Charles Dickens
Bilder aus Italien
Charles Dickens

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Lyon. Die Rhone und die Hexe von Avignon

Chalons ist ein hübscher Rastort, wegen seines guten Gasthofes am Ufer des Flusses und der kleinen gar schmuck rot und grün angestrichenen Dampfboote, die auf ihm hin und her fahren; das ist ein angenehmes und erfrischendes Schauspiel nach dem staubigen Weg. Aber außer wenn ihr auf einer ungeheuern Ebene wohnen wollt, mit krummen Reihen von wetterzerrissenen Pappeln, die aus der Ferne wie Kämme mit zerbrochenen Zähnen aussehen, und außer wenn ihr gern euer ganzes Leben zubringen wollt, ohne die Möglichkeit, einmal bergauf zu gehen, oder überhaupt etwas anderes hinaufzusteigen als Treppen, wird euch schwerlich Chalons als Wohnort gefallen.

Wahrscheinlich aber wird es euch noch besser erscheinen als Lyon, welches ihr, wenn es euch sonst gefällt, in einem der vorerwähnten Dampfschiffe in acht Stunden erreichen könnt.

Welch eine Stadt Lyon ist! Ihr sprecht von Leuten, denen es zu gewissen unglücklichen Zeiten ist, als wären sie aus den Wolken gefallen! Hier ist eine ganze Stadt, die wie vom Himmel herabgefallen ist, nachdem sie erst wie andere Steine, die aus jener Region herabkommen, aus Morästen und öden Flecken, unheimlich anzusehen, zusammengelesen wurde! Die zwei großen Straßen, durch welche die zwei großen Ströme stürzen, und alle die kleinen Straßen, deren Name Legion ist, lagen da, kochend und rauchend im Sonnenbrand. Die Häuser hoch und groß, schmutzig über alle Maßen, verrottet wie alter Käse und ebenso dicht bevölkert. Bis zu der Spitze der Hügel hinauf, welche die Stadt eng einschließen, drängen sich diese Häuser, und die Wesen darin lagen faulenzend in den Fenstern und trockneten ihre zerlumpten Kleider auf Stangen und krochen zu den Türen rein und raus und traten heraus, um auf dem Pflaster mühsam kärgliche Luft zu schöpfen, und schlichen zwischen hohen Haufen und Balken verrotteter und stockiger Waren hindurch, und lebten oder starben vielmehr nicht, bis ihre Zeit kommen wird, unter dieser luftleeren Luftpumpen-Glocke. Alle Fabrikstädte, zu einer verschmolzen, würden kaum den Eindruck wiedergeben, den Lyon auf mich machte: denn alle Eigenschaften einer ausländischen Stadt, wo Abzugskanäle und Kehrbesen noch nicht erfunden sind, schienen hier auf das angeborne Elend der Fabrikstadt gepfropft zu sein; und daraus entstehen Früchte, denen ich gern ein paar Meilen aus dem Wege gehen würde, um sie nicht noch einmal zu sehen.

In der Kühle des Abends – oder vielmehr in der erstorbenen Hitze des Tages – gingen wir zum Dom, wo verschiedene alte Weiber und ein paar Hunde beschaulich verweilten. Hinsichtlich der Reinlichkeit war kein Unterschied zwischen dem steinernen Fußboden der Kirche und der Straßen zu bemerken; auch ein wächserner Heiliger war vorhanden, in einem kleinen Kasten, wie eine Schiffskoje mit einer Glastüre davor, eine Figur, mit der Madame Tussaud sich um keinen Preis würde abgeben wollen und deren sich selbst die Westminsterabtei hätte schämen können. Wenn ihr alles von der Architektur dieser Kirche oder einer andern, ihren Erbauern, ihrer Größe, ihrem Reichtum und ihrer Geschichte wissen wollt, so steht es ja geschrieben in Murrays Führer, und ihr könnt es dort lesen und ihm dafür danken, wie ich es tat!

Aus demselben Grunde würde ich auch die merkwürdige Glocke im Lyoner Dom nicht erwähnen, wäre es nicht des kleinen Irrtums wegen, in den ich bei diesem Kunstwerk verfiel. Der Sakristan der Kirche wollte sie mir durchaus zeigen; teils wegen der Berühmtheit des Domes und der Stadt, und vielleicht auch, weil er einen Anteil an dem Führergeld hatte, welches wir dann mehr geben mußten. Wie dem immer sein mag, die Uhr wurde in Bewegung gesetzt, worauf eine Unmasse kleiner Türen aufflog und zahllose kleine Figuren herausstolperten und wieder zurückfuhren mit jener eigentümlichen Ungewißheit, was sie zu tun hätten, und jenem Zucken in ihren Bewegungen, welches Figuren, die durch Uhrwerke bewegt werden, immer anhängt. Unterdessen erklärte der Sakristan diese Wunder und zeigte sie uns nach der Reihe mit seinem Stab. In der Mitte war die Jungfrau Maria, und dicht neben ihr ein Loch, wie in einem Taubenschlag, aus dem eine andere und sehr häßliche Puppe so plötzlich herausfuhr, wie ich es nimmer gesehen, bei dem Anblick der Jungfrau wieder verschwand und ihre kleine Tür heftig hinter sich zuschlug. In der Meinung, dies sei eine symbolische Darstellung des Sieges über Sünde und Tod, und durchaus nicht abgeneigt zu zeigen, daß ich in der Sache vollkommen unterrichtet sei, sagte ich, schnell dem Führer das Wort aus dem Munde nehmend: »Aha! Der böse Geist. Ganz recht. Er ist sehr bald abgetan.« »Pardon, Monsieur«, sagte der Sakristan, mit einer höflichen Handbewegung gegen das Türchen, als ob er jemand vorstellte, »der Engel Gabriel!«

Kurz nach Tagesanbruch am nächsten Morgen fuhren wir mit einer Geschwindigkeit von vier Meilen in der Stunde die pfeilschnelle Rhone hinab, in einem sehr schmutzigen Dampfschiff voller Waren und mit nur drei oder vier anderen Passagieren als Reisegefährten. Unter ihnen war der merkwürdigste ein lächerlicher, alter, demütig aussehender, knoblauchessender, unendlich höflicher Chevalier, mit einem Stückchen schmutzigen roten Bandes im Knopfloch, als ob er es hineingeknüpft hätte, um sich an etwas zu erinnern: gerade wie Tom Noddy in der Farce Knoten in sein Taschentuch schlingt.

Während der letzten zwei Tage hatten wir große düstere Hügel, die ersten Vorläufer der Alpen, in der Ferne grauen sehen. Jetzt schossen wir neben ihnen hin: zuweilen dicht an ihrer Seite, zuweilen lag noch ein sanfterer Abhang zwischen uns und ihnen, bedeckt mit Weinbergen. Dörfer und kleine Städte hoch droben in der Luft mit großen Olivenwäldern, die man durch die luftigen offenen Türme ihrer Kirchen erblickte, während Wolken langsam über die steile Höhe hinter ihnen strichen; verfallene Burgen auf jeder Höhe und zerstreute Häuser in den Schluchten und Spalten der Hügel machten das Schauspiel sehr schön. Auch ließ ihre große Höhe die Gebäude sehr niedlich erscheinen, daß sie aussahen wie zierliche Modelle. Ihre außerordentliche Weiße auf dem Hintergrund der braunen Felsen oder dem düsteren und gesättigten Grün des Olivenbaumes und das zwerghafte Maß und die kleinen langsamen Schritte der Männer und Frauen an dem Rande gaben ein reizendes Bild ab. Auch Fähren ohne Zahl gab es; Brücken: der berühmte Pont d'Esprit mit ich weiß nicht wie vielen Bögen; Städte, wo bedeutende Weine gemacht werden; Valence, wo Napoleon studierte; und der großartige Fluß, der bei jeder Wendung neue Schönheiten zu Gesicht brachte.

Endlich lag noch an demselben Nachmittag die gebrochene Brücke von Avignon vor uns, und die ganze Stadt buk in der Sonne, allerdings mit einem bezinnten Wall, gelb wie eine schlechtgebackene Pastetenrinde, die niemals braun werden will, und wenn sie auch jahrhundertelang büke.

Die Trauben hingen dicht gedrängt in den Straßen, und der Oleander glänzte überall in voller Blüte. Die Straßen sind alt und sehr schmal, aber leidlich reinlich und beschattet von Markisen, die zwischen den Häusern aufgespannt sind. Grellfarbige Stoffe und Tücher, Kuriositäten, alte holzgeschnitzte Bilderrahmen, alte Stühle, gespenstisch aussehende Gemälde, heilige Jungfrauen, Engel und grell gemalte, plumpe Porträts standen darunter zum Verkauf, so daß die Stadt ganz eigentümlich und heiter aussah. Gehoben wurde dies noch durch zufällige Einblicke durch offenstehende rostige Tore, in schlummerstille Höfe mit stattlichen alten Häusern, still wie Gräber. Das Ganze war wie eine Beschreibung aus Tausendundeiner Nacht. Die drei einäugigen Derwische hätten an jede dieser Türen klopfen können, bis die Straße widerhallte, und der Türsteher, der durchaus nicht aufhören wollte zu fragen – der Mann, der die schönen Sachen am Morgen in seinem Korbe fand –, hätte öffnen können, ohne daß sich jemand darüber gewundert hätte.

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen gingen wir aus, um die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu betrachten. Ein so köstlicher Wind wehte vom Norden herüber, daß der Spaziergang ganz anmutig war, obgleich die Pflastersteine und die Mauern und die Häuser viel zu heiß waren, als daß man ruhig die Hand hätte daran legen können.

Zuerst gingen wir eine felsige Höhe hinauf zum Dom, wo die Messe zelebriert wurde vor einem Publikum, das dem in Lyon sehr ähnlich war, nämlich verschiedenen alten Weibern, einem kleinen Kind und einem Hund von unzerstörbarem Gleichmut, der sich eine Übungsbahn ausgesucht hatte, die beim Altargitter anfing und bei der Tür endigte und die er während der ganzen Dauer des Gottesdienstes so methodisch ruhig auf und ab trabte, wie es nur ein alter Herr im Freien tun konnte. Der Dom ist eine kahle, alte Kirche, und die Gemälde an der Decke sind von der Zeit und dem feuchten Wetter traurig mitgenommen; aber die Sonne schien herrlich durch die roten Fenstervorhänge und funkelte auf dem Altargerät; und alles sah so hell und freundlich aus, wie es nur zu verlangen war.

Ich ging beiseite, um einige Malereien anzusehen, die ein französischer Maler und sein Schüler in Fresco ausführen sollten, und musterte bei dieser Gelegenheit genauer, als ich sonst getan hätte, eine große Anzahl von Votivtafeln, mit denen die Wände der verschiedenen Kapellen überreichlich bedeckt waren – ich will nicht sagen, verziert, denn sie waren sehr roh und wunderlich ausgeführt, wahrscheinlich von armen Schildermalern, die sich auf diese Weise ein ärmliches Brot verdienen. Es waren lauter kleine Bilder, und jedes stellte eine Krankheit oder einen Unfall dar, aus dem die solches widmende Person durch die Vermittlung ihres Schutzheiligen oder der Madonna gerettet worden war, und ich kann sicher behaupten, daß sie gute Beispiele der ganzen Klasse waren. Sie sind in Italien sehr häufig.

In ihren wunderlichen eckigen Umrissen und ihrer unmöglichen Perspektive waren sie den Holzschnitten in alten Büchern nicht unähnlich; aber es waren Ölgemälde, und der Künstler hatte, wie der Maler der Pfarrerfamilie von Wakefield, die Farben nicht geschont. Auf dem einen wollte sich eine Dame eine Zehe abnehmen lassen, eine Operation, zu deren Beaufsichtigung eine Heilige auf einer Wolke in die Stube geschwebt war. Auf einem andern lag eine Dame im Bett, sehr säuberlich in die Bettücher eingewickelt, und starrte mit großer Fassung einen dreibeinigen Tisch an, auf dem ein großes Becken stand: die gewöhnliche Form eines Waschtisches und außer dem Bett das einzige Stück Hausrat im Zimmer. Man hätte sich nie träumen lassen, daß sie an etwas leide, außer vielleicht an der Unannehmlichkeit, so wunderbar wach zu sein, wenn der Maler nicht auf den Gedanken gekommen wäre, die ganze Familie auf den Knien in einer Ecke zu versammeln, die Beine hinten auf den Fußboden hinausstreckend wie Stiefelleisten. Darüber erschien die Jungfrau auf einer Art blauem Sofa und versprach der Kranken Genesung. Auf einem andern Bild sah man eine Dame unmittelbar draußen vor der Stadtmauer in drohendster Gefahr, von einem großen Wagen überfahren zu werden. Aber auch hier war wieder die Madonna. Ob die übernatürliche Erscheinung das Pferd scheu gemacht hatte oder ob sie ihm unsichtbar war, weiß ich nicht; aber es galoppierte hinweg ohne die geringste Ehrfurcht oder Reue. Auf jedem Bild war »ex voto« mit gelben großen Buchstaben in den Himmel gemalt.

Obgleich Votivgaben in heidnischen Tempeln nicht unbekannt waren und eine der vielen Kompromisse zwischen der falschen Religion und der wahren sind, wo die wahre sich noch in ihrer Kindheit befindet, möchte ich doch wünschen, daß alle andern Kompromisse eben so harmlos wären. Dankbarkeit und Frömmigkeit sind christliche Eigenschaften; und mit einem dankbaren, demütigen christlichen Geist läßt sich dieser Brauch durchaus vereinbaren.

Dicht bei dem Dom steht der alte Palast der Päpste, von dem ein Teil jetzt ein Kerker, der andere eine lärmende Kaserne ist; während düstere Reihen von Staatszimmern, verschlossen und verlassen, wie ein Hohn auf den Glanz und die Pracht ihrer Vergangenheit dastehen, gleich einbalsamierten Königsleichen. Aber wir gingen dorthin, weder um Prunkzimmer noch um Kasernenräume oder Gefängnisse zu sehen, obgleich wir ein paar Geldstücke in die Gefangenenbüchse an der Tür steckten, während die Gefangenen hoch oben durch ihre eisernen Gitter blickten und uns mit unruhiger Aufmerksamkeit betrachteten. Wir gingen hin, um uns die Ruinen der schauerlichen Räume anzusehen, in welchen die Inquisition vor Zeiten ihre Sitzungen abhielt.

Ein kleines, altes, braunes Weib mit funkelnden schwarzen Augen – ein Beweis, daß die Welt den Teufel in ihr noch nicht beschworen hatte, obgleich sie sechzig bis siebzig Jahre dazu Zeit gehabt hätte – trat mit einem großen Bund Schlüssel aus der Kasernenschenke, der sie vorstand, und schritt uns voraus. Wie sie uns unterwegs erzählte, daß sie eine Regierungsbeamtin sei (concierge du palais apostolique) und seit ich weiß nicht wie vielen Jahren schon gewesen sei; und wie sie diese Gefängnisse Fürsten gezeigt habe; und wie sie die beste von allen Kerkerführern sei; und wie sie in diesem Palast von Kindheit an gewohnt habe – dort geboren sei, wenn ich nicht irre –, das brauche ich nicht zu erzählen. Aber eine solche wütende, kleine, rasche, feuersprühende, energische Teufelin habe ich nirgends gesehen. Sie war die ganze Zeit über in Feuer und Flammen. Ihr Gebärdenspiel war über alle Maßen heftig. Sie sprach niemals, ohne dazu stehen zu bleiben. Sie stampfte mit dem Fuße, faßte uns bei den Armen, nahm theatralische Stellungen ein, hämmerte gegen die Mauern mit ihren Schlüsseln, um ihren Worten noch Nachdruck zu verleihen. Jetzt flüsterte sie, als wäre die Inquisition noch da; jetzt schrie sie, als läge sie selbst auf der Folter, und dabei machte sie geheimnisvolle hexenartige Gesten mit ihrem Zeigefinger, wenn sie sich den Resten einer neuen Schrecklichkeit näherte – wobei sie zurücksah und auf den Zehen schlich und abscheuliche Grimassen schnitt –, die sie allein befähigt hätten, um eines Kranken Kopfkissen, mit Ausschluß aller andern Gestalten, durch die ganze Dauer eines Fiebers schweben zu lassen.

Wir kamen über einen Hof, in dem unbeschäftigte Soldaten herumstanden, und gingen durch ein Seitentor, welches diese Hexe für uns öffnete und wieder hinter uns schloß. Dann traten wir in einen engen Hof, noch enger geworden durch herabgefallene Steine und Schutthaufen, von denen einige die Mündung eines verfallenen unterirdischen Ganges verstopften, der einst mit einem andern Schloß auf dem entgegengesetzten Ufer des Flusses in Verbindung stand oder gestanden haben soll. Dicht neben diesem Hof ist ein Kerker – wir standen drinnen in der nächsten Minute – in dem unheimlichen Turm des oubliettes, wo Rienzi gefangensaß, mit einer eisernen Kette an dieselbe Mauer gefesselt, die jetzt noch steht, aber beraubt des Himmelslichtes, welches jetzt hereinscheint. Ein paar Stufen brachten uns in die Verliese, wo die Gefangenen der Inquisition achtundvierzig Stunden lang nach ihrer Verhaftung ohne Speise und Trank eingesperrt blieben, damit ihre Standhaftigkeit erschüttert werde, selbst ehe sie noch vor ihre schrecklichen Richter traten. Dorthin ist der Tag noch nicht gelangt. Noch sind es enge Zellen, eingeschlossen von vier starren harten Mauern; immer noch herrscht dort die tiefste Nacht; immer noch schließen sie feste Türen und Riegel wie ehedem.

Die Hexe ging mit dem Blick, den ich oben beschrieben habe, leise weiter in einen gewölbten Raum, jetzt als Vorratskammer benutzt, einst die Kapelle des heiligen Offiziums. Der Saal, wo das Gericht tagte, war einfach, die Bühne hätte gestern erst entfernt sein können. Man denke sich das Gleichnis des guten Samariters an der Wand eines dieser Inquisitionsräume! Und doch war das Bild dort, und noch jetzt kann man seine Spur entdecken.

Hoch oben in der mißtrauischen Mauer sind Nischen, wo die bebende Antwort der Beschuldigten vernommen und niedergeschrieben wurde. Viele von ihnen brachte man aus derselben Zelle, die wir soeben gesehen; durch denselben steinernen Gang. Wir waren in ihre Fußstapfen getreten.

Ich blicke um mich mit dem Schrecken, den ein solcher Ort einflößt, als mich die Hexe am Arme faßt und nicht die knochigen Finger, sondern den Griff eines der Schlüssel an die Lippe legt. Mit einer Bewegung lädt sie mich ein, ihr zu folgen. Ich tue es. Sie führt mich in einen anstoßenden Raum mit einem trichterförmigen, oben immer enger werdenden Dach, das sich hoch oben dem hellen Himmel öffnet. Ich frage sie, wo wir sind. Sie schlägt die Arme übereinander, grinst abscheulich und starrt mich an. Ich frage wieder. Sie blickt um sich, um zu sehen, ob die ganze kleine Gesellschaft da ist; dann setzt sie sich auf einen Steinhaufen nieder, wirft die Arme in die Luft und ruft mit gellender Stimme wie ein Dämon: »La salle de la question!«

Die Folterkammer! Und das Dach wurde in dieser Form gebaut, um das Geschrei der Opfer zu ersticken. O Hexe, Hexe! laß uns eine Weile darüber nachdenken und schweigen. Still, Hexe! Bleibe mit deinen kurzen Armen, deine Knie umfassend, dort auf dem Steinhaufen nur fünf Minuten lang sitzen, und dann sei wieder Feuer und Flamme!

Minuten! Sekunden hat der Zeiger der Palastuhr noch nicht hinter sich, als die Hexe schon wieder mit funkelnden Augen in der Mitte des Gemachs steht und mit ihren sonnenverbrannten Armen ein Rad darstellt, das schwere Schläge austeilt. »So drehte es sich um und um!« rief die Hexe. »Dumpf hallend, eine endlose Reihe schwerer Hämmer, niederfallend auf des Gemarterten Glieder. Seht den steinernen Trog«, sagte die Hexe. »Für die Wasserfolter. Da schlinge, schwelle, berste zu des Erlösers Ehre! Ziehe den blutigen Leinenfetzen mit jedem deiner Atemzüge in deinen ungläubigen Körper, Ketzer! Und wenn der Henker ihn wieder herauszieht, rauchende Spuren tragend von den kleinen Geheimnissen von Gottes Ebenbild, dann erkenne in uns seine auserwählten Diener, die wahrhaft an die Bergpredigt Glaubenden, die erlesenen Schüler dessen, der nie anders Wunder tat, als um zu heilen, der nie über einen Menschen Lähmungen, Blindheit, Taubheit, Stummheit, Wahnsinn oder eine andere Krankheit verhängte, der seine gesegnete Hand nie anders ausstreckte, als um Genesung und Erlösung vom Leid zu spenden.«

»Seht!« ruft die Hexe. »Dort war der Ofen. Dort machten sie die Eisen glühend heiß. Jene Löcher stützten den gespitzten Pfahl, an dem die Gemarterten hingen; mit ihrem ganzen Gewicht baumelten sie vom Dach herab. Aber«, flüsterte die Hexe, »hat Monsieur von diesem Turme gehört? Ja? Dann sehen Sie hinab!«

Eine kalte Luft, schwer von einem erdigen Geruch, strömt mir entgegen; denn sie hat unterdes eine Falltür in der Mauer geöffnet. Ich sehe hinein. Hinab auf den Boden, hinauf zum Gipfel eines steilen, finsteren, hohen Turmes: sehr unheimlich, sehr finster, sehr kalt. »Der Henker der Inquisition«, erzählt die Hexe, und sah neben mir hinunter, »warf hier die hinein, die über alles fernere Foltern hinaus waren. Aber schaut! Sieht Monsieur die schwarzen Flecken an der Mauer?« Ein Blick über die Schulter nach dem funkelnden Auge der Hexe zeigt mir – und würde mir auch ohne diese Führer gezeigt haben –, wo sie sind. »Was ist das?« – »Blut!«.

Im Oktober 1791, als die Revolution in dieser Stadt ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurden hier sechzig Personen, Männer und Frauen (»und Priester«, sagte die Hexe, »Priester«), ermordet, und die Toten und die Sterbenden wurden zusammen in diesen schrecklichen Abgrund gestürzt, wo man dann ungelöschten Kalk auf ihre Leichname warf. Diese gräßlichen Zeichen des Blutbades waren bald verschwunden; aber solange ein Stein dieses festen Gebäudes, in welchem die Tat geschah, auf dem andern bleibt, so lange werden sie in dem Gedächtnis der Menschen so deutlich bleiben, wie jetzt die Flecken von ihrem Blute an der Mauer zu sehen sind.

War es ein Teil des großen Werkes der Vergeltung, daß die grausame Tat an diesem Ort geschehen mußte? Daß ein Teil der Grausamkeiten und der scheußlichen Institutionen, die seit Jahrhunderten beschäftigt gewesen sind, die Natur des Menschen zu vergewaltigen, in ihrem letzten Dienste sich jenen Männern als Verlockung darbieten mußten, ihre viehische Wut zu befriedigen! Daß sie diesen Wüterichen die Möglichkeit gaben, sich auf der Höhe ihres Wahnsinns nicht schlimmer zu zeigen als eine große feierliche und gesetzliche Einrichtung auf der Höhe ihrer Macht! Nicht schlimmer? Viel besser! Sie benutzten den Turm der Vergessenen im Namen der Freiheit – ihrer Freiheit; eines erdgeborenen Wesens, gesäugt in dem schwarzen Schmutz der Bastillengräben und Kerker und notwendigerweise behaftet mit manchen Spuren seiner ungesunden Auferziehung – aber die Inquisition benutzte sie im Namen des Himmels.

Der alten Hexe Finger ist wieder gehoben, und sie schleicht wieder hinaus in die Kapelle des Heiligen Offiziums. Sie macht an einer gewissen Stelle halt. Ihr Haupteffekt kommt jetzt. Sie wartet auf die übrigen. Sie stürzt auf den wackeren Kurier los, der etwas erklärt, gibt ihm mit dem größten Schlüssel einen schallenden Schlag auf den Hut und heißt ihn schweigen. Sie versammelt uns alle um eine kleine Falltür im Fußboden wie um ein Grab. »Voilà!« Sie schießt nieder auf den Ring und reißt die Tür mit einem Krach auf, obgleich sie nicht leicht ist. »Voilà les oubliettes!« Schauerlich! Schwarz! Grauenhaft! Tödlich! »Les oubliettes de l'Inquisition!«

Mein Blut erstarrte, als ich von der alten Hexe hinab in die Gewölbe sah, wo diese vergessenen Geschöpfe mit Erinnerungen an die Außenwelt, an Gattinnen, Freunde, Kinder, Brüder, zu Tode hungerten und die Mauern widerhallen machten von ihrem nutzlosen Stöhnen. Aber als ich die verfluchte Mauer unten zerfallen und durchbrochen und die Sonne durch ihre klaffenden Wunden scheinen sah, da durchzuckte mich ein Gefühl des Sieges und des Frohlockens. Als ich es sah, fühlte ich mich erhöht in dem stolzen Gefühl, in diesen entarteten Zeiten zu leben: als ob ich der Held einer großen Tat wäre! Das Licht in diesem schaurigen Gewölbe war ein Symbol des Lichtes, welches herabfällt auf alle Verfolgungen in Gottes Namen, obgleich es seinen Mittag noch nicht erreicht hat! Es kann einem Blinden, dem eben das Gesicht wiedergeschenkt ist, nicht lieblicher erscheinen, als einem Reisenden, der es ruhig und majestätisch sich in das Dunkel dieses Höllenbrunnens hinab ergießen sieht.

 


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