Charles Dickens
Dombey und Sohn - Band 1
Charles Dickens

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Dreißigstes Kapitel.

Die Zeit vor der Hochzeit.

Obgleich das gespenstische Haus nicht mehr vorhanden war und die eingebrochenen Arbeiter, die den ganzen Tag treppauf und treppab mit ihren Werkzeugen und schweren Stiefeln einen unerhörten Lärm machten, von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang Diogenes in einer stetigen Bellwut hielten – der Hund war augenscheinlich überzeugt, sein Feind habe endlich die Oberhand über ihn gewonnen und plündere nun in triumphierendem Trotze das Haus – so trat doch vorderhand in Florences Lebensweise kein anderer großer Wechsel ein. Wenn sich abends die Werkleute entfernten, wurde das Gebäude wieder traurig und verlassen, und Florence, die auf die im Flur und im Treppenhause widerhallenden Stimmen der Abziehenden lauschte, vergegenwärtigte sich das gemütliche Heim, zu dem sie zurückkehrten, nebst den Kindern, die daselbst ihrer harrten – eine Betrachtung, an die sich der für sie wehmütig frohe Gedanke knüpfte, daß die Leute sich auf ihren heimischen Herd freuten.

Die Stille des Abends war ihr wie eine alte Freundin willkommen, aber sie erschien jetzt mit einem andern Gesicht und blickte freundlicher auf das einsame Mädchen nieder. Eine neue Hoffnung hatte Raum gewonnen; und die schöne Dame, die sie in demselben Zimmer an die Brust gedrückt, wo ihr sonst das Herz brechen wollte, erschien ihr als Geist der Verheißung. Sanfte Schatten von dem Aufdämmern eines glücklicheren Lebens, wenn die Liebe ihres Vaters allmählich gewonnen und ihr alles oder wenigstens viel von dem zurückgegeben sein würde, was für sie verlorenging, als die Liebe ihrer Mutter mit dem letzten Atemzug an ihrer Wange erstarb, schwebten im Zwielicht um sie her und wurden ihr willkommene Gefährten. Sobald sie nach den rosigen Kindern ihres Nachbars hinüberschaute, tauchte ein neues köstliches Gefühl mit dem Gedanken in ihr auf, sie würde nun bald mit ihnen sprechen und eine nähere Bekanntschaft anknüpfen können. Sie brauchte dann nicht, wie früher, Furcht zu hegen, sich vor ihnen zu zeigen, damit es ihnen nicht schmerzlich werde, sie so einsam in ihren Trauerkleidern dasitzen zu sehen.

Unter den Gedanken an die Mutter und an das liebevolle Vertrauen, von dem ihr reines Herz gegen diese überströmte, wuchs auch ihre Liebe gegen die Gestorbene mehr und mehr. Sie scheute sich nicht, ihrer toten Mutter in ihrem Innern eine Nebenbuhlerin zu geben, da sie wohl wußte, wie die neue Blume nur der tiefgehenden, lange mit Wärme gepflegten Wurzel entsproßte. Jedes sanfte Wort, das von den Lippen der schönen Dame entfallen, klang für Florence wie ein Echo der Stimme, die so lange hatte schweigen müssen. Wie hätte ihr um des Andenkens willen die lebende Zärtlichkeit weniger teuer sein sollen, da diese die Erinnerung an alle elterliche Zärtlichkeit und Liebe umschloß!

Florence saß eines Tages lesend in ihrem Zimmer und machte sich, da ihr Buch von einem verwandten Gegenstand handelte, eben Gedanken über die Dame und ihren versprochenen baldigen Besuch, als sie mit einem Male beim Erheben ihrer Augen sie auf der Schwelle stehen sah.

»Mama!« rief Florence, ihr freudig entgegentretend. »Ihr seid wieder hier?«

»Noch nicht Mama«, versetzte die Dame mit einem ernsten Lächeln, während sie Florences Nacken mit ihrem Arme umschlang.

»Aber doch sehr bald«, entgegnete Florence.

»Ja, sehr bald, Florence – sehr bald.«

Edith senkte ihr Haupt ein wenig, um Florences blühende Wange an die ihrige zu drücken, und blieb für eine Weile stumm. Es lag etwas ungemein Inniges in ihrem Wesen, und Florence fühlte das sogar noch mehr als bei ihrer ersten Begegnung.

Sie rückte für Florence einen Stuhl an ihre Seite und setzte sich nieder. Florence blickte ihr, verwundert über ihre Schönheit, ins Gesicht und überließ der künftigen Mutter bereitwillig ihre Hand.

»Du bist wohl viel allein gewesen, seit ich zum letztenmal hier war, Florence?«

»Ach ja«, versetzte Florence eifrig und lächelte.

Dann hielt sie inne und schlug die Augen nieder; denn der Blick ihrer neuen Mama haftete sehr ernst und gedankenvoll auf ihrem Gesicht.

»Ich – ich – ich bin ans Alleinsein gewöhnt«, sagte Florence, »und mache mir nichts daraus. Di und ich bringen oft ganze Tage allein miteinander zu.«

Sie hätte wohl von Wochen und Monaten sprechen dürfen.

»Ist Di dein Mädchen, meine Liebe?«

»Nein, mein Hund, Mama«, versetzte Florence lachend, »Susanna ist mein Mädchen.«

»Und das sind deine Zimmer?« sagte Edith umherschauend. »Man hat sie mir letzthin nicht gezeigt. Wir müssen sie besser herrichten lassen, Florence. Sie sollen die schönsten werden im Hause.«

»Wenn ich umziehen dürfte«, entgegnete Florence, »so ist eine Treppe weiter oben eins, das mir viel besser gefiele.«

»Liegt dieses hier nicht hoch genug, liebes Mädchen?« fragte Edith lächelnd.

»Das andere war das Zimmer meines Bruders und ist mir deshalb so lieb«, sagte Floren«. »Als ich bei meiner Rückkehr die Arbeiter hier fand, die alles veränderten, hätte ich gar gerne mit Papa darüber gesprochen, aber –«

Florence senkte die Augen, damit nicht der gleiche Blick sie wieder zum Stocken bringen möchte.

»– aber ich fürchtete, es möchte ihm unangenehm sein. Da Ihr mir nun versprochen habt, bald wiederzukommen, Mama, und Ihr doch die Gebieterin von allem seid, so faßte ich den Entschluß, meinen Mut zusammenzunehmen und Euch darum zu bitten.«

Edith heftete ihre leuchtenden Augen angelegentlich auf ihr Gesicht, bis Florence ihr eigenes erhob: dann kam die Reihe an sie, den Blick abzuwenden und zu Boden zu blicken. Damals dachte Florence, wie ganz anders die Schönheit dieser Dame sei, als sie geglaubt hatte; sie war ihr vornehm und stolz vorgekommen, und doch zeigte sie ein so mildes sanftes Wesen, daß die Dame, selbst wenn sie von Florences Alter und Charakter gewesen wäre, kaum mehr Vertrauen hätte einflößen können.

Ausgenommen, wenn eine gewisse gezwungene Zurückhaltung sie überflog, denn dann gewann es den Anschein – Florence begriff dieses freilich nicht, obschon es ihr auffallen und zu Gedanken Anlaß geben mußte –, als sei es ihr gar nicht wohl zumute und als fühle sie sich gedemütigt vor dem Mädchen. Namentlich hatte sich diese Veränderung gezeigt, als sie sagte, sie sei noch nicht ihre Mama, und als Florence sie die Gebieterin von allem nannte. Auch jetzt, während Florences Augen auf ihrem Gesicht ruhten, saß sie da, als ob sie lieber vor ihrer jungen Gefährtin sich verbergen, als die Rechte einer so nahen Beziehung durch Liebe und Innigkeit geltend machen möchte.

Sie gab Florence bereitwillig ihre Zusage wegen des neuen Zimmers und sagte, sie wolle selbst die betreffenden Weisungen erlassen. Sie stellte dann einige Fragen nach dem armen Paul, und nachdem sie eine Weile miteinander gesprochen hatten, erklärte sie Florence, sie sei gekommen, um sie nach ihrer Heimat mitzunehmen.

»Wir wohnen jetzt in London, meine Mutter und ich«, sagte Edith, »und du wirst bei uns bleiben, bis ich verheiratet bin. Ich wünsche, daß wir uns kennen und Vertrauen ineinander setzen lernen, Florence.«

»Ihr seid sehr gütig gegen mich, teure Mama«, versetzte Florence. »Wie sehr bin ich Euch zu Dank verpflichtet.«

»Es ist vielleicht jetzt die beste Gelegenheit«, fuhr Edith mit gedämpfterer Stimme fort, und sah sich um, als wollte sie sich überzeugen, daß sie auch ganz allein wären, »dir zu sagen, daß mir das Herz weit leichter sein wird, wenn du während meiner Hochzeitsreise wieder hier bist. Gleichviel, wer dich dann auch anderswohin einladen mag. Komm nur wieder her. Es ist besser, allein zu sein« – sie hielt inne und fügte dann bei –, »ich wollte sagen, ich weiß wohl, daß du zu Hause am besten aufgehoben bist, liebe Florence.«

»Ich will an demselben Tage wiederkommen, Mama.«

»Recht so. Ich verlasse mich auf dieses Versprechen. Triff jetzt deine Vorbereitungen, mich zu begleiten, liebes Mädchen. Wenn du fertig bist, wirst du mich unten finden.«

Edith wandelte langsam und gedankenvoll allein durch das Haus, dessen Gebieterin sie so bald werden sollte, obschon sie nur wenig auf den Prunk achtete, der sich bereits darin zu entfalten begann. Derselbe unbezähmbare Hochmut des Geistes, der gleiche stolze Hohn um das Auge und die Lippen, dieselbe trotzige Schönheit, nur gemildert durch das Bewußtsein ihres eigenen geringen Werts und der Unbedeutsamkeit der ganzen Umgebung – alles wie damals unter dem Schatten der Bäume, ging sie jetzt in wilder innerer Leidenschaft durch die prächtigen Säle und Hallen. Die gemalten Rosen an den Wänden und in den Fluren waren mit scharfen Dornen umgeben, die ihre Brust zerrissen. In jedem Streifen Goldes, der das Auge blendete, sah sie ein verhaßtes Atom ihres Kaufpreises. Die hohen breiten Spiegel zeigten ihr in voller Länge eine Frau, in deren Wesen noch eine edle Eigenschaft weilte, obschon sie zu herabgewürdigt und verloren, zu treulos gegen ihr besseres Ich war, um sich selbst zu retten. Sie glaubte, alles das müsse jedem Auge mehr oder weniger so klar sein, daß sie nirgends eine Quelle der Selbstberuhigung fand als im Stolze; und mit diesem Stolze, der Tag und Nacht ihr Herz folterte, kämpfte sie sich kühn und trotzig durch ihr Schicksal.

War das die Frau, auf die Florence – ein unschuldiges Mädchen, das nur stark war in ihrer Innigkeit und in ihrer treuen Einfalt – einen so beschwichtigenden Eindruck üben konnte, daß sie in solcher Nähe zu einem andern Wesen wurde, daß der Sturm der Leidenschaft sich legte und sogar ihr Stolz sich beugte? War das die Frau, die jetzt, die Arme um sie geschlungen, neben ihr im Wagen saß und, indem sie bittend um ihre Liebe und ihr Vertrauen rang, das schöne Köpfchen innig an ihre Brust drückte, fest entschlossen, es mit ihrem Leben gegen Unrecht und Kränkung zu schirmen?

O, Edith, wärest du in einem solchen Augenblick gestorben! Weit besser und glücklicher vielleicht, so zu sterben, Edith, als zu leben bis zum Ende!

Die hochwohlgeborene Mrs. Skewton, die lieber an alles andere, als an derartige Gefühle dachte – denn gleich vielen galanten Leuten, die zu verschiedenen Zeiten lebten, glaubte sie dem Tode ganz und gar trotzen zu können, und wollte nichts davon hören, wenn von diesem gemeinen, alles gleichmachenden Emporkömmling die Rede war – hatte in Brookstreet, Grosvenor-Square, ein Haus geliehen, das einem vornehmen Verwandten aus dem Geschlechte der Feenixe gehörte. Dieser, der gerade nicht in London war, ließ sich freundschaftlichst herbei, dieses sein Eigentum vorübergehend zum Zweck der Verehelichung abzutreten, weil er dadurch die Aussicht gewann, für die Zukunft aller weiteren Darlehen und Geschenke an Mrs. Skewton und ihre Tochter enthoben zu werden. Da es in einer solchen Zeit für die Ehre der Familie nötig war, sich mit Anstand zu zeigen, so versah Mrs. Skewton unter dem Beistand eines gefälligen Geschäftsmanns aus dem Kirchspiel Mary-le-bone, der dem Adel und der Honoratiorenschaft mit Gegenständen aller Art, vom Silberservice an bis zu einer Armee von Bedienten, auszuhelfen pflegte, das Haus mit einem silberhaarigen Kellermeister. Dieser wurde gerade wegen seines Silberhaars gemietet, weil es ihm das Aussehen eines alten Familiendieners verlieh. Dazu kamen zwei sehr lange junge Männer in Livree und ein auserlesener Stab von Küchendienstboten, so daß man sich im Erdgeschoß mit der Sage trug, der Page Withers, der mit einem Male seiner zahlreichen Haushaltobliegenheiten, namentlich aber des Dienstes hinter dem mit der Hauptstadt sich nicht vertragenden Räderstuhl enthoben war, habe sich oft und oft die Augen gerieben und seine Glieder gezwickt, als zweifle er, ob er nicht noch immer im Schuppen des Leamingtoner Milchmanns schlafe und sich in einem himmlischen Traum befinde. Aus derselben dienstwilligen Quelle wurden auch unterschiedliche Requisiten in Silber und Porzellan, nebst mehreren gemischten Artikeln, einschließlich eines hübschen Wagens und zweier Fuchsstuten, nach dem Hause geschafft, wo Mrs. Skewton sich in der Kleopatrahaltung auf dem prächtigsten Sofa aufpolsterte und in großem Prunk ihren Hof hielt.

»Wie geht es meiner bezaubernden Florence?« sagte Mrs. Skewton, als Edith mit ihrer Schutzbefohlenen eintrat. »Florence, du mußt kommen und mich küssen – willst du so gut sein, meine Liebe?«

Florence beugte sich schüchtern nieder, um in dem weißen Teil von Mrs. Skewtons Gesicht eine Stelle auszulesen – eine Schwierigkeit, der sie die hochwohlgeborene Dame dadurch enthob, daß sie dem jungen Gast ihr Ohr hinbot.

»Edith, meine Liebe«, sagte Mrs. Skewton, »gewiß, ich – tritt doch für einen Augenblick mehr ins Licht, meine süßeste Florence.«

Florence willfahrte errötend.

»Erinnerst du dich nicht, liebe Edith«, fuhr Mrs. Skewton fort, »wie du aussahst, als du ungefähr in dem Alter unserer köstlichen Florence oder einige Jahre darunter warst?«

»Ich habe das längst vergessen, Mutter.«

»Ich glaube wahrhaftig, meine Liebe«, sagte Mrs. Skewton, »in unserer ungemein bezaubernden jungen Freundin eine entschiedene Ähnlichkeit mit dem zu entdecken, was du in jener Zeit warst. Und man sieht daraus«, fuhr sie mit gedämpfterer Stimme fort, in der sich ihre Ansicht ausdrücken mochte, daß sich Florence in einem noch sehr unvollendeten Zustande befinde, »was die Ausbildung zu leisten imstande ist.«

»Jawohl – ganz richtig!« lautete Ediths ironisch-harte Antwort.

Ihre Mutter warf ihr für einen Moment einen scharfen Blick zu, und da sie die Unsicherheit ihres Bodens fühlte, so fuhr sie, um davon abzugehen, fort:

»Meine bezaubernde Florence, du mußt mir noch einen Kuß geben – willst du so gut sein, meine Liebe?«

Florence gehorchte natürlich und drückte abermals ihre Lippen auf Mrs. Skewtons Ohr.

»Und du hast ohne Zweifel gehört, mein Herzchen«, sagte Mrs. Skewton, ihre Hand festhaltend, »daß dein Papa, den wir alle eigentlich anbeten, heute über acht Tage mit meiner lieben Edith vermählt werden soll.«

»Ich wußte, daß es sehr bald geschehen würde«, entgegnete Florence, »obschon ich nicht genau die Zeit kannte.«

»Aber meine liebe Edith«, sagte die Mutter heiter, »ist es möglich, daß du es Florence nicht gesagt hast?«

»Warum sollte ich auch?« erwiderte sie so plötzlich und hart, daß Florence kaum glauben konnte, es sei die nämliche Stimme.

Mrs. Skewton erzählte sodann Florence als weitere und sichere Abschweifung, daß ihr Vater zum Diner kommen und ohne Zweifel ungemein überrascht sein werde, sie zu sehen. Er habe gestern abend von Kleidereinkäufen in der City gesprochen und wisse nichts von Ediths Plan, dessen Ausführung ihm, wie sie erwartete, das größte Entzücken bereiten müsse. Florence wurde bei dieser Kunde sehr unruhig, und ihre Bangigkeit steigerte sich beim Herannahen der Dinerstunde so sehr, daß sie, wenn sie nur gewußt hätte, wie sie die Bitte um Erlaubnis zur Rückkehr einleiten sollte, ohne dabei ihren Vater bloßzustellen, lieber zu Fuß, barhäuptig, atemlos und allein nach Hause geeilt wäre, ehe sie sich der Gefahr aussetzte, sein Mißfallen auf sich zu ziehen. Als die Zeit herannahte, vermochte sie kaum mehr zu atmen. Sie wagte es nicht, ans Fenster zu treten, damit er sie nicht von der Straße aus sehe, und getraute sich ebensowenig, die Treppe hinaufzueilen, um ihre Erregung zu verbergen, weil sie ihm, wenn sie zur Tür hinausging, unerwartet begegnen konnte. Abgesehen von dieser Furcht, war es ihr auch, als sei sie außerstande, wieder zurückzukommen, wenn er sie zu sich entbieten ließ. In diesem angstvollen Kampfe saß sie noch neben Kleopatras Ruhebette, sich alle Mühe gebend, die faden Reden dieser Dame zu verstehen und zu beantworten, als sie seinen Fußtritt auf der Treppe vernahm.

»Ich höre ihn jetzt!« rief Florence zusammenfahrend. »Er kommt.«

Kleopatra, die in ihrer Jugendlichkeit stets zu Neckereien aufgelegt war und sich in einer solchen Stimmung nicht an die Gefühle anderer kehrte, schob Florence hinter ihr Ruhebett und ließ einen Schal über sie fallen als Vorbereitung zu einer entzückenden Überraschung für Mr. Dombey. Das war kaum geschehen, als Florence seinen einschüchternden Tritt im Zimmer vernahm.

Er grüßte seine künftige Schwiegermutter und Braut; aber der befremdliche Ton seiner Stimme schauderte dem armen Kinde durch den ganzen Körper.

»Mein teurer Dombey«, sagte Kleopatra, »kommt her und sagt mir, was Eure hübsche Florence macht.«

»Florence geht es recht gut«, versetzte Mr. Dombey, auf das Ruhebett zugehend.

»Ist sie zu Hause?«

»Ja«, antwortete Mr. Dombey.

»Mein teurer Dombey«, entgegnete Kleopatra mit einer bezaubernden Lebhaftigkeit, »seid Ihr auch überzeugt, daß Ihr mich nicht täuscht? Ich weiß nicht, was meine liebe Edith sagen wird, wenn ich Euch eine solche Erklärung gebe; aber auf Ehre, ich fürchte, Ihr seid der falscheste aller Männer, mein teurer Dombey.«

Wenn das eine Wahrheit gewesen und er urplötzlich auf der ungeheuersten Falschheit, die er in Wort oder Tat begangen, ertappt worden wäre, so hätte er nicht betroffener sein können, als in dem Augenblick, in dem Mrs. Skewton den Schal wegzog und Florence sich bleich und zitternd gleich einem Gespenst vor ihm erhob. Er hatte seine Fassung noch nicht wiedergewonnen, als Florence auf ihn zueilte, ihre Hände um seinen Nacken schlang, sein Gesicht küßte und zum Zimmer hinauseilte. Er schaute umher, als ob er diesen Vorgang auf jemand anders beziehen müsse; aber Edith war sogleich Florence nachgegangen.

»Gesteht nur, mein teurer Dombey«, sagte Mrs. Skewton, ihm die Hand reichend, »daß Ihr in Eurem Leben nie freudiger überrascht wurdet.«

»Es ist allerdings eine Überraschung«, versetzte Mr. Dombey.

»Keine freudige, mein teuerster Dombey?« erwiderte Mrs. Skewton, ihren Fächer erhebend.

»Hm – ja, es freut mich sehr, Florence hier zu treffen«, sagte Mr. Dombey. Er schien einen Augenblick ernstlich darüber nachzudenken und fügte dann entschiedener bei: »Ja, in der Tat – es ist mir sehr lieb, daß Florence hier ist.«

»Und Ihr möchtet wohl wissen, wie sie hierher kam?« fragte Mrs. Skewton. »Nicht wahr?«

»Vielleicht Edith –« versetzte Mr. Dombey.

»Ach, wie boshaft in Eurem Raten!« entgegnete Kleopatra, ihren Kopf schüttelnd. »Ach! schlauer, schlauer Mann. Man sollte zwar etwas Derartiges nicht sagen, denn Euer Geschlecht, Mr. Dombey, ist so eitel und mißbraucht so gerne unsere Schwächen; aber Ihr kennt die Offenheit meines Herzens – – schon gut; sogleich.«

Diese letztere Anrede galt einem der sehr langen jungen Männer, der das Diner ankündigte.

»Edith, mein lieber Dombey«, fuhr sie flüsternd fort, »kann Euch nicht immer in ihrer Nähe haben – ich sage ihr stets, daß solches unmöglich ist – und da wünscht sie wenigstens etwas in ihrer Umgebung, was Euch gehört. Nun, das ist auch ganz natürlich. Von einer solchen Gesinnung beseelt, konnte sie heute nichts zurückhalten, anspannen zu lassen und unsern Liebling Florence zu holen. Wie ungemein bezaubernd dies ist!«

Da sie auf eine Antwort wartete, so erwiderte Mr. Dombey:

»Ja, in der Tat sehr.«

»Gott segne Euch, mein teurer Dombey, für diesen Beweis von Herz!« rief Kleopatra, ihm die Hand drückend. »Aber ich werde ernst! Gebt mir Euern Arm – wir wollen hinuntergehen und sehen, was man uns zum Diner vorzusetzen gedenkt. Gottes Segen über Euch, mein teurer Dombey!«

Nach diesem Schlußsegen hüpfte Kleopatra mit leidlicher Schnelligkeit von ihrem Ruhebett herunter, worauf Mr. Dombey ihren Arm in den seinen legte und sie sehr förmlich die Treppe hinunterführte. Als das würdige Paar in das Speisezimmer eintrat, steckte einer der gemieteten sehr langen jungen Männer, dessen Ehrfurchtsorgan nur sehr unvollkommen entwickelt war, die Zunge in den Nacken, um durch diese Gebärde den andern sehr langen jungen Mietsmann zu belustigen.

Florence und Edith saßen bereits dort Seite an Seite. Die erstere wollte, als ihr Vater eintrat, von ihrem Stuhle aufstehen, um ihm diesen abzutreten; aber Edith legte die Hand auf ihren Arm, und Mr. Dombey nahm auf der andern Seite des runden Tisches Platz.

Die Unterhaltung wurde fast ausschließlich von Mrs. Skewton geführt. Florence getraute sich kaum die Augen aufzuschlagen, um nicht die Spuren von Tränen zu verraten, noch weniger wagte sie es zu sprechen, und auch Edith blieb stumm, wenn sie nicht gerade auf eine Frage antworten mußte. In der Tat hatte Kleopatra um der Versorgung willen, die so nahezu erfaßt war, schwere Arbeit, und sie durfte wohl froh sein, wenn der Lohn ihrer Mühe entsprechen sollte.

»Eure Vorbereitungen sind also nahezu beendigt, mein teurer Dombey?« sagte Kleopatra, nachdem der Nachtisch aufgetragen war und der silberlockige Kellermeister sich entfernt hatte. »Auch die des Notars?«

»Ja, Madame«, versetzte Dombey. »Wie mir mitgeteilt wurde, ist der Ehevertrag ausgefertigt, und wie ich Euch bereits bemerkte, erwarte ich von Edith nur die Gunst, die Zeit zum Vollzug desselben festzusetzen.«

Edith saß da wie eine schöne Statue – ebenso kalt und stumm.

»Meine Liebe«, ergriff Kleopatra wieder das Wort, »hast du gehört, was Mr. Dombey sagte? Ach mein teurer Dombey«, bemerkte sie heimlich leise zu diesem Gentleman, »wie mich ihre Zerstreutheit beim Herannahen der Zeit an die Tage erinnert, als jener angenehmste von allen Männern, ihr Papa, in der gleichen Lage war.«

»Ich habe nichts zu erwidern. Es soll geschehen, wenn es Euch beliebt«, sagte Edith, kaum einen Blick über den Tisch hinüber nach Mr. Dombey hinwerfend.

»Morgen?« versetzte Mr. Dombey.

»Wie es Euch paßt.«

»Oder habt Ihr vielleicht über Eure Zeit verfügt und ist es Euch übermorgen lieber?« fragte Mr. Dombey.

»Meine Zeit ist frei. Ich stehe Euch immer zu Gebote. Also ganz nach Eurem Belieben.«

»Deine Zeit frei, meine liebe Edith«, stellte ihr die Mutter vor, »da du doch den ganzen Tag schrecklich viel zu tun und tausend Bestellungen bei Kaufleuten aller Art zu machen hast?«

»Das ist Eure Sache«, erwiderte Edith, mit einem leichten Runzeln der Stirn sich an sie wendend. »Ihr und Mr. Dombey könnt es unter Euch bereinigen.«

»In der Tat ganz richtig, meine Liebe, und sehr rücksichtsvoll von dir«, sagte Kleopatra. »Meine herzige Florence, du mußt mir in der Tat noch einen Kuß geben – willst du so gut sein, meine Liebe?«

Ein sonderbares Zusammentreffen, daß diese Ergüsse von Teilnahme an Florence fast jeden, selbst den unbedeutendsten Zwiespalt beenden mußten, an dem sich Edith ihrer Mutter gegenüber beteiligte. Das arme Mädchen hatte sich nie so vielen Umarmungen unterziehen müssen und war vielleicht, ohne daß sie eine Ahnung davon hatte, in ihrem ganzen Leben nie so nützlich gewesen.

Mr. Dombey war weit entfernt, in seinem Innern das Benehmen seiner schönen Verlobten tadelnswert zu finden. Er hatte ja jenen guten Grund zur Sympathie für Stolz und Kälte, der sich in einem verwandten Gefühl darbietet. Der Gedanke war für ihn schmeichelhaft, daß in Ediths Fall auch diese Empfindungen sich ihm unterwürfig machten und die Dame selbst keinen andern Willen zu haben schien als den seinen. Es tat ihm wohl, sich ausmalen zu können, wie diese stolze stattliche Frau die Honneurs seines Hauses machte und nach seiner eigenen Weise einen erkältenden Eindruck auf die Gäste übte. Die Würde von Dombey und Sohn konnte durch solche Hände nur gewahrt und erhöht werden.

So dachte Mr. Dombey, als er allein bei Tisch zurückblieb und über sein vergangenes und zukünftiges Geschick Betrachtungen anstellte. Er fühlte sich nicht unbehaglich im Anblick des spärlichen düsteren Prunkes, der in dunkelbrauner Farbe mit den die Wände beklecksenden schwarzen Wappenbildern das Zimmer beherrschte. Inmitten der vierundzwanzig schwarzen Stühle, die gleich Särgen mit weißen Nägeln beschlagen waren und wie stumme Leidtragende auf dem Rand des türkischen Teppichs standen, und der beiden erschöpften Neger, die auf dem Seitentisch zwei dürre Arme eines Kandelabers in die Höhe hielten, während der modrige Geruch im Gemach auf die Asche von zehntausend Diners hinzudeuten schien, die in dem darunter liegenden Sarkophag eingeschlossen war.

Der Eigentümer des Hauses lebte viel auswärts, da die Luft Englands selten einem Mitglied der Feenix-Familie auf die Dauer wohl bekam. So hatte sich das Zimmer allmählich tiefer und tiefer in Trauer gekleidet, bis es am Ende so leichenhaft geworden war, daß zur Vervollständigung nur noch der tote Körper fehlte.

Als eine nicht üble Versinnlichung der Leiche, wenn auch nicht in der Haltung, so doch der regungslosen Gestalt nach, schaute Mr. Dombey in die kalten Tiefen eines toten Meers von Mahagoni nieder, auf dem Fruchtkörbe und Flaschen vor Anker lagen, als ob die Gegenstände seiner Gedanken allmählich nach der Oberfläche aufstiegen, um dann wieder unterzutauchen. Edith zeigte sich da in der ganzen Majestät ihrer Stirn und Gestalt. Dicht neben ihr kam Florence, die, wie es vorhin stattgefunden, als sie das Zimmer verließ, ihr schüchternes Haupt einen Augenblick ihm zugekehrt hatte, während Ediths Augen auf ihr hafteten und ihre Hand schützend auf ihr ruhte. Zunächst sprang eine kleine Gestalt auf einem niedrigen Lehnstuhl ins Dasein und schaute mit ihren hellen Augen und ihrem altjungen Gesicht, das wie im Flackern eines Abendfeuers erglänzte, verwundert nach ihm hin. Abermals trat Florence auf diese zu und nahm deren ganze Aufmerksamkeit in Anspruch – ob als ein vom Schicksal ihm in den Weg geworfenes Hemmnis, ob als Nebenbuhlerin, die ihm stets hinderlich gewesen war und es vielleicht wieder werden sollte, ob als sein Kind, an dessen Ansprüche er auch bei seinem erfolgreichen Freien denken mußte und das nicht mehr als Fremde betrachtet werden wollte, oder ob als ein Wink für ihn, daß seine neuen Verwandten den bloßen Anschein der Sorge für sein eigenes Blut wahren wollten – er wußte das selbst am besten. Im günstigsten Falle war er vielleicht gleichgültig dagegen. Die Hochzeitsgesellschaften, Traualtäre und Szenen des Ehrgeizes – da und dort immer von Florence und wieder von Florence beklagt – tauchten so schnell und verwirrt auf, daß er sich von seinem Stuhl erhob und die Treppe hinaufschritt, um solchen Bildern zu entrinnen.

Es war schon spät, als die Lichter gebracht wurden; denn sie machten Mrs. Skewton Kopfweh. Inzwischen hatte Florence sich mit der alten Dame unterhalten (denn Kleopatra sorgte dafür, sie nicht von ihrer Seite zu lassen) oder zu Mrs. Skewtons Vergnügen mit sanfter Hand die Tasten des Pianos berührt, einiger Anlässe im Laufe des Abends nicht zu gedenken, die diese liebevolle Dame – stets nachdem Edith etwas gesagt hatte – bewogen, sich abermals einen Kuß zu erbitten. Das kam jedoch nicht sehr häufig vor, denn Edith saß die ganze Zeit über (ohngeachtet der Besorgnisse ihrer Mutter, daß sie sich erkälten könnte) abseits am offenen Fenster und blieb in dieser Stellung, bis Mr. Dombey sich verabschiedete. Bei dieser Gelegenheit benahm er sich sehr gnädig gegen seine Tochter, und als Florence in dem gleichen Zimmer mit Edith zu Bett ging, fühlte sie sich glücklich und hoffnungsvoll, daß ihr früheres Dasein ihr nun wie das eines andern armen verlassenen Mädchens erschien, das sie um ihres Kummers willen bemitleidete. Im Gefühl dieser Teilnahme schluchzte sie fort, bis sie einschlief.

Die Nacht entschwand schnell. Man fuhr zu den Putzmacherinnen, den Damenschneidern, den Juwelieren, den Rechtsgelehrten, den Blumengärtnern und den Pastetenbäckern – Ausflüge, an denen Florence sich beteiligte. Sie sollte in dem Hochzeitszug mitgehen und deshalb ihre Trauer ablegen, um bei diesem Anlaß eine prächtige Kleidung zu tragen. Die Ansichten der Putzmacherin, einer Französin, die große Ähnlichkeit mit Mrs. Skewton hatte, waren in dieser Beziehung so züchtig und elegant, daß Mrs. Skewton für sich selbst einen ähnlichen Anzug bestellte. Die Französin war der Meinung, er würde ihr zur Bewunderung gereichen, so daß alle Welt sie für die Schwester der jungen Dame ansehen müßte.

Die Woche entschwand schnell. Edith sah nach nichts und kümmerte sich um nichts. Die reichen Kleider kamen ins Haus, wurden anprobiert und von Mrs. Skewton und der Putzmacherin laut gelobt, von der Eigentümerin aber, ohne daß sie ein Wort darüber verlor, beiseite gelegt. Mrs. Skewton machte für jeden Tag ihre Pläne und brachte sie selbst in Ausführung. Hin und wieder fuhr Edith, wenn es Einkäufe zu machen galt, mit und besuchte auch bisweilen, falls es unbedingt nötig war, die Läden; Mrs. Skewton aber leitete alles, was da vorkommen mochte, und ihre Tochter benahm sich dabei so teilnahmlos und gleichgültig, als ob das alles sie gar nichts anginge. Florence mochte sie vielleicht für stolz und unbekümmert halten. Aber gegen sie selbst war sie es nie, und ihre Verwunderung erstickte schnell in den Gefühlen des Dankes.

Die Woche entschwand schnell – fast als hätte sie Flügel. Der letzte Abend der Woche – der Abend vor der Trauung war herangekommen.

Mrs. Skewton, Edith und Mr. Dombey saßen in dem unbeleuchteten Zimmer; denn Kleopatras Migräne war noch immer nicht besser, obschon sie erwartete, daß es morgen gut werden würde.

Edith saß an dem offenen Fenster und schaute in die Straße hinaus, während Mr. Dombey sich mit seiner Schwiegermutter auf dem Sofa unterhielt. Es war spät, und die von den Anstrengungen des Tages ermüdete Florence war zu Bett gegangen.

»Mein lieber Dombey«, sagte Kleopatra, »wenn Ihr mich morgen meiner süßen Edith beraubt, so müßt Ihr Florence bei mir lassen.«

Mr. Dombey versprach das mit Vergnügen.

»Sie während Eures Aufenthalts in Paris um mich zu haben und dabei denken zu dürfen, daß ich in ihrem Alter an der Ausbildung ihres Geistes mitwirken kann, mein lieber Dombey«, fuhr Kleopatra fort, »wird für mich in dem Leid um meinen Verlust ein wahrer Balsam sein.«

Edith wandte den Kopf plötzlich um. Ihr unbekümmertes Wesen hatte sich im Augenblick in die glühendste Teilnahme umgewandelt, und sie lauschte, in der Dunkelheit unbemerkt, sorgfältig auf das Gespräch.

Mr. Dombey war entzückt, Florence unter einer so bewundernswürdigen Obhut lassen zu können.

»Mein teurer Dombey«, entgegnete Kleopatra, »tausend Dank für Eure gute Meinung. Ich fürchtete, Ihr habt im Sinn, mit vorbedachter Bosheit, wie die schrecklichen Anwälte sagen – diese entsetzlichen, langweiligen Menschen! – mich zu einer gänzlichen Einsamkeit zu verdammen.«

»Warum tut Ihr mir so schweres Unrecht, meine liebe Madame?« sagte Mr. Dombey.

»Weil meine herzige Florence mir mit Entschiedenheit erklärt hat, daß sie morgen nach Hause gehen müsse«, erwiderte Kleopatra. »Ich begann darum, mich zu sorgen, mein teuerster Dombey, daß Ihr eigentlich ein Tyrann seiet.«

»Ich versichere Euch, Madame«, – sagte Mr. Dombey, »daß sie von mir aus keinen Befehl erhalten hat. Wenn übrigens dies auch der Fall wäre, so ist Euer Wunsch mir Gebot.«

»Ihr seid ein wahrer Kavalier, mein lieber Dombey«, versetzte Kleopatra, »obschon ich eigentlich nicht so sagen sollte, denn Kavaliere haben kein Herz, und das Eurige blickt in Eurem herrlichen Leben und Charakter überall durch.«

»Aber wollt Ihr wirklich so früh gehen, mein teurer Dombey?«

Ja in der Tat – es war spät, und Mr. Dombey fürchtete, daß er jetzt wirklich aufbrechen müsse.

»Ist es eine Tatsache oder ist das Ganze nur ein Traum!« lispelte Kleopatra. »Kann ich glauben, mein teuerster Dombey, daß Ihr morgen früh zurückkehren werdet, um mich meiner süßen Lebensgefährtin, meiner Edith, zu berauben?«

Mr. Dombey, der gewohnt war, alles buchstäblich zu nehmen, erinnerte Mrs. Skewton daran, daß sie sich morgen in der Kirche wieder treffen würden.

»Der Schmerz, auch an Euch, mein lieber Dombey, ein Kind abtreten zu müssen«, sagte Mrs. Skewton, »ist das Bitterste, was man sich nur denken kann. Rechne ich dazu noch eine von Natur aus zarte Konstitution und die ungeheure Dummheit des Pastetenbäckers, der die Besorgung des Frühstücks übernommen hat, so wird es fast zu viel für meine armen Kräfte. Aber ich will mich morgen aufraffen, mein teurer Dombey; seid um meinetwillen völlig unbesorgt. Der Himmel behüte Euch! Teuerste Edith«, rief sie schalkhaft, »es geht jemand, mein Herz.«

Edith, die den Kopf wieder dem Fenster zugekehrt hatte, da das Gespräch ihr kein weiteres Interesse bot, stand von ihrem Sitze auf, ohne jedoch ihm entgegenzukommen oder auch nur eine Silbe verlauten zu lassen. Mr. Dombey brachte mit stolzer Galanterie, wie seiner Würde und dem Anlaß gemäß war, die knarrenden Stiefel in ihre Nähe, führte ihre Hand an seine Lippen und sagte: »Morgen früh werde ich also das Glück haben, diese Hand als die einer Mrs. Dombey für mich in Anspruch zu nehmen.«

Und er entfernte sich unter feierlichen Verbeugungen.

Sobald die Haustür sich hinter ihm geschlossen hatte, klingelte Mrs. Skewton nach Licht. Mit den Kerzen erschien auch ihre Kammerjungfer, die den jugendlichen Anzug brachte, der morgen die Welt blenden sollte.

Nach der Weise derartiger Kleider schlossen auch diese das Wiedervergeltungsrecht in sich, daß sie die Dame unendlich älter und häßlicher machten, als der alte Flanellunterrock. Doch Mrs. Skewton probierte sie mit betulicher Selbstzufriedenheit an, schmunzelte nach dem leichenhaften Abbild ihres Ichs in den Spiegel hin, als vergegenwärtige sie sich die vernichtende Kraft eines solchen Eindrucks auf den Major, und hieß dann ihre Kammerjungfer all diesen Prunk wieder fortnehmen. Dann mußte der gleiche dienstbare Geist sie zur Ruhe vorbereiten, und die Dame sank in Trümmer zusammen wie ein Kartenhaus.

Mittlerweile blieb Edith in ihrer finsteren Ecke und schaute auf die Straße hinaus. Als sie endlich mit ihrer Mutter allein war, kam sie zum erstenmal diesen Abend hervor und trat ihr gegenüber. Das Gähnen, das Recken und die grämliche Gestalt der Mutter, als sie ihre Augen auf die stolz und aufrecht dastehende Tochter richtete, die einen Glutblick auf sie niederfallen ließ – alles das hatte einen Ausdruck von Schuldbewußtsein an sich, den weder Leichtfertigkeit noch Laune zu verbergen vermochte.

»Ich bin bis in den Tod erschöpft«, sagte sie. »Man kann sich nicht einen Augenblick auf dich verlassen; du bist schlimmer als ein Kind. Was rede ich von Kind! Nicht einmal ein Kind würde so störrisch und ungehorsam sein.«

»Hört mich an, Mutter«, versetzte Edith, ihre Worte mit einer Miene von Verachtung begleitend, die andeutete, daß sie sehr ernsthaft gemeint seien. »Ihr müßt allein bleiben, bis ich zurückkehre.«

»Allein bleiben, bis du zurückkehrst, Edith?« wiederholte die Mutter.

»Oder ich schwöre Euch im Namen dessen, den ich morgen so schnöde und falsch zum Zeugen meines Handelns aufrufen werde, daß ich sogar in der Kirche noch die Hand dieses Mannes zurückweisen will. Ich will tot auf dem Pflaster niedersinken, wenn es nicht geschieht!«

Die Mutter antwortete mit der Miene großer Unruhe, die durch den Blick, den sie äußerlich herauszubringen suchte, in keiner Weise gemildert wurde.

»Es ist genug«, sagte Edith mit Festigkeit, »daß wir sind, was wir sind. Ich will nicht haben, daß Jugend und Treuherzigkeit in meine Tiefe hinabgezogen wird, und ich kann es nicht dulden, daß man ein argloses Wesen verderbe und verkehre, selbst wenn es sich darum handelte, einer Welt von Müttern die Langeweile zu vertreiben. Ihr wißt, was ich meine. Florence muß nach Hause.«

»Du bist eine Törin, Edith«, rief ihre Mutter zornig, »Meinst du, es sei in jenem Hause je Frieden für dich zu finden, bis sie verheiratet und fort ist?«

»Ihr fragt mich? – Fragt lieber Euch selbst, ob ich von diesem Hause überhaupt Frieden erwarte«, sagte die Tochter. »Ihr kennt die Antwort.«

»Und ich soll mir nach all der Mühe, die ich mir gegeben habe, und durch die du im Begriffe stehst, eine unabhängige Stellung zu erlangen, heute nacht sagen lassen«, schrie ihre Mutter in ihrer Leidenschaftlichkeit laut hinaus, während ihr Kopf wie ein Laub zitterte, »daß in mir Befleckung und Ansteckung liege – daß ich keine passende Gesellschaft für ein Mädchen sei? He, was bist denn du – was bist denn du?«

»Ich habe, als ich dort saß, mir diese Frage mehr als einmal vorgelegt«, versetzte Edith mit aschfahlem Gesicht, indem sie nach dem Fenster deutete. »Es ist etwas in dem verblichenen Abbild meines Geschlechts draußen vorbeigegangen, und Gott weiß, ich habe meine Antwort darin gelesen. O Mutter, Mutter, hättet Ihr mir nur mein natürliches Herz gelassen, als auch ich ein Mädchen war – ein Mädchen, noch jünger als Florence – wie ganz anders könnte ich jetzt dastehen!«

In dem Bewußtsein, daß jede Kundgebung von Zorn hier nutzlos war, tat die Mutter sich Zwang an, brach in ein Gewinsel aus und beklagte, daß sie zu lange gelebt habe, weil sogar ihr einziges Kind sich von ihr lossage. Das Pflichtgefühl gegen Eltern sei in diesen schlimmen Tagen vergessen, und nun sie einen so unnatürlichen Hohn hören müsse, kümmere sie sich nicht mehr um ihr Leben.

»Wenn man unaufhörlich solche Szenen durchmachen muß«, wimmerte sie, »dann ist es wahrhaftig besser, wenn ich auf Mittel denke, meinem Dasein ein Ende zu machen. O, der Gedanke, daß du meine Tochter bist, Edith, und mich in solcher Weise morden kannst!«

»Zwischen uns, Mutter«, entgegnete Edith im Ton der Trauer, »ist die Zeit zu wechselseitigen Vorwürfen vorbei.«

»Warum sie also immer wieder aufwärmen?« klagte die Mutter weiter. »Du weißt, daß du mich in der grausamsten Weise verwundest. Du weißt, wie tief ich dein unkindliches Benehmen empfinde. Und noch dazu in einem solchen Augenblick, in dem ich so viel zu denken habe und natürlich besorgt sein muß, mich im vorteilhaftesten Licht zu zeigen! Ich kann mich nicht genug wundern über dich, Edith. Willst du, daß deine Mutter an dem Tag deiner Vermählung wie eine Vogelscheuche erscheine?«

Edith heftete, während die Mutter schluchzte und ihre Augen rieb, den früheren durchbohrenden Blick auf sie und sagte mit derselben gedämpften, festen Stimme, mit der sie bisher gesprochen hatte:

»Ich habe Florence erklärt, daß sie nach Hause gehen müsse.«

»Na denn schön!« rief die gequälte und erschreckte Mutter hastig. »Ich habe wahrhaftig nichts dagegen. Was kümmert mich auch das Mädchen?«

»Mir liegt sie am Herzen, und ehe ich zugebe, daß ihr auch nur ein Gran von dem Schlimmen mitgeteilt werde, das in meinem Innern zehrt, Mutter, sage ich mich lieber von Euch los, wie ich auch morgen in der Kirche ihn zurückweisen werde, falls Ihr mir Anlaß dazu gebt«, erwiderte Edith. »Befaßt Euch nicht mit dem Mädchen. Sie soll, so lange ich es hindern kann, nicht durch die Lehren befleckt und verderbt werden, die man mir beibrachte. Das ist in einer so bittern Nacht keine schwere Bedingung.«

»Wenn du sie in kindlicher Weise gestellt hättest, Edith«, wimmerte ihre Mutter, »so wäre es vielleicht nicht der Fall, und ich hätte nichts dagegen. Aber so schneidende Worte –«

»Es ist jetzt zwischen uns vorbei und abgetan«, sagte Edith. »Geht Euren eigenen Weg, Mutter; teilt Euch in das Errungene nach Belieben; verbraucht es; erfreut Euch dessen, macht es Euch zunutze und seid so glücklich, wie Ihr es könnt. Unser Lebenszweck ist erreicht, und wir wollen fortan weitergehen. Von Stunde an sind meine Lippen über die Vergangenheit geschlossen. Ich vergebe Euch Euren Anteil an der morgigen Schändlichkeit – möge mir Gott den meinigen verzeihen!«

Ohne ein Beben in ihrer Stimme, ruhig und festen Schrittes, als wolle sie jede sanftere Erregung niedertreten, sagte sie zu ihrer Mutter gute Nacht und begab sich nach ihrem Zimmer.

Aber nicht zur Ruhe. Es gab in der Einsamkeit keine Ruhe für den Sturm ihrer Empfindungen. Hundert- und hundertmal ging sie zwischen den prächtigen Vorbereitungen zu ihrer morgigen Ausschmückung auf und nieder. Ihre dunkeln Haare waren aufgelöst, ihre schwarzen Augen blitzten von einem wilden Lichte, und ihr schneeiger Busen rötete sich unter der ergrimmten Faust, mit der sie ihn schonungslos schlug, während sie abgewandten Hauptes hin und her ging, als wolle sie den Anblick ihrer eigenen schönen Gestalt vermeiden und sich von ihr losreißen. So kämpfte in der stillen Nacht vor dem Brautgang Edith Granger mit ihrem unruhigen Geist – trocknen Auges, freundlos, stumm, stolz und ohne Klage.

Endlich berührte sie zufällig die offene Tür, die nach dem Zimmer führte, wo Florence lag. Sie fuhr zusammen, blieb stehen und schaute hinein.

Es brannte ein Licht dort. Florence lag da in der Blüte ihrer Unschuld und Schönheit in tiefem Schlaf. Edith hielt den Atem an sich und fühlte sich zu ihr hingezogen.

Näher, näher und näher – endlich so nahe, daß sie, sich niederbeugend, ihre Lippen auf die weiche Hand drückte, die auf der Bettdecke lag, und sie sanft an ihre Brust zog. Diese Berührung übte eine Wirkung, wie der Stab Mosis auf den Felsen. Ihre Tränen quollen darunter hervor, während sie auf die Knie niedersank und den schmerzenden Kopf und das wallende Haar auf das Kissen daneben niederdrückte.

So verbrachte Edith Granger die Nacht vor ihrer Trauung. So fand sie die Sonne an ihrem Hochzeitsmorgen.

 


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