Charles Dickens
David Copperfield. Teil II
Charles Dickens

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39. Kapitel
Wickfield und Heep

Meine Tante, wahrscheinlich über meine fortdauernde Niedergeschlagenheit ernstlich besorgt, stellte sich, als ob ihr sehr viel daran läge, wenn ich nach Dover nachsehen führe, wie es mit der Mietsverlängerung stünde, und um geeigneten Falles mit dem gegenwärtigen Inwohner einen neuen Kontrakt abzuschließen.

Janet stand jetzt in Mr. Strongs Diensten, wo ich sie jeden Tag sah. Als sie von Dover wegzog, schwankte sie, ob sie die Lossagung von der Männerwelt, zu der man sie erzogen hatte, dadurch krönen sollte, daß sie einen Lotsen heiratete; aber sie entschied sich dagegen. Nicht so sehr des Prinzips willen, als weil er ihr nicht gefiel.

Obwohl es mich viel kostete, Miss Mills zu verlassen, ging ich doch ziemlich gern auf den Plan meiner Tante ein, da er mich instand setzte, ein paar ruhige Stunden mit Agnes zu verleben. Ich bat den guten Doktor um einen Urlaub von drei Tagen – er wollte mir viel mehr bewilligen, aber meine Arbeitsenergie sträubte sich dagegen – und entschloß mich, die kleine Reise anzutreten.

Wegen meiner Pflicht in den Commons brauchte ich mir keine großen Skrupel zu machen. Die Wahrheit zu gestehen, wir kamen allmählich in keinen sehr guten Geruch bei den eleganteren Proktoren und sanken rasch zu einer recht zweifelhaften Stellung herab. Das Geschäft war vor Mr. Spenlows Eintritt schon nicht sehr bedeutend gewesen, hatte sich durch den Glanz, den derselbe zur Schau trug, gebessert, besaß jedoch keine genügend solide Grundlage, um ohne Schaden den plötzlichen Verlust seines eigentlichen Leiters zu ertragen. Es sank sehr schnell. Mr. Jorkins, trotz seines Ansehens in der Firma selbst ein nachlässiger, unfähiger Mann nach außen, war bei dem wenigen guten Ruf, den er in der Stadt genoß, nicht imstande, das Geschäft zu heben. Ich kam jetzt unter seine Leitung, und als ich sah, wie er immer zur Tabaksdose griff und das Geschäft ruhig treiben ließ, reuten mich die tausend Pfund meiner Tante mehr als je.

Aber das war nicht das Schlimmste. In den Commons gab es eine Anzahl Mitläufer, die, ohne selbst Proktoren zu sein, doch in Rechtsgeschäften herumpfuschten und sich zu deren Besorgung gegen einen Anteil an der Beute die Namen von wirklichen Proktoren liehen; und es gab eine ziemliche Menge solcher Leute. Da unsere Firma Beschäftigung um jeden Preis brauchte, so verbanden wir uns mit dieser noblen Schar.

Trauscheine und Bestätigungen kleiner Testamente waren das Rentabelste, und um sie riß man sich am meisten. In allen Eingängen der Commons lauerten Aufpasser und Schlepper, mit der genauen Instruktion, alle Leute in Trauer und Herren, die etwas verschämt aussahen, anzufallen und sie in die Kanzleien zu bringen, für die ihre Auftraggeber Geschäfte betrieben. So gut wurden diese Instruktionen befolgt, daß ich selbst, ehe man mich kannte, zweimal in die Kanzlei unseres Hauptgegners geschleppt wurde. Die einander widerstrebenden Interessen dieser Aufpasser machten Kollisionen nicht selten. Hinsichtlich der Trauscheine war der Wetteifer so groß, daß oft um irgendeinen blöde aussehenden Herrn so lange geboxt wurde, bis er als Beute dem Stärksten zufiel. Einmal stürzte ein höflicher Mann mit einer weißen Schürze unter einem Torweg hervor auf mich los, flüsterte mir das Wort »Trauschein« ins Ohr und war nur sehr schwer abzuhalten, mich auf die Arme zu nehmen und zu einem Proktor zu tragen.

Also, ich fuhr eines Tages nach Dover. Ich fand das Häuschen in bester Ordnung und konnte meine Tante mit der Nachricht erfreuen, daß auch ihr Mieter die Fehde mit den Eseln fortführte.

Nachdem ich das Geschäft abgemacht und eine Nacht dort geblieben war, begab ich mich frühzeitig nach Canterbury. Es war jetzt wieder Winterzeit, und der frische, kalte, windige Tag und die salzige Luft auf den Dünen stärkten meine Hoffnungsfreudigkeit ein wenig.

In Canterbury angekommen, schlenderte ich durch die alten Straßen, was mein Gemüt sehr beruhigte und mir das Herz erleichterte.

Seltsam. Den beschwichtigenden Zauber, der von Agnes ausging, schien selbst die Stadt zu teilen, wo sie wohnte. Die ehrwürdigen Domtürme und die Dohlen und Krähen, deren Stimmen hoch oben in der Luft die Stimmung noch ernster machten, als vollständiges Schweigen vermocht hätte, die verfallenen Portale, einst mit Bildwerken geschmückt, die längst herabgefallen und zu Staub geworden wie die ehrwürdigen Pilger, die zu ihnen emporgeblickt, – die stillen Winkel, wo vielhundertjähriger Efeu sich über spitze Giebel und Mauerruinen schlang, – die alten Häuser – das ländliche Bild von Feldern und Gärten und Obsthainen –, überall ruhte dieselbe stillheitere Luft, derselbe ruhige, sinnige, besänftigende Geist.

Als ich in Mr. Wickfields Haus trat, fand ich in der kleinen Stube im Erdgeschoß, wo früher Uriah Heep zu sitzen pflegte, Mr. Micawber eifrig mit Schreiben beschäftigt. Seinem jetzigen Stande gemäß schwarz angezogen, thronte er feierlich in der kleinen Kanzlei.

Mr. Micawber freute sich außerordentlich mich zu sehen, schien aber auch ein wenig verlegen. Er wollte mich sogleich zu Uriah führen, aber ich schlug es aus.

»Ich kenne das Haus von früher, Sie wissen doch«, sagte ich, »und werde mich schon hinauffinden. Wie gefällt Ihnen übrigens die Jurisprudenz, Mr. Micawber?«

»Mein lieber Copperfield, auf einen Mann, der ausgestattet ist mit den höheren Gaben der Phantasie, wirkt das Übermaß von Detail, das den juristischen Studien eigentümlich ist, einigermaßen unangenehm. Selbst in unserer Geschäftskorrespondenz«, sagte Mr. Micawber mit einem Blick auf ein paar Briefe, die er eben schrieb, »ist es dem Geiste nicht erlaubt, sich zu einer höhern Form des Ausdrucks aufzuschwingen. Aber dennoch ist es ein großartiges Studium. Ein wundervoller Beruf.«

Er teilte mir dann mit, daß er Uriah Heeps ehemalige Wohnung gemietet habe, und versicherte, daß sich Mrs. Micawber freuen werde, mich wieder einmal unter ihrem eignen Dach zu empfangen.

»Es ist eine niedrige Wohnung«, sagte er, »um einen Lieblingsausdruck meines Freundes Heep zu gebrauchen, aber sie bildet die erste Stufe zu einer anspruchsvolleren häuslichen Einrichtung.«

Ich fragte ihn, ob er bis jetzt mit seinem Freunde Heep zufrieden sei. Er stand auf, um sich zu versichern, daß die Türe gehörig geschlossen sei, ehe er mit leiserer Stimme antwortete:

»Lieber Copperfield, ein Mann, der unter dem Druck pekuniärer Verlegenheiten schmachtet, befindet sich der Mehrzahl der Menschen gegenüber im Nachteil. Diese Situation wird nicht besser, wenn der Druck der Lage die Annahme von pekuniären Akzidenzien nötig macht, ehe diese Akzidenzien eigentlich fällig sind. Ich kann nur sagen, daß mein Freund Heep auf Ansuchen, die ich nicht weiter auszumalen brauche, in einer Weise geantwortet hat, die ebensosehr seinem Kopf wie seinem Herzen zur Ehre gereichen muß.«

»Ich hätte nicht geglaubt, daß er mit seinem Geld so freigebig sein würde«, bemerkte ich.

»Verzeihen Sie«, sagte Mr. Micawber mit gezwungener Miene, »ich spreche von meinem Freunde Heep, wie ich ihn kennengelernt habe.«

»Es freut mich, daß Ihre Erfahrungen in diesem Punkte so günstig ausfielen«, erwiderte ich.

»Sie sind sehr gütig, lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber und summte ein Liedchen vor sich hin.

»Sehen Sie Mr. Wickfield häufig?« fragte ich, um von etwas anderem zu sprechen.

»Nicht oft«, sagte Mr. Micawber leichthin. »Mr. Wickfield ist, darf ich wohl sagen, ein Mann von vortrefflichen Absichten; aber er ist – kurz, er ist invalid.«

»Ich fürchte, sein Kompagnon will ihn dazu machen«, sagte ich.

»Lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber und rutschte unruhig auf seinem Stuhle hin und her, »erlauben Sie mir eine Bemerkung. Ich befinde mich hier in einer Vertrauensstellung. Die Besprechungen mancher Themen, selbst mit Mrs. Micawber, einer Frau von so bemerkenswerter Klarheit des Geistes, ist meiner Überzeugung nach unverträglich mit den Funktionen, die mir jetzt obliegen. Ich möchte mir daher die Freiheit nehmen, Ihnen vorzuschlagen, daß wir in unserm freundschaftlichen Verkehr – der, hoffe ich, niemals gestört werden wird – eine Linie ziehen. Auf der einen Seite dieser Linie«, sagte Mr. Micawber und stellte sie auf dem Pulte mit dem Lineal dar, »ist das ganze Bereich des menschlichen Geistes mit einer einzigen unbedeutenden Ausnahme. Auf der andern liegt diese Ausnahme, nämlich die Angelegenheiten von Messrs. Wickfield & Heep mit allem, was dazu gehört. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß der Gefährte meiner Jugend es mir nicht verübeln wird, wenn ich seiner kühlern Überlegung diesen Vorschlag unterbreite.«

Obgleich ich an Mr. Micawber eine gewisse Unruhe wahrnahm, die ihn in beständiger Spannung zu erhalten schien, wie wenn seine neuen Pflichten ihm nicht recht paßten, fühlte ich mich doch nicht berechtigt beleidigt zu sein. Es schien ihn zu erleichtern, als ich ihm dies versicherte; und er schüttelte mir herzlich die Hand.

»Ich bin geradezu entzückt von Miss Wickfield, lassen Sie mich Ihnen das gestehen, Copperfield. Sie ist eine ausgezeichnete junge Dame von ungewöhnlichen Reizen, Eigenschaften und Tugenden. Auf Ehre!« sagte Mr. Micawber, küßte sich die Hand und verbeugte sich auf seine vornehmste Weise. »Ich liege Miss Wickfield zu Füßen! Hem.«

»Das wenigstens freut mich«, sagte ich.

»Lieber Copperfield, wenn Sie uns nicht an jenem prächtigen Nachmittag, den wir bei Ihnen zuzubringen das Vergnügen genossen, versichert hätten, daß D. Ihr Lieblingsanfangsbuchstabe sei, würde ich fraglos vorausgesetzt haben, es müßte das A. sein.«

Wir alle haben wohl schon das Gefühl kennengelernt, das uns gelegentlich überkommt, als wäre etwas schon lange, lange vorher gesagt und getan worden, als hätten wir in altersgrauer Zeit dieselben Gesichter, Gegenstände und Verhältnisse erlebt und wüßten genau, was im nächsten Augenblick geschehen wird, – ebenfalls aus alter Erinnerung her. Diese geheimnisvolle Empfindung war nie im Leben stärker in mir als bei diesen Worten Mr. Micawbers.

Ich verabschiedete mich von ihm vorläufig und trug ihm die besten Grüße an seine Familie auf.

Als er sich wieder auf seinen Stuhl setzte, die Feder nahm und den Kopf in dem steifen Kragen zurechtrückte, um bequemer schreiben zu können, fühlte ich deutlich, daß sich seit seiner neuen Beschäftigung zwischen ihm und mir eine Schranke erhoben hatte, die unserm Verkehr einen ganz andern Charakter gab.

Es war niemand in dem altertümlichen Besuchszimmer zugegen, obgleich mir Spuren von Mrs. Heeps Anwesenheit nicht entgingen. Ich warf einen Blick in das anstoßende Zimmer und fand Agnes neben dem Kamin an einem hübschen altmodischen Pulte schreibend.

Mein Schatten in der Tür veranlaßte sie aufzublicken.

Welch ein Genuß, die Ursache der freudigen Veränderung auf ihrem aufmerksamen Gesicht und der Gegenstand ihres lieblichen Aufschauens und Willkommengrußes zu sein!

»Ach, Agnes«, sagte ich, als wir nebeneinander saßen; »ich habe dich wieder so sehr vermißt.«

»Wirklich, Trotwood? Wieder und so bald!«

Ich nickte. »Ich weiß es nicht, wie es kommt, Agnes; mir ist, als ob mir eine geistige Eigenschaft fehlte, die ich eigentlich besitzen sollte. Du nahmst mir in der schönen, alten Zeit so das Denken ab, und ich sah in dir meine Beraterin und meine Stütze immerwährend, daß ich wirklich glaube, ich habe mir diese Eigenschaft zu erwerben versäumt.«

»Und was ist das für eine?« fragte Agnes heiter.

»Ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll. Ich glaube, ich besitze doch Ausdauer und ernstes Streben?«

»Sicherlich!«

»Und Geduld, Agnes?« fragte ich mit einigem Zögern.

»Ja«, gab Agnes lachend zu, »leidlich.«

»Und doch«, sagte ich, »fühle ich mich manchmal so unglücklich, bin so schwankend und unentschlossen und unfähig, ruhig zu bleiben, daß mir etwas fehlen muß. – Selbstvertrauen möchte ich es vielleicht nennen.«

»Nenn es so, wenn du willst«, sagte Agnes.

»Schau mal her«, fuhr ich fort. »Du kommst nach London, ich vertraue auf dich, und sofort liegen ein Ziel und eine Laufbahn vor mir. Umstände lenken mich von dem Wege ab, und ich komme hierher und bin im Augenblick wie umgewandelt. Die Verhältnisse, die mir Schmerz bereiteten, sind dieselben, aber seit ich im Zimmer bin, hat sich ein Einfluß meiner bemächtigt, der mich sie so viel leichter ertragen läßt. Was ist das? Worin besteht dein Geheimnis, Agnes?«

Ihr Haupt war gesenkt, und sie blickte ins Feuer.

»Es ist die alte Geschichte. Lach nicht, wenn ich sage, es war immer im kleinen so wie jetzt in wichtigen Dingen. Meine alten Sorgen waren Unsinn, und jetzt sind sie Ernst. Aber sooft ich meine Adoptivschwester verlasse –«

Agnes sah mich an – mit einem himmlischen Gesicht – und reichte mir ihre Hand hin.

Ich drückte einen Kuß darauf.

»Sooft du mir gefehlt hast, Agnes, um mir gleich zu Anfang zu raten, mir zur Seite zu stehen, da ging ich stets irr und geriet in allerlei Schwierigkeiten. Und wenn ich schließlich immer wieder zu dir kam, da fand ich Frieden und Glück. Ich komme jetzt heim wie ein müder Wanderer, und wieder erfüllt mich die Seligkeit der Ruhe.«

Ich fühlte so tief, was ich sagte, und es rührte mich so aufrichtig, daß mir die Stimme versagte und ich das Gesicht mit den Händen bedeckte und in Tränen ausbrach.

In ihrer stillen schwesterlichen Weise machte mich Agnes bald meine Schwäche vergessen und ließ sich alles von mir erzählen, was sich seit unserm letzten Zusammentreffen begeben hatte.

»So, das ist alles, Agnes«, sagte ich, als ich fertig war. »Jetzt vertraue ich auf dich.«

»Aber du darfst nicht allein auf mich vertrauen, Trotwood. Du hast auch noch jemand anders.«

»Dora?«

»Gewiß.«

»Ja, ich habe dir noch nicht gesagt, Agnes«, begann ich ein wenig verlegen, »daß man auf Dora eigentlich schwer«, – nicht um alles in der Welt hätte ich die Worte ›vertrauen kann‹ herausgebracht, – »aber sie ist schwer – ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll, Agnes. Sie ist ein furchtsames kleines Geschöpf, leicht erschreckt und außer Fassung gebracht. Vor einiger Zeit, kurz vor ihres Vaters Tod, wollte ich – aber ich muß es dir ausführlich erzählen, wenn du Geduld hast.«

Ich erzählte Agnes von dem Kochbuch, dem Rechnungsführen, der Eröffnung meiner Armut und alles übrige.

»O Trotwood«, sagte sie mit einem Lächeln, »ganz deine alte überstürzte Weise! Du kannst ganz ernst in der Welt vorwärtsstreben und brauchst doch dabei nicht so mit der Tür ins Haus zu fallen bei einem furchtsamen, liebevollen und unerfahrenen Mädchen. Arme Dora!«

Ich hatte noch nie so liebliche und freundliche Milde in einer Stimme klingen hören. Ich empfand für Agnes so viel Dankbarkeit und bewunderte sie so sehr. Ich sah in einer schönen Zukunft die beiden nebeneinander als Freundinnen, jede der andern ein Schmuck und eine Zierde.

»Meiner Meinung nach wäre der ehrenhafteste Weg, an die zwei alten Damen zu schreiben«, sagte sie auf meine Frage, was wohl das beste sei. »Meinst du nicht auch, daß jedes Geheimnis ein unwürdiges Vorgehen bedeutet?«

»Ja, wenn du es meinst.«

»Ich kann solche Dinge nur schlecht beurteilen«, entgegnete Agnes mit bescheidenem Zögern, »aber meinem Gefühl nach ist Heimlichkeit deiner nicht würdig.«

»Meiner nicht würdig, weil du eine so hohe Meinung von mir hast, fürchte ich.«

»Deiner nicht würdig bei der Offenheit deines Charakters, und deshalb würde ich an diese beiden Damen schreiben. Ich würde so einfach und offen wie möglich alles Vorgefallene erzählen und sie um Erlaubnis bitten, manchmal ihr Haus besuchen zu dürfen. Da du jung bist und dir eine Stellung im Leben erst erringen willst, so glaube ich, du sagst am besten, du würdest dich selbstverständlich in alle Bedingungen fügen, die sie dir auferlegten. Ich würde sie bitten, dein Ersuchen nicht abzuschlagen, ohne erst mit Dora zu sprechen, wenn sie die Zeit für passend halten. Ich würde nicht zu leidenschaftlich sein«, sagte Agnes sanft, »oder zu viel versprechen. Ich würde mich auf meine Treue und Ausdauer verlassen – und auf Dora.«

»Aber wenn sie Dora durch Nennung meines Namens wieder erschrecken?« wandte ich ein. »Und wenn sie dann anfängt zu weinen und nichts von mir sagt?«

»Ist das wahrscheinlich?«

»Ach, sie ist so leicht einzuschüchtern wie ein Vögelchen. Es wäre doch möglich. Oder wenn die beiden Misses Spenlow – ältere Damen dieser Art sind manchmal recht wunderlich – nicht Personen sind, an die man sich in dieser Weise wenden könnte?«

»Ich glaube nicht, Trotwood, daß ich das weiter in Betracht ziehen würde. Vielleicht wäre es besser, nur zu bedenken, ob man recht handelt, und wenn man sich darüber klargeworden, es zu tun.«

Ich hatte keine Zweifel mehr. Mit erleichtertem Herzen, obgleich von der hohen Wichtigkeit meiner Arbeit ganz durchdrungen, widmete ich den ganzen Nachmittag dem Entwurf des Briefes, und Agnes überließ mir zu diesem großen Zweck ihr Pult. Aber zuerst ging ich hinunter, um Mr. Wickfield und Uriah Heep aufzusuchen.

Uriah fand ich in einem neuen, nach frischer Tünche riechenden Zimmer, das in den Garten hinausging. Inmitten eines Haufens von Büchern und Papieren sitzend sah er unaussprechlich niederträchtig aus. Er empfing mich mit seiner gewohnten kriecherischen Weise und stellte sich, als ob ihm Mr. Micawber von meiner Ankunft nichts gesagt hätte, – eine Vorspiegelung, die ich mir die Freiheit nahm zu bezweifeln. Er begleitete mich in Mr. Wickfields Zimmer, das ich kaum mehr wiedererkannte, so war es, um das des neuen Kompagnons auszustatten, der meisten Möbel beraubt worden. Hier stellte sich Uriah vor den Kamin, wärmte sich den Rücken und schabte sich mit der knochigen Hand das Kinn, während ich Mr. Wickfield begrüßte.

»Du bleibst bei uns, Trotwood, solange du in Canterbury bist?« sagte Mr. Wickfield, nicht ohne durch einen Blick Uriah um Erlaubnis zu fragen.

»Ist Platz für mich vorhanden?« fragte ich.

»O gewiß, Master Copperfield – ich wollte Mister sagen, aber es drängt sich mir immer so auf der Zunge«, sagte Uriah. »Ich mecht gern Ihr altes Zimmer räumen, wenns angenehm wäre.«

»Nein, nein«, Mr. Wickfield wehrte ab, »warum sollten Sie sich Unannehmlichkeiten bereiten? Es ist noch ein anderes Zimmer da.«

»Aber Sie wissen ja, ich mecht es von Herzen gerne tun, Sie kennen mich doch«, entgegnete Uriah mit einem Grinsen.

Um ein Ende zu machen, erklärte ich, nur das andere oder gar kein Zimmer annehmen zu wollen. Dabei blieb es, und ich verabschiedete mich bis Mittag und ging wieder hinauf.

Ich hatte gehofft, niemand anders zu finden als Agnes. Aber Mrs. Heep hatte um Erlaubnis gebeten, sich mit dem Strickzeug neben den Kamin in diesem Zimmer setzen zu dürfen. Sie behauptete, es läge bei der augenblicklichen Windrichtung besser für ihren Rheumatismus als das Gesellschafts- oder Speisezimmer. Obgleich ich sie ohne Reuegefühl der Barmherzigkeit des Windes auch auf der obersten Spitze des Doms überlassen haben würde, machte ich doch aus der Not eine Tugend und begrüßte sie freundschaftlich.

»Ich danke Ihnen allerergebenst«, sagte Mrs. Heep auf meine Frage nach ihrem Befinden, »aber ich befind mich nur leidlich wohl. Ich derf nicht sehr groß tun dermit; wenn ich meinen Uriah gut im Leben dastehen sehe, brauch ich nicht viel mehr anderes zu erwarten. Wie finden Sie mein Ury aussehen, Sir?«

Ich fand ihn natürlich genauso konfisziert aussehen wie immer und antwortete, daß ich keine Veränderung an ihm bemerkte.

»O, meinen Sie nicht, daß er sich verändert hat?« fragte Mrs. Heep. »Da mecht ich mir die Freiheit herausnehmen, anderer Meinung zu sein. Sehen Sie nicht etwas eine Abmagerung an ihm?«

»Keineswegs«, erwiderte ich.

»Wirklich nicht? Aber Sie sehen ihn nicht mit dem Auge einer Mutter an.«

Ihr Mutterauge war ein böses für die übrige Welt, dachte ich mir, als ich ihm begegnete, – so lieb sie auch ihren Sohn haben mochte – und ich glaube, sie und Uriah liebten einander wirklich. – Ihr Blick verließ mich und fiel auf Agnes.

»Bemerken Sie auch nicht, wie er sich abzehrt, Miss Wickfield?« forschte Mrs. Heep.

»Nein«, sagte Agnes und fuhr ruhig fort zu arbeiten. »Sie machen sich zu viel Sorge um ihn. Er ist vollkommen wohl.«

Mit einem kurzen verdrießlichen Schnaufen nahm Mrs. Heep ihren Strickstrumpf wieder vor.

Sie hörte nie auf zu stricken und ließ uns keinen Augenblick allein.

Ich war ziemlich zeitig vormittags gekommen, und wir hatten immer noch drei bis vier Stunden bis zum Essen vor uns, aber sie blieb sitzen und bewegte ihre Stricknadeln so einförmig, wie ein Stundenglas den Sand ablaufen läßt. Sie saß auf der einen Seite des Kamins, Agnes auf der andern und ich an dem Schreibpulte davor. Sooft ich über meinen Brief nachdenkend die Augen erhob, fühlte ich, wie Mrs. Heeps böser Blick an mir vorüberschweifte, dann zu mir zurückkehrte und wieder langsam auf das Strickzeug sank. Was sie strickte, weiß ich nicht, aber es sah aus wie ein Netz; in dem Glanze des Feuers glich sie einer bösen Zauberin, jetzt noch ohnmächtig der strahlenden Güte Agnes' gegenüber, aber in Bälde bereit, ihr Netz auszuwerfen.

Bei Tisch bewahrte sie mit derselben Unermüdlichkeit ihre beobachtende Haltung. Nach dem Essen kam ihr Sohn an die Reihe, der mich anschielte, als Mr. Wickfield, er und ich allein beisammen saßen und sich wand und krümmte, bis ich es kaum mehr aushalten konnte. Im Gesellschaftszimmer strickte und beobachtete die Mutter wieder. Die ganze Zeit über, wo Agnes sang und spielte, saß sie neben dem Piano. Einmal verlangte sie eine besondere Ballade, in die ihr Ury, – der in einem Lehnstuhl gähnte – ganz vernarrt wäre; und zuweilen sah sie sich nach ihm um und berichtete Agnes, daß er ganz ergriffen von der Musik sei. Sie sprach fast niemals, ohne ihn in irgendeiner Weise zu erwähnen; offenbar war das die ihr zugewiesene Pflicht.

Das dauerte bis zum Schlafengehen. Der Anblick von Mutter und Sohn, die wie zwei große Fledermäuse mit ihrem scheußlichen Anblick das Haus verdüsterten, machte mir die Nacht so unbehaglich, daß ich trotz Strickens und allem übrigen lieber unten geblieben wäre. Schlafen konnte ich fast gar nicht.

Am nächsten Tag begann das Stricken und Belauern von neuem und dauerte bis zum Abend.

Ich fand kaum Gelegenheit, zehn Minuten mit Agnes zu sprechen und ihr meinen Brief zu zeigen. Ich schlug ihr einen Spaziergang vor, aber da Mrs. Heep wiederholt über stärkeres Unwohlsein klagte, blieb Agnes aus Mitleid mit ihr zu Hause. In der Dämmerung ging ich selbst aus, um darüber nachzudenken, was ich zunächst tun sollte, und zu überlegen, ob ich Agnes länger verhehlen dürfte, was mir Uriah Heep in London gesagt hatte, denn es begann mich wieder sehr zu beunruhigen.

Ich hatte die letzten Häuser der Stadt auf der Straße nach Ramsgate noch nicht hinter mir, als mir durch die Dämmerung jemand nachlief. Der schleppende Gang und der ausgewachsene Überrock waren nicht zu verkennen. Ich blieb stehen, und Uriah Heep holte mich ein.

»Nun?« fragte ich.

»Wie schnell Sie gehen«, sagte er. »Meine Beine sind ziemlich lang, aber es hat mir wirklich Schweiß gekostet.«

»Wohin gehen Sie?« fragte ich.

»Ich wollte Sie begleiten, Master Copperfield, wenn Sie mir als einem alten Bekannten das Vergnügen eines Spaziergangs gestatten wollen.« Mit diesen Worten und einer schnellenden Bewegung seines Körpers, die ebensogut einschmeichelnd wie verhöhnend sein konnte, schritt er neben mir her.

»Uriah«, sagte ich nach einigem Schweigen so höflich wie möglich.

»Master Copperfield!«

»Die Wahrheit zu gestehen – Sie dürfen sich dadurch nicht verletzt fühlen –, ich wollte allein spazierengehen, weil ich zuviel Gesellschaft gehabt habe.«

Er sah mich von der Seite an und sagte mit seinem unangenehmsten Grinsen: »Sie meinen die Mutter.«

»Nun ja«, gab ich zu.

»Ach, Sie wissen, mir sind so niedrige Leut, und da mir uns unsrer Niedrigkeit bewußt sin, müssen mir wirklich Sorge tragen, daß mir nicht gegen die, was nicht so niedrig sin, zu kurz kommen. In der Liebe gelten alle Listen, Sir.«

Er erhob seine großen Hände bis zum Kinn, rieb sie sanft aneinander und kicherte in sich hinein und sah dabei einem bösartigen Pavian so ähnlich wie nur möglich.

»Schauen Sie«, fuhr er fort in seiner ekelhaften Art und wackelte mit dem Kopf. »Sie sind ein gefährlicher Nebenbuhler, Master Copperfield. Sie waren das immer. Sie begreifen.«

»Belauern Sie Miss Wickfield und vernichten Sie das Behagen ihrer Häuslichkeit also meinetwegen?« fragte ich.

»Ach, Master Copperfield, das sin sehr harte Worte.«

»Nennen Sie sie, wie Sie wollen. Sie wissen so gut wie ich, was ich sagen will, Uriah.«

»Gott, nein! Sie müssen es selbst in Worte bringen«, sagte er. »Wahrhaftig! Ich könnte es nicht.«

»Glauben Sie etwa«, – ich gab mir alle Mühe, Agnes' wegen so gemäßigt wie möglich gegen ihn zu sein, – »daß ich in Miss Wickfield etwas anderes sehe als eine mir sehr teuere Schwester?«

»Schauen Sie, Master Copperfield«, entgegnete er, »ich bin nicht verpflichtet diese Frage zu beantworten. Vielleicht ist es so, – vielleicht auch nicht.«

Etwas, was der niedrigen Listigkeit in seinem Gesicht und seinen wimperlosen Augen nur annähernd gleichgekommen wäre, habe ich nie gesehen.

»So hören Sie«, sagte ich. »Um Miss Wickfields willen.«

»Meine Agnes!« rief er mit einer verkrampften Windung seines Leibes aus. »Wollen Sie nicht so gut sein, sie Agnes zu nennen, Master Copperfield?!«

»Um Agnes Wickfields willen – der Segen des Himmels sei mit ihr.«

»Dank, Dank für diese Segnung, Master Copperfield!« unterbrach er mich.

»Ich will Ihnen sagen, was ich unter allen andern Umständen ebensogut, ich weiß nicht wem, gesagt hätte, meinetwegen dem Herrn Hans Strick –«

»Wem, Sir?« fragte Uriah mit vorgerecktem Halse und die Hände ans Ohr haltend.

»Dem Henker!« – Die unwahrscheinlichste Person, an die ich denken konnte, – obgleich Uriahs Gesicht dem Gedanken nicht so ganz fremd stand. »Ich bin mit einer andern jungen Dame verlobt. Ich hoffe, das genügt Ihnen.«

»Auf Ihre Seligkeit?« fragte Uriah.

Ich wollte empört meiner Erklärung die verlangte Bekräftigung geben, als er meine Hand ergriff und sie drückte.

»Ach, Master Copperfield. Wenn Sie sich herabgelassen hätten, mein Vertrauen zu erwidern, als ich an jenem Abend mein Herz vor Ihnen ausschüttete, hätte ich nie Zweifel in Sie gesetzt. Da es so steht, will ich Mutter gleich wegschicken und nur zu glücklich sein. Ich weiß, Sie werden die Vorsichtsmaßregeln eines liebenden Herzens entschuldigen, nicht wahr? Wie schade, Master Copperfield, daß Sie sich nicht herabließen, mein Vertrauen zu erwidern. Ich habe Ihnen gewiß jede Gelegenheit gegeben. Aber Sie haben sich nie bis zu mir herabgelassen, sosehr ich es gewünscht hätte. Ich weiß, Sie haben mich nie so gern gehabt wie ich Sie!«

Ununterbrochen drückte er mir mit seinen feuchten fischigen Fingern die Hand, während ich mir alle Mühe gab, sie ihm zu entziehen. Aber es gelang mir nicht. Er zog sie unter den Ärmel seines maulbeerfarbenen Überrockes, und ich ging fast gezwungen Arm in Arm mit ihm.

»Wollen mir nicht umkehren?« fragte er und wendete sich mit mir nach der Stadt zu, die jetzt der aufgehende Mond, die fernen Fenster versilbernd, beschien.

»Ehe wir von der Sache abbrechen, muß ich Ihnen sagen«, begann ich nach einem ziemlich langen Schweigen wieder, »daß ich der Meinung bin, Agnes Wickfield steht so hoch über Ihnen und ist allen Ihren Bewerbungen so weit entrückt wie der Mond dort oben.«

»Friedvoll! Nicht wahr, sie ist es!« sagte Uriah. »Ja. Jetzt gestehen Sie, Master Copperfield, selbst, daß Sie mich nicht so haben leiden können als ich Sie. Die ganze Zeit über haben Sie mich für zu niedrig gehalten, und das wundert mich nicht.«

»Ich liebe Beteuerungen der Demut nicht«, erwiderte ich, »überhaupt keine Beteuerungen.«

»Was sagt man!« wand sich Uriah, der in dem Mondschein ganz schwammig und bleifarben aussah. »Wußt ichs doch! Aber wie wenig bedenken Sie die Berechtigung der Unterwürfigkeit einer Person in meiner Stellung, Master Copperfield! Vater und ich, mir wurden beide in einer Stiftschule für Knaben erzogen, und Mutter ging in eine Freischule, was so eine Art Wohltätigkeitsanstalt war. Man lehrte uns allerlei Unterwürfigkeit – nicht viel anderes sonst vom Morgen bis Abend. Mir sollten uns demütigen vor dieser und jener Person; unsere Mützen hier abziehen und dort Verbeugungen machen und immer unsere Stellung kennen und denen, die über uns stehen, unterwürfig sein. Und deren waren so viele! Vater bekam die Anstaltmedaille, weil er so unterwürfig war. Ich auch. Vater wurde Küster und Totengräber, weil er demütig war. Er genoß unter den vornehmen Leuten den Ruf, sich so schicklich zu benehmen, daß man ihn anstellte. ›Sei demütig, Uriah!‹ sagte Vater stets zu mir, ›und du wirst es zu was bringen. Das wurde dir und mir immer in der Schule gepredigt. Und das fördert am meisten. Sei demütig‹, sagte Vater, ›und es wird dir gut anschlagen.‹ Und wirklich, es ist nicht schlecht gegangen.«

Mir fiel es heute zum ersten Mal ein, daß diese verabscheuenswürdige Hülle falscher Demut aus anderer Quelle stammen könnte als aus dem Blute der Familie Heep. Ich hatte wohl die Ernte gesehen, aber nie die Saat bedacht.

»Als ich noch ein kleiner Knabe war«, sagte Uriah, »erfuhr ich, was Demut ausrichten kann, und ich gewöhnte sie mir an. Ich aß bescheidne Rationen mit Appetit. Ich hielt bei meinem Lernen an einem bescheidnen Punkte still und sagte: halt ein. Als Sie mir anboten, mir Lateinisch zu lehren, da wußte ichs besser. ›Die Leute sehens gern, wenn sie über einem stehen‹, sagte Vater, ›darum halte dich unten.‹ Ich bin jetzt noch eine sehr demütige Person, Master Copperfield, aber ich habe ein bißchen Macht.«

Er sagte dies, – ich sah es in seinem vom Mondschein erhellten Gesicht – um mir zu verstehen zu geben, daß er diese Macht bis aufs letzte auszunützen entschlossen sei. An seiner Niederträchtigkeit, seiner List und Bosheit hatte ich nie gezweifelt, aber jetzt erkannte ich zum ersten Mal genau, welch niedriger, unbarmherziger und rachsüchtiger Geist in ihm durch die frühzeitige und langjährige Unterdrückung genährt worden war.

Die Auseinandersetzung seiner Erziehung hatte für mich wenigstens die angenehme Folge, daß er die Hand von meinem Arme nahm, um sich abermals das Kinn zu streicheln. Ich beschloß, keine neue Annäherung mehr zu dulden, und wir kehrten nebeneinander nach der Stadt zurück, ohne unterwegs viel Worte zu verlieren.

Ob ihn das von mir Gehörte oder der Rückblick auf seine Jugend aufgeheitert hatte, weiß ich nicht, aber er war aus irgendeinem Grunde gehobener Stimmung. Er sprach bei Tisch mehr als gewöhnlich, fragte seine Mutter, die vom Augenblicke seines Wiedererscheinens im Hause an ihre Wachsamkeit aufgab, ob er nicht zu alt werde für einen Junggesellen, und warf einmal auf Agnes einen solchen Blick, daß ich alles, was ich besaß, für die Erlaubnis hingegeben hätte, ihn zu Boden schlagen zu dürfen.

Als Mr. Wickfield, er und ich nach dem Essen allein waren, hob sich seine Laune noch mehr. Er hatte wenig oder gar keinen Wein getrunken, und ich vermute, es war nur seine Siegesgewißheit, die, vielleicht noch durch die Versuchung, meine Anwesenheit zur Entfaltung seiner Macht zu benutzen, gesteigert, ihn so anregte.

Es war mir schon am Tag vorher aufgefallen, daß er Mr. Wickfield zum Trinken zu verführen suchte, und gehorsam einem Blick von Agnes hatte ich mich selbst auf ein Glas beschränkt und dann vorgeschlagen, zu den Damen zu gehen. Ich wollte heute dasselbe tun, aber Uriah kam mir zuvor.

»Mir sehen nur selten unsern gegenwärtigen Gast, Sir«, begann er zu Mr. Wickfield gewendet, der von ihm in jeder Beziehung abstechend am entferntesten Ende des Tisches saß, »ich möchte vorschlagen, seine Anwesenheit noch mit ein paar Gläsern Wein zu feiern, wenn Sie nichts dagegen haben. – Mr. Copperfield, auf Ihr Wohl und Gesundheit!«

Ich mußte anstandshalber seine mir entgegengestreckte Hand annehmen, und dann ergriff ich mit ganz andern Gefühlen die meines gebrochnen alten Freundes, seines Teilhabers.

»Nun, Freund Partner«, sagte Uriah, »wenn ich mir die Freiheit nehmen derf, – wollen Sie nicht auch noch einen passenden Toast auf Copperfield ausbringen?«

Ich will darüber hinweggehen, wie Mr. Wickfield zuerst meine Tante, dann Mr. Dick, dann die Commons, dann Uriah leben ließ und jeden Toast zweimal trank – wie er, sich seiner Schwäche wohl bewußt, sich vergeblich bemühte, ihrer Herr zu werden, wie seine Scham über Uriahs Benehmen mit der Angst ihn zu reizen in ihm kämpfte, wie Uriah Heep sich mit sichtlichem Frohlocken wand und krümmte und ihn vor mir zur Schau stellte.

»Nun, Freund Partner«, sagte Uriah schließlich, »jetzt will ich noch einen andern Toast ausbringen und erlaube mir, um hohe Gläser zu bitten, denn er soll der Göttlichsten ihres Geschlechtes gelten.«

Mr. Wickfield hielt sein leeres Glas in der Hand. Ich sah, wie er es niedersetzte, wie er einen Blick auf das Bild warf, das Agnes so ähnlich sah, die Hand auf seine Stirne legte und in den Lehnstuhl zurücksank.

»Ich bin eigentlich eine viel zu niedrige Person, um ihre Gesundheit auszubringen«, fuhr Uriah fort, »aber ich bewundere sie – ich bete sie an.«

Kein physischer Schmerz, der Mr. Wickfields graues Haupt hätte treffen können, konnte mir schrecklicher sein als die geistige Qual, die er vergeblich durch Verkrampfen der Hände zu verbergen suchte.

»Agnes«, fuhr Uriah fort, der entweder nicht auf ihn sah oder seine Gebärde nicht verstand, »Agnes Wickfield ist, derf ich wohl sagen, die Göttlichste ihres Geschlechts. Derf ich unter Freunden offenherzig sprechen? Ihr Vater zu sein ist eine stolze Auszeichnung, aber ihr Gatte –«

Möge ich nie wieder einen solchen Schrei hören wie den, den Mr. Wickfield ausstieß, als er vom Tische aufsprang.

»Was ist los?« Uriah fuhr auf und wurde leichenblaß. »Sie sind doch nicht verrückt geworden, Mr. Wickfield, hoffe ich! Wenn ich sage, ich besitze so viel Ehrgeiz, Ihre Agnes zu meiner Agnes machen zu wollen, so habe ich dazu so gut ein Recht wie jeder andere.«

Ich hielt Mr. Wickfield mit meinen Armen umschlungen, beschwor ihn bei allem, was mir einfiel, und bei seiner Liebe zu Agnes, sich ein wenig zu beruhigen. Er gebärdete sich wie wahnsinnig, zerraufte sich das Haar, schlug sich vor die Stirn, versuchte sich von mir loszureißen, sprach kein Wort und starrte ins Leere. Blind gegen etwas Unsichtbares ankämpfend, das Gesicht verzerrt und mit stieren Augen – ein entsetzliches Schauspiel!

Ich beschwor ihn unzusammenhängend, aber in der inbrünstigsten Weise, sich nicht seiner Verzweiflung hinzugeben, sondern mich anzuhören. Ich bat ihn, an Agnes zu denken, mich mit ihr in Verbindung zu bringen, sich daran zu erinnern, wie sie und ich zusammen aufgewachsen waren, wie ich sie verehrte und liebte, sie, seine Freude und seinen Stolz!

Ich versuchte ihm ihr Bild in jeder Gestalt vorzuführen; ich warf ihm sogar vor, daß er nicht Festigkeit genug habe, ihr den Anblick einer solchen Szene zu ersparen. Vielleicht gelang es mir, ihn zu beruhigen, oder ließ seine Leidenschaftlichkeit von selbst nach, allmählich sträubte er sich weniger, sah mich anfangs leer, dann mit dankbarem Ausdruck in den Augen an und murmelte: »Ich weiß, Trotwood, ihr seid meine Lieblinge. Das Kind und du – ich weiß. Aber sieh ihn an.«

Er deutete auf Uriah, der bleich und starr in einer Ecke stand, ganz bestürzt, sich in seinen Berechnungen so getäuscht zu sehen.

»Sieh diesen Folterknecht an! Vor ihm habe ich Schritt um Schritt Namen und Ruf, Friede und Ruhe, Haus und Familie aufgegeben.«

»Ich habe für Sie Namen und Ruf, Friede und Ruhe, Haus und Familie erhalten«, sagte Uriah mit einer hastigen, bestürzten Miene, bemüht, einzulenken. »Seien Sie nicht verrückt, Mr. Wickfield! Wenn ich ein bißchen weiter gegangen bin, als Sie vorbereitet waren, kann ich doch einen Schritt zurück tun, dächte ich. Es ist doch noch nichts geschehen!«

»Ich forschte bei allem nach einfachen Beweggründen«, sagte Mr. Wickfield, »und begnügte mich mit dem Bewußtsein, seinen Eigennutz an mich gefesselt zu haben, als ich ihn aufnahm. Aber sieh ihn – sieh ihn an jetzt in seiner wahren Gestalt.«

»Sie täten auch besser, ihn zum Schweigen zu bringen, Copperfield«, rief Uriah und wies zitternd mit seinem langen Zeigefinger auf mich. »Er wird gleich etwas sagen – hören Sie doch zu –, was ihm später leid tun wird, Ihnen verraten zu haben.«

»Ich will alles sagen«, schrie Mr. Wickfield verzweifelt. »Warum sollte ich nicht in der Hand jedes Menschen sein, wenn ich in der Ihrigen bin!«

»Hüten Sie sich! Ich sag es Ihnen!« rief Uriah mir wieder warnend zu. »Wenn Sie ihn nicht zum Schweigen bringen, sind Sie nicht sein Freund. Warum Sie nicht in der Hand jedes Menschen sein dürfen, Mr. Wickfield? Weil Sie eine Tochter haben! Sie und ich wissen, was mir wissen, nicht wahr?! Lassen Sie die Toten ruhen – wer wird es zur Sprache bringen? Ich gewiß nicht! Sehen Sie denn nicht, daß ich so unterwürfig bin, wie es nur sein kann?! Ich sag Ihnen doch, ich bin zu weit gegangen, und es tut mir leid. Was wollen Sie denn mehr, Sir?!«

»Ach Trotwood, Trotwood!« rief Mr. Wickfield, die Hände ringend. »Was ist aus mir geworden, seitdem ich dich das erste Mal in diesem Hause sah! Es ging schon damals mit mir bergab, aber durch welche Wüsteneien bin ich seitdem gewandert. Schwaches Gewährenlassen hat mich zugrunde gerichtet. Ein Schwelgen in der Erinnerung und ein Schwelgen im Vergessen. Mein Gram um die Mutter meines Kindes wurde zu einer Krankheit. Alles, was ich berührte, habe ich angesteckt. Ich habe elend gemacht, was ich am teuersten liebe, und ich weiß es, und du weißt es. Ich hielt es für möglich, ein Wesen in dieser Welt wahrhaftig lieben zu können und alle übrigen auszuschließen; ich hielt es für möglich, für eine Dahingeschiedne wahrhaft trauern zu können, ohne Anteil an dem Kummer aller andern Trauernden zu nehmen. So haben sich die Lehren, die mir das Leben gab, verzerrt. Ich habe von meinem eignen kranken, feigen Herzen gezehrt, und es hat von mir gezehrt. Geizend mit meinem Gram, geizend mit meiner Liebe, selbstsüchtig in elender Scheu vor der dunkeln Seite der beiden Gefühle zurückschrecken – o, sieh her, welche Ruine ich bin, und hasse mich, verabscheue mich!«

Er sank in seinen Stuhl und schluchzte leise. Seine Aufregung ließ mehr und mehr nach. Uriah kam aus seiner Ecke hervor.

»Ich weiß es ja nicht, was ich alles im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit getan habe«, sagte Mr. Wickfield und streckte die Hände gegen mich aus, als wolle er ein Verdammungsurteil bittend abwehren. »Er, er weiß es am besten«, – er blickte auf Uriah Heep – »denn er hat immer als Einflüsterer hinter mir gestanden. Da siehst du den Mühlstein um meinen Hals. Du findest ihn in meinem Haus und in meiner Kanzlei. Du hörst, was Heep noch vor wenigen Minuten sprach, was brauche ich noch mehr zu sagen!«

»Sie haben überhaupt nicht nötig, so viel oder nur halb so viel oder überhaupt etwas zu sagen«, sprudelte Uriah, halb tückisch, halb kriecherisch hervor. »Sie hätten auch gar nicht so viel Aufhebens davon gemacht, wenn nicht der Wein gewesen wäre. Sie werden morgen klarer drüber denken, Sir. Wenn ich zuviel gesagt habe oder mehr als ich meinte, was tut das! Ich habe es doch wieder zurückgenommen!«

Die Türe ging auf, und Agnes glitt herein, ohne eine Spur von Farbe auf ihrem Gesicht, legte den Arm um Mr. Wickfields Hals und sagte gefaßt: »Papa, du bist nicht wohl. Komm mit mir!«

Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter wie in tiefer Scham und verließ mit ihr das Zimmer. Ihre Blicke begegneten den meinen nur eine Sekunde lang, aber ich erkannte, wie viel sie von dem Geschehenen wußte.

»Ich hätte nicht gedacht, daß er es so übel aufnehmen würde, Master Copperfield«, sagte Uriah. »Schadet nichts. Morgen werden mir wieder gute Freunde sein. Es ist zu seinem Besten. Ich bin immer demütigst um sein Bestes besorgt.«

Ich gab keine Antwort und ging hinauf in das stille Zimmer, wo Agnes so oft neben mir, wenn ich studierte, gesessen hatte. Es wurde spät nachts, doch niemand kam. Ich nahm ein Buch und versuchte zu lesen. Ich hörte die Uhren zwölf Uhr schlagen und las immer noch, ohne zu wissen was, als Agnes' Hand mich berührte.

»Du reisest morgen frühzeitig ab, Trotwood. Laß uns jetzt Abschied nehmen.«

Sie hatte geweint, aber ihr Antlitz war jetzt ruhig und schön.

»Gott segne dich!« sagte sie und gab mir die Hand.

»Liebste Agnes, ich sehe, du wünschest nicht von dem Vorfall heute abend zu sprechen – aber läßt sich denn gar nichts tun?«

»Wir müssen unser Vertrauen auf Gott setzen«, gab sie zur Antwort.

»Kann ich nichts tun, ich – der immer mit seinen kleinen Schmerzen zu dir kommt.«

»Und die meinigen damit um so viel leichter macht«, erwiderte sie. »Nein, lieber Trotwood.«

»Es klingt anmaßend von mir, liebe Agnes, wo ich so arm an allem bin und du so reich an Güte, Entschlossenheit und allen edlen Eigenschaften, – an dir zu zweifeln oder dir Ratschläge zu geben, aber du weißt, wie sehr ich dich liebe und wie viel ich dir verdanke. Du wirst dich niemals einem falschen Pflichtgefühl aufopfern, nicht wahr, Agnes?«

Einen Augenblick lang viel aufgeregter als ich sie je gesehen, trat sie einen Schritt zurück.

»Sage, daß du nicht an so etwas denkst, liebe Agnes, die du mir mehr bist als eine Schwester! Denke, was es heißt, ein Herz und eine Liebe wie die deinige hinzugeben!«

Noch viele, viele Jahre später sah ich dieses Gesicht vor mir aufsteigen mit einem schnell verschwindenden Blick, nicht erstaunt, nicht anklagend, nicht bedauernd.

Gleich darauf wurde ihr Ausdruck zu einem lieblichen Lächeln, und sie sagte zu mir, sie habe ihretwegen keine Furcht, noch brauchte ich welche zu haben. Dann nahm sie Abschied von mir, nannte mich Bruder und ging.

 

Der Tag war noch nicht angebrochen, als ich vor dem Gasthof auf die Landkutsche stieg. Eben wollten wir abfahren, da tauchte in der Dämmerung Uriahs Kopf auf.

»Copperfield«, sagte er mit einem heiseren Flüstern, als er sich an dem eisernen Geländer des Daches festhielt, »ich glaubte, Sie würden es gerne hören vor Ihrer Abreise, daß alles zwischen uns wieder geebnet ist. Ich war heute früh in seinem Zimmer und habe alles in Ordnung gebracht. Obgleich ich nur eine niedrige Person bin, bin ich doch für ihn von Nutzen, und er versteht sich auf sein Interesse, wenn er nicht berauscht ist. Was für ein angenehmer Mann er doch im Grunde ist, Master Copperfield!«

Ich erwiderte bloß, ich freute mich, daß er ihn um Verzeihung gebeten habe.

»O selbstverständlich! Bei einer niedrigen Person, was ist da eine Bitte um Verzeihung! Nichts ist leichter! – Noch eins. Haben Sie schon einmal«, sagte Uriah mit einem Zucken, »eine Birne gepflückt, ehe sie reif war, Master Copperfield?«

»Ich glaube wohl.«

»Das tat ich gestern abend, aber sie wird schon noch reif werden. Nur abwarten muß man es. Ich kann warten!«

Nach einem von Worten übersprudelnden Abschied stieg er wieder hinunter, als der Kutscher sich auf den Bock setzte. Ich weiß nicht, ob er etwas kaute, um sich gegen die rauhe Morgenluft zu schützen, aber er machte Bewegungen mit seinem Mund, als wäre die Birne schon reif und er schmatze mit den Lippen danach.

 


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