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Mr. Dombey macht eine Reise.
»Mr. Dombey, Sir«, sagte Major Bagstock, »Joey B. ist im allgemeinen kein Mann von Empfindsamkeit, denn Joseph ist zäh. Aber Joe hat seine Gefühle, Sir, und wenn sie einmal geweckt sind – Gott verdamme mich, Mr. Dombey!« rief der Major mit plötzlicher Wildheit, »dies ist eine Schwäche, und ich will ihr nicht nachgeben!«
Major Bagstok entledigte sich dieser Ausdrücke, während er Mr. Dombey an dem oberen Geländer seiner Treppe auf dem Prinzessinnenplatz als Gast empfing, Mr. Dombey wollte nämlich, ehe sie ihren Ausflug antraten, mit dem Major frühstücken, und über den unglücklichen Eingebornen war bereits wegen der Semmeln eine Welt von Elend ergangen, während ihm die allgemeine Frage der gesottenen Eier das Leben ganz und gar zur Last machte.
»Es paßt nicht für einen alten Soldaten von der Zucht der Bagstocks«, bemerkte der Major, in seine milde Stimmung zurückversinkend, »sich seinen eigenen Erregungen hinzugeben; aber – Gott verdamme mich, Sir«, rief der Major in einem abermaligen Wildheitskampfe, »ich leide mit Euch.«
Das Purpurgesicht des Majors wurde dunkler, und seine Hummeraugen traten noch stärker hervor, während er Mr. Dombey die Hand drückte und dieser friedlichen Gebärde einen so bedrohlichen Charakter mitteilte, als sei sie nur das Vorspiel eines plötzlichen Boxkampfes mit Mr. Dombey, in dem es sich um einen Einsatz von tausend Pfund und um den Ruhm des besten Ringers von ganz England handle. Mit einer rollenden Bewegung des Kopfes und einem Schnauben, ähnlich dem Husten eines Pferdes, führte sodann der Major seinen Gast nach dem Wohnzimmer, wo er ihn, nachdem seine Gefühle sich beruhigt hatten, mit der freien Offenheit eines Reisegefährten bewillkommte.
»Dombey«, sagte der Major, »es freut mich. Euch zu sehen. Ich bin stolz darauf. Euch zu sehen. Es gibt nicht viele Männer in Europa, denen J. Bagstock dies sagen würde – denn Josh ist derb, Sir; es liegt in seiner Natur – aber Joey B. ist stolz darauf, Euch zu sehen, Dombey.«
»Major«, entgegnete Mr. Dombey, »Ihr seid sehr verbindlich.«
»Nein, Sir«, erwiderte der Major. »Der Teufel auch – das liegt nicht in meinem Charakter. Wäre dies Joes Charakter, so könnte jetzt Joey Generalleutnant, Sir Joseph Bagstock Ritter des Halbmond- und des Bath-Ordens sein, und wäre in der Lage, Euch in einem ganz andern Quartier zu empfangen. Ich merke, Ihr kennt den alten Joe noch nicht, aber dieser Anlaß ist ganz besonders eine Quelle des Stolzes für mich. Bei Gott, Sir«, fügte der Major entschlossen bei, »ich rechne sie mir zur Ehre!«
In der Schätzung seines Ichs und seines Geldes fühlte Mr. Dombey, daß dies vollkommen wahr sein müsse, und wollte deshalb nicht dagegen streiten, aber die instinktartige Anerkennung einer solchen Wahrheit durch den Major und dessen unverhohlenes Zugeständnis übte eine recht angenehme Wirkung. Fand doch, falls es nötig gewesen wäre, Mr. Dombey eine Bekräftigung darin, daß er sich in dem Major nicht getäuscht hatte. Es war für ihn eine Versicherung, daß sich seine Gewalt über die ihn unmittelbar umgebende Sphäre erstreckte und daß der Major als Gentleman und Offizier dies ebenso fühlte, wie der Aufwärter der königlichen Börse.
Und wenn es je für ihn tröstlich war, dies oder etwas dergleichen zu wissen, so mußte es nunmehr der Fall sein, da ihm die Ohnmacht seines Willens, das Trügerische seiner Hoffnungen und die Schwäche seines Reichtums so bitter nahegelegt worden. Was kann Geld tun? hatte ihn sein Knabe gefragt, und wenn er bisweilen an dieses kindische Gerede dachte, konnte er sich kaum enthalten, an sich selbst die Frage zu stellen – was konnte es tun – was hat es getan?
Doch dies waren nur einzelne Gedanken, spät des Nachts erzeugt in dem trostlosen Düster seiner Einsamkeit, und der Stolz ermannte sich bald wieder in vielen Zeugnissen der Wahrheit, die ebenso unanfechtbar und wertvoll waren, wie das des Majors. In seiner Freundlosigkeit sah sich Mr. Dombey zu dem letzteren hingezogen, und er taute ein wenig gegen denselben auf, obschon man nicht sagen konnte, daß er eigentlich warm wurde. Der Major hatte sich einigermaßen – allerdings nicht zuviel – bei den Küstengefechten beteiligt, war Mann von Welt und kannte einige vornehme Personen. Er sprach viel, wußte Geschichten zu erzählen, und Mr. Dombey war geneigt, ihn als einen auserlesenen Geist zu betrachten, der in der Gesellschaft glänzte und nicht jene giftige Beigabe, Armut, mit der auserlesene Geister in der Regel allzusehr behelligt sind, besaß. Seine Stellung war unanfechtbar, der Mann selbst ein achtbarer, an ein müßiges Leben gewöhnter Gefährte, folglich auch bekannt mit den Plätzen, die sie zu besuchen gedachten, und außerdem im Besitz einer gewissen gentlemanischen Leichtigkeit, hinreichend gemischt mit seinem Londoner Ruf, ohne übrigens mit demselben in die Schranken zu treten. Vielleicht mochte in Mr. Dombey die Idee schlummern, der Major könne als ein Mann, der vermöge seines Standes daran gewöhnt war, sich über die erbarmungslose Hand wegzusetzen, die kürzlich seine Hoffnungen geknickt hatte – unwillkürlich ihm einige nützliche Philosophie beibringen und seinen schwachen Ingrimm über das Geschick bannen; wenn dies übrigens auch der Fall war, so verbarg er es vor sich selbst und ließ es ununtersucht in dem Abgrund seines Stolzes liegen.
»Wo ist mein Schurke!« rief der Major, sich zornig im Zimmer umsehend.
Der Eingeborene, der gerade keinen besonderen Namen führte, aber auf jedes Schimpfwort hörte, zeigte sich sogleich unter der Tür und wagte es, näherzukommen.
»Du Halunke!« rief der cholerische Major – »wo ist das Frühstück?«
Der schwarze Diener verschwand, um das Geforderte zu holen, und man hörte ihn bald in einem so bebenden Zustande die Treppe wieder heraufsteigen, daß während des ganzen Wegs die Teller und Schüsseln auf dem Teebrett zitterten und rasselten.
»Dombey«, sagte der Major, mit einem Blicke nach dem Eingeborenen, der den Tisch ordnete, und ihn mit einem ehrfurchtgebietenden Schütteln seiner Faust ermunternd, als der Unglückliche einen Löffel falsch legte. »Hier ist ein gepfefferter Rostbraten, eine würzige Pastete, eine Schüssel mit Nieren und so fort. Bitte, nehmt Platz. Ihr seht, der alte Joe kann Euch nur Lagerkost bieten.«
»Ein vortreffliches Mahl, Major«, versetzte der Gast, und zwar nicht aus bloßer Höflichkeit, denn der Major trug möglichst Sorge für sich selber und liebte in der Tat eine kräftige Kost mehr, als für ihn gut war, sofern seine kaiserliche Gesichtsfarbe hauptsächlich von diesem Umstände herrührte.
»Ihr habt über die Straße hinübergeschaut, Sir«, bemerkte der Major. »Ist unsere Freundin sichtbar?«
»Ihr meint Miß Tox«, versetzte Mr. Dombey. »Nein.«
»Ein prächtiges Frauenzimmer, Sir«, sagte der Major mit einem fetten Gelächter in seiner kurzen Kehle, das ihn beinahe erstickte.
»Ich glaube. Miß Tox ist eine recht wackere Person«, entgegnete Mr. Dombey.
Die stolze Kälte dieser Antwort schien den Major Bagstock ungemein zu ergötzen. Er blähte sich mehr und mehr auf und legte sogar für einen Augenblick sein Besteck nieder, um sich die Hände zu reiben.
»Der alte Joe, Sir«, sagte der Major, »war vor Zeiten in dieser Richtung einigermaßen begünstigt. Aber Joe hat seinen Tag gehabt. J. Bagstock ist ausgetilgt – ausgestochen – ganz und gar geworfen, Sir. Ich will Euch was sagen, Dombey.« Der Major hielt im Essen inne und machte eine Miene geheimnisvoller Entrüstung. »Sie ist ein verteufelt ehrgeiziges Frauenzimmer, Sir.«
»Wirklich?« entgegnete Mr. Dombey mit kalter Gleichgültigkeit, in die sich vielleicht auch ein verächtlicher Zweifel mengte, ob Miß Tox die Anmaßung haben könne, eine so auszeichnende Eigenschaft zu bergen.
»Das Frauenzimmer«, sagte der Major, »ist in ihrer Art ein wahrer Luzifer. Joe B. hat seinen Tag gehabt, Sir, ist aber nicht blind. Ja, Joe sieht scharf. Seine königliche Hoheit der verstorbene Herzog von York machte bei einem Lever die Bemerkung, daß Joe haarscharf sehe.«
Der Major begleitete diese Worte mit einem Blick und sah zwischen dem Essen, Trinken, dem heißen Tee, dem gepfefferten Rostbraten, den Semmeln und seinem Dünkel so geschwollen und rot aus, daß sogar Mr. Dombey um seinetwillen ängstlich wurde.
»Das lächerliche alte Weibsbild, Sir«, fuhr der Major fort, »strebt hoch – strebt himmelhoch, Sir. Ehestandsgedanken, Dombey.«
»Es täte mir leid um sie«, sagte Mr. Dombey.
»Sprecht nicht so, Dombey«, erwiderte der Major mit einer warnenden Stimme.
»Warum sollte ich nicht?« fragte Mr. Dombey.
Der Major antwortete nur mit dem Pferdehusten und fuhr fort, aus Leibeskräften zu essen.
»Sie hat seit einiger Zeit Interesse an Eurem Hauswesen gewonnen«, sagte der Major, wieder innehaltend, »und ist oft bei Euch auf Besuch gewesen.«
»Ja«, versetzte Mr. Dombey mit sehr vornehmer Miene. »Um die Zeit, als Mrs. Dombey starb, fand sie als eine Freundin meiner Schwester Zutritt. Da sie sich dabei anständig benahm und eine große Vorliebe für das arme Kind zeigte, so wurde eine Wiederholung ihrer Besuche mit meiner Schwester geduldet – ich kann wohl sagen, ermutigt, und so fügte sich's allmählich, daß sie zu der Familie auf den Fuß der Vertraulichkeit zu stehen kam. »Ich habe« – fügte Mr. Dombey im Tone eines Mannes bei, der ein wichtiges, anerkennenswertes Zugeständnis macht – »ich habe Achtung vor Miß Tox. Sie war so gefällig, meinem Hause viele kleine Dienste zu erweisen – kleine und unbedeutende Dienste vielleicht, Major, aber deshalb doch nicht zu verachten, und ich hoffe, daß ich das Glück hatte, sie durch so viel Aufmerksamkeit und Berücksichtigung, wie überhaupt in meiner Macht stand, anzuerkennen. Namentlich bin ich Miß Tox verpflichtet, Major«, fügte Mr. Dombey mit einer leichten Handbewegung hinzu, »für das Vergnügen Eurer Bekanntschaft.«
»Dombey«, sagte der Major mit Wärme. »Nein. Nein, Sir! Joseph Bagstock kann nicht zugeben, daß diese Behauptung ohne Widerspruch bleibe. Daß Ihr den alten Joe – so wie er ist – kennt, Sir, und daß der alte Joe Euch kennenlernte, Sir, hat seinen Ursprung in einem edlen Geschöpf, Sir – in einem großen Geschöpf, Sir. Dombey!« fügte er mit einem Kampfe bei, den er unschwer zur Schau stellen konnte, da sein ganzes Leben in einem beharrlichen Ringen mit apoplektischen Symptomen aller Art bestand, »wir kennen einander durch Euren Knaben.«
Mr. Dombey schien bei dieser Anspielung gerührt zu sein, was aller Wahrscheinlichkeit nach der Major auch beabsichtigt hatte. Er blickte nieder und seufzte; der Major aber raffte sich wild wieder auf und sagte in Beziehung auf die Gemütsstimmung, von der er sich seiner Aufgabe nach bedroht fühlte, dies sei eine Schwäche, und nichts solle ihn veranlassen, sich ihr zu unterwerfen.
»Unsere Freundin steht allerdings in einem entfernten Zusammenhang mit diesem Ereignis«, sagte der Major, »und J. B. ist bereitwillig, ihr denjenigen Anteil zuzugestehen, der ihr gebührt, Sir. Gleichwohl, Ma'am«, fügte er bei, indem er vom Teller auf- und über den Prinzessinnenplatz hinüberschaute, wo Miß Tox in diesem Augenblick am Fenster mit dem Begießen ihrer Blumen beschäftigt war, »seid Ihr eine ränkespinnende Dirne, Ma'am, und Euer Ehrgeiz ist ein Stücklein unerhörter Unverschämtheit. Wenn Ihr Euch nur selbst lächerlich machtet, Ma'am«, fuhr der Major fort, indem er den Kopf gegen die nichtsahnende Miß Tox hinwiegte und seine Augen das Aussehen gewannen, als wollten sie nach ihr hinüberspringen, »so könntet Ihr es tun nach Eures Herzens Gelüsten, Ma'am, und ich kann Euch versichern, daß Bagstock nicht die mindeste Einsprache erheben würde.« Der Major lachte jetzt fürchterlich, so daß seine Ohrenspitzen und die Adern seines Kopfes sich dabei beteiligten. »Aber wenn Ihr andere Leute dabei bloßstellt, Ma'am«, sagte der Major, »und noch dazu edle, nichtsahnende Leute, denen Ihr die Euch erwiesene Herablassung also vergeltet, dann regt sich das Blut des alten Joe in seinem ganzen Körper.«
»Major«, versetzte Mr. Dombey errötend, »ich will nicht hoffen, daß Ihr Miß Tox eine solche Abgeschmacktheit zutraut, als könnte sie –«
»Dombey«, erwiderte der Major, »ich sage nichts. Aber Joey B. hat in der Welt gelebt, Sir – in der Welt gelebt mit offenen Augen und gespitzten Ohren, Sir; und deshalb gibt Euch Joe die Versicherung, daß die dort drüben ein verteufelt schlaues und ehrgeiziges Weibsstück ist.«
Mr. Dombey warf unwillkürlich einen Blick – und zwar einen zornigen Blick über die Straße hinüber.
»Dies ist alles, was in betreff eines solchen Gegenstandes über Joseph Bagstocks Lippen gehen wird«, sagte der Major mit Festigkeit. »Joe ist kein Ohrbläser; aber es gibt Zeiten, wo er sprechen muß – wo er sprechen will. Zum Henker mit Euren Kunstgriffen, Ma'am«, rief der Major, abermals in großem Zorn seine schöne Nachbarin anredend – »denn Ihr reizt einen zu sehr, als daß man stillschweigen könnte.«
Die Aufregung dieses Losbruchs versetzte den Major in einen Roßhusten-Paroxysmus, welcher geraume Zeit anhielt. Nachdem er sich wieder erholt hatte, fügte er hinzu:
»Und nun, Dombey, da Ihr Joe – den alten Joe, welcher kein anderes Verdienst besitzt, Sir, als daß er zäh ist und ein ehrlicher Kerl – eingeladen habt, bei dem Ausflug nach Leamington Euer Gast und Führer zu sein, so gebietet über ihn ganz nach Eurem Belieben. Er ist vollkommen der Eurige. Ich weiß nicht, Sir«, fuhr der Major fort, indem er sein Doppelkinn in scherzhafter Weise wackeln ließ, »was die Leute auch an Joe sehen, daß er überall in solcher Nachfrage steht. Soviel aber ist gewiß, Sir – wäre er nicht ziemlich zäh und hartnäckig in seiner Weigerung, so wäre er in der halben Zeit vor lauter Einladungen und so fort unter dem Boden.«
Mr. Dombey erkannte in wenigen Worten dankbar den Vorzug an, den ihm Major Bagstock vor so vielen andern ausgezeichneten Mitgliedern der Gesellschaft zuteil werden ließ; der Major aber unterbrach ihn schnell, indem er ihm zu verstehen gab, er folge hierin nur seinen eigenen Neigungen, die in Masse zusammengetreten wären und ihm einstimmig zugerufen hätten:
»J. B., Dombey ist der Mann, den du zum Freund wählen mußt.«
Der Major befand sich nun in einem Zustande von Entleerung, indem die wesentlichen Bestandteile der würzigen Pastete aus den Ecken seiner Augen troffen und der gepfefferte Rostbraten samt den Nieren seine Halsbinde steifte. Da außerdem die Abgangszeit des Eisenbahnzugs nach Birmingham herannahte, mit welchem sie die Stadt verlassen wollten, so half der Eingeborene nicht ohne große Mühe seinem Gebieter in den Überrock und knöpfte ihn ein, bis sein Gesicht glotzend und keuchend dieses Kleidungsstück überragte und der ganze Mann aussah, als ob er in einem Fasse stecke. Dann reichte ihm der Eingeborene in anständigen Pausen zwischen jedem Artikel die waschledernen Handschuhe, den dicken Stock und den Hut, welch' letzteren der Major leichtfertig auf die eine Seite des Kopfes drückte, um sein merkwürdiges Gesicht ein wenig herabzustimmen, Schon zuvor hatte der Eingeborene alles mögliche und unmögliche in Mr. Dombeys Wagen eingepackt, der mit einer ungewöhnlichen Menge von Felleisen und kleinen Mantelsäcken, alle ebenso apoplektisch aussehend wie der Major selbst, beladen war. Nachdem der Schwarze noch die eigenen Taschen mit Selterser-Wasser, ostindischem Sherry, Röstschnitten, Halstüchern, Teleskopen, Landkarten, Zeitungen und anderem leichten Gepäck, das sein Gebieter möglicherweise schnell auf der Reise brauchen könnte, gefüllt hatte, brachte er die Meldung, daß alles bereit sei. Um die Ausstattung des unglücklichen Fremden, der dem allgemeinen Glauben gemäß in seinem eigenen Lande ein Prinz gewesen, zu vervollständigen, warf ihm, als er auf dem Bedientensitze neben Mr. Towlinson Platz nahm, der Hauseigentümer noch eine Anzahl Mäntel und Überröcke zu, von der Straße aus diese schweren Geschosse gleich einem Titan schleudernd und den armen Neger damit ganz zudeckend, so daß er die Fahrt nach der Eisenbahnstation wie ein lebendig Begrabener antreten mußte.
Aber ehe der Wagen abfuhr und während noch an dem Eingebornen die Beerdigungszeremonien vorgenommen wurden, zeigte sich Miß Tox an ihrem Fenster und schwenkte ein lilienweißes Taschentuch. Mr. Dombey nahm diesen Abschiedsgruß sehr kalt – auch für ihn sehr kalt – auf und beehrte sie mit der möglichst leichten Kopfverneigung, worauf er sich mit sehr unzufriedenem Gesicht in den Wagen zurücklehnte. Dieses Benehmen schien dem Major, der sich gegen Miß Tox mit der größten Höflichkeit benahm, unendliche Freude zu machen, und er saß noch geraume Zeit nachher schielend und keuchend da, wie ein gemästeter Mephistopheles.
Während der lärmenden Vorbereitungen für die Abfahrt des Zuges gingen Mr. Dombey und der Major Seite an Seite auf der Plattform hin und her. Der erstere war sehr schweigsam und düster, der letztere aber unterhielt seinen Gefährten oder vielmehr sich selbst mit allerlei Anekdoten und Reminiszenzen, in denen Joe Bagstock meistens die Hauptfigur spielte. Keiner von beiden bemerkte, daß sie während ihres Spaziergangs die Aufmerksamkeit eines Arbeiters fesselten, der neben der Maschine stand und, so oft sie vorübergingen, an den Hut langte; denn Mr. Dombey pflegte stets über den gemeinen Haufen weg- und nicht nach ihm hinzusehen, während der Major im Augenblick nur Sinn für seine Erzählungen hatte. Endlich, als sie eben wieder umwandten, trat der Mann vor, zog seinen Hut ab, den er in der Hand behielt, und verneigte sich vor Mr. Dombey.
»Bitt' um Verzeihung, Sir«, sagte der Mann; »aber ich hoffe, Ihr seid gesund und wohl, Sir.«
Er war in einen Leinwandanzug gekleidet, der reichliche Schmierflecken von Kohlenstaub und Teer zeigte, hatte Asche in seinem Bart und roch schon von Ferne nach halbverschlackten Kohlen. Der Mann sah zwar schmutzig, aber dabei doch nicht übel aus und war mit einem Worte Mr. Toodle in der Tracht seines Berufs.
»Ich werde die Ehre haben, Euch hinunterzuheizen, Sir«, sagte Mr. Toodle. »Bitt' um Verzeihung, Sir, ich hoffe, es ergeht Euch gut?«
Zum Dank für diese teilnehmende Frage sah Mr. Dombey den Mann an, als könnte ihm derselbe schon durch seinen Anblick Schmutz in die Augen streuen.
»Nichts für ungut, Sir«, sagte Toodle, als er bemerkte, daß man sich seiner nicht recht erinnerte, »aber mein Weib Polly, die man in Eurer Familie Richards nannte –«
In Mr. Dombeys Gesicht ging ein Wechsel vor, der eine auftauchende Erinnerung anzudeuten schien. Mr. Dombey erkannte zwar den Arbeiter jetzt, drückte dies aber ärgerlich in sehr demütigender Weise aus, so daß Mr. Toodle nicht wenig betroffen wurde.
»Vermutlich braucht Euer Weib Geld?« sagte Mr. Dombey in seinem gewöhnlichen stolzen Tone, während er die Hand in seine Tasche steckte.
»Nein, ich danke, Sir«, entgegnete Toodle, »kann es nicht sagen. Ich wenigsten« brauche keines.«
Die Reihe des Betroffenwerdens kam jetzt an Mr. Dombey, der linkisch mit der Hand in der Tasche dastand.
»Nein, Sir«, sagte Toodle, wieder und wieder seine Teermütze drehend. »Es geht uns ziemlich gut, Sir, und was das Weltliche betrifft, so haben wir keine Ursache, uns zu beklagen, Sir. Wir haben seitdem vier weiter gehabt, Sir, aber wir schlagen uns durch.«
Mr. Dombey hätte sich gern nach seinem eigenen Wagen durchgeschlagen, und wenn er dabei hätte den Heizer unter die Räder drängen müssen; aber seine Aufmerksamkeit wurde jetzt durch etwas an der Mütze gefesselt, die noch immer in der Hand des Mannes ihre Kreisbewegungen machte, »Wir haben ein Büblein verloren«, bemerkte Toodle. »Ich kann's nicht leugnen.«
»Erst kürzlich?« fragte Mr. Dombey, nach der Mütze hinsehend.
»Nein, Sir, es sind schon bald drei Jahre; aber alles übrige ist frisch und wohl. Und was das Lesen betrifft, Sir«, sagte Toodle, indem er sich abermals duckte, als wolle er Mr. Dombey an das erinnern, was in betreff des bewußten Gegenstandes vor langer Zeit zwischen ihnen vorgegangen war, »so habe ich's zuletzt doch noch von meinen Buben gelernt. Die Jungen haben etwas aus mir gemacht, Sir.«
»Kommt, Major!« sagte Mr. Dombey.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, fuhr Toodle fort, indem er einen Schritt vortrat und die Mütze noch immer in der Hand ehrerbietig zurückhielt, »ich würde Euch nicht mit einer solchen Sache behelligt haben, wär's nicht wegen meines Sohnes Sieder – sein Taufname ist Robin – derselbe, den Ihr zu einem barmherzigen Schleifer zu machen so gut wart.«
»Nun, Mann«, sagte Mr. Dombey in seiner strengsten Weise. »Was ist mit ihm?«
»Ei, Sir«, entgegnete Toodle, indem er mit sehr betrübtem Gesichte den Kopf schüttelte, »ich muß sagen, daß er auf Abwege geraten ist.«
»So, wirklich?« sagte Mr. Dombey mit einer Art bitterer Selbstbefriedigung.
»Ja seht, Genelmen, er ist in schlimme Gesellschaft gekommen«, fuhr der Vater fort, beide ernst ansehend und, augenscheinlich in der Hoffnung, die Teilnahme des Majors zu gewinnen, letzteren auch mit ins Gespräch ziehend. »So geriet er auf Abwege. Gott gebe, daß er wieder umkehre, Genelmen; aber jetzt ist er auf einem ganz falschen Pfad. Ihr könntet vielleicht auch davon hören, Sir«, fügte Toodle hinzu, »und so ist's besser, daß ich's ohne Rückhalt heraussage, wie mein Junge nicht am besten geraten ist. Polly ist schrecklich darüber in Sorgen, Genelmen«, sagte Toodle mit demselben niedergeschlagenen Gesicht und einer abermaligen Berufung an den Major.
»Ein Sohn dieses Mannes, den ich erziehen ließ, Major«, sagte Mr. Dombey, seinem Gefährten den Arm gebend. »Der gewöhnliche Dank!«
»Laßt Euch von dem einfachen alten Joe den Rat geben, an die Erziehung derartigen Volkes nie zu rühren«, entgegnete der Major. »Soll mich Gott holen, Sir, es geht nicht! Jedesmal nimmt es ein schlechtes Ende.«
Der einfache Vater war eben im Begriff, seine Ansicht auszudrücken, der ehemalige Schleifer – gepufft und geknufft, gepeitscht, mit einem Schild versehen und nach Papageienart von einem Unmenschen unterrichtet, der für das Amt eines Schulmeisters ebensowenig paßte wie ein Hund – könne vielleicht in irgendeiner unentdeckten Beziehung nicht ganz nach einem rechten Plan geschult worden sein; aber Mr. Dombey wiederholte unmutig die Worte »der gewöhnliche Dank!« und ging mit dem Major weiter. Es hielt etwas schwer, den Major in Mr. Dombeys Wagen zu heben, und während er mitten in der Luft schwebte, schwur und fluchte er, sooft sein Fuß den Tritt verfehlte, er wolle dem Eingeborenen lebendig die Haut abziehen, ihm jedes Glied seines Leibes zerschlagen und ihn mit allen andern erdenklichen körperlichen Qualen heimsuchen. Dabei gewann er vor der Abfahrt kaum noch Zeit, heiser zu wiederholen, es gehe einmal nicht, habe stets ein schlimmes Ende genommen, und wenn er ›seinem eigenen Halunken‹ eine Erziehung beibringen wollte, so würde derselbe sicherlich an den Galgen kommen.
Mr. Dombey stimmte ihm in der Bitterkeit seines Herzens bei. Aber es lag etwas mehr in dieser Bitterkeit und in der verstimmten Weise, in der er im Wagen zurücksank, als das Fehlschlagen des edlen Erziehungssystems, wie es von der Gesellschaft der barmherzigen Schleifer gehandhabt wurde. Mit gerunzelter Stirn blickte er hinaus auf die stets wechselnden Gegenstände. Er hatte an der schlechten Mütze des Mannes ein Stück neuen Flors bemerkt und aus dessen ganzem Benehmen die Überzeugung gewonnen, er trage ihn um seinen – Mr. Dombeys – Sohn.
Also von oben herab bis unten – zu Haus oder auswärts – von Florencen in seinem großen Hause bis zu dem geringsten Knecht, der das vor ihnen dampfende Feuer schürte – alles erhob einen oder den andern Anspruch an seinen toten Sohn und trat ihm als Bieter gegenüber! Konnte er es je vergessen, wie jenes Weib über seinem Bettchen geweint und ihn ihr Kind genannt – wie Paul, aus seinem Schlaf erwachend, nach ihr verlangt, sich bei ihrem Eintritt aufgerichtet und sie mit leuchtenden Augen bewillkommt hatte!
Denken zu müssen, daß dieser anmaßende Heizer mit seinem Trauerzeichen vor ihnen herging – daß er es wagte, sogar durch eine so gewöhnliche Kundgebung sich zu beteiligen an dem Schmerz und den getäuschten Erwartungen, die an dem innersten Herzen eines stolzen Gentlemans zehrten – daß sein verlornes Kind, der vermeintliche künftige Genosse seiner Reichtümer, seiner Entwürfe und seiner Macht, in dessen Verbindung er die ganze Welt wie mit einer doppelten Tür von Gold ausgeschlossen haben würde, einem solchen Haufen Zutritt gestattete, um ihn zu kränken mit ihrer Kunde von seinen vernichteten Aussichten und mit ihrer Dreistigkeit, eine Gemeinschaft des Gefühls mit ihm, der so hoch über ihnen stand, anzusprechen! Ja, vielleicht hatten sie sich sogar eingeschlichen in den Platz, in dem er allein Herr sein wollte.
Die Reise bereitete ihm weder Vergnügen noch Erholung. Da er sich solchen quälenden Gedanken hingab, so brachte er Eintönigkeit in die lebensvolle Landschaft, und die reiche abwechselnde Gegend, in der er pfeilschnell dahinschoß, war für ihn nichts als eine Wildnis voll vereitelter Pläne und fressender Eifersucht. Sogar die Geschwindigkeit, mit der der Zug fortbrauste, erschien ihm wie ein Hohn über den schnellen Lauf des jungen Lebens, das mit so unerbittlicher Beharrlichkeit dem ihm bestimmten Ende zugeführt worden war. Die Gewalt, die sich selbst auf ihrem eigenen ehernen Wege vorwärts drängte, allen Pfaden und Straßen Trotz bietend, sich durch das Herz eines jeden Hindernisses bohrend und lebende Wesen von allen Klassen und Altersabstufungen hinter sich drein schleppend – war ein Bild des triumphierenden Ungeheuers Tod.
Dahin, pfeifend, brausend und rasselnd von der großen Stadt, sich eingrabend unter den Wohnungen der Menschen und die Straßen erdröhnen lassend, für einen Augenblick hinausguckend ins Gefild und wühlend durch die feuchte Erde in Nacht und dichter Luft, wieder hervorbrechend in den so klaren, sonnigen Tag – dahin mit Pfeifen, Brausen und Rasseln durch die Felder und Wälder, durch Getreide und Heu, durch Kalk, Geschiebe, Ton und Fels, an Gegenständen vorbei, so nahe der Hand, daß der Reisende sie fast fassen konnte, aber stets vor ihm fliehend und in trüglicher Ferne unablässig langsam mit sich fortbewegend – gerade so, wie auf dem Wege des erbarmungslosen Ungeheuers Tod!
Durch das Tal, auf der Höhe, über die Heide, über den Fluß – wo die Schafe weiden, wo die Mühle geht, wo die Barke schwimmt, wo die Toten liegen, wo die Fabrik raucht, wo der Strom läuft, wo das Dorf sich zusammenschmiegt, wo der Dom steht, wo das öde Moor liegt und der unstete Wind nach Gutdünken Wellen aufwirft oder sie legt – dahin, mit Pfeifen, Brausen und Rasseln, keine Spur zurücklassend, als Staub und Dampf – geradeso wie auf dem Pfade des erbarmungslosen Ungeheuers Tod!
Durch Wind und Licht, Regen und Sonnenschein dahin und immer weiter rollt und brüllt in ungestümer Hast der Zug seinen glatten sicheren Weg. Große Werke, ungeheure Brücken kreuzen sich über ihm, fallen wie ein zollbreiter Schatten auf das Auge und sind dann entschwunden. Fort und immer weiter – stets vorwärts und vorwärts: vorbeihuschende Bauernhütten, Häuser und Paläste, reiche Güter und tätiges Treiben auf den Feldern – Menschen, alte Straßen und Pfade – alles sieht so klein, so verlassen und unbedeutend aus, sobald man es im Rücken hat – was sind sie anders, als die flüchtigen Bilder neben der Bahn des nicht zu bewältigenden Ungeheuers Tod!
Fort mit Pfeifen, Brausen und Rasseln – wieder hinein in die Erde und daselbst einen so wilden, beharrlichen Sturm erzeugend, daß in Mitte der Finsternis und des Wirbels die Bewegung umgekehrt erscheint, als wolle es wütend wieder rückwärts, bis der Strahl des Lichts die feuchte Oberfläche der Wand zeigt, die wie ein wilder Strom vorbeieilt. Wieder hinaus in den Tag und durch den Tag mit schrillem Jubelgezeter, brausend, rasselnd, rennend, alles mit seinem schwarzen Hauch befleckend, bisweilen eine Minute innehaltend, wo ein Häuflein Gesichter zusammengeschart ist, die in einer weiteren Minute verschwinden – bisweilen gierig Wasser leckend, und ehe der tränkende Brunnen zu träufeln aufgehört hat, durch die purpurne Entfernung schreiend, brausend, rasselnd.
Lauter und lauter noch das Getöse, wenn es widerstandslos dem Ziele zugeht und der Weg, noch immer gleich dem des Todes, sich dick mit Asche bestreut. Rings umher alles schwarz – dunkle Wasserlachen, schmutzige Gassen und erbärmliche Wohnungen weit unten. Dicht zur Hand stehen brüchige Wände und einstürzende Häuser; durch die löcherigen Dächer und zerbrochenen Fenster sieht man elende Stuben, wo Mangel und Fieber in vielen grausenhaften Gestalten sich verstecken, während Rauch, gedrängte Giebel, verkrümmte Schornsteine und Ungestalten von Ziegel und Mörtel, sowohl Häßlichkeit des Geistes als des Leibes einschließend, die düstere Ferne versperren. Während Mr. Dombey zu dem Fenster seines Wagens heraussieht, fällt es ihm nicht entfernt ein, das Ungeheuer, das ihn hierherbrachte, habe nur das Licht des Tages auf diese Dinge geworfen, nicht aber sie geschaffen oder Anlaß dazu gegeben. Es war passendes Ende der Fahrt und hätte vermöge seiner traurigen Trümmerhaftigkeit ebensogut das Ende von allem sein können.
So hatte er, dem Gedankengang folgend, das eine erbarmungslose Ungeheuer noch stets vor sich. Alles blickte ihn schwarz, kalt und totenartig an und erwiderte den Blick in derselben Weise. Überall eine Ähnlichkeit mit seinem Unglück. Um ihn her unbarmherziger Triumph, der, welche Gestalt er auch annehmen mochte, seinen Stolz, seine Eifersucht erbitterte und verwundete, am meisten aber, wenn irgend etwas die Liebe und das Andenken des verlorenen Knaben mit ihm teilen wollte.
Namentlich vergegenwärtigte sich ihm während der Fahrt oft ein Gesicht, das er am Abend zuvor gesehen und das ihn selbst anblickte mit Augen, die in seiner Seele lasen, obschon sie trüb waren von Tränen und sich bald hinter zwei bebenden Händen verbargen. Er hatte es gesehen mit dem Ausdruck der letzten Nacht – dem Ausdruck schüchterner Bitte. Es war nicht vorwurfsvoll; aber es lag etwas Zweifelndes – eine Hoffnung, die sich selbst nicht glauben wollte, darin, wenngleich für ihn in der trostlosen Sicherheit seiner Abneigung dieser Zug verschwand, so daß er Vorwurf darin zu lesen glaubte. Der Gedanke war ihm peinlich – der Gedanke an das Gesicht seiner Tochter.
Vielleicht, weil er in letzter Zeit Gewissensbisse fühlte? Nein. Weil das Gefühl, das es in ihm weckte und von dem er in früheren Tagen eine unklare Vorstellung gehabt hatte, jetzt Form gewann und sich deutlich aussprach; allerdings ergreifend und in einer Weise drohend, daß seine Fassung nicht davor standhalten konnte. Weil das Gesicht überall war mit dem Ausdrucke des Kummers und der Verfolgung, ja sogar ihn wie die Luft zu umgeben schien. Weil er die Pfeile jenes grausamen, erbarmungslosen Feindes, mit dem seine Gedanken rangen, mit Widerhaken versah und ihm ein zweischneidiges Schwert in die Hand drückte. Weil er, während er so dastand und in seinem Innern die wechselnde Szene vor ihm mit den krankhaften Farben seines Geistes ausmalte, stets nur ein Bild des Verfalls, nicht aber hoffnungsvolle Vielseitigkeit und die Aussicht auf Besseres darin sehend – recht wohl wußte, daß mit seinen Klagen das Leben ebensoviel zu schaffen hatte, wie der Tod. Ein Kind war dahin, eins ihm geblieben. Warum mußte ihm statt ihrer der Gegenstand seiner Hoffnungen entrissen werden?
Das ruhige, süße, sanfte Bild seiner Phantasie konnte keine andere Betrachtung in ihm wecken. Sie war ihm vom ersten Augenblick an unwillkommen gewesen – jetzt aber wurde sie ihm zum bitteren Verdruß. Hätte er in dem Sohn sein einziges Kind verloren, so würde er den Schlag schwer, aber doch unendlich leichter empfunden haben, als jetzt, weil er nicht diejenige betroffen, die er, wie er meinte, ohne Leid hätte missen können. Ihr vor ihm auftauchendes liebevolles, unschuldiges Antlitz übte auf ihn keinen beruhigenden, keinen gewinnenden Einfluß. Er wies den Engel zurück und gab dafür dem Quälgeiste Raum, der sein Innerstes zermalmte. Ihre Geduld, ihre Güte, ihre Jugend, ihre Hingebung, ihre Liebe – alles dies waren nur Atome in der Asche, auf die er seine Ferse setzte. Ihr Bild schwebte ihm stets in der ihn umgebenden Nacht vor, erhellte sie aber nicht, sondern machte das Düster nur noch tiefer. Mehr als einmal auf seiner Reise, und jetzt wieder, als er am Ziel derselben stand und mit seinem Stock Figuren in den Staub zeichnete, kam ihm der Gedanke, ob er denn gar nichts finden könne, um dieses leidige Gesicht von sich abzuwehren.
Der Major, der während des ganzen Weges wie eine zweite Dampfmaschine gepustet hatte und dessen Augen oft über der Zeitung weg ins Freie hinauswanderten, als quöllen aus dem Rauch der Lokomotive lange Prozessionen von geschlagenen Miß Toxes hervor, um nach einem Flug über die Felder hin sich an irgendeinem Zufluchtsorte zu verstecken, brachte seinen Freund mit der Nachricht zu sich, daß die Postpferde eingespannt seien und der Wagen bereitstehe.
»Dombey«, sagte der Major, ihn mit seinem Stock auf den Arm klopfend, »seid nicht so gedankenvoll. Das ist eine schlimme Gewohnheit. Der alte Joe, Sir, würde nicht so zäh sein, wie Ihr ihn seht, wenn er je eine solche Stimmung hätte aufkommen lassen. Ihr seid ein zu bedeutender Mann, Dombey, um gedankenvoll zu sein. In Eurer Stellung, Sir, seid Ihr weit über etwas der Art erhaben.«
Da der Major sogar in seinen freundschaftlichen Verweisen die Würde und Ehre eines Dombey in Rechnung brachte und ein lebhaftes Gefühl für ihre Bedeutsamkeit an den Tag legte, so fühlte sich sein Gefährte mehr als je geneigt, einen so verständigen und rücksichtsvollen Gentleman gewähren zu lassen. Er gab sich daher, während sie miteinander ihre Straße gingen, alle Mühe, den Geschichten des Majors ein aufmerksames Ohr zu schenken, und der letztere säumte nicht, sich in seiner Glorie zu zeigen, da er fand, Schritt und Weg befähige ihn weit besser zu Entfaltung seiner Konversationsgabe, als die eben erst verlassene Reisemethode.
Diese Hochflut einer geistreichen Unterhaltung strömte den ganzen Tag fort und fort, und wurde nur durch die gewöhnlichen plethorischen Symptome des Sprechers einmal in Zwischenräumen durch ein Lunch und von Zeit zu Zeit durch einen heftigen Ausfall gegen den Eingeborenen unterbrochen, der in seinen dunkelbraunen Ohren große Ringe trug und dem seine europäische Kleidung ganz und gar nicht passen wollte; sie war nämlich eigensinnigerweise und ohne Rücksicht auf die Kunst des Schneiders lang, wo sie kurz, kurz, wo sie lang, knapp, wo sie weit, und weit, wo sie knapp sein sollte, und die ganze Figur gewann bei den gelegentlichen Stürmen des Majors eine neue Anmut, indem der Afrikaner bei solchen Anlässen sich in seine Hüllen hineinduckte, so daß er sich wie eine eingeschrumpfte Nuß oder ein frierender Affe ausnahm. Als der Abend herankam und der Wagen auf dem von Laub beschatteten Wege bei Leamington weiterrollte, war die Stimme des Majors vom Sprechen, Essen, Kichern und Keuchen so dumpf geworden, als töne sie aus dem Koffer unter dem Bedientensitze oder aus einem Heuschober hervor. In dem Royal-Hotel, wo Zimmer und ein Mahl bestellt worden waren, erging es dem Major gleichfalls nicht besser, denn er überlud seine Sprachorgane dermaßen mit Essen und Trinken, daß er, als er sich zu Bett begab, gar keine Stimme mehr hatte – ein Umstand, der ihn nötigte, sich seinem schwarzen Diener durch Husten und Ankeuchen verständlich zu machen.
Am andern Morgen aber stand er nicht nur wie ein frischer Riese auf, sondern benahm sich auch beim Frühstück wie ein sich erfrischender Riese. Über diesem Mahle wurde die tägliche Lebensweise besprochen. Der Major sollte die Verantwortlichkeit der Besorgung von Speise und Trank übernehmen; sie wollten jeden Morgen gemeinsam ein Gabelfrühstück nehmen und jeden Tag spät zusammen dinieren. Am ersten Tage ihres Aufenthalts in Leamington zog es Mr. Dombey vor, auf seinem Zimmer zu bleiben oder allein sich in der Gegend zu ergehen; aber am nächsten Morgen machte es ihm Vergnügen, den Major nach dem Kursaal und in die Stadt zu begleiten. So trennten sie sich bis zum Diner. Mr. Dombey ging auf sein Zimmer, um in seiner Weise heilsamen Gedanken nachzuhängen; der Major aber, dem der Eingeborene einen Feldstuhl, einen Überrock und einen Regenschirm nachtrug, stolzierte an allen öffentlichen Plätzen hin und her, sah in den Verzeichnissen der Kurgäste nach, wer schon anwesend war, schaute sich nach alten Damen um, von denen er viel bewundert wurde, versicherte, daß J. B. zäher sei als je, und strich auf allen Wegen und Stegen seinen reichen Freund Dombey heraus. Nie gab es einen Mann, der einen Freund kräftiger zu heben wußte, als der Major, sofern mit Erhebung desselben auch die eigene Persönlichkeit gehoben wurde.
Es war überraschend, welchen Redefluß der Major beim Diner ausströmen ließ, und wie sehr er Mr. Dombey Gelegenheit gab, seine gesellschaftlichen Eigenschaften zu bewundern. Am andern Morgen beim Frühstück wußte er, was die letzten Zeitungen Neues gebracht hatten, und deutete auf mehrere mit denselben in Verbindung stehende Gegenstände hin, über die ihn kürzlich Personen von so hoher Stellung, daß er sich nur dunkle Winke erlauben durfte, um seine Meinung gefragt hatten. Mr. Dombey, der selten über den Zauberkreis von Dombey und Sohns Wirksamkeit hinausgekommen und solange auf sich selbst angewiesen gewesen war, begann an eine Veränderung seines einsamen Lebens zu denken und machte, statt sich für den nächsten Tag zu entschuldigen, wie er anfänglich beabsichtigt hatte, Arm in Arm mit dem Major einen Ausgang.