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Achtunddreissigstes Kapitel.
Herzensverhältnisse.

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Falls es in jenem ernsten alten Hause an dem grünen Platze zu Richmond nach meinem Tode jemals spuken sollte, so wird dies sicherlich durch meinen Geist geschehen. O, die vielen, vielen Tage und Nächte, in denen mein unruhiger Geist dort spukte, als Estella dort noch lebte! Wo immer mein Körper auch sein mochte, mein Geist wanderte und wanderte stets in jenem Hanse umher.

Die Dame, bei der Estella sich aufhielt, hieß Mrs. Brandley, war eine Witwe und hatte eine Tochter, welche mehre Jahre älter war, als Estella. Die Mutter sah jung aus und die Tochter alt; der Mutter Gesichtsfarbe war rosig und die der Tochter gelb; die Mutter machte in Frivolität, die Tochter in Andacht. Sie waren in guten Verhältnissen, wie man es nennt, und hatten zahlreichen, ausgebreiteten Umgang. Es existirte wenig oder gar keine Uebereinstimmung der Gefühle zwischen ihnen und Estella, doch wurde es gegenseitig anerkannt, daß Estella ihrer und sie Estellas bedurften. Mrs. Brandley war eine Freundin von Miß Havisham gewesen, ehe Letztere sich in ihre Abgeschlossenheit zurückgezogen hatte.

In Mrs. Brandleys Hause und außer Mrs. Brandleys Hause erlitt ich jede Art und jeden Grad von Seelenfolter, die Estella mir nur zu verursachen im Stande war. Die Beschaffenheit meiner Beziehungen zu ihr, die mich auf den Fuß vertraulichen Umganges mit ihr stellte, ohne mir ihre Gunst zu verschaffen, trug viel zu meiner Verzweiflung bei. Sie bediente sich meiner, um ihre anderen Anbeter zu quälen, und dann wieder machte sie von unserer Vertraulichkeit Gebrauch, um meine Verehrung für sie mit Geringschätzung zu behandeln.

Wäre ich ihr Secretär, ihr Geschäftsführer, Halbbruder, armer Anverwandter – wäre ich der jüngere Bruder des ihr bestimmten Gemahls gewesen, so hätte ich mir, gerade wenn ich ihr am nächsten war, von meinen Hoffnungen nicht ferner entrückt erscheinen können. Das Privilegium, sie bei ihrem Vornamen zu nennen und mich von ihr bei dem meinigen nennen zu hören, wurde unter den obwaltenden Umständen nur noch eine Verschlimmerung meiner Prüfungen; und während ich es für sehr wahrscheinlich halte, daß ihre anderen Verehrer darüber halb wahnsinnig wurden, weiß ich nur zu gewiß, daß es mich fast zum Wahnsinne trieb.

Sie hatte eine endlose Schaar von Verehrern. Ohne Zweifel sah meine Eifersucht einen Verehrer in Jedem, der sich ihr nahte; doch waren es ihrer auch ohnedies mehr als genug.

Ich sah sie häufig in Richmond, hörte oft von ihr in der Stadt und pflegte sie und die Brandleys oft auf dem Wasser zu fahren; da gab es Picknicks, Ausstellungen, Schauspiele, Opern, Concerte, Gesellschaften, und alle erdenklichen Sorten von Vergnügungen, in denen ich sie verfolgte – und alle waren ein Elend für mich. Ich war nie auch nur auf eine Stunde glücklich in ihrer Gesellschaft, und dennoch war mein Geist während der ganzen vierundzwanzig Stunden mit nichts Anderm beschäftigt, als mit der Glückseligkeit, mit ihr bis zu meinem Tode vereinigt zu werden.

Während der ganzen Zeit unseres Umganges unter diesen Verhältnissen – und es währte, wie mir es damals schien und man sogleich sehen wird, eine lange Weile – verfiel sie gegen mich gewöhnlich wieder in den alten Ton, welcher andeutete, daß unser gegenseitiger Umgang uns aufgedrungen sei. Doch gab es Zeiten, wo sie plötzlich diese Manier und ihre vielen anderen verschiedenen Manieren fallen ließ und Mitleid für mich zu fühlen schien.

»Pip, Pip,« sagte sie eines Abends in einem solchen Augenblicke, als wir allein an einem dunkelnden Fenster in dem Hause zu Richmond saßen; »wollen Sie sich nicht warnen lassen?«

»Vor wem?«

»Vor mir!«

»Meinen Sie, ich soll mich warnen lassen, mich zu Ihnen hingezogen zu fühlen, Estella?«

»Ob ich das meine! Falls Sie nicht wissen, was ich meine, so sind Sie blind.«

Ich würde geantwortet haben, daß die Liebe allgemein in dem Rufe der Blindheit steht, hätte mir nicht stets das Gefühl Zwang angelegt – und dies war nicht die geringste meiner Qualen – daß es ungroßmüthig von mir sei, mich ihr aufzudringen, da sie wußte, daß ihr keine andere Wahl blieb, als Miß Havisham zu gehorchen. Ich lebte stets in der Furcht, daß dies Bewußtsein auf ihrer Seite mich bei ihrem Stolze in eine unvortheilhafte Lage brachte, und mich zu dem Gegenstande eines rebellischen Kampfes in ihrer Brust machte.

»Jedenfalls«, sagte ich, »bin ich dies Mal nicht gewarnt worden, denn Sie selbst haben mich aufgefordert, herzukommen.«

»Das ist wahr,« sagte Estella mit einem kalten unbekümmerten Lächeln, das mir stets wie Eis auf die Seele fiel.

Nachdem sie eine kleine Weile in das Zwielicht draußen hinausgeschaut, sagte sie:

»Die Zeit ist gekommen, wo Miß Havisham mich auf einen Tag in Satishaus zu haben wünscht. Sie sollen mich dorthin begleiten, und, wenn Sie wollen, wieder zurückbringen. Sie wünscht nicht, daß ich allein reise, und sieht zugleich nicht gern meine Kammerjungfer in ihrem Hause, da sie ein krankhaftes Grauen davor hat, solche Leute von sich sprechen zu machen. Können Sie mich begleiten?«

»Ob ich Sie begleiten kann! Estella!«

»Dann wollen Sie also? Uebermorgen, wenn Sie so gut sein wollen. Sie sollen alle Ausgaben aus meiner Börse bestreiten. Hören Sie, unter welcher Bedingung Sie mich begleiten sollen?«

»Ich höre es, und muß gehorchen,« sagte ich. Dies war Alles, wodurch ich auf diesen Besuch und auf andere, ihm ähnliche, vorbereitet wurde. Miß Havisham schrieb nie an mich, und ich hatte nie eine Probe ihrer Handschrift gesehen. Wir reisten am zweiten Tage darauf zu ihr, und fanden sie in dem Zimmer, wo ich sie zuerst gesehen, und ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, daß sich in Satishaus nichts verändert hatte.

Sie zeigte dieses Mal noch fürchterlichere Zuneigung zu Estella, als das letzte Mal, wo ich sie zusammen gesehen hatte; ich wiederhole das Wort mit Bedacht, denn es war etwas wahrhaft Fürchterliches in der Energie ihrer Blicke und Umarmungen. Sie hing mit ganzer Seele an Estellas Schönheit, an ihren Worten, an ihren Bewegungen, und saß, an ihren eigenen zitternden Fingern kauend, da, wie wenn sie das schöne Wesen verschlinge, das sie groß gezogen hatte.

Von Estella wandte sie ihre Blicke auf mich mit so prüfender Schärfe, als wolle sie in mein Herz schauen und seine Wunde sondiren.

»Wie behandelt sie Dich, Pip, wie behandelt sie Dich?« fragte sie mich wieder mit ihrer hexenartigen Gier, sogar in Estellas Gegenwart. Am unheimlichsten war sie jedoch, als wir Abends Alle zusammen beim flackernden Feuer saßen; denn dann zwang sie Estella, deren Hand sie durch ihren Arm gezogen hatte und mit dem ihrigen fest packte, indem sie auf Das anspielte, was Estella ihr in ihren regelmäßigen Briefen mitgetheilt hatte, ihr die Namen und gesellschaftliche Stellung derjenigen Männer zu wiederholen, die sie bezaubert hatte; und während Miß Havisham mit der Leidenschaft einer tödtlich verletzten und erkrankten Seele auf dieser Liste verweilte, saß sie da, die andere Hand auf ihrem Krückenstocke und auf diese ihr Kinn gestützt, während ihre matt funkelnden Augen mich anglitzerten – wie ein wahres Gespenst.

Ich ersah hieraus, so elend es mich auch machte und so bitter auch das Gefühl der Abhängigkeit, ja, der Erniedrigung, war, das dadurch erweckt wurde, – ich ersah hieraus, daß Estella dazu bestimmt war, Miß Havishams Rache gegen die Männer auszuüben, und daß sie mir nicht früher gegeben werden solle, als bis sie derselben eine Weile Genugthuung verschafft haben würde. Ich sah hierin den Grund, weshalb sie im voraus mir bestimmt worden. Indem sie Estella in die Welt hinaussandte, um die Männer zu quälen, that sie dies in der boshaften Sicherheit, daß sie außer dem Bereiche aller Anbeter sei, und daß Alle, die auf sie ihr Glück setzten, sicher waren, dasselbe zu verlieren.

Ich sah, daß auch ich mit boshaftem Scharfsinn gequält wurde, selbst während der Preis mir vorbehalten blieb. Ich sah hierin den Grund, weshalb man mich so lange hinhielt, und weshalb mein ehemaliger Vormund sich nicht zum förmlichen Mitwisser eines solchen Planes hatte hergeben wollen. Mit einem Worte, ich sah hierin Miß Havisham, wie sie in jenem Augenblicke vor mir saß, und wie ich sie stets vor Augen gehabt hatte; und sah zugleich deutlich den Schatten des dunklen ungesunden Hauses darin, in welchem ihr Leben ohne Sonnenlicht vergangen war.

Die Kerzen, welche jenes Zimmer erleuchteten, standen in Armleuchtern, die an der Wand befestigt waren. Sie waren in ziemlicher Höhe vom Erdboden angebracht und brannten mit der ruhigen Mattigkeit künstlichen Lichtes in einer Luft, die selten erneuert wird. Als ich mich nach ihnen umschaute, und die trübe Dämmerung betrachtete, welche sie hervorbrachten, und die stillstehenden Uhren und die vergilbten Hochzeitskleidungsstücke, die am Boden und auf dem Tische lagen, und ihre eigene, Grauen erregende Gestalt, deren gespenstischen Schatten das Feuer in riesiger Form auf die Decke und die Wand warf, spiegelte sich mir in Allem die Gemüthsstimmung ab, die sich meiner bemächtigt hatte. Meine Gedanken schweiften dann nach dem großen Zimmer auf der andern Seite des Vorsaales hinüber, wo der gedeckte Tisch stand, und hier sah ich dieselben gewissermaßen geschrieben in den Spinnegeweben, die von dem Tischaufsatze herabhingen, und in dem Gekrieche der Spinnen auf dem Tischtuche, und in den Fahrten der Mäuse, wie sie mit ihren schneller klopfenden kleinen Herzen hinter die Paneele stürzten, und in dem Kriechen und Stocken der Käfer auf dem Fußboden.

Es ereignete sich bei diesem Besuche, daß von Miß Havisham und Estella einige bittere Worte gewechselt wurden. Es war dies das erste Mal, daß ich sie je uneinig gesehen hatte.

Wir saßen, wie ich soeben beschrieben habe, vor dem Kaminfeuer, und Miß Havisham hatte noch immer Estellas Arm durch den ihrigen gezogen, und hielt Estellas Hand noch immer fest mit der ihrigen gepackt, als Estella sich allmälig loszumachen begann. Sie hatte schon mehr als ein Mal vorher eine stolze Ungeduld gezeigt, und hatte jene wüthende Zuneigung eher erduldet, als angenommen oder erwiedert.

»Was!« sagte Miß Havisham, sie mit den Augen anblitzend, »bist Du meiner müde?«

»Ich bin nur meiner selbst ein wenig müde,« entgegnete Estella, indem sie ihren Arm frei machte und dann an den großen Kamin trat, wo sie stehen blieb und in die Glut hinabschaute.

»Sprich die Wahrheit, Du Undankbare!« schrie Miß Havisham, indem sie leidenschaftlich mit ihrem Stocke auf den Boden stieß; »Du bist meiner überdrüssig.«

Estella blickte sie mit vollkommenster Ruhe an und sah dann wieder ins Feuer hinab. Ihre anmuthige Gestalt und ihr schönes Gesicht drückte eine gefaßte Gleichgültigkeit gegen die wilde Hitze der Andern aus, die beinahe grausam war.

»Du Stock und Stein!« rief Miß Havisham aus. »Du kaltes, kaltes Herz.«

»Was!« sagte Estella, in der gleichgültigen Stellung verharrend, in der sie sich gegen den großen Kaminsims lehnte und nur ihre Augen bewegte; »machst Du mir Vorwürfe über meine Kälte? Du?«

»Bist Du aber nicht kalt?« war die zornige Entgegnung.

»Du solltest es am besten wissen,« sagte Estella. »Ich bin, was Du aus mir gemacht hast. Nimm das ganze Lob und den ganzen Tadel; nimm den ganzen Erfolg und das ganze Mißlingen; kurz, nimm mich.«

»O, sieh sie nur an, sieh sie an!« rief Miß Havisham mit Bitterkeit. »Sieh, wie hart und undankbar sie dasteht an dem Herde, an dem sie groß gezogen wurde! Wo ich sie an diese elende Brust nahm, als sie aus frischen Wunden blutete, und wo ich so viele Jahre der Zärtlichkeit an sie vergeudet habe!«

»Wenigstens hatte ich keine Stimme bei dem Pacte,« sagte Estella, »denn als derselbe gemacht wurde, konnte ich kaum gehen und sprechen. Aber was verlangst Du nur? Du bist sehr gütig gegen mich gewesen, und ich verdanke Dir Alles. Was verlangst Du noch weiter?«

»Liebe,« entgegnete die Andere.

»Die hast Du.«

»Nein, die habe ich nicht,« sagte Miß Havisham.

»Als meiner Mutter durch Adaption,« sagte Estella, indem sie keinen Augenblick von der leichten Anmuth ihrer Stellung abwich, nie wie die Andere ihre Stimme erhob, oder dem Zorne oder der Zärtlichkeit nachgab – »als meiner Mutter durch Adoption verdanke ich Dir Alles, wie ich Dir soeben gesagt habe. Alles, was ich besitze, ist ganz Dein. Alles, was Du mir gegeben, hast Du in Deiner Macht, mir wieder zu nehmen. Außer dem besitze ich nichts. Und wenn Du etwas von mir forderst, was Du mir nie gegeben hast, so kann meine Dankbarkeit und mein Pflichtgefühl nichts Unmögliches leisten.«

»Habe ich ihr nie meine Liebe gegeben!« schrie Miß Havisham, sich wild zu mir wendend. »Habe ich ihr nie meine heiße Liebe gegeben, die stets von Eifersucht und bitterm Schmerze unzertrennlich ist, und sie spricht so zu mir! Mag sie mich wahnsinnig nennen! Mag sie mich wahnsinnig nennen!«

»Warum sollte ich Dich wahnsinnig nennen,« entgegnete Estella, » ich, von allen Leuten? Lebt noch eine Seele, die halb so wohl, wie ich, verstände, was Dein Zweck ist? Giebt es noch ein Wesen, das halb so gut, wie ich, Dein treues Gedächtniß kennte? Ich, die ich an diesem selben Herde auf jenem kleinen Schemel, der jetzt an Deiner Seite steht, gesessen habe, um Deinen Lehren zu lauschen, und dabei in Dein Gesicht geschaut habe, da mir dasselbe noch fremd war und mir Furcht einflößte!«

»Es war bald vergessen!« flüsterte Miß Havisham; »sehr bald vergessen!«

»Nein, nicht vergessen,« sagte Estella. »Nicht vergessen, sondern getreu im Gedächtnisse aufbewahrt. Wann hast Du mich Deinen Lehren untreu befunden? Wann hast Du je gesehen, daß ich irgend etwas hier aufgenommen« – hier legte sie eine Hand auf ihre Brust – »das Du ausgeschlossen hättest? Sei gerecht gegen mich.«

»So stolz, so stolz!« stöhnte Miß Havisham, ihr graues Haar mit beiden Händen aus dem Gesichte zurückstreichend.

»Wer lehrte mich, stolz zu sein?« erwiederte Estella. »Wer lobte mich, wenn ich meine Aufgaben so gut lernte?«

»So hart, so hart!« stöhnte Miß Havisham abermals mit derselben Handbewegung.

»Wer lehrte mich, hart zu sein?« sagte Estella. »Wer lobte mich, wenn ich meine Aufgaben lernte?«

»Aber stolz und hart gegen mich zu sein!« rief Miß Havisham förmlich kreischend, indem sie wild ihre Arme von sich streckte. »Estella, Estella, Estella, stolz und hart gegen mich zu sein!«

Estella schaute sie einen Augenblick mit einer Art ruhiger Verwunderung an, jedoch ohne im geringsten sich aus der Fassung bringen zu lassen; dann blickte sie wieder ins Feuer hinab.

»Ich kann mir nicht denken,« sagte Estella, indem sie nach einem kurzen Schweigen ihre Augen erhob, »warum Du so unverständig gegen mich bist, wenn ich nach einer Trennung zu Dir komme. Ich habe nie vergessen, welch Unrecht Du erlitten, und was die Ursache desselben gewesen. Ich bin nie weder Dir noch Deinen Lehren untreu gewesen. Ich habe nie irgend eine Schwäche gezeigt, die ich mir jetzt vorzuwerfen hätte.«

»Wäre es eine Schwäche, meine Liebe zu erwiedern?« rief Miß Havisham aus. »Aber ja, ja, ja, sie würde es so nennen!«

»Ich fange an zu glauben,« sagte Estella sinnend, nach einer abermaligen Pause ruhiger Verwunderung, »daß ich fast begreife, woher dies kommt. Falls Du Deine angenommene Tochter gänzlich und ausschließlich in der dunklen Abgeschlossenheit dieser Zimmer aufgezogen, und sie nie hättest wissen lassen, daß es überhaupt ein Tageslicht gebe, in welchem sie nie Dein Gesicht gesehen hat – falls Du Dies gethan und dann zu irgend einem Zwecke von ihr verlangt hättest, daß sie das Tageslicht kennte und vollkommen begriffe, würdest Du da enttäuscht gewesen und zornig geworden sein?«

Miß Havisham saß, den Kopf mit beiden Händen haltend, leise stöhnend und sich hin und her wiegend in ihrem Stuhle, doch gab sie keine Antwort.

»Oder,« sagte Estella – »und dies liegt etwas näher – hättest Du sie vom ersten Erwachen ihres Verstandes an mit Deiner äußersten Kraft und Macht gelehrt, daß es ein Tageslicht gebe, jedoch nur erschaffen, um ihr Feind und Verderber zu werden, und daß sie es stets meiden solle, weil es Dein Unglück gewesen und auch das ihrige werden müsse; – falls Du dies gethan und dann zu irgend einem Zwecke von ihr verlangt hättest, daß sie sich leicht an das Tageslicht gewöhnte, und sie dazu nicht im Stande gewesen wäre, würdest Du da enttäuscht und aufgebracht gewesen sein?«

Miß Havisham saß lauschend da (oder schien wenigstens zu lauschen, denn ich konnte ihr Gesicht nicht sehen), doch gab sie noch immer keine Antwort.

»Darum«, sagte Estella, »muß ich genommen werden, wie ich gemacht wurde. Der Erfolg ist nicht der meine, und das Mißlingen ist nicht meines, aber Beide zusammen bilden mich.«

Miß Havisham saß, und ich weiß kaum, wie sie dahin gekommen war, auf dem Boden unter den Hochzeitsreliquien, mit denen derselbe bestreut war. Ich benutzte den Augenblick – den ich schon vom Anfang an gesucht hatte – um das Zimmer zu verlassen, nachdem ich mit einer Handbewegung Estella angefleht hatte, ihr ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Als ich hinausging, stand Estella noch immer, wie sie während der ganzen Unterhaltung gestanden hatte, vor dem großen Kamin. Miß Havishams Haar fiel aufgelöst auf die Hochzeitstrümmer am Boden, und gewährte einen jammervollen Anblick.

Ich ging wohl länger als eine Stunde mit bedrücktem Herzen im Sternenlichte im Hofe, in der Brauerei und in dem wüsten Garten umher. Als ich endlich wieder Muth faßte, um ins Zimmer zurückzukehren, fand ich, daß Estella auf einem niedrigen Sessel an Miß Havishams Seite saß und eines jener alten Kleidungsstücke ausbesserte, die in Löcher zerfielen, und an die mich seitdem oft die verblichenen Fetzen alter Fahnen erinnert haben, die ich in großen Kathedralen habe hängen sehen. Später spielten Estella und ich, wie ehedem, Karten – nur daß wir jetzt besser und französische Spiele spielten – und so verging der Abend, und ich ging zu Bett.

Ich lag in jenem allein stehenden Gebäude, das jenseit des Hofes stand. Es war das erste Mal, daß ich mich je in Satishaus zur Ruhe gelegt, und mich floh der Schlaf. Es umspukten mich Millionen von Miß Havishams. Sie war auf dieser Seite meines Kissens und auf jener, am Kopfende meines Bettes und am Fußende, hinter der halbgeöffneten Thür meines Ankleidezimmers, in dem Ankleidezimmer, in dem Zimmer über mir, in dem Zimmer unter mir – überall. Zuletzt, als die Nacht langsam der zweiten Morgenstunde zuschlich, fühlte ich, daß ich es entschieden nicht länger im Bette aushalten könne und deshalb aufstehen müsse.

Ich that dies, kleidete mich an und ging über den Hof in den langen steinernen Gang, in der Absicht, so in den großen äußern Hof zu gelangen, und dort spazieren zu gehen, um mir das Gemüth zu erleichtern. Doch so wie ich in den Gang angelangt war, löschte ich mein Licht aus, denn ich erblickte Miß Havisham, die auf gespenstische Weise und leise jammernd den Corridor entlang ging. Ich folgte ihr in der Entfernung und sah sie die Treppe hinaufgehen. Sie trug eine Kerze in der Hand, die sie wahrscheinlich aus einem der Wandleuchter in ihrer Stube herausgenommen hatte, und bot bei dem Lichte derselben einen höchst unheimlichen Anblick.

Indem ich unten am Fuße der Treppe stehen blieb, fühlte ich die moderige Luft des Zimmers, das zu dem Hochzeitmahle hergerichtet war, ohne sie die Thür desselben öffnen zu sehen, und hörte sie dann dort gehen und von dort wieder in ihr eigenes Zimmer und von diesem wieder in jenes hinüber, wobei sie nicht aufhörte, leise zu jammern. Nach einer Weile versuchte ich im Finstern, erst hinauszugehen und dann zurückzukehren, aber ich vermochte weder das Eine noch das Andere, bis einige matte Strahlen des grauenden Morgens sich hereinstahlen und mir zeigten, wo ich die Thür öffnen mußte. Und während der ganzen Zeit hörte ich, wenn ich mich dem Fuße der Treppe näherte, ihre Schritte über mir, sah ich ihr Licht hin und wieder gehen und hörte ihr leises Jammergestöhn.

Die Uneinigkeit zwischen ihr und Estella erneuerte sich nicht vor unserer Abreise am folgenden Tage, noch jemals wieder bei einer solchen Gelegenheit; und es folgten, so viel ich mich erinnere, noch vier ähnliche Gelegenheiten. Auch war Miß Havishams Benehmen gegen Estella in keiner Weise verändert, außer daß es mir schien, als habe sich etwas wie Furcht in die früheren Eigenthümlichkeiten derselben gemischt.

Es ist unmöglich, dieses Blatt meines Lebens umzuschlagen, ohne Bentley Drummles Namen darauf zu schreiben; sonst würde ich sehr froh sein, es zu thun.

Bei einer gewissen Gelegenheit, wo die »Finken« in großem Pompe versammelt waren, und »gegenseitiges Wohlwollen« in der gewöhnlichen Weise dadurch befördert wurde, daß Keiner mit dem Andern einig war, rief der Vorsitzende Finke den »Hain« zur Ordnung, indem Mr. Drummle noch nicht die Gesundheit einer Dame ausgebracht habe, was, den feierlichen Statuten der Gesellschaft zufolge, er an diesem Tage zu thun an der Reihe war. Es schien mir, daß ich ihn auf eine häßliche Weise nach mir herüberschielen sah, während die Weincaraffen die Runde machten; da wir jedoch überhaupt keine Liebe an einander verschwendeten, so konnte dies leicht der Fall sein. Wie groß aber war mein entrüstetes Erstaunen, als er die Gesellschaft aufforderte, mit ihm auf das Wohl von »Estella« zu trinken.

»Estella wer?« sagte ich.

»Geht Dich nichts an,« entgegnete Drummle.

»Estella woher?« sagte ich. »Du bist verpflichtet zu sagen, woher.« Was er als Finke in der That war.

»Aus Richmond, meine Herren,« sagte Drummle, mich außer Betracht lassend, »und eine unvergleichliche Schönheit.«

»Was er wohl von unvergleichlichen Schönheiten weiß, der gemeine, erbärmliche Esel!« flüsterte ich Herbert zu.

»Ich kenne die Dame,« sagte Herbert über den Tisch hinüber, nachdem der Toast getrunken.

»So?« sagte Drummle.

»Und ich ebenfalls,« sagte ich mit purpurnem Gesicht.

»So?« sagte Drummle. »Ach, Du mein Gott!«

Dies war die einzige Art von Entgegnung – Glas oder Porzellan ausgenommen – die das schwerfällige Geschöpf zu machen im Stande; aber ich wurde so wüthend darüber, als wenn sie den Stachel des Witzes besessen hätte, und erhob mich von meinem Platze und sagte: ich könne nicht umhin, zu finden, daß es des ehrenwerthen Finken Impertinenz ähnlich sehe, hier in diesen Hain zu kommen – wir brachten stets die Redensart: hier in diesen Hain kommen, als eine elegante parlamentarische Wendung, an – hier in diesen Hain zu kommen und auf das Wohl einer Dame zu trinken, von der er gar nichts wisse. Worauf Mr. Drummle, aufspringend, fragte, was ich damit sagen wolle? Worauf ich ihm die äußerste Antwort gab: ich vermuthe, er wisse, wo ich zu finden sei.

Ob es hiernach in einem christlichen Lande möglich sei, ohne Blutvergießen fertig zu werden, war eine Frage, über welche die Finken getheilter Ansichten waren. Die Debatte darüber wurde so lebhaft, daß wenigstens sechs ehrenwerthe Finken im Verlaufe derselben sechs anderen Finken sagten, sie glaubten, sie wüßten, wo sie zu finden seien. Indessen kam man endlich zu der Entscheidung (da der Hain zugleich ein Ehrengericht war), daß falls Mr. Drummle das kleinste Zeugniß von der Dame bringe, welches bewiese, daß er die Ehre ihrer Bekanntschaft genösse, so müsse Mr. Pip als Gentleman und als Finke sein Bedauern aussprechen, sich zu einer Wärme haben hinreißen zu lassen, welche &c. &c. Der folgende Tag wurde (damit sich unsere Ehre nicht etwa durch den Verzug erkälte) zur Beibringung dieses Beweises angesetzt, und am folgenden Tage erschien Drummle mit einem höflichen kleinen Zeugnisse in Estellas Handschrift, daß sie die Ehre gehabt habe, mehre Male mit ihm zu tanzen. Dies ließ mir nichts weiter übrig, als mein Bedauern darüber auszudrücken, daß ich mich zu einer Wärme habe hinreißen lassen, welche – und überhaupt die Idee, daß ich irgendwo zu finden sei, als unhaltbar zu verwerfen. Darauf saßen Drummle und ich einander gegenüber und schnoben uns eine Stunde lang an, während der Hain sich in allgemeinen Widersprüchen erging, und endlich erklärte, daß die Beförderung gegenseitigen Wohlwollens einen erstaunlichen Fortschritt gemacht habe.

Ich erzähle dies mit leichten Worten, aber die Sache war mir keine leichte. Denn ich kann den Schmerz nicht beschreiben, den mir der Gedanke machte, daß Estella einem verächtlichen, rohen, mürrischen Tölpel, der so tief unter den gewöhnlichen jungen Leuten stand, die geringste Gunst bezeugte. Ich glaube noch bis auf diesen Augenblick, daß mein Widerwille gegen den Gedanken, sie könne sich zu einem solchen Elenden herablassen, einer reinen Glut der Großmuth und Uneigennützigkeit in meiner Liebe zu ihr zuzuschreiben war. Ich würde ohne Zweifel stets unglücklich gewesen sein, wen sie auch immer begünstigt hätte; aber ein würdiger Gegenstand würde mir eine andere Art und einen andern Grad von Kummer verursacht haben.

Es wurde mir leicht und gelang mir bald, zu entdecken, daß Drummle angefangen hatte, ihr den Hof zu machen, und daß sie es ihm gestattete. Es währte nicht lange, so war er fortwährend in ihrem Gefolge, und er und ich begegneten einander täglich. Er blieb dabei, auf eine schwerfällig beharrliche Weise, und Estella ließ ihn dabei; bald, indem sie ihn ermuthigte, bald durch das Gegentheil: bald, indem sie ihm beinahe schmeichelte, bald ihn offen verachtete, bald, indem sie genau mit ihm befreundet, und dann wieder kaum zu wissen schien, wer er sei.

Aber die Spinne, wie Mr. Jaggers ihn genannt hatte, war daran gewöhnt, auf der Lauer zu liegen, und hatte die Geduld ihrer Race. Dazu noch besaß er ein dummdreistes Vertrauen auf sein Geld und seine Familiengröße, das ihm zuweilen gute Dienste leistete – indem es beinahe Ausdauer und entschlossenen Vorsatz ersetzte. Auf diese Weise überbot die Spinne in ihrer beharrlichen Beobachtung Estellas viele der glänzenderen Insecten, und kam dann oft gerade im rechten Augenblicke zum Vorschein.

Auf einem gewissen Assembleeballe zu Richmond (es pflegten in jenen Zeiten fast überall Assembleebälle zu sein), wo Estella alle anderen Schönheiten überstrahlt hatte, verfolgte dieser tölpelhafte Drummle sie auf so unleidliche Weise, und sie ließ dies so geduldig geschehen, daß ich beschloß, seinetwegen mit ihr zu reden. Ich ergriff die nächste sich darbietende Gelegenheit, als sie wartete, bis Mrs. Brandley sie nach Hause führen würde, und sie unter den Blumen, zur Abfahrt bereit, allein saß. Ich war an ihrer Seite, denn ich begleitete sie fast immer nach solchen Orten und wieder nach Hause.

»Sind, Sie müde, Estella?«

»Ein wenig, Pip.«

»Sie sollten es wohl sein.«

»Sagen Sie lieber, ich sollte es nicht sein; denn ich habe noch meinen Brief nach Satishaus zu schreiben, ehe ich schlafen gehe.«

»Um über den heutigen Triumph zu berichten?« sagte ich. »Mir scheint, es ist doch nur ein sehr ärmlicher, Estella.«

»Was meinen Sie? Ich weiß nicht, daß ich einen Triumph gefeiert habe.«

»Estella,« sagte ich, »sehen Sie doch nur jenen Burschen in der Ecke dort an, der hier zu uns herüber sieht.«

»Wozu soll ich ihn ansehen?« sagte Estella, statt dessen die Augen auf mich heftend. »Was ist an jenem Burschen in der Ecke dort – um mich Ihrer Worte zu bedienen – zu sehen, daß ich ihn ansehen sollte?«

»Das ist genau die Frage, die ich an Sie richten möchte,« sagte ich; »denn er hat sie den ganzen Abend verfolgt.«

»Motten und alle Arten häßlicher Geschöpfe«, erwiederte Estella mit einem Blick auf ihn, »umschweben ein brennendes Licht. Kann das Licht etwa dafür?«

»Nein,« entgegnete ich, »kann aber Estella nicht dafür?«

»Nun!« sagte sie lachend nach einer kleinen Pause, »vielleicht. Ja. Wie Sie wollen.«

»Aber, Estella, ich bitte Sie, hören Sie mich. Es macht mich unglücklich, daß Sie einen Menschen ermuthigen, der so allgemein verachtet wird. Sie wissen, daß er verachtet wird.«

»Nun?« sagte sie.

»Sie wissen, daß er im Innern so häßlich ist, wie im Aeußern. Daß er ein unfeiner, bösartiger, hinterlistiger, dummer Bursche ist.«

»Nun?« sagte sie.

»Sie wissen, daß er nichts besitzt, was ihn empfehlen könnte, als Geld und eine lächerliche Liste gehirnloser Vorfahren; nicht wahr, das wissen Sie?«

»Nun?« sagte sie nochmals; und jedes Mal, daß sie das Wort wiederholte, öffnete sie ihre schönen Augen noch mehr.

Um mit der Schwierigkeit, sie über dieses einsylbige Wort hinwegzubringen, fertig zu werden, nahm ich dasselbe auf und sagte, es mit Nachdruck wiederholend:

»Nun! Das ist der Grund, weshalb es mich elend macht.«

Falls ich hätte glauben können, daß sie Drummle begünstigte, um mich – mich – unglücklich zu machen, so würde ich frohern Muthes darüber gewesen sein; aber sie ließ mich, in ihrer gewohnten Weise, so vollkommen außer Frage, daß ich nichts dergleichen glauben konnte.

»Pip,« sagte Estella, ihren Blick durch das Zimmer schweifen lassend, »sein Sie nicht thöricht über die Wirkung meines Benehmens auf Sie. Dasselbe mag seine Wirkungen auf Andere haben, und ist vielleicht darauf berechnet. Es ist nicht der Rede werth.«

»Doch – es ist der Rede werth,« sagte ich, »denn ich kann es nicht ertragen, daß die Leute sagen: sie vergeudet ihre Anmuth und ihre Reize an einen wahren Lümmel, an den Verächtlichsten unter der Menge.«

»Ich kanns ertragen,« sagte Estella.

»O, sein Sie nicht so stolz, Estella, und so unbeugsam!«

»Er nennt mich stolz und unbeugsam in einem Athem!« sagte Estella, verwundert die Hände öffnend; »und zu guter Letzt macht er mir Vorwürfe, weil ich mich zu einem Lümmel herablasse!«

»Es unterliegt keinem Zweifel, daß Sie das thun,« sagte ich etwas hastig, »denn ich habe gesehen, wie Sie ihm heute Abend Blicke schenkten, wie Sie – mir noch nie geschenkt haben.«

»Wünschen Sie denn,« sagte Estella, indem sie sich plötzlich mit einem festen, ernsten, wo nicht zornigen Blicke zu mir wandte, »daß ich Sie täusche und Ihnen Fallstricke lege?«

»Täuschen Sie ihn und legen Sie ihm Fallstricke, Estella?«

»Ja, ihm und vielen Anderen – Allen, außer Ihnen. Hier ist Mrs. Brandley. Ich sage nichts mehr.«

Und jetzt, da ich dieses eine Kapitel dem Gegenstande gewidmet habe, der so mein Herz erfüllte und mir so viel, viel Schmerz verursacht hatte, gehe ich ungehindert zu dem Ereignisse über, das mir seit noch längerer Zeit bevorgestanden; das Ereigniß, das vorbereitet worden, ehe ich noch gewußt, daß es in der Welt eine Estella gebe, und in den Tagen, wo ihr Kinderverstand seine ersten Verzerrungen durch Miß Havishams abgezehrte Hände erhielt.

In der morgenländischen Erzählung wurde die schwere Platte, welche im Siegestriumphe auf das Staatsbett fallen sollte, langsam aus dem Steinbruche herausgehauen, der Tunnel für das Seil, das sie festhalten sollte, wurde langsam durch viele Meilen von Felsen geleitet, die Platte wurde langsam empor gehoben und in die Decke eingepaßt, das Seil wurde daran befestigt und langsam durch die meilenlange Höhlung bis an den großen Ring gezogen. Als Alles mit vieler Mühe fertig gemacht und die Stunde gekommen war, wurde der Sultan in der tiefen Nacht aufgeweckt, die scharfe Axt, mit der er das Seil von dem großen eisernen Ringe trennen sollte, in seine Hand gegeben, und er schlug zu, das Seil zerriß und schoß dahin, und die Decke stürzte nieder. So war es auch mit mir; alle Arbeit, nahe und fern, welche zum Endziele führte, war geschehen, und in einem einzigen Augenblicke wurde der Schlag geführt, und die Decke meiner Feste stürzte über mir zusammen.

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