wie sie langsam an den Wänden hinabrinnt in die Wasserpfützen, die sich hier und da gesammelt und niemals einen Sonnenstrahl erblickt haben noch erblicken werden. Einige Erzählungen machen diese Höhlen zu Gefängnissen der für die Kämpfe im Amphitheater bestimmten wilden Tiere, andere zu Kerkern verurteilter Gladiatoren, wieder andere zu beidem. Aber am grauenhaftesten für die Phantasie ist die Sage, daß in der oberen Reihe (denn diese Höhlen haben zwei Stockwerke) die Christen der frühesten Zeiten, die zu den Schauspielen im Kolosseum aufgespart wurden, die wilden Tiere, die nach ihnen hungerten, unten hätten brüllen hören; bis nach der Nacht und der Einsamkeit ihrer Gefangenschaft plötzlich die Helle und das Leben des ungeheuern Theaters, vollgefüllt bis zum obersten Rand, und der Anblick ihrer gierig hereinstürzenden gefürchteten Nachbarn über sie hereinbrach!
Unter der Kirche San Sebastiano, zwei Meilen jenseits des Tores von San Sebastiano auf der Appischen Straße, ist der Eingang zu den Katakomben – ursprünglich Steinbrüche, aber später die Verstecke der Christen. Diese schauerlichen Gänge sind zwanzig Meilen weit untersucht worden und bilden ein Labyrinth von sechzig Meilen im Umfang.
Ein hagerer Franziskaner mit wildfunkelndem Auge war unser einziger Führer durch diesen nächtigen und grauenhaften Ort. Die engen Gänge und Öffnungen hie und da und die dumpfe und schwere Luft verwischten bald in uns allen jede Erinnerung an den Weg, den wir gekommen, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren: Mein Gott, wenn er in plötzlichem Wahnsinn die Fackeln auslöschen oder einen Anfall bekommen sollte, was würde dann aus uns werden? Wir wanderten immer fort unter den Gräbern der Märtyrer, an großen unterirdischen gewölbten Gängen vorbei, die sich nach allen Richtungen abzweigten und mit Steinhaufen verschlossen waren, damit Diebe nicht dort Zuflucht suchen und eine Bevölkerung unter Rom bilden, die noch schlimmer ist als die, welche oben an der Sonne lebt. Nichts als Gräber! Gräber! Gräber! Gräber von Männern, Frauen und Kindern, die ihren Verfolgern mit dem Ruf entgegeneilten: »Wir sind Christen! Wir sind Christen!« damit sie mit ihren Eltern geschlachtet würden; Gräber, auf denen die Palme des Märtyrertums grob in Stein gemeißelt ist, und kleine Nischen, in denen Fläschchen mit dem Blute der Märtyrer ausgestellt waren; Gräber von manchen, die jahrelang hier unten hausten und von den kunstlosen Altären aus ihren Brüdern Wahrheit, Hoffnung und Trost verkündeten; Gräber, weit geräumiger, aber noch schrecklicher, wo Tausende überrascht und lebendig begraben wurden.
»Die Triumphe des Glaubens finden sich nicht in unsern glänzenden Kirchen über der Erde«, sagte der Mönch und blickte sich nach uns um, als wir in einem der niedrigen Gänge, wo überall Gebeine und Staub waren, rasteten. »Hier sind sie! Unter den Gräbern der Märtyrer!« Er war ein sanfter, ernster Mann, und das Wort kam ihm aus dem Herzen; aber wenn ich gedachte, wie Christen ihre Brüder behandelt haben, wie sie, unsere allbarmherzige Religion verdrehend, sich gehetzt und gequält, verbrannt und enthauptet, erwürgt, geschlachtet und unterdrückt haben, da malte ich mir eine Qual vor, die noch ärger war als jene, welche dieser Staub erduldet, als der Lebenshauch noch in ihm war; da dachte ich mir, wie diese großen und beständigen Herzen gezittert und gewankt hätten, wenn eine Vorahnung der Taten, welche Christen im Namen dessen übten, für den sie starben, sie mit derselben unaussprechlichen Qual auf dem Rade, dem Kreuz und dem Feuer hätte zerreißen können.
Das sind die Flecken in meinem Traum von Kirchen, die für sich bleiben und ihre besondere Bedeutung haben. Eine schwächere Erinnerung kommt mir zuweilen von Reliquien in den Sinn; von einem Stück des Pfeilers von jenem Tempel, der sich in zwei Hälften zerteilte; von einem Stück des Tisches, der zum Letzten Abendmahl gedeckt worden; von dem Brunnen, an dem die Samariterin unserm Heiland zu trinken reichte; von zwei Säulen vom Hause des Pontius Pilatus; von dem Stein, an den die Hand des Erlösers gefesselt war, als er gegeißelt wurde; von dem Rost des heiligen Laurentius und dem Stein darunter, der noch befleckt war mit seinem Fett und Blut; alle diese prägten ein schattenhaftes Zeichen auf manche Kathedrale, wie eine alte Geschichte oder eine Fabel es tun könnte, und hielten sie für einen Augenblick fest, wie sie vor mir vorüberschwebte. Das übrige ist ein ungeheurer Wirrwarr heiliger Gebäude von allerlei Gestalt und Aussehen, eines in dem andern verschwindend; von zerborstenen Pfeilern alter heidnischer Tempel, die aus der Erde gegraben und gezwungen wurden, gleich riesigen Gefangenen die Dächer christlicher Tempel zu stützen, von schlechten und wundervollen, gottlosen und lächerlichen Gemälden, von knienden Leuten, dampfendem Weihrauch, klingelnden Glocken, und zuweilen, aber nicht oft, von einer ernst tönenden Orgel; von Madonnen, in deren Busen Schwerter stecken, geordnet in einen Halbkreis wie ein Fächer; von Gerippen toter Heiliger, in bunte goldbesetzte Seide, Atlas oder Samt gekleidet, den verblichenen Schädel mit kostbaren Juwelen oder Kränzen verwelkter Blumen geschmückt; zuweilen auch von Leuten, die sich um eine Kanzel versammelt haben und einen Mönch, der ein Kruzifix weit vorstreckt und wütend predigt, während die Sonne durch ein hohes Fenster herabscheint auf die Leinwand, die über ihm quer durch die Kirche ausgespannt ist, damit sich die Stimme nicht im hohen Gewölbe des Daches verliere. Dann tritt mein müdes Gedächtnis heraus auf eine Treppe, wo zahlreiche Menschen schlafend oder im warmen Sonnenschein ausgestreckt liegen, und wandert weiter durch die Lumpen, die Gerüche und Paläste und Höhlen einer alten italienischen Straße.
*
An einem Sonnabendmorgen (am 8. März) wurde hier ein Mann enthauptet. Neun oder zehn Monate vorher hatte er einer bayerischen Gräfin, die nach Rom pilgerte – natürlich allein und zu Fuß – und dieses fromme Werk, wie man erzählt, zum vierten Male verrichtete, aufgelauert. Er sah, wie sie in Viterbo, wo er wohnte, ein Goldstück wechselte, folgte ihr, leistete ihr unter dem verräterischen Vorwand, sie zu beschützen, ein paar Tage Gesellschaft, überfiel sie in der Campagna, nicht weit von Rom bei dem sogenannten – aber nicht echten – Grabe Neros, beraubte sie und erschlug sie mit ihrem eigenen Pilgerstab. Er hatte sich erst vor kurzem verheiratet und schenkte seiner Frau etwas von dem Schmuck der Ermordeten mit der Behauptung, er habe es auf einem Jahrmarkt gekauft. Sie aber, welche die pilgernde Gräfin durch die Stadt hatte gehen sehen, erkannte ein Stück davon als deren Eigentum. Ihr Gatte gestand ihr dann, was er getan hatte. Sie erzählte es in der Beichte einem Priester, und vier Tage nach der Tat war der Mörder verhaftet.
In diesem unberechenbaren Lande gibt es keine festgesetzten Zeiten zur Verwaltung oder Ausübung der Justiz; der Mann war seit jener Zeit nicht aus dem Gefängnis gekommen. Am Freitag aß er mit den anderen Gefangenen zu Mittag, als man ihm verkündigte, er werde nächsten Morgen enthauptet werden, und ihn mit fortführte. Nur sehr selten finden Hinrichtungen während der Fasten statt; aber da sein Verbrechen sehr schwer war, hielt man es für gut, gerade zu dieser Zeit, wo eine große Menge Pilger nach Rom kommen, an ihm ein Exempel zu statuieren. Ich hörte dies am Freitagabend und sah an den Kirchen Zettel kleben, mit der Aufforderung an das Volk, für die Seele des Verbrechers zu beten. So entschloß ich mich denn, seiner Hinrichtung beizuwohnen.
Die Enthauptung sollte um 14½ Uhr nach römischer Zeitrechnung oder Viertel vor neun Uhr vormittags stattfinden. Ich ging mit zwei Freunden hin; und da wir voraussetzten, das Gedränge werde sehr groß sein, waren wir schon um halb acht Uhr an Ort und Stelle. Der Platz zur Hinrichtung war bei der Kirche San Giovanni Decollato (ein sehr zweideutiges Kompliment für Johannes den Täufer), in einer der ungangbaren Nebengassen ohne Fußweg, aus denen ein großer Teil Roms besteht – in einer Straße von verfallenen Häusern, die niemandem gehören und niemals bewohnt gewesen zu sein scheinen und gewiß nie nach einem Plan oder zu einem besondern Zweck erbaut worden sind. Sie haben keine Fensterrahmen und sehen ziemlich aus wie verlassene Brauereien und könnten Lagerschuppen sein, wenn nur etwas darin wäre. Einem dieser Häuser gegenüber stand das Schafott, ein unbemaltes, plumpes, wackelig aussehendes Ding, etwa sieben Fuß hoch und ein hohes galgenförmiges Gestell stützend, in dem sich ein Messer, beschwert mit einer gewichtigen Eisenmasse, befand, welches hell in der Morgensonne glänzte, wenn sie dann und wann hinter einer Wolke hervorguckte.
Es waren nicht viel Zuschauer da; sie wurden von Abteilungen päpstlicher Dragoner in ziemlicher Entfernung gehalten. Zwei- oder dreihundert Infanteristen in voller Bewaffnung standen hier und da in ungeordneten Gruppen herum, und die Offiziere gingen plaudernd und Zigarren rauchend zu zweien und dreien auf und ab.
Am Ende der Straße war ein freier Raum, wo ein Haufen von Staub und irdenen Scherben und Abfall aus der Küche liegen würde, wenn der Art Dinge nicht in Rom überall Platz fänden und keine Vorliebe für besondere Lokalitäten zeigten. Wir traten in eine Art Waschhaus, das zu einem Wohnhaus daneben gehörte; hier nahmen wir Platz auf einem alten Karren und einem Haufen gegen die Wand gelehnter Karrenräder und sahen durch ein großes vergittertes Fenster auf das Schafott und die Straße hinab, bis, weil die Straße sich plötzlich nach links wendete, ein dicker Offizier mit Dreispitz uns die Sicht versperrte.
Es schlug neun Uhr und schlug zehn Uhr, und es geschah nichts. Die Glocken aller Kirchen läuteten wie gewöhnlich. Ein kleines Parlament von Hunden hatte sich auf dem freien Platz versammelt und spielte zwischen den Beinen der Soldaten Haschen. Wildblickende Römer der niedrigsten Klasse in braunen und blauen Mänteln und unbemäntelten Lumpen kamen und gingen und sprachen miteinander. Frauen und Kinder umstrichen die Ränder der dünngesäten Zuschauermasse. Eine große schmutzige Stelle war ganz leer wie ein kahler Fleck auf dem Kopf eines Menschen. Ein Zigarrenhändler, in der Hand einen irdenen Topf mit Kohlen tragend, ging auf und ab und schrie seine Ware aus. Ein Pastetenbäcker teilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem Schafott und seinen Kunden. Knaben versuchten Mauern hinaufzuklettern und purzelten wieder herunter. Priester und Mönche drängten sich durch das Volk und stellten sich auf die Fußspitzen, um einen Blick auf das Messer zu werfen, und gingen dann weiter. Künstler mit unsäglichen mittelalterlichen Hüten und Bärten (dem Himmel sei Dank) aus gar keinem Zeitalter warfen malerische Blicke um sich. Ein Herr (ich vermute, er hatte mit den schönen Künsten zu tun) zeigte sich in langen Stiefeln und mit einem roten Bart, der bis auf die Brust herabhing, und langem und brennendrotem Haar, das vorn über seine Schulter fast bis auf die Hüften in Zöpfen herabfiel, die sehr sorgfältig geflochten waren.
Es schlug elf Uhr, und es erschien noch nichts. Durch die Menge lief ein Gerücht, daß der Mörder nicht beichten wolle; dann würden ihn die Priester bis zum Avemaria – Sonnenuntergang – bei sich behalten; denn es ist bei ihnen ein barmherziger Brauch, erst zu dieser Zeit das Kruzifix von einem Manne, der sich weigert zu beichten, als von einem vom Heiland verlassenen Sünder abzuwenden. Die Leute fingen an sich zu entfernen, die Offiziere zuckten die Achseln und sahen aus, als ob sie nichts mehr erwarteten. Die Dragoner, die unter unserem Fenster dann und wann vorbeiritten, um einen unglücklichen Mietwagen oder Karren wegzuschicken, sobald sie ordentlich Platz genommen und sich mit frohlockenden Zuschauern gefüllt hatten (aber niemals früher), wurden barsch und heftig. Auf dem kahlen Fleck war auch kein einziges Härchen zu entdecken, und der dicke Offizier, der die Sicht versperrte, nahm eine Prise nach der andern.
Plötzlich ertönte Trompetenschall, »Achtung!« klang es unter den Infanteristen. Sie marschierten zum Schafott und bildeten einen Kreis darum. Auch die Dragoner galoppierten näher heran. Die Guillotine wurde der Mittelpunkt eines Waldes von Bajonetten und glänzenden Säbeln. Das Volk schloß sich näher um die Soldaten. Ein langer dünner Strom von Männern und Knaben, die den Zug vom Gefängnis aus begleitet hatten, füllte den freien Platz. Der kahle Fleck war kaum von den übrigen zu unterscheiden. Die Zigarren- und Pastetenverkäufer gaben für den Augenblick jeden Gedanken an Geschäfte auf, gaben sich ganz der Zerstreuung hin und bekamen im Gedränge gute Plätze. Die Sicht wurde jetzt von einem Trupp Dragoner versperrt, und der dicke Offizier, der den Säbel gezogen hatte, blickte aufmerksam nach einer nahen Kirche, die er sehen konnte, aber nicht wir.
Es dauerte nicht lange, so traten aus dieser Kirche einige Mönche; sie zogen auf das Schafott zu, und über ihnen schwebte langsam und düster das umflorte Bild Christi am Kreuze näher und näher. Es wurde um den Fuß des Schafotts herumgetragen zur Vorderseite und dem Verbrecher zugekehrt, daß er es bis zum letzten Augenblick sehen möchte. Es war kaum an seinem Platz, so erschien er selbst auf dem Schafott, barfuß, die Hände gebunden und Kragen und Hals des Hemdes fast bis auf die Schulter weggeschnitten. Ein junger Mann – sechsundzwanzig Jahre alt – kräftig und wohlgebaut. Ein blasses Gesicht, ein kleiner schwarzer Schnurrbart und dunkelbraunes Haar.
Er hatte sich geweigert zu beichten, wenn man ihn nicht zuerst noch einmal seine Frau sehen lasse; und sie hatten ihr eine Eskorte geschickt, was den Aufschub verursacht hatte.
Er kniete sogleich unter dem Messer nieder. Sein Hals paßte in ein Loch, das zu diesem Zwecke in einem Querriegel angebracht war, und wurde von einem andern Riegel, der sich darüber legte, niedergehalten. Unmittelbar darunter hing ein lederner Sack. Und in diesen rollte der Kopf im nächsten Augenblick.
Der Scharfrichter faßte ihn bei den Haaren, trug ihn um das Schafott und zeigte ihn dem Volk, ehe man so recht wußte, daß das Messer dumpf rasselnd niedergefallen war.
Nachdem das Haupt um das Schafott herumgetragen worden war, wurde es auf einer Stange befestigt – ein kleiner Fleck von Schwarz und Weiß, dort aufgestellt, damit die lange Straße es anstarre und die Fliegen sich darauf setzten. Die Augen waren aufwärts gerichtet, als hätte er den Anblick des ledernen Beutels vermieden und das Kruzifix angesehen. Jede Farbe, jeder Schein des Lebens hatte es in demselben Augenblick verlassen. Es war tot, kalt, fahl, wächsern; ebenso der Rumpf.
Viel Blut war herausgeströmt. Als wir unser Fenster verließen und nahe an das Schafott traten, war es sehr schmutzig geworden; einer der beiden Männer, die es mit Wasser begossen, mußte, als er sich umwandte, um mit seinem Gefährten die Leiche in einen schlechten Sarg zu legen, sich seinen Weg wie durch Kot bahnen. Einen seltsamen Anblick gewährte die scheinbare Vernichtung des Halses. Der Kopf war so glatt abgeschnitten, daß es aussah, als ob das Messer nur mit genauer Not nicht die Kinnlade oder das Ohr zerschnitten hätte; und der Rumpf sah aus, als wäre über der Schulter nichts vorhanden.
Niemand war bewegt oder gerührt. Es sprach sich nirgends Abscheu oder Mitleid oder Bedauern aus. Mehrere Male machte man in dem Gedränge ganz in der Nähe des Schafotts, als der Leichnam in den Sarg gelegt wurde, Angriffe auf meine leeren Taschen. Es war ein häßliches, schmutziges, widerliches Schauspiel; außer dem augenblicklichen Interesse für das eine unglückliche Opfer nichts als eine Schlächterei. Und doch schließt das Schauspiel eine Bedeutung und eine Warnung in sich. Ich darf es nicht vergessen. Lottospieler nehmen Platz an Stellen, wo sie die herausspritzenden Blutstropfen zählen können, und setzen auf diese Zahl. Sie wird gewiß sehr gefragt sein.
Die Leiche wurde weggefahren, das Messer gereinigt, das Schafott niedergerissen und der ganze häßliche Apparat entfernt. Der Scharfrichter – ein Geächteter ex officio (welch eine Satire auf den Strafvollzug!), der, wenn ihm sein Leben lieb ist, die Brücke der Engelsburg nur, um sein Amt zu verrichten, überschreiten darf – kehrte in seinen Schlupfwinkel zurück, und das Schauspiel war vorüber.
*
An der Spitze der Sammlungen der Paläste Roms steht natürlich der Vatikan mit seinen Kunstschätzen, seinen ungeheuern Galerien und Treppen und endlosen Reihen von Gemächern. Viele herrliche Bildsäulen und wundervolle Gemälde sind hier, aber es ist keine Ketzerei zu sagen, daß sich auch eine ziemliche Menge Ausschuß darin befindet. Wenn jedes Stück eines alten aus dem Boden gegrabenen Bildwerkes einen Platz in einer Galerie findet, weil es alt ist, und ohne Rücksicht auf seinen Kunstwert Bewunderer zu Hunderten findet, weil es dort ist und aus keinem andern Grunde auf der Welt, so wird es nicht an Gegenständen fehlen, die dem unbewaffneten Auge dessen, der sich eines so gemeinen Sehwerkzeugs bedient, wenn er die Brille des falschen Enthusiasmus für weniger als nichts tragen und sich dadurch bloß zu einem Mann von Geschmack machen kann, sehr gleichgültig sind.
Ich für meinen Teil gestehe offen, daß ich mein Gefühl für das, was natürlich und wahr ist, so wenig vor der Tür eines Palastes in Italien oder anderswo ablegen kann, wie ich meine Schuhe ablegen würde, wenn ich nach dem Orient reiste. Ich kann nicht vergessen, daß es gewisse Mienen des Gesichts gibt, die gewissen Leidenschaften natürlich und in ihrem Wesen so unveränderlich sind wie der Gang eines Löwen oder der Flug eines Adlers. Ich kann so alltägliche Dinge, wie es die gewöhnlichen Verhältnisse von menschlichen Armen, Beinen und Köpfen sind, nicht der Vergessenheit anheimgeben; und wenn ich Werke sehe, die diesen Erfahrungen und Erinnerungen Gewalt antun, so kann ich sie, und mögen sie sein, wo sie wollen, nicht aufrichtig bewundern und halte es für das beste, es offen zu gestehen; trotz der Ratschläge angesehener Kritiker, daß wir zuweilen Bewunderung heucheln sollten, wenn wir sie auch nicht fühlen.
Daher gestehe ich ganz offen, daß ich, wenn ich einen lustigen jungen Fischer als Cherub oder einen Kärrner von Barclay und PerkinsBerühmte Bierbrauer in London (Anmerkung des Übersetzers) als Evangelisten dargestellt sehe, darin durchaus nichts zu loben oder zu bewundern finde, so berühmt auch der Maler des Bildes sein mag. Auch habe ich keine Vorliebe für ihren Stand schändende Engel, die zur Erbauung von anscheinend betrunkenen und sich spreizenden Mönchen auf Geigen und Bässen spielen. Auch nicht für jene Stutzer der Bildergalerien, Sankt Franziskus und Sankt Sebastian, welche beide, erlaube ich mir zu bemerken, sehr ungewöhnliche und hohe Verdienste als Kunstwerke haben müßten, um ihre maßlose Vervielfältigung durch italienische Maler zu rechtfertigen.
Es scheint mir auch, als ob das keinen Unterschied machende und im voraus bestimmte Entzücken, in welches manche Kritiker verfallen, mit der wahren Würdigung wirklich großer und ausgezeichneter Werke unverträglich sei. Ich kann mir zum Beispiel nicht denken, wie der entschiedene Verteidiger wertloser Gemälde sich zu der staunenerregenden Schönheit von Tizians Gemälde, der »Himmelfahrt Marias«, erheben kann; oder wie derjenige, welcher die Erhabenheit dieses ausgezeichneten Werkes wirklich empfindet, oder die Schönheit von Tintorettos großem Gemälde, der »Versammlung der Seligen«, wirklich fühlt, in Michelangelos »Jüngstem Gericht« in der Sixtinischen Kapelle nur einen einzigen allgemeinen und alles durchdringenden Gedanken, der mit dem erhabenen Gegenstande in Harmonie stände, entdecken könnte. Wer Raffaels Meisterwerk, die »Verklärung Christi«, betrachtet, und dann in einem andern Zimmer des Vatikans ein anderes Bild Raffaels sieht, welches in unglaublicher Karikatur die wunderbare Hemmung einer großen Feuersbrunst durch Leo den Vierten darstellt, und sagt, daß er beide als Schöpfungen eines außerordentlichen Genies bewundert – dem muß, meiner Meinung nach, in einem von beiden Fällen Wahrnehmungskraft und Empfindung fehlen, und wahrscheinlich in dem ersteren.
Es ist leicht, einen Zweifel anzuregen, aber ich zweifle sehr, ob nicht zuweilen die Regeln der Kunst zu streng beobachtet werden und ob es so ganz angenehm ist, im voraus zu wissen, wo diese Gestalt sich umwenden und wo jene sich niederlegen und wo man eine Draperie anbringen wird.
Wenn ich in italienischen Galerien auf wertvollen Gemälden Köpfe bemerke, die des Gegenstandes nicht würdig sind, so mache ich deswegen dem Maler keinen Vorwurf, denn ich vermute, daß diese großen Männer, die notwendigerweise sehr von Mönchen und Priestern abhängen, viel zu oft Mönche und Priester malten. Ich habe oft in wirklich ausgezeichneten Bildern Köpfe gesehen, die des Gegenstandes und des Malers ganz und gar unwürdig waren, und habe immer bemerkt, daß diese Köpfe das Klostergepräge tragen und daß ihre Ebenbilder noch heutigentags unter den Klosterbewohnern zu finden sind; so bin ich denn zu dem Urteil gekommen, daß in solchen Fällen die Schuld nicht an dem Maler, sondern an der Eitelkeit und Unwissenheit seiner Gönner lag, die durchaus Apostel sein wollten – wenigstens auf der Leinwand.
Die ausnehmende Anmut und Schönheit von Canovas Statuen, die wundervolle Würde und Ruhe von vielen der antiken Bildwerke auf dem Kapitol und im Vatikan, die Kraft und das Feuer vieler anderer Werke sind in ihrer verschiedenen Weise über alle Beschreibung erhaben. Besonders erfreulich sind sie nach den Werken Berninis und seiner Schüler, an denen die Kirchen Roms von der Peterskirche abwärts reich sind und die man, glaube ich, die abscheulichste Klasse von Bildhauerwerken in der ganzen Welt nennen muß. Viel lieber würde ich die drei Gottheiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der chinesischen Galerie sehen als die beste der lustigen Tollhausgestalten, bei denen jede Falte der Draperie sich im Winde umkehrt, an denen die kleinste Ader so dick ist wie ein gewöhnlicher Finger, deren Haar einem Nest zuckender Schlangen gleicht und deren Stellungen jede andere Übertreibung beschämen. Sie haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß es keinen Ort in der Welt geben kann, wo so unleidliche Mißgeburten aus dem Gehirn des Bildhauers entsprungen und in so reichlicher Fülle zu finden sind wie in Rom.
Im Vatikan ist noch eine schöne Sammlung ägyptischer Altertümer; die Decken der Zimmer, in denen sie aufgestellt sind, stellen einen Sternenhimmel über der Wüste dar. Der Gedanke mag wunderlich erscheinen, ist aber von großer Wirkung. Die grausigen, halb menschlichen Ungeheuer aus den Tempeln sehen noch grausiger und ungeheuerlicher aus unter dem tiefdunklen Blau. Es gibt allem eine seltsame, ungewisse, düstere Färbung, etwas Geheimnisvolles, das zu den Gegenständen paßt; und ihr verlaßt sie, wie ihr sie gefunden habt, in feierliches Dunkel gehüllt.
In den Privatpalästen kann man die Gemälde am besten genießen. Selten sind so viele an einem Ort versammelt, um die Aufmerksamkeit zu zerstreuen und das Auge zu verwirren. Man besieht sie mit Muße und wird selten von einem Gedränge von Menschen gestört. Man findet zahllose Porträts von Tizian, Rembrandt und van Dyck; Köpfe von Guido, Domenichino und Carlo Dolce; Gemälde verschiedener Art von Correggio, Murillo, Raffael, Salvator Rosa und Spagnoletto – von denen man viele kaum zu sehr oder nur genug preisen könnte, so herrlich sind sie in ihrer Anmut, ihrer Erhabenheit, Keuschheit und Schöne.
Das Bildnis der Beatrice Cenci im Palazzo Barberini ist ein Gemälde, das zu vergessen fast unmöglich ist. Durch die überirdische Lieblichkeit und Schönheit des Gesichtes schimmert etwas, was mich wie ein böser Traum verfolgt. Ich sehe es jetzt, wie ich dieses Papier oder meine Feder sehe. Der Kopf ist in eine lose weiße Draperie gehüllt, und das blonde Haar entschlüpft aus den leinenen Falten. Sie hat sich plötzlich dem Beschauer zugewendet; und in den Augen – obgleich sie sehr lieblich und sanft sind – liegt ein Ausdruck, als ob der Wahnsinn eines augenblicklichen Entsetzens in diesem Moment bekämpft und besiegt worden und nichts zurückgeblieben wäre als eine himmlische Hoffnung und ein schöner Schmerz und eine irdische Hilflosigkeit. Eine Sage behauptet, Guido habe das Bild in der Nacht vor ihrer Hinrichtung gemalt; eine andere, er habe es nach der Erinnerung entworfen, nachdem er sie auf dem Wege nach dem Schafott habe vorübergehen sehen. Ich möchte glauben, daß sie so, wie ihr sie auf seiner Leinwand erblickt, sich ihm beim ersten Anblick des Beiles zuwandte und in seine Seele einen Blick einprägte, der sich in die meinige eingeprägt hat, als hätte ich neben ihm unter der Menge gestanden. Der schuldbeladene Palast der Cenci – der ein ganzes Stadtviertel unheimlich macht, wie er dort steht in langsamem Verfall – war von diesem Gesicht, wie mir vorkam, noch bewohnt, und es schwebte in seiner dunklen Pforte und in den schwarzen blinden Fenstern und auf den öden Stiegen und wuchs aus der Nacht seiner gespenstischen Galerien. Die Geschichte steht im Bilde, steht in des sterbenden Mädchens Antlitz geschrieben von der Hand der Natur, und ach! wie sie durch diesen einen Zug die armselige Welt, welche durch jämmerliche konventionelle Fälschungen Anspruch darauf macht, mit ihr verwandt zu sein, weit von sich weist, anstatt sich ihr zu nähern.
Im Palazzo Spada sah ich die Bildsäule des Pompejus, dieselbe Bildsäule, an deren Fuß Cäsar starb. Eine finstere, grauenhafte Gestalt! Ich dachte sie mir von größerer Vollendung, voll zarter Züge, die vor den brechenden Augen eines Menschen, dessen Blut vor ihr ausströmte, allmählich weniger deutlich wurden und zuletzt diese starre Majestät annahmen, wie der Tod das in die Höhe blickende Gesicht erbleichen machte.
Die Ausflüge in den Umgebungen Roms sind reizend und wären schon voll Interesse, wenn sie auch nichts darböten als die immer wechselnden Aussichten der wilden Campagna. Aber jeder Schritt, wohin man sich nur wenden mag, ist reich an Erinnerungen und malerischen Schönheiten. Albano mit seinem lieblichen See und dem bewaldeten Ufer und seinem Wein, der sich seit den Tagen Horazens gewiß nicht verbessert hat und heutzutage sein Lob kaum noch verdient. Das in Schmutz versunkene Tivoli mit dem Anio, der aus seiner Bahn gelenkt ist und sich kopfüber achtzig Fuß tief hinabstürzt, um sie wieder aufzufinden. Dann sein malerischer Sibyllentempel hoch oben auf einer Klippe, seine kleinen Wasserfälle, die in der Sonne blitzen und funkeln, und eine düster gähnende Höhle, wo der Fluß fürchterlich tief hinabstürzt und tief unten mitten unter überhängenden Felsen dahinschießt. Dann die Villa d'Este, verlassen und verfallen inmitten von Hainen von melancholischen Pinien und Zypressen, gleichsam als Leiche ausgestellt. Frascati und auf der steilen Höhe darüber die Trümmer von Tusculum, wo Cicero lebte und schrieb, und sein Lieblingshaus – man sieht noch einige Ruinen davon – ausschmückte und wo Cato geboren ward. Wir sahen sein verfallenes Amphitheater an einem trüben grauen Tage, als ein pfeifender Märzwind blies und die Steine der alten Stadt zerstreut auf der einsamen Höhe lagen, so wüst und tot wie die Asche eines längst verloschenen Feuers.
Eines Tages wanderten wir, eine kleine Gesellschaft von drei Personen, nach Albano, vierzehn Meilen von Rom, erfüllt von einem starken Verlangen, auf der alten Appischen Straße, die seit langer Zeit verfallen und überwachsen ist, dorthin zu gelangen. Wir brachen um halb acht Uhr früh auf und befanden uns in etwa einer Stunde draußen in der Campagna. Zwölf Meilen kletterten wir in einem fort über Hügel, Haufen und Berge von Ruinen. Grabmäler und Tempel umgestürzt und zu Boden gefallen; kleine Fragmente von Säulen, Friesen, Sockeln; große Blöcke von Granit und Marmor; zerbröckelnde Bogen, mit Gras überwachsen und verfallen; Trümmer genug, um eine ganze große Stadt damit zu erbauen, lagen rings um uns verstreut. Zuweilen zogen sich Mauern, die von den Schäfern lose aus diesen Trümmern zusammengelegt worden, quer über unsern Weg; zuweilen hielt uns ein Graben zwischen zwei Bergen zerbröckelter Steine auf; zuweilen machten die Trümmer selbst, indem sie unter unsern Füßen wegrollten, das Gehen zu einer mühseligen Beschwerde; aber überall waren Trümmer.
Jetzt verfolgten wir ein Stück der alten Straße über der Erde, jetzt konnten wir sie unter einer Rasendecke, als wäre diese ihr Grab, entdecken, aber der ganze Weg war nichts als Trümmer. In der Ferne liefen verfallene Aquädukte, mit ihren hohen Bogen wie dahinschreitende Riesen aussehend, über die Ebene hin; und jeder Windhauch, der uns entgegenkam, bewegte frühzeitige Blumen und Gräser, die wild aus der meilenweiten Trümmerfläche hervorwuchsen; die unsichtbaren Lerchen über uns, die allein das schauerliche Schweigen störten, hatten ihre Nester in Trümmern, und die wildblickenden, in Schaffelle gekleideten Hirten, die uns zuweilen aus ihren Schlafwinkeln anstierten, wohnten in Trümmern. Der Anblick der öden Campagna in einer Richtung, wo sie sehr eben war, erinnerte mich an eine amerikanische Prärie; aber was ist die Einsamkeit einer Region, wo niemals Menschen gewohnt haben, gegen die Einsamkeit einer Wüste, wo ein mächtiges Volk seine Fußstapfen in der Erde zurückgelassen hat, von der es verschwunden ist, wo die Ruhestätten ihrer Toten zerfallen sind wie ihre Toten selbst und das zerbrochene Stundenglas der Zeit nur ein Häufchen nichtigen Staubes ist! Als ich bei Sonnenuntergang auf der Straße zurückkehrte und aus der Ferne auf den Weg sah, den wir am Morgen verfolgt hatten, da war es mir fast (wie es mir gewesen war, als ich sie zum ersten Male um diese Stunde gesehen), als ob die Sonne nie wieder aufgehen sollte und dieser Abend zum letzten Male auf eine Trümmerwelt herabschaue.
Nach einem solchen Ausflug bei Mondschein nach Rom zurückzukehren ist ein würdiger Abschluß eines solchen Tages. Die schmalen Straßen, ohne Seitenwege für die Fußgänger und in jedem dunklen Winkel mit Kehrichthaufen vollgestopft, bilden mit ihrem verkümmerten Raum und ihrem Schmutz und ihrer Finsternis den schroffsten Gegensatz zu dem geräumigen Platz vor einer stolzen Kirche, in dessen Mitte ein mit Hieroglyphen bedeckter Obelisk, in den Kaiserzeiten aus Ägypten hierhergebracht, wie staunend auf die fremdartige Umgebung herabblickt; oder wo vielleicht eine antike Säule, auf deren Spitze einst ein hochgeehrter Held stand, einen christlichen Heiligen trägt: Paulus anstatt Marcus Aurelius und Petrus anstatt Trajan. Dann die massigen Gebäude, die aus den Trümmern des Kolosseums erbaut sind und den Mond wie Berge verdecken, während hier und dort eingestürzte Bogen und zerspaltene Mauern stehen, durch welche das Mondlicht frei hereinströmt, wie das Leben aus einer Wunde. Die kleine Stadt elender Häuser, von einer Mauer mit verriegelten Toren umgeben, ist das Viertel, wo die Juden allnächtlich, sobald es acht Uhr schlägt, eingeschlossen werden – ein elender Ort, dicht bevölkert und von häßlichen Gerüchen dampfend, dessen Bewohner aber fleißig sind und Geld verdienen. Geht man bei Tage durch die engen Straßen, so sieht man sie alle bei ihrer Arbeit und öfter auf dem Pflaster als in ihren dunklen und dumpfigen Läden, alte Kleider ausbessernd oder schachernd.
Kommt man aus diesen Flecken tiefster Finsternis wieder in den Mondschein, so erscheint der Trevibrunnen, der aus hundert Mündungen strömt und über künstliche Felsen fällt, dem Auge und dem Ohre wie Silber. In der schmalen, schlundartigen Straße auf der andern Seite versammelt eine Bude, geschmückt mit lodernden Lampen und Zweigen, eine Gruppe finsterer Römer um ihre rauchenden Kupferkessel voll heißer Brühe und Blumenkohlragout und ihre Schüsseln mit gebratenen Fischen und ihre Weinflaschen. Wenn man um eine scharfe Ecke herumrasselt, vernimmt man ein Rumpeln. Der Kutscher hält plötzlich an und nimmt den Hut ab, während ein großer Wagen, begleitet von einem Manne, der ein großes Kreuz trägt, einem Fackelträger und einem singenden Priester, langsam vorüberfährt. Es ist der Leichenwagen mit den Leichen der Armen auf seinem Wege nach dem Campo Santo vor der Mauer, wo man sie in eine Grube wirft, die heute nacht mit einem Stein bedeckt wird und ein Jahr lang geschlossen bleibt.
Aber ob man bei dieser Fahrt an Obelisken oder Säulen, an alten Tempeln, Theatern, Häusern, Säulengängen oder Foren vorüberkommt, überall ist es seltsam zu sehen, wie jedes Bruchstück, wo es nur möglich war, in einen modernen Bau gefügt oder zu einem modernen Zweck verwendet worden ist – zu einer Mauer, einem Wohnhaus, einem Kornspeicher, einem Stall –, zu einem Gebrauch also, zu dem es nie bestimmt war und zu dem es nur schlecht passen kann. Noch seltsamer ist es zu sehen, wie viele Reste der alten Mythologie, wie viele Bruchstücke vergessener Legenden und Gebräuche in den christlichen Gottesdienst hier eingewachsen sind; und wie in zahllosen Fällen der falsche und der wahre Glaube sich in einer mißgeborenen Vereinigung verschmolzen finden.
Wenn man von einem Teil der Stadt über die Mauer hinaussieht, wirft eine plumpe und abgestumpfte Pyramide (das Grab des Cajus Cestius) einen dunklen dreieckigen Schatten im Mondschein. Aber einem englischen Reisenden bezeichnet sie auch das Grab Shelleys, dessen Asche unter einem kleinen Garten daneben liegt. Noch näher, fast in seinem Schatten ruht Keats, »dessen Name in Wasser geschrieben ist«, welches in einer ruhigen italienischen Nacht hell durch die Landschaft schimmert.
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Die Karwoche in Rom soll für die Fremden von vorzüglicher Anziehungskraft sein; aber außer wegen dessen, was man am Ostersonntag sieht, möchte ich allen, die nach Rom um der Stadt willen reisen, raten, sie um diese Zeit zu meiden. Die kirchlichen Festlichkeiten sind im allgemeinen von der allerlangweiligsten und ermüdendsten Art, die Hitze und das Gedränge bei jeder derselben ist peinlich, der Lärm, das Getöse und die Verwirrung zum Wahnsinnigwerden.
Wir gaben sehr zeitig diesen Teil der Sehenswürdigkeiten auf und wendeten uns wieder den Ruinen zu. Aber wir mischten uns in das Gedränge, um einiges von dem Interessantesten zu sehen, und was wir sahen, will ich beschreiben.
Am Mittwoch in der Sixtinischen Kapelle sahen wir sehr wenig, denn als wir hinkamen – obgleich wir uns sehr zeitig einstellten –, hatte die belagernde Menschenmasse sie schon bis an die Tür angefüllt und floß in die angrenzende Halle über, wo ein Kämpfen und Drängen und gegenseitiges Entschuldigen vorherrschten und stets ein allgemeiner Sturm entstand, wenn man eine ohnmächtig gewordene Dame herausbrachte, als ob auf ihrem leergewordenen Platze für wenigstens fünfzig Leute Raum wäre. In der Tür der Kapelle hing ein schwerer Vorhang, den die ihm zunächst Stehenden in ihrer Sehnsucht, das Miserere singen zu hören, beständig nach entgegengesetzten Seiten zupften und zogen, damit er nicht herabfalle und den Ton der Stimmen ersticke. Die Folge war, daß er die wunderbarste Verwirrung verursachte und sich um die Unvorsichtigen wie eine Schlange zu winden schien. Jetzt war eine Dame davon eingehüllt und konnte nicht wieder herausgewickelt werden. Dann wieder hörte man die Stimmen eines erstickenden Herrn, der flehentlich bat, man möge ihn herauslassen, in ihm ertönen. Oder zwei Arme – kein Mensch konnte wissen, welchen Geschlechts – zappelten darin wie in einem Sack. Plötzlich trug ihn eine anstürmende Menschenmasse auf dem Kopf in die Kapelle wie ein Zeltdach, und dann flog er wieder heraus und verschleierte einem Schweizergardisten, der eben herbeigekommen war, um Ordnung zu schaffen, die Augen.
Da wir in geringer Entfernung davon unter einigen Hofleuten des Papstes, die sehr müde waren und die Minuten zählten – Sr. Heiligkeit ging es vielleicht auch so –, saßen, so hatten wir bessere Gelegenheit, dies seltsame Schauspiel zu beobachten, als das Miserere zu hören. Zuweilen vernahm man einen Akkord klagender Stimmen, der sehr pathetisch und trauervoll klang und wieder leise verhallte; aber das war alles, was wir hörten.
Später fand die Ausstellung der Reliquien in der Peterskirche statt, nämlich zwischen sechs und sieben Uhr abends, ein Schauspiel, welches durch die Dunkelheit, die in der Kirche herrschte, und die große Menschenmenge, die darin war, sehr effektvoll wurde. Die Reliquien wurden eine nach der andern von drei Priestern auf einen hohen Balkon, nicht weit vom Hauptaltar, gebracht; das war der einzig erleuchtete Teil der Kirche. Hundertundzwölf Lampen brennen beständig um diesen Altar und außerdem noch zwei große Kerzen neben der schwarzen Bildsäule des heiligen Petrus; aber das war soviel wie gar nichts in dem ungeheuren Gebäude. Die tiefe Dämmerung und die überall zum Balkon hinaufgewendeten Gesichter und das Niederstürzen der wahren Gläubigen auf den Boden, als glänzende Gegenstände, ähnlich Bildern oder Spiegeln, der Menge gezeigt wurden, war von großer Wirkung, trotz der wirklich seltsamen Weise, mit der man sie zur allgemeinen Erbauung ausstellte, und der großen Höhe, in der man sie zeigte, welche, sollte man meinen, eher geeignet war, den tröstlichen Eindruck der Überzeugung von ihrer Echtheit zu verringern.
Am Donnerstag sahen wir den Papst das Sakrament aus der Sixtinischen Kapelle nach der Capella Paolina, ebenfalls im Vatikan, tragen, eine Zeremonie, welche an die Bestattung des Heilands vor seiner Auferstehung erinnern soll. Wir warteten wohl eine Stunde mit einer Masse Volks (drei Viertel davon waren Engländer) in einer großen Galerie, während man in der Sixtinischen Kapelle wieder das Miserere sang. Beide Kapellen öffneten sich auf die Galerie, und die allgemeine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das gelegentliche Öffnen und Schließen der Tür derjenigen Kapelle, nach welcher der Papst gehen sollte. Niemals zeigte die geöffnete Tür etwas anderes als einen Mann auf einer Leiter, der eine große Menge Kerzen anbrannte; aber bei jedem Öffnen richtete sich ein allgemeiner und schrecklicher Sturm auf diese Leiter, etwa (sollte ich meinen) wie der Angriff der schweren Reiterei bei Waterloo. Desungeachtet wurden weder der Mann noch die Leiter umgeworfen; denn sie machte die allerseltsamsten Kapriolen unter der Menge, durch welche sie der Mann trug, als die Kerzen alle angezündet waren; und zuletzt wurde sie auf sehr unordentliche Weise gegen die Galeriewand gelehnt, eben als die andere Kapelle sich öffnete und das Beginnen eines neuen Liedes die Ankunft Sr. Heiligkeit anzeigte. Auf dieses Zeichen stellten sich die Soldaten der Garde, welche die Menge in alle möglichen Formen gedrängt hatten, in einer Doppelreihe die Galerie hinab, durch welche die Prozession herankam.
Zuerst einige Chorknaben und dann paarweise sehr viele Priester, die – wenigstens die hübschen unter ihnen – ihre Kerzen so trugen, daß sie das Licht mit gutem Effekt auf ihre Gesichter warfen, denn das Zimmer war dunkel. Die, welche nicht hübsch waren oder keine langen Bärte hatten, trugen ihre Kerzen irgendwie und gaben sich ganz gläubiger Beschaulichkeit hin. Der Gesang unterdessen war sehr eintönig und langweilig. Die Prozession ging langsam vorüber in die Kapelle, und das schläfrige Gesumme der Stimmen ging mit ihr vorbei, bis der Papst selbst unter einem Baldachin von weißem Atlas und das zugedeckte Sakrament in beiden Händen tragend erschien. Um ihn drängten sich Kardinäle und Kanoniker, was sich sehr glänzend ausnahm. Die Soldaten knieten nieder, als er vorüberging, die Zuschauer verbeugten sich; und so schritt er nach der Kapelle, in deren Tür der Baldachin weggenommen und statt dessen ein Schirm von weißem Atlas über sein greises Haupt gehalten wurde. Einige Paar mehr schlossen den Zug und traten ebenfalls in die Kapelle. Dann wurde die Tür geschlossen, und alles war vorbei, und alle Welt eilte Hals über Kopf fort, als ob es das Leben gelte, um etwas anderes zu sehen und zu sagen, es sei nicht der Mühe wert gewesen.
Für das populärste und am meisten besuchte Schauspiel (außer denen am Ostersonntag und Ostermontag, wo alle Schichten des Volkes Zutritt finden) halte ich dasjenige, bei dem der Papst die Fußwaschung der dreizehn Männer vornimmt, welche die zwölf Apostel und Judas Ischariot darstellen. Dieses fromme Werk wird in einer der Kapellen der Peterskirche, die zu diesem Zwecke bunt ausgeschmückt ist, verrichtet; die dreizehn sitzen alle in einer Reihe auf einer sehr hohen Bank und fühlen sich sehr unbehaglich, da die Augen von der Himmel weiß wie vielen Engländern, Franzosen, Amerikanern, Schweizern, Deutschen, Russen, Schweden, Norwegern und anderen Fremden sie die ganze Zeit anstarren. Sie sind weiß gekleidet und tragen auf dem Kopf eine steife weiße Mütze, gleich einem großen englischen Porterkrug ohne Handgriff. Jeder trägt einen Strauß von der Größe eines schönen Blumenkohlkopfes in der Hand, und zwei von ihnen hatten in diesem Jahre Brillen auf, was mir, wenn ich der Rollen, welche sie spielten, gedachte, als ein sehr drolliges Anhängsel ihres Kostüms erschien. Man hatte viel Rücksicht auf die Darstellung der Charaktere genommen; Sankt Johannes wurde durch einen hübschen jungen Mann dargestellt, Sankt Petrus durch einen würdigen alten Herrn mit wallendem braunem Bart und Judas Ischariot durch einen so abscheulichen Heuchler (ich konnte jedoch nicht ins klare kommen, ob der Ausdruck seines Gesichts echt oder nur angenommen war), daß, wenn er die Rolle bis zu Ende gespielt und fortgegangen wäre und sich erhängt hätte, nichts mehr zu wünschen übriggeblieben wäre.
Da die zwei großen Logen, welche für diese Gelegenheit den Damen zugewiesen sind, übervoll waren und keine Aussicht bestand, in die Nähe zu kommen, so eilten wir mit vielen Menschen weiter, um zu guter Zeit bei der Tafel zu sein, wo der Papst in Person diesen dreizehn aufwartet; und nach einem fürchterlicher Gedränge auf der Treppe des Vatikans und verschiedener Kämpfen mit der Schweizergarde strömte die ganze Menge in das Zimmer. Es war eine große, weiß und rot ausgeschlagene Galerie mit einer großen Loge für die Damen (welche sich bei diesen Feierlichkeiten in Schwarz kleiden und schwarze Schleier tragen müssen), einer königlichen Loge für den König von Neapel und sein Gefolge und der Tafel selbst, die, wie zu einem Ballsouper hergerichtet und mit goldenen Figuren der wirklichen Apostel geschmückt, auf einer erhöhten Bühne an einer Seite der Galerie stand. Die Gabeln und Messer der nachgemachten Apostel lagen auf der Seite des Tisches, die der Wand am nächsten war, so daß man sie ohne Hindernis betrachten konnte.
Der nicht abgegrenzte Teil der Zimmer war voll von männlichen Fremden, die Hitze sehr groß und das Gedränge fürchterlich. Es erreichte seinen Höhepunkt, als der Strom von der Fußwaschung hereinstürzte, und da ertönte ein solches Schreien und Jammern, daß eine Abteilung piemontesischer Dragoner der Schweizergarde zu Hilfe kam und sie bei der Stillung des Tumultes unterstützte.
Im Drängen nach Plätzen waren vorzüglich die Damen ungestüm. Eine Dame meiner Bekanntschaft in der Damenloge fühlte sich plötzlich von einer kräftigen Matrone umfaßt und von ihrem Platz gehoben, und eine andere Dame (in einer hintern Reihe derselben Loge) behalf sich dadurch, daß sie die Damen vor sich mit einer großen Nadel stach.
Die Herren in meiner Nähe ließen es sich außerordentlich angelegen sein, zu sehen, was auf der Tafel stand, und ein Engländer schien die ganze Energie seines Geistes anzuwenden, um zu entdecken, ob Senf vorhanden sei. »Beim Jupiter, da ist Essig!« hörte ich ihn zu meinem Freunde sagen, nachdem er eine unendlich lange Zeit auf der Fußspitze gestanden hatte und von allen Seiten gedrängt und gestoßen worden war. »Und da ist Öl! Ich sehe es ganz deutlich in Fläschchen! Kann einer, von den Herren dort vorn Senf auf dem Tisch erblicken? Mein Herr, wollen Sie die Gefälligkeit haben! Sehen sie wirklich einen Senftopf?«
Die Apostel und Judas erschienen nach langem Harren auf der Bühne und stellten sich in einer Reihe, Petrus an der Spitze, vor der Tafel auf; die Zuschauer starrten sie eine gute Weile an, während zwölf von ihnen an ihren Sträußen rochen und Judas mit sehr aufdringlich markierter Bewegung seiner Lippen für sich betete. Alsdann erschien der Papst, angetan mit einem scharlachroten Gewand und mit einem Käppchen von weißem Atlas, in der Mitte vieler Kardinäle und anderer Würdenträger, und nahm einen kleinen goldenen Krug, aus dem er ein wenig Wasser auf eine von Petrus' Händen goß, während ein Diener ein goldenes Becken darunterhielt, ein zweiter ein feines Handtuch, ein dritter Petrus' Strauß, der ihm während der Zeremonie abgenommen wurde. Dasselbe tat Se. Heiligkeit mit besonderer Eilfertigkeit bei jedem der übrigen (Judas schien mir von seiner Herablassung besonders gerührt zu sein), und dann setzten sich sämtliche dreizehn zu Tisch. Der Papst sprach das Tischgebet, Petrus hatte den Vorsitz.
Es gab weißen und roten Wein, und das Essen schien sehr gut zu sein. Die Gänge kamen in Portionen, eine für jeden Apostel, und nachdem die Schüsseln dem Papst von Kardinälen kniend dargereicht worden waren, übergab er sie den dreizehn.
Das Schauspiel, welches uns Judas gab, indem er beim Essen immer ängstlicher wurde und schmachtend den Kopf auf eine Seite hängen ließ, als hätte er keinen Appetit, war über alle Beschreibung interessant. Petrus war ein guter, gesunder alter Mann und hielt sich sehr dazu; er aß alles, was man ihm gab (er bekam das Beste, denn er war der erste in der Reihe), und sprach mit niemandem ein Wort. Die Gerichte schienen hauptsächlich aus Fisch und Gemüse zu bestehen. Der Papst schenkte den dreizehn auch Wein ein, und während des ganzen Essens las jemand aus einem großen Buche – ich glaube es war die Bibel – etwas vor, was niemand hören konnte und dem niemand die mindeste Aufmerksamkeit schenkte. Die Kardinäle und die übrigen Personen des Gefolges sahen sich von Zeit zu Zeit mit einem Lächeln an, als ob die ganze Sache ein großes Possenspiel wäre, und wenn sie das glaubten, so kann man kaum zweifeln, daß sie recht hatten. Se. Heiligkeit tat, was sie zu tun hatte, wie ein vernünftiger Mann eine lästige Zeremonie abmacht, und schien sehr froh zu sein, als alles vorüber war.
Das Mahl der Pilger, wo vornehme Herren und Damen zum Beweis ihrer Demut den Pilgern aufwarteten und ihnen die Füße trockneten, nachdem sie durch Stellvertreter gehörig gewaschen worden waren, war sehr anziehend. Aber von den vielen Schauspielen eines gefährlichen Verlassens auf äußerliche Gebräuche, die an und für sich nur leere Formen sind, fiel mir keines mehr auf, als die Scala Santa oder Heilige Treppe, die ich verschiedene Male, aber in ihrem besten oder schlechtesten Lichte am Karfreitag sah.
Die Heilige Treppe besteht aus achtundzwanzig Stufen, der Sage nach aus dem Hause des Pontius Pilatus, aus denselben Stufen, welche der Heiland betrat, als er von dem Gericht herabkam. Pilger ersteigen sie bloß auf ihren Knien. Sie ist sehr steil, und an ihrem oberen Ende steht eine Kapelle, die voller Reliquien sein soll und in die sie durch ein eisernes Gitter blicken, und dann gehen sie auf einer der zwei Seitentreppen, die nicht heilig sind und die man mit den Füßen betreten darf, wieder hinunter.
Am Karfreitag sah man nach mäßiger Schätzung hundert Leute, die zu gleicher Zeit diese Treppe langsam auf den Knien hinaufrutschten, während andere, die noch hinauf wollten oder wieder herabgekommen waren – und ein paar, die beides getan hatten und zum zweiten Male hinauf wollten –, unten in der Pforte herumstanden, wo ein alter Herr in einer Art Schilderhaus unaufhörlich mit einer Blechbüchse klapperte, um sie zu erinnern, daß er das Geld einnehme. Die meisten waren Landleute, Männer und Frauen. Doch waren auch vier oder fünf Jesuitenpatres und ein halbes Dutzend gutgekleidete Frauen darunter. Eine ganze Knabenschule, mindestens zwanzig, war auf derselben Treppe angelangt – und die kleinen Leute fanden die Sache offenbar sehr ergötzlich. Sie hatten sich alle dicht zusammengedrängt; aber die übrigen Leute blieben ihnen so fern wie möglich, weil sie in den Bewegungen ihrer Beine einige Rücksichtslosigkeit zeigten.
Ich habe in meinem ganzen Leben nie etwas so Lächerliches und zugleich so Unangenehmes gesehen – lächerlich durch die drolligen Zufälle, die davon unzertrennlich sind, und widerwärtig durch die sinn- und bedeutungslose Selbstentwürdigung. Die Treppe fängt mit zwei Stufen an, auf welche dann ein ziemlich breiter Absatz folgt. Die Strengeren rutschen auch über diesen Absatz auf den Knien, und wie sie sich ausnahmen, als sie auf der glatten Fläche hinrutschten, läßt sich unmöglich beschreiben. Dann zu sehen, wie sie unten unter der Pforte auf einen günstigen Zeitpunkt lauern und sich schnell eindrängen, wenn ein Platz zunächst der Wand frei wird! Zu sehen, wie sich ein Mann mit einem Regenschirm (den er vorsätzlich mitgebracht hat, denn das Wetter ist schön) sich auf ganz unrechtmäßige Weise von Stufe zu Stufe zieht; oder jene gesetzte Dame von etwa fünfzig Jahren zu beobachten, die immer wieder sich umsieht, ob auch ihre Beine eine anständige Lage haben!
Auch die Schnelligkeit aller dieser Leute war sehr verschieden. Bei manchen sah es aus, als ob es eine Wette gelte; andere hielten bei jedem Schritt an, um ein Gebet zu sprechen. Dieser berührte jede Stufe mit der Stirn und küßte sie; jener kratzte sich auf dem ganzen Weg hinter den Ohren. Die Knaben machten glänzende Fortschritte und waren hinauf und hinab, ehe die alte Dame ihr halbes Dutzend Stufen hinter sich gebracht hatte. Aber die meisten der Büßenden kamen sehr munter und frisch herunter, als hätten sie ein wirklich gutes Werk verrichtet, das ein gutes Teil Sünde mit hinwegnehme; und der alte Herr in dem Schilderhaus reichte ihnen seine Büchse hin, solange sie in dieser Laune waren, das könnt ihr glauben.
Als wenn die ganze Zeremonie nicht schon ihrem Wesen nach drollig genug wäre, lag noch oben am Ende der Treppe ein hölzernes Kruzifix auf einer Art großer eiserner Schüssel: so gebrechlich und wacklig, daß, wenn ein Enthusiast dies Kruzifix mit mehr als gewöhnlicher Inbrunst küßte oder mit mehr als gewöhnlicher Bereitwilligkeit ein Stück Geld in die Schüssel warf, es in die Höhe sprang und klapperte und die Lampe daneben fast ausschüttete, die Leute weiter unten fürchterlich erschreckend und den schuldigen Teil in unaussprechliche Verlegenheit versetzend.
Am Ostersonntag und am vorhergehenden Donnerstag erteilt der Papst vom Balkon der Peterskirche dem Volke seinen Segen. Dieser Ostersonntag war so klar und hell, so wolkenlos, lenzduftend und wunderbar schön, daß alles frühere schlechte Wetter in einem Augenblick aus dem Gedächtnis schwand. Ich hatte den Donnerstagssegen auf ein paar hundert Regenschirme herabsinken sehen, aber damals war in allen hundert Springbrunnen Roms kein einziger Funken Glanz zu erblicken, und an diesem Sonntagmorgen glichen sie funkelnden Diamanten. Die elenden Straßen, durch welche wir fuhren (die päpstlichen Dragoner, die römische Polizei bei solchen Gelegenheiten, zwangen uns, einen gewissen Weg einzuschlagen), waren so reich an Farbe, daß in ihnen nichts verblichen aussehen konnte. Die einfachen Leute hatten ihre besten Feiertagskleider an; die reicheren zeigten sich in ihren schmucksten Wagen, Kardinäle rollten in ihren Staatskarossen zur Kirche der armen Fischer, schäbige Pracht stolzierte mit abgetragenen Livreen und verblichenen dreieckigen Tressenhüten in der Sonne; und jede Kutsche in Rom war für die große Piazza vor der Peterskirche in Anspruch genommen.
Wenigstens hundertfünfzigtausend Menschen waren da; doch war reichlicher Raum vorhanden. Wie viel Wagen da waren, weiß ich nicht; aber auch für sie war Platz zur Genüge. Die große Treppe vor der Kirche war dicht mit Menschen besetzt. Auf einer Seite des Platzes waren viele Contadini von Albano (die das Rote lieben), und das Gemisch von glänzenden Farben in der Menschenmasse nahm sich schön aus. Unter der Treppe war das Militär aufgestellt. Bei den großartigen Verhältnissen des Platzes sah es wie ein Blumenbeet aus. Finstre Römer, lebhafte Bauern aus der Umgegend, Gruppen von Pilgern aus entlegeneren Teilen Italiens, schaulustige Fremde aller Völker brachten in der klaren Luft ein Gemurmel hervor, wie ebenso viele Insekten; und hoch über allen plätscherten und fluteten regenbogenfarben die zwei schönen Springbrunnen.
An der Vorderseite des Balkons hing ein bunter Teppich herab, und die Seiten des großen Fensters waren mit Carmoisinstoff ausgeschlagen. Über dem Balkon war ein Tuch ausgespannt, um den Greis vor den heißen Strahlen der Sonne zu schützen. Als sich die Mittagsstunde näherte, wendeten sich aller Augen nach jenen Fenstern. Zur gehörigen Zeit sah man den Tragsessel nahen und dicht hinter ihm die riesigen Fächer von Pfauenfedern. Die Puppe im Stuhl (denn der Balkon ist sehr hoch) stand dann auf und streckte die zwerghaften Arme aus, während alle männlichen Zuschauer auf dem Platze den Kopf entblößten und einige, aber bei weitem nicht der größere Teil, niederknieten. Im nächsten Augenblick verkündigte das Geschütz von den Wällen der Engelsburg, daß der Segen erteilt worden sei; Trommeln rollten, Trompeten klangen, Waffen klirrten; und die große Masse unten, plötzlich in kleinere Häufchen zerfallend und hier und da einen Seitenarm aussendend, wurde wie bunter Sand durcheinandergeschüttelt.
Welch herrlicher Mittag, als wir wegfuhren! Der Tiber war nicht mehr gelb, sondern blau. Eine Röte lag auf den alten Brücken, die sie wieder frisch und gesund machte. Das Pantheon mit seiner majestätischen Front, zerfetzt und durchfurcht wie ein altes Gesicht, wurde von hellem Sonnenlicht beschienen. Jede ärmliche Hütte in der Ewigen Stadt machte ein Sonnenstrahl frisch und neu. Sogar das Gefängnis in der gedrängt vollen Straße, die ein Wirrwarr von Wagen und Menschen war, hatte eine ferne Ahnung von dem Tage, der durch seine Spalten und Ritzen kroch; und bleiche Gefangene, die nicht über die Schirme ihrer zugesperrten Fenster hinausblicken konnten, streckten ihre Hände heraus und wendeten diese der menschenvollen Straße zu, als wäre sie ein gemütliches Feuer und könnte auf diese Weise genossen werden.
Aber als die Nacht kam ohne eine Wolke, die den vollen Mond hätte verhüllen können, wie herrlich war da wieder der Anblick des großen Platzes, wieder überströmend voll von Menschen, und der Kirche, vom Fußboden bis zum Kuppelkreuz erleuchtet mit zahllosen Laternen, die den architektonischen Linien folgten und den ganzen Säulengang der Piazza entlang schimmerten und funkelten! Und welch ein Gefühl des Frohlockens und der Wonne, als die große Glocke halb acht Uhr schlug und mit dem Schlage eine glänzendrote Feuermasse von dem Gipfel ihrer Kuppel hinauf zur äußersten Spitze des großen Kreuzes stieg und in dem Augenblick, wo es seinen Platz erreicht hatte, das Zeichen zum Aufflammen zahlloser ebenso großer und roter Lichter in jedem Teile der Riesenkirche wurde; so daß jeder Sims, jedes Kapitäl und die kleinste Verzierung sich deutlich im Feuer abzeichnete und das feste schwarze Mauerwerk der ungeheuern Kuppel durchsichtig zu werden schien wie eine Eierschale.
Eine Pulverspur oder eine elektrische Kette hätten nicht schneller und plötzlicher zünden können, als diese zweite Illumination aufflammte; und als wir zwei Stunden später von einer fernen Höhe wieder hinsahen, da stand der Dom immer noch in der stillen Nacht wie ein Juwel funkelnd und glänzend! Keine Umrißlinie fehlte, kein Winkel war abgestumpft, kein Atom seines Glanzes verlorengegangen.
Am nächsten Abend – am Ostermontag – war großes Feuerwerk auf der Engelsburg. Wir mieteten ein Zimmer in einem gegenüberliegenden Hause und gingen zu guter Zeit hin durch eine dichtgedrängte Menschenmasse, die auf dem freien Platz vor der Burg und allen dahin führenden Straßen stand und die Brücke so belastete, daß sie in den reißenden Tiber zu sinken drohte. Auf dieser Brücke stehen Bildsäulen (abscheulich gearbeitet), und zwischen sie hatte man große Gefäße voll brennenden Wergs gestellt; die lohende Flamme erhellte seltsam die Gesichter der Menschen und nicht weniger seltsam die steinernen Bilder auf der Brücke.
Das Schauspiel begann mit einer donnernden Geschützsalve; und dann war zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde lang die ganze Burg in eine einzige Feuerfläche, ein Labyrinth von Feuerrädern von jeder Farbe, Größe und Schnelligkeit, während hoch in die Luft Raketen stiegen, nicht eine oder zwei oder zwanzig, sondern Hunderte auf einmal. Die Schlußszene – die Girandole – glich einer Explosion der ganzen großen Burg, allerdings ohne Rauch oder Staub.
Eine halbe Stunde später hatte sich das Menschengewühl zerstreut. Der Mond sah ruhig auf sein zitterndes Bild im Fluß herab, und ein halbes Dutzend Männer und Knaben mit Lichtstümpfchen in der Hand suchten auf dem Boden nach Gegenständen, die vielleicht im Gedränge verloren worden waren. Weiter war nichts auf dem Platze zu sehen.
Des Kontrastes wegen fuhren wir nach diesem Schießen und Prasseln hinaus unter die alten Ruinen Roms, um Abschied vom Kolosseum zu nehmen. Ich hatte es schon früher bei Mondschein gesehen (ich konnte keinen Tag verleben, ohne wenigstens einmal hinzugehen), aber seine erschütternde Einsamkeit in dieser Nacht war über alle Beschreibung. Die gespenstischen Säulen des Forums; die Triumphbögen der alten Kaiser; jene ungeheuern Trümmermassen, die einst ihre Paläste waren; die grasüberwachsenen Hügel, welche die Gräber verfallener Tempel bezeichnen; die Steine der Via Sacra, geglättet von den Schritten alter Römer – selbst diese traten in dieser überschwenglichen Melancholie zurück vor dem dunklen grausigen Gespenst seiner blutigen Festtage, das auf seinem alten Schauplatz umgeht, das beraubt worden ist von plündernden Päpsten und kämpfenden Fürsten, aber nicht vernichtet, das seine Hände von Unkraut, Gras und Brombeeren verzweifelnd ringt und der Nacht mit jedem Riß und jedem zerfallenen Bogen wehklagt – der Schatten seines schauerlichen Selbst, unbeweglich und starr!
Als wir uns am nächsten Tag auf unserm Weg nach Florenz auf dem Grase der Campagna ausstreckten und dem Gesange der Lerchen lauschten, sahen wir, daß man an der Stelle, wo die arme pilgernde Gräfin ermordet worden war, ein kleines hölzernes Kreuz aufgerichtet hatte. Wir häuften einige Steine um seinen Fuß als Anfang zu einem Denkmal für sie und fragten uns innerlich, ob wir wohl wieder einmal hier ruhen und auf Rom zurückblicken würden.