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Ich fing den nächsten Tag abermals mit einem Sprung in das römische Bad an und machte mich dann nach Highgate auf den Weg. Ich war jetzt nicht mehr mutlos, ich fürchtete mich nicht mehr vor einem schäbigen Rock und fühlte keine Sehnsucht nach feurigen Eisenschimmeln. Ich sah das Unglück, das uns betroffen, heute in einem ganz andern Licht als gestern. Alles, was ich tun konnte, war, daß ich meiner Tante zeigte, daß sie ihre Güte nicht an einen gefühllosen, undankbaren Menschen weggeworfen hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als an die harte Schule meiner jungen Jahre zu denken, mit entschloßnem und standhaftem Herzen ans Werk zu gehen, die Axt zur Hand zu nehmen, um mir selbst durch den Wald von Hindernissen einen Weg zu bahnen – zu Dora. Und ich ging raschen Schrittes, als könnte ich es schon dadurch verrichten.
Als ich auf der vertrauten Straße nach Highgate dahineilte, diesmal zu einem ganz andern Zweck als damals, schien es mir, als ob sich mein Leben ganz und gar verändert hätte. Aber das entmutigte mich nicht. Mit dem neuen Leben kam neuer Zweck und neue Anstrengung. Groß war die Arbeit, unschätzbar der Preis. Dora war der Preis und Dora mußte gewonnen werden.
Ich geriet derartig in Begeisterung, daß es mir ordentlich leid tat, keinen schäbigen Rock anzuhaben. Ich sehnte mich danach, mit der Axt auf die Schwierigkeiten loszuhauen; am liebsten hätte ich einen alten Mann mit einer Drahtbrille, der am Weg Steine klopfte, um seinen Hammer gebeten, damit ich für Dora einen Pfad aus Granit bahnen könnte. Meine Aufregung versetzte mich so in Hitze und außer Atem, daß ich mir vorkam, als hätte ich wer weiß wieviel schon vollbracht. In dieser Verfassung trat ich in ein Häuschen, das zu vermieten stand. Ich besichtigte es genau, denn ich fühlte die Notwendigkeit, praktisch zu werden. Es paßte für mich und Dora ausgezeichnet. Vorn ein kleiner Garten, in dem Jip herumlaufen und durch das Gitter die Leute anbellen konnte, und oben ein schönes Zimmer für meine Tante. Ich verließ das Haus noch erhitzter als vorher und stürmte nach Highgate in einem Tempo, daß ich eine volle Stunde zu früh ankam und mich erst lange abkühlen mußte, ehe ich fähig war, vor anständigen Leuten zu erscheinen.
Meine erste Sorge war, das Haus des Doktors ausfindig zu machen. Es lag nicht in dem Teil von Highgate, wo Mrs. Steerforth wohnte, sondern auf der andern Seite des kleinen Städtchens. Sodann ging ich, von einem unüberwindlichen Drange getrieben, in ein Gäßchen neben Mrs. Steerforths Haus zurück und blickte über die Gartenmauer. Die Laden vor den Fenstern seines Zimmers waren geschlossen. Die Tür des Gewächshauses stand offen, und Rosa Dartle ging barhaupt und mit raschem, ungestümem Schritt auf einem Kiesweg im Garten auf und ab. Sie kam mir vor wie ein wildes Tier, das sich vor den Käfigstäben an seiner Kette hin und her schleppt und sich das Herz zergrämt.
Ich wünschte, ich wäre lieber gar nicht hergekommen, stahl mich wieder fort und schlenderte bis zehn Uhr herum.
Als ich das Häuschen des Doktors erreichte – ein hübsches, altes Bauwerk, an das ziemlich viel Geld gewandt worden sein mußte, um es auszubessern und teilweise umzubauen –, sah ich meinen ehemaligen Lehrer im Garten an der Seite des Hauses auf und ab gehen, genauso mit Gamaschen und Brille wie in meiner Schulzeit. Auch viele hohe Bäume standen in seiner Nähe wie damals, und wieder hüpften zwei oder drei Krähen auf dem Rasen herum und sahen ihn an, als ob sie mit ihren Schwestern in Canterbury in Briefwechsel stünden und ihn deshalb so genau beobachteten.
Ich wußte, wie nutzlos es war, aus der Entfernung seine Aufmerksamkeit erregen zu wollen, und entschloß mich, die Türe zu öffnen und hinter ihm dreinzugehen, damit wir einander begegneten, wenn er sich umdrehte. Als er auf mich zukam, sah er mich eine Weile gedankenvoll an, offenbar im Geiste ganz woanders –, dann plötzlich erhellte sich sein wohlwollendes Gesicht, strahlte vor Freude, und er ergriff meine beiden Hände.
»Aber, mein lieber Copperfield«, sagte er, »Sie sind ja zum Manne gereift. Wie geht es Ihnen denn? Ich bin außer mir vor Freude, Sie wiederzusehen. Mein lieber Copperfield, wie Sie sich herausgemacht haben! Sie sind ja ganz – ja – weiß Gott!«
Ich sprach die Hoffnung aus, ihn wohl zu finden, ebenso Mrs. Strong.
»O ja, ja. Ännie ist wohlauf und wird entzückt sein, Sie wiederzusehen. Sie waren immer ihr Liebling. Sie äußerte es schon gestern abend, als Ihr Brief kam. Und – ja – natürlich – Sie erinnern sich doch noch Mr. Jack Maldons, Copperfield?«
»Vollkommen, Sir.«
»Natürlich, natürlich! Auch ihm geht es gut.«
»Ist er wieder heimgekehrt, Sir?« fragte ich.
»Aus Indien? Ja. Mr. Jack Maldon konnte das Klima nicht vertragen. Mrs. Markleham – haben Sie nicht Mrs. Markleham vergessen?«
Den »General« vergessen! In der kurzen Zeit!
»Die arme Mrs. Markleham«, fuhr der Doktor wieder fort, »war ganz außer sich seinetwegen; so ließen wir ihn wieder zurückkehren und kauften ihm eine patente kleine Stellung, wo es ihm viel besser gefällt.«
Ich kannte Mr. Jack Maldon zu gut, um nicht zu vermuten, daß es eine Stelle war, die nicht viel Arbeit erforderte, aber desto mehr Gehalt trug. Der Doktor, die Hand auf meine Schulter gelegt und sein freundliches Gesicht mir aufmunternd zugewendet, fuhr fort, auf und ab zu gehen, und sagte:
»Um auf Ihren Vorschlag zurückzukommen, lieber Copperfield! Es ist mir gewiß höchst angenehm, aber können Sie Ihre Zeit nicht besser anwenden? Sie haben sich damals bei uns sehr ausgezeichnet. Sie eignen sich zu allem möglichen. Sie haben einen Grund gelegt, auf dem sich jedes Gebäude erheben kann, und ist es nicht jammerschade, wenn Sie die schönste Zeit Ihres Lebens einer so armseligen Beschäftigung, wie Sie sie bei mir finden, widmen?«
Ich wurde wieder sehr enthusiastisch und verlieh meiner Bitte durch poetischen Schwung einen großen Nachdruck und wies darauf hin, daß ich noch einen andern Beruf habe.
»Das ist wohl richtig«, entgegnete der Doktor, »jedenfalls macht es einen Unterschied, daß Sie schon ein bestimmtes Studium vor sich haben, aber mein lieber, junger Freund, was sind siebzig Pfund jährlich!«
»Sie verdoppeln unser Einkommen, Dr. Strong«, sagte ich.
»O Gott! Wie schrecklich! Ich wollte sagen, nicht daß ich meine, mich streng auf siebzig Pfund jährlich zu beschränken, ich habe von vorneherein daran gedacht, dem jungen Mann, den ich auf diese Weise beschäftige, noch außerdem ein Präsent zu machen. Selbstverständlich denke ich auch an eine jährliche Extravergütung.«
»Mein verehrter Lehrer«, sagte ich – diesmal ohne poetischen Schwung »ich schulde Ihnen bereits mehr, als ich jemals in Worte bringen kann –«
»Nein, nein«, unterbrach mich der Doktor, »ich bitte Sie!«
»Wenn Sie mich in meiner freien Zeit – das ist morgens und abends beschäftigen können und glauben, daß das wirklich siebzig Pfund jährlich wert ist, so erweisen Sie mir einen so großen Dienst, daß ich es gar nicht ausdrücken kann.«
»O Gott. Daß man mit so wenig Geld so viel ausrichten kann! Gott! Gott! Aber sowie Sie irgend etwas Besseres finden, müssen Sie es nehmen. Auf Ihr Wort jetzt!« Das war so seine alte Art von jeher gewesen, wenn er sich im Ernst an das Ehrgefühl von uns Schulknaben gewendet hatte.
»Auf mein Wort, Sir«, antwortete ich, unserer alten Schulgewohnheit gemäß.
»So sei es.« Er klopfte mir auf die Schulter und ging eingehängt mit mir auf und ab.
»Und ich werde noch zwanzigmal glücklicher sein, Sir«, brachte ich eine unschuldige Schmeichelei an, »wenn Sie mich mit dem Wörterbuch beschäftigen.«
Der Doktor blieb stehen, klopfte mir wieder lächelnd auf die Schulter und rief mit höchst ergötzlich anzusehendem Triumph, als ob ich bis an die äußersten Grenzen menschlichen Scharfsinns vorgedrungen wäre:
»Mein lieber junger Freund. Sie haben es erraten! Es handelt sich um das Wörterbuch.«
Wie konnte es auch anders sein. Seine Taschen waren damit so angefüllt wie sein Kopf. Er sagte mir, daß er wunderbare Fortschritte mit seiner Arbeit gemacht habe, seitdem er sich vom Unterricht zurückgezogen, und daß ihm nichts besser passen könnte als mein Vorschlag, früh und abends ein paar Stunden zu arbeiten, da er den Tag über nachdenken müsse. Seine Papiere seien ein wenig in Verwirrung geraten, weil Mr. Jack Maldon sich ihm als Sekretär angeboten habe und an diese Art Beschäftigung nicht sehr gewöhnt sei; aber wir würden bald alles in Ordnung haben und dann rasche Fortschritte machen.
Später fand ich, daß Mr. Jack Maldons frühere Bemühungen die Sache viel schwieriger gestalteten, als zu erwarten war, denn er hatte sich nicht darauf beschränkt, unzählige Fehler zu machen, sondern hatte auch auf das Manuskript des Doktors so viele Soldaten und Damenköpfe gezeichnet, daß man oft gar nichts mehr lesen konnte.
Der Doktor war sehr erfreut über die Aussicht, bald ans Werk gehen zu können, und wir setzten den Beginn auf nächsten Morgen sieben Uhr fest. Wir wollten jeden Morgen und Abend je zwei bis drei Stunden arbeiten mit Ausnahme der Samstage, wo ich mich ausruhen sollte. Dasselbe war natürlich mit den Sonntagen der Fall; die Bedingungen fielen also sehr angenehm für mich aus.
Nachdem unsere Pläne so zu unserer gegenseitigen Zufriedenheit geordnet waren, führte mich der Doktor ins Haus, um mich Mrs. Strong vorzustellen. Wir fanden sie in ihres Gatten neuem Studierzimmer beschäftigt, seine Bücher abzustauben, – eine Freiheit, die nur sie sich mit diesen Heiligtümern erlauben durfte.
Man hatte meinetwegen das Frühstück verschoben, und wir setzten uns zusammen zu Tisch. Wir saßen noch nicht lange, als ich in Mrs. Strongs Gesicht, noch ehe ich einen Laut hörte, Anzeichen, daß irgend jemand ankäme, wahrnahm. Ein Herr kam an das Tor geritten, führte das Pferd in den kleinen Hof, als ob er hier zu Hause sei, band es an einen Ring an der Mauer an und trat, die Reitpeitsche in der Hand, in das Frühstückszimmer. Es war Mr. Jack Maldon. Er schien mir in Indien durchaus nicht gewonnen zu haben. Allerdings war ich heute sehr fanatisch, besonders jungen Leuten gegenüber, die keine Bäume im Walde der Schwierigkeiten fällten, und mein Urteil muß daher mit Vorsicht aufgenommen werden.
»Mr. Jack«, stellte uns der Doktor vor, »Copperfield.« Mr. Jack schüttelte mir die Hand, nicht besonders herzlich, wie mir vorkam, und mit einer gelangweilten Gönnermiene, die mich insgeheim sehr wurmte.
»Haben Sie schon gefrühstückt, Mr. Jack?«
»Ich frühstücke fast nie, Sir«, erwiderte er, den Kopf in den Großvaterstuhl zurückgelehnt. »Es langweilt mich.«
»Gibts etwas Neues?« fragte der Doktor.
»Gar nichts, Sir. Es verlautet, die Leute oben im Norden seien hungrig und unzufrieden. Aber irgendwo sind sie immer hungrig und unzufrieden.«
Der Doktor machte ein ernstes Gesicht und sagte, als wollte er von etwas anderm sprechen: »Und so gibt es also gar nichts Neues? Keine Nachricht, sagt man, ist eine gute Nachricht.«
»In den Zeitungen steht etwas Langes und Breites über einen Mord. Aber irgendwo wird ja immer gemordet; ich habe die Geschichte nicht gelesen.«
Eine affektierte Gleichgültigkeit allen Begebnissen und Leidenschaften der Menschheit gegenüber galt damals noch nicht wie heute als besonders vornehm. Ich habe sie später so zur Mode werden sehen, daß ich elegante Herren und Damen gekannt habe, die ebensogut als Raupen hätten geboren sein können. Vielleicht fiel es mir damals mehr auf, weil es mir etwas Neues war, aber keinesfalls erhöhte es meine Meinung von Mr. Jack Maldon, noch auch mein Vertrauen zu ihm.
»Ich wollte fragen, ob Ännie heute abend in die Oper gehen will?« fragte Mr. Maldon, zu seiner Kusine gewendet. »Es ist die letzte gute Vorstellung in der Saison, und eine Sängerin tritt heute auf, die sie sich wirklich anhören sollte. Sie ist ganz ausgezeichnet. Außerdem entzückend scheußlich«, schloß er, wieder in Gleichgültigkeit versinkend.
Der Doktor, immer voll Freude, wenn es galt, seiner jungen Frau ein Vergnügen zu bereiten, sagte:
»Du mußt gehen, Ännie, du mußt gehen.«
»Ich möchte lieber zu Hause bleiben«, entgegnete Mrs. Strong, »ich möchte wirklich lieber zu Hause bleiben.«
Ohne ihren Vetter anzusehen, wendete sie sich an mich, erkundigte sich nach Agnes und fragte, ob sie vielleicht heute auch käme, und legte dabei eine so deutliche Unruhe an den Tag, daß ich mich wunderte, daß es dem Doktor nicht auffiel.
Aber er sah nichts. Er sagte ihr scherzend, sie sei doch jung und müsse sich unterhalten und zerstreuen und dürfe sich von so einem alten langweiligen Menschen wie er nicht anöden lassen. Außerdem möchte er sie später gerne die Lieder der neuen Sängerin singen hören, und wie könnte sie das tun, wenn sie nicht hinginge. So ließ sich der Doktor nicht abbringen, und Mr. Jack Maldon sollte zum Mittagessen wiederkommen.
Ich war am nächsten Morgen sehr gespannt, ob Mrs. Strong wirklich in der Oper gewesen. Sie war nicht hingegangen, sondern hatte nach London geschickt, um ihrem Vetter abzusagen, und eine Art Nachmittagbesuch bei Agnes gemacht.
Sie hatte ihren Gatten überredet mitzugehen. Dann waren sie zu Fuß nach Hause zurückgekehrt, da der Abend, wie der Doktor mir sagte, herrlich gewesen sei. Ich hätte gerne gewußt, ob sie wohl ins Theater gegangen wäre, wenn Agnes nicht in London geweilt hätte, denn es interessierte mich, ob Agnes auch auf sie ihren guten Einfluß ausübte.
Sie sah nicht sehr glücklich aus, wie mir vorkam, aber immerhin zufrieden; oder verstellte sie sich vielleicht? Sie saß die ganze Zeit, während wir arbeiteten, am Fenster und bereitete unser Frühstück, das wir bissenweise während der Arbeit verzehrten. Als ich um neun Uhr fortging, kniete sie vor dem Doktor nieder und zog ihm die Schuhe und Gamaschen an. Ein zarter Schatten von ein paar grünen Zweigen, die vom Garten hereinhingen, fiel auf ihr Gesicht, und ich mußte den ganzen Heimweg an jenen Abend denken, wo sie zu ihrem Gatten aufgeblickt, während er ihr vorlas.
Ich hatte jetzt ziemlich viel zu tun, stand um fünf Uhr auf und kam erst um neun oder zehn Uhr abends nach Hause. Aber es gewährte mir eine außerordentliche Befriedigung, so angestrengt beschäftigt zu sein. Ich ging immer schnellen Schrittes und sagte mir voll Begeisterung, je mehr ich mich abmühe, desto mehr tue ich, mir Dora zu verdienen.
Ich hatte ihr noch nichts von meinen veränderten Lebensverhältnissen sagen lassen können, weil sie zu Miss Mills erst in einigen Tagen kommen sollte und ich eine Mitteilung bis dahin aufgeschoben hatte. In meinen Briefen (unsern ganzen Briefverkehr besorgte Miss Mills) hatte ich bloß angedeutet, daß ich ihr viel erzählen müßte. Unterdessen setzte ich mich auf halbe Ration Bärenpomade, gab wohlriechende Seife und Lavendelwasser auf und verkaufte mit großen Opfern drei Westen als zu luxuriös für meine ernste Lebensbahn.
Damit noch nicht zufrieden und von Ungeduld erfüllt, noch mehr zu tun, suchte ich Traddles auf, der jetzt im Dachgiebel eines Hauses in Holborn, Castlestreet, wohnte. Ich nahm Mr. Dick mit, der mich schon zweimal nach Highgate begleitet und seine Bekanntschaft mit dem Doktor wieder erneuert hatte.
Ich nahm ihn mit, weil er, das Mißgeschick meiner Tante lebhaft mitfühlend und von dem aufrichtigen Glauben durchdrungen, daß kein Galeerensträfling angestrengter arbeiten könnte als ich, anfing, Laune und Appetit zu verlieren aus Kummer, nichts Nützliches zu tun zu haben. In dieser Verfassung war er unfähiger als je, die Denkschrift zu Ende zu bringen; je angestrengter er daran arbeitete, desto öfter kam der unglückselige König Karl I. hinein. Von ernster Besorgnis erfüllt, daß seine Krankheit sich verschlimmern könnte, wenn wir ihn nicht durch eine unschuldige Täuschung glauben machten, daß er für uns von Nutzen sein könnte, hatte ich mich entschlossen Traddles zu fragen, ob er nicht Hilfe wüßte. Ehe ich hinging, setzte ich ihm das Geschehene ausführlich auseinander, und Traddles schrieb mir einen prachtvollen Brief zurück, in dem er mich seiner vollsten Teilnahme und unwandelbaren Freundschaft versicherte.
Wir fanden ihn, erquickt durch den immerwährenden Anblick des Blumentopfs und des kleinen runden Tisches, in einer Ecke des Zimmers eifrig am Schreibtisch beschäftigt. Er empfing uns mit offenen Armen, und seine Freundschaft mit Mr. Dick war im Nu geschlossen. Mr. Dick gab seiner festen Überzeugung Ausdruck, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, und wir beide sagten dazu: »Sehr wahrscheinlich!«
Das erste, worüber ich Traddles zu Rate zog, war folgendes: Mir war bekannt, daß viele Leute, die sich später auf den verschiedensten Gebieten ausgezeichnet, ihre Laufbahn mit Berichterstatten über die Parlamentsdebatten begonnen hatten. Ich wußte, daß Traddles die Zeitungskarriere als eine seiner Hoffnungen im Auge hatte, und so bat ich ihn um Rat. Er sagte mir, daß die rein mechanische Kunst der Kammerstenographie fast ebenso schwer sei wie das Erlernen von sechs Sprachen und daß man dazu bei großer Ausdauer immerhin ein paar Jahre brauche. Er meinte natürlich, daß das genüge, um mich von meinem Entschluß abzubringen, aber ich sah nichts als die Möglichkeit, hier einige Bäume im Walde der Hindernisse niederzuhauen, und beschloß sofort, mir meinen Weg zu Dora durch dieses Dickicht zu bahnen.
»Ich bin dir sehr verpflichtet, lieber Traddles,« sagte ich. »Ich werde morgen anfangen.«
Traddles machte ein erstauntes Gesicht, denn er wußte noch nichts von meiner begeisterten Stimmung.
»Ich werde mir ein gutes Lehrbuch der Stenographie kaufen und mich damit in den Commons beschäftigen, wo ich wenig genug zu tun habe; ich werde zu meiner Übung die Reden in unserm Gerichtshof mitschreiben, lieber Freund, und werde es schon lernen.«
»Mein Gott«, sagte Traddles und riß die Augen auf, »ich wußte gar nicht, daß du so ein entschlossener Charakter bist, Copperfield.«
Wie hätte er es auch wissen können, war es mir doch selbst neu genug. Ich ging jedoch darüber hinweg und brachte Mr. Dick aufs Tapet.
»Ach, wenn ich irgend etwas tun könnte, Mr. Traddles«, fiel Mr. Dick betrübt ein, – »wenn ich die Pauke schlagen könnte oder irgendein Instrument blasen!«
Der Ärmste! Ich zweifle nicht, daß er eine solche Beschäftigung jeder andern vorgezogen haben würde.
Traddles, der um nichts in der Welt die Miene verzogen hätte, erwiderte ruhig:
»Sie schreiben doch eine sehr hübsche Handschrift, Sir. Sagtest du es mir nicht, Copperfield?«
»Eine wunderschöne«, bestätigte ich. Und das war auch der Fall; er schrieb ungewöhnlich sauber und hübsch.
»Könnten Sie nicht vielleicht Akten kopieren, wenn ich Ihnen welche verschaffte?«
Mr. Dick sah mich fragend an. »Was glaubst du, Trotwood?«
Ich schüttelte den Kopf. Mr. Dick schüttelte auch den Kopf und seufzte. »Sag ihm das von der Denkschrift, Trotwood«, bat er mich.
Ich setzte Traddles auseinander, daß es sehr schwer sei, König Karl I. aus Mr. Dicks Manuskripten fernzuhalten, und Mr. Dick hörte zu, sah Traddles ehrerbietig und ernsthaft dabei an und lutschte an seinem Daumen.
»Aber die Akten, die ich meine, sind ja schon ganz fertig und brauchen bloß abgeschrieben zu werden«, sagte Traddles nach einer Weile Nachdenkens. »Mr. Dick hat mit dem Inhalt nichts zu schaffen. Würde das nicht einen Unterschied machen, Copperfield? Sollte man es nicht auf alle Fälle versuchen?«
Das flößte uns neue Hoffnung ein; Traddles und ich streckten die Köpfe zusammen, während uns Mr. Dick von seinem Stuhle aus besorgt beobachtete, und heckten einen Plan aus, der sich schon am nächsten Tag als unerwartet erfolgreich erwies.
Auf einem Tisch am Fenster in der Buckingham-Straße legten wir ihm die von Traddles verschaffte Arbeit, darin bestehend, daß er eine Anzahl Kopien eines gerichtlichen Dokuments über ein Wegerecht anzufertigen hatte, – vor, und auf den Tisch daneben legten wir das letzte unvollendete Original der großen Denkschrift. Wir belehrten Mr. Dick, daß er genau abzuschreiben habe, was vor ihm lag, ohne im geringsten vom Inhalt der Akten abzuweichen. Dagegen müsse er sich schleunigst zur Denkschrift verfügen, wenn er sich gedrungen fühlen sollte, König Karl I. auch nur im mindesten zu erwähnen. Wir ermahnten ihn, darin unerbittlich zu sein, und ließen meine Tante bei ihm sitzen, damit sie ihn bewachte.
Sie erzählte uns später, daß er sich zuerst wie jemand, der mehrere Instrumente zugleich spielen müßte, benommen und seine Aufmerksamkeit beständig zwischen den beiden Tischen geteilt habe, bald aber dabei sehr müde geworden sei und seine Abschrift gehörig und in ordentlicher geschäftsmäßiger Weise vorgenommen, die Denkschrift hingegen auf eine passendere Zeit verschoben habe. Mit einem Wort, er hatte bereits am Samstag abend der nächsten Woche, obgleich wir Sorge trugen, daß er sich nicht überarbeitete, zehn Schilling neun Pence verdient.
Mein Leben lang werde ich nicht vergessen, wie er in allen Läden der Nachbarschaft herumlief, um seinen Schatz in Sixpencestücke umzuwechseln, und sie meiner Tante auf einem Teller in der Form eines Herzens zusammengelegt mit Tränen der Freude und des Stolzes in den Augen brachte. Er stand von dem Augenblicke an, wo er nützlich beschäftigt war, wie unter dem Einfluß eines Zaubers. Und wenn es an jenem Samstagabend einen glücklichen Menschen auf der Welt gab, so war es dieses dankbare Geschöpf, das meine Tante für die wunderbarste Frau der Schöpfung und mich für den wunderbarsten jungen Mann hielt.
»Jetzt ist es mit der Hungersnot vorbei, Trotwood«, sagte Mr. Dick, als er mir in der Ecke des Zimmers die Hand schüttelte. »Ich werde für sie sorgen, Sir!« und er fuhr mit den zehn Fingern in der Luft herum, als ob der Raum voll Goldstücke hinge.
Ich weiß kaum, wer sich mehr freute, Traddles oder ich. »Ich habe wahrhaftig Mr. Micawber ganz darüber vergessen«, sagte Traddles plötzlich, zog einen Brief aus der Tasche und gab ihn mir.
Der Brief – Mr. Micawber ließ nie die geringste Gelegenheit zu schreiben vorübergehen – war an mich adressiert:
»Durch gütige Vermittlung von T. Traddles, Hochgeboren, vom innern Juristenkollegium.« Er lautete:
Mein lieber Copperfield!
Sie sind vielleicht nicht ganz unvorbereitet auf die Nachricht, daß sich etwas gefunden hat. Ich erwähnte wohl schon bei einer früheren Gelegenheit, daß ich ein solches Ereignis erwartete.
Ich stehe im Begriffe, mich in einer Provinzstadt unserer grünen Insel, die mit Recht als eine glückliche Mischung des ackerbautreibenden und des geistlichen Standes bezeichnet werden kann, in unmittelbarer Beziehung zu einem der gelehrten Berufsfächer niederzulassen, Mrs. Micawber und unsere Sprößlinge werden mich begleiten. In einer spätern Epoche wird unsere Asche wahrscheinlich vermischt gefunden werden mit der heiligen Erde des Friedhofs in der Nähe des ehrwürdigen Doms, durch den die von mir erwähnte Stadt einen Ruf erlangt hat, der, wie ich wohl sagen darf, von China bis Peru reicht.
Indem ich von dem modernen Babylon scheide, wo wir so manchen Schicksalswechsel – wie ich hoffe, ehrenhaft – ertragen haben, können Mrs. Micawber und ich uns nicht verhehlen, daß wir jetzt für Jahre und vielleicht für immer von einem Wesen scheiden, das durch starke Bande an den Altar unseres häuslichen Lebens gefesselt ist. Wenn Sie am Vorabend eines solchen Abschieds unseren gemeinsamen Freund, Mr. Thomas Traddles, in unsere gegenwärtige Heimstätte begleiten und dort die einer solchen Gelegenheit angemessenen Wünsche austauschen wollen, so werden Sie unendlich verpflichten einen, der sich immer nennen wird
Ihr
Wilkins Micawber
Ich war froh, daß Mr. Micawber nicht mehr von Asche und Staub reden mußte und endlich wirklich etwas gefunden hatte. Da ich von Traddles erfuhr, daß die Einladung für den heutigen Abend galt, nahm ich sie an, und wir gingen zusammen nach der Wohnung, die Mr. Micawber unter dem Namen Mr. Mortimer innehatte und die am untern Ende von Grays-Inn-Road lag.
Die Räume dieser Wohnung waren so beschränkt, daß die Zwillinge – jetzt acht oder neun Jahre alt – in einem Klappbett im Familienzimmer schliefen, wo Mr. Micawber in einem Waschtischkruge ein Gebräu des angenehmen Getränks, wegen dessen er sich eines so großen Rufes erfreute, vorbereitet hatte. Es machte mir ein besonderes Vergnügen, bei dieser Gelegenheit die Bekanntschaft Master Micawbers, der jetzt zu einem vielversprechenden Knaben von zwölf oder dreizehn Jahren herangewachsen und mit jener Ruhelosigkeit der Glieder, die bei Jünglingen seines Alters kein allzu seltenes Phänomen ist, behaftet war, zu erneuern. Ich sah auch seine Schwester wieder, Miss Micawber, in der, wie Mr. Micawber uns sagte, seine Gattin, dem Phönix gleich, wiederauflebte.
»Mein lieber Copperfield«, begann Mr. Micawber, »Sie und Mr. Traddles finden uns im Begriffe, unsere Pilgerfahrt anzutreten, und werden gewiß die kleinen Unannehmlichkeiten, die von einem solchen Zustand unzertrennlich sind, entschuldigen.«
Ich sah mich um, während ich in entsprechender Weise antwortete, und bemerkte, daß die Familieneffekten, in keiner Hinsicht verwirrend umfangreich, bereits gepackt zur Reise bereit standen.
Ich wünschte Mrs. Micawber zur bevorstehenden Veränderung viel Glück.
»Mein lieber Mr. Copperfield«, sagte sie. »Von Ihrer freundlichen Teilnahme an allen unseren Schicksalen bin ich fest überzeugt. Meine Familie mag es meinetwegen als Verbannung betrachten, aber ich bin Gattin und Mutter und werde Mr. Micawber nie verlassen.«
Traddles, auf dem Mrs. Micawbers Auge ruhte, stimmte gefühlvoll bei.
»Das wenigstens«, sagte Mrs. Micawber, »ist meine Ansicht von der Pflicht, die ich übernahm, als ich die unwiderruflichen Worte wiederholte: ›Ich Emma nehme dich Wilkins‹. Ich las die Trauungsformel gestern abend bei Kerzenschimmer durch und bin zu dem Schlusse gekommen, daß ich Mr. Micawber nie verlassen kann, und«, setzte sie hinzu, »wenn ich mich auch in meiner Auffassung der kirchlichen Zeremonie irren kann, so werde ich ihn trotzdem nie verlassen.«
»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber etwas ungeduldig, »es hat doch niemand von dir etwas anderes erwartet.«
»Ich bin mir bewußt, mein lieber Mr. Copperfield«, fuhr Mrs. Micawber fort, »daß mich jetzt das Schicksal mitten unter Fremde versetzt, und weiß auch, daß die verschiedenen Mitglieder meiner Familie, denen Mr. Micawber in der höflichsten Weise von der Welt die Angelegenheit anzeigte, nicht die mindeste Notiz von seiner Mitteilung genommen haben. Es mag Aberglaube sein, aber es scheint mir Mr. Micawbers Fatum zu sein, daß er niemals Antworten auf den größten Teil der Mitteilungen, die er schreibt, erhält. Aus dem Stillschweigen meiner Familie bin ich berechtigt zu mutmaßen, daß sie gegen meinen Entschluß Einwendungen erhebt, aber ich würde mich von dem Pfade der Pflicht selbst nicht von Papa und Mama, wenn sie noch am Leben wären, abbringen lassen.«
Ich sprach mich dahin aus, daß auch ich das für die einzige richtige Art hielte.
»Es ist vielleicht ein Opfer, sich in einer Episkopalstadt einzukerkern«, sagte Mrs. Micawber, »aber wenn es für mich ein Opfer bedeutet, ein wieviel größeres ist es, Mr. Copperfield, für einen Mann von meines Gatten Fähigkeiten!«
»O, Sie ziehen in eine Episkopalstadt?« fragte ich.
Mr. Micawber, der uns mittlerweile aus dem Waschtischkrug eingeschenkt hatte, erwiderte:
»Nach Canterbury. Die Sache ist die, lieber Copperfield. Ich habe mich kontraktlich gebunden und mit Handschlag verpflichtet, unserm gemeinsamen Freunde Heep in der Eigenschaft eines Privatsekretärs beizustehen und zu dienen.«
Ich starrte Mr. Micawber, dem meine Überraschung große Freude machte, erstaunt an.
»Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen«, fuhr er mit wichtiger Miene fort, »daß Mrs. Micawbers Geschäftskenntnis und kluge Ratschläge in hohem Maße zu diesem Ausgang beigetragen haben. Der Fehdehandschuh, dessen Mrs. Micawber bereits bei einer früheren Gelegenheit Erwähnung tat, wurde in Form einer Annonce hingeworfen. Mein Freund Heep hob ihn auf, und so kam eine Zusammenkunft zustande. Von meinem Freunde Heep, der ein Mann von bemerkenswertem Scharfblick ist, möchte ich nur mit der allergrößten Hochachtung sprechen. Mein Freund Heep hat die Remuneration, die ich im voraus verlangte, nicht allzu hoch angesetzt, aber er machte von dem Werte meiner Dienste abhängig, inwieweit er mich vom Druck meiner materiellen Schwierigkeiten erlösen wolle, und auf diesen Wert meiner Dienstleistungen setze ich nun meine Hoffnung. Mein bißchen Geschicklichkeit und Intelligenz«, fügte er mit prahlerischer Bescheidenheit hinzu, »werde ich meinem Freunde Heep zur Verfügung stellen. Ich habe bereits einigen Einblick in die Jurisprudenz gewonnen – als Beklagter im Zivilprozeß – und werde mich ohne Verzug in die Kommentare des hervorragendsten und bemerkenswertesten unserer englischen Juristen vertiefen. Ich brauche wohl nicht zu bemerken, daß ich den Richter Blackstone meine.«
Ich saß die ganze Zeit über da, bestürzt über Mr. Micawbers Mitteilungen und außerstande, mir sie zu erklären, bis Mrs. Micawber den Faden des Gesprächs aufnahm.
»Auf eines vorzüglich möchte ich Mr. Micawbers Aufmerksamkeit lenken«, sagte sie. »Er darf sich während seiner Beschäftigung mit diesen untergeordneten Zweigen der Jurisprudenz in keiner Hinsicht der Möglichkeit berauben, später den Gipfel des Baumes erklimmen zu können. Ich bin fest überzeugt, daß, wenn Mr. Micawber sich mit ganzer Seele einem Beruf widmet, der seinen reichen Fähigkeiten und seiner fließenden Rednergabe so angemessen erscheint, er sich darin auszeichnen muß. Ich denke an die Stellung eines Richters oder eines Kanzlers. Schließt sich ein Individuum, ich frage Sie, Mr. Traddles, durch die Annahme einer Stelle, wie sie Mr. Micawber in Kürze bekleiden wird, dadurch von vorneherein von der Möglichkeit aus, zu einem der soeben genannten Posten befördert zu werden?«
»Meine Liebe«, bemerkte Mr. Micawber, nicht ohne ebenfalls einen fragenden Blick auf Traddles zu werfen, »zur Erörterung solcher Punkte haben wir wahrlich noch Zeit genug.«
»Micawber«, entgegnete sie, »nein! Du hast von jeher den Fehler im Leben begangen, daß du nicht weit genug in die Zukunft blicktest. Deiner Familie, wenn nicht dir selbst, bist du es schuldig, auch die entlegensten Punkte am Rande des Horizontes, bis zu dem dich deine Fähigkeiten führen können, ins Auge zu fassen.«
Mr. Micawber hustete und trank seinen Punsch mit einer Miene außerordentlicher Befriedigung aus, – blickte aber dabei immer noch fragend auf Traddles.
»Die Sache liegt einfach so, Mrs. Micawber«, erklärte Traddles, bemüht, ihr so schonend wie möglich die nötige Aufklärung beizubringen, »ich meine die wirkliche prosaische Tatsache, Sie verstehen –«
»Ganz recht«, sagte Mrs. Micawber, »mein lieber Mr. Traddles. Auch mein Wunsch ist es, hinsichtlich eines so hochwichtigen Gegenstandes so prosaisch und buchstäblich wie möglich zu Rate zu gehen.«
»Die wirkliche prosaische Tatsache liegt so«, fuhr Traddles fort, »daß dieser Zweig der juristischen Laufbahn, selbst wenn Mr. Micawber ein wirklicher Anwalt wäre –«
»Ganz recht«, unterbrach Mrs. Micawber.
»– damit gar nichts zu tun hat. Nur ein Rechtsgelehrter ist zu diesen Ämtern wählbar. Und Mr. Micawber kann nicht eher Rechtsgelehrter werden, ehe er nicht fünf Jahre Jus studiert hat.«
»Verstehe ich recht?« fragte Mrs. Micawber mit ihrer leutseligsten Geschäftsmiene, »verstehe ich Sie recht, lieber Mr. Traddles, daß nach Ablauf dieser Zeit Mr. Micawber als Richter oder Kanzler wählbar wäre?«
»Er wäre wählbar«, sagte Mr. Traddles und legte großen Nachdruck auf das letzte Wort.
»Ich danke Ihnen! Das genügt vollkommen. Wenn das der Fall ist und Mr. Micawber durch den Antritt seines neuen Amtes kein Recht aufgibt, so bin ich beruhigt. Ich spreche natürlich als Frau, aber ich bin von jeher der Meinung gewesen, daß Mr. Micawber das besitzt, was mein Papa ein juristisches Talent nannte. Und ich hoffe, Mr. Micawber betritt jetzt eine Laufbahn, wo sich diese Gabe entwickeln und ihm eine einflußreiche Stellung sichern wird.«
Mr. Micawber sah sich offenbar bereits am Ziele der Richterkarriere. Er strich sich mit der Hand wohlgefällig über den kahlen Kopf und sagte mit deutlich zur Schau getragener Resignation:
»Meine Liebe, wir wollen den Ratschlüssen des Schicksals nicht vorgreifen. Wenn es mir bestimmt ist, eine Richter-Perücke zu tragen, so bin ich wenigstens äußerlich auf diese Auszeichnung vorbereitet. Ich beklage den Verlust meines Haares nicht; wer weiß, ob ich nicht zu einem besonderen Zweck dessen beraubt wurde. – Es ist nebenbei bemerkt meine Absicht, lieber Copperfield, meinen Sohn für die Kirche zu erziehen, und ich will nicht leugnen, daß es mich seinetwegen glücklich machen würde, wenn ich zu bedeutender Stellung gelangte.«
»Für die Kirche?« fragte ich zerstreut, da ich immerwährend an Uriah Heep denken mußte.
»Ja«, sagte Mr. Micawber, »er hat eine sehr bemerkenswerte Kopfstimme und wird seine Laufbahn als Chorknabe beginnen. Unser Aufenthalt in Canterbury und unsere Konnexionen dortselbst werden ihn unzweifelhaft instand setzen, die erste sich bietende Stelle im Domchor zu erhalten.«
Als ich Master Micawber ansah und er uns, ehe er schlafen ging, das Lied vorsang: »Es klopft der Specht«, da schien es wirklich, als ob seine Stimme zwischen seinen Augenbrauen stecke und von dort ausginge. Er erntete viel Beifall, und dann wendete sich das Gespräch auf allgemeinere Themen. Meine veränderten Verhältnisse erfüllten mich zu sehr, als daß ich sie hätte für mich behalten können. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie außerordentlich entzückt Mr. und Mrs. Micawber waren, als sie von den Verlegenheiten meiner Tante erfuhren, und wie sehr es zur Vermehrung ihrer freundschaftlichen Stimmung beitrug.
Als es mit dem Punsch ziemlich auf die Neige ging, erinnerte ich Traddles, daß wir uns nicht trennen dürften, ohne unsern Freunden Gesundheit, Glück und Erfolg auf ihrer neuen Laufbahn zu wünschen. Ich bat Mr. Micawber unsere Gläser zu füllen und brachte den Toast in angemessener Form aus, worauf ich ihm über den Tisch die Hände schüttelte und zur Feier des großen Ereignisses Mrs. Micawber küßte. Im ersten Punkte ahmte mir Traddles nach. Hinsichtlich des zweiten hielt er seine freundschaftlichen Beziehungen nicht für alt genug, um es zu wagen.
»Mein lieber Copperfield«, antwortete Mr. Micawber, indem er aufstand, die Daumen in den Westentaschen, »Gefährte meiner Jugend, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, und mein geschätzter Freund Traddles – wenn es mir gestattet ist, ihn so zu nennen, Sie werden mir beide erlauben, Ihnen im Namen Mrs. Micawbers, meiner selbst und unserer Sprößlinge in wärmster und rückhaltlosester Weise für Ihre guten Wünsche zu danken. Man dürfte mit Recht erwarten, daß ich am Vorabende einer Wanderung, die uns zu einem ganz neuen Dasein führen wird«, – er redete, als ob er fünfhunderttausend Meilen reisen sollte – »einige Bemerkungen zum Abschied zwei solchen Freunden gegenüber machen würde, aber alles, was ich in diesem Sinn zu sagen hatte, ist bereits gesagt worden. Welche Stellung in der Gesellschaft ich auch immer auf dem Umwege über den gelehrten Beruf, dessen unwürdiges Mitglied ich zu werden im Begriff stehe, erklimmen werde, ich werde stets bemüht sein, ihr keine Schande zu machen, und Mrs. Micawber wird ihr in jeder Beziehung zur Zierde gereichen. Unter dem Druck vorübergehender pekuniärer Verbindlichkeiten, die ich mit der Absicht einging, sie sofort zu tilgen, doch leider daran durch eine Verkettung von Umständen verhindert war, habe ich mich genötigt gesehen, eine Tracht anzulegen, die meinen natürlichen Gefühlen widerstrebt – ich meine die Brille –, und einen Namen anzunehmen, auf den ich keinerlei gerechtfertigte Ansprüche besitze. Alles, was ich in dieser Beziehung zu sagen habe, ist, daß die Wolken über dem Schauplatz der Trostlosigkeit gewichen sind und daß der Gott des Tages abermals hoch über dem Bergesgipfel strahlt. Nächsten Montag mit Ankunft der Nachmittagpost berührt mein Fuß in Canterbury die heimatliche Heide, und mein Name wird wieder Micawber sein.«
Nach diesen Worten nahm Mr. Micawber seinen Platz wieder ein und trank mit gewichtigem Ernst zwei Gläser Punsch hintereinander. Dann sprach er feierlich:
»Noch eins bleibt mir zu tun, ehe diese Trennung vor sich geht, und zwar eine Tat, die das Billigkeitsgefühl von mir fordert. Mein Freund Mr. Thomas Traddles hat mir bei zwei verschiedenen Gelegenheiten mit seinem Wechselgiro ausgeholfen. Bei der ersten Gelegenheit ließ ich Mr. Thomas Traddles, lassen Sie es mich kurz sagen, – in der Tinte. Die Verfallzeit des zweiten ist noch nicht abgelaufen. Der Betrag der ersten Verbindlichkeit« – hier sah Mr. Micawber mit prüfendem Blick in sein Notizbuch – »war, wenn ich nicht irre, 23 £ 4 sh. 9½, der des zweiten 18–6–2, diese Summen machen zusammen, wenn ich nicht irre, 41 £ 10 sh. 11½. Mein Freund Copperfield wird vielleicht die Güte haben, es nachzurechnen.«
Ich tat es, und es stimmte.
»Diese Metropole und meinen Freund Mr. Thomas Traddles zu verlassen«, sagte Mr. Micawber, »ohne mich des pekuniären Teils meiner Verpflichtungen entledigt zu haben, würde wie eine unerträgliche Last auf meinen Geist drücken. Ich habe daher für meinen Freund Mr. Thomas Traddles dieses Dokument hier, das den gewünschten Zweck erfüllt, entworfen. Ich erlaube mir, meinem Freunde Mr. Thomas Traddles einen Schuldschein mit meiner Unterschrift über 41 £ 10 sh 11½ zu überreichen, und schätze mich glücklich, meine sittliche Würde gewahrt zu haben und zu wissen, daß ich jetzt wieder mit erhobenem Haupte vor meine Mitmenschen hintreten kann.«
Mit diesen Geleitworten legte er seinen Schuldschein in Traddles Hände und fügte hinzu, daß er ihm in allen Lebenslagen viel Glück und jedmöglichen Erfolg wünsche. Ich bin überzeugt, daß nicht nur er das Gefühl hatte, seine Schuld bar bezahlt zu haben, sondern auch, daß Traddles selbst den Unterschied nicht sogleich begriff.
Er fühlte sich auf seine Handlungsweise so stolz, daß seine Brust noch einmal so breit aussah, als er uns die Treppen hinableuchtete. Wir schieden beiderseits mit großer Herzlichkeit, und als ich Traddles nach Hause begleitet hatte und heimwärts ging, dachte ich mir des öfteren, daß ich es wohl nur den Erinnerungen an die Zeit, wo ich bei Mr. Micawber als Knabe gewohnt, verdankte, daß er mich nie um Geld ansprach, so leichtsinnig er auch sonst mit dem anderer Leute umging.
Ich hätte gewiß nicht den Mut gehabt, ihm eine Bitte abzuschlagen, und ich bezweifle nicht, – zu seiner Ehre sei es gesagt – daß er das ebenso genau wußte wie ich.