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Am nächsten Abend saßen Tom und seine Schwester gemütlich beisammen beim Tee und plauderten über allerlei Dinge, jedoch ohne daß das Gespräch auf Lewsome oder irgend etwas, was ihn anging, kam, denn John Westlock – trotz seiner Jugend einer der besonnensten Menschen von der Welt – hatte es Tom ausdrücklich eingeschärft, seiner Schwester diesbezüglich nicht das Geringste mitzuteilen, um sie nicht zu beunruhigen. »Wirklich, Tom«, hatte er wörtlich gesagt, nachdem er eine Weile lang verlegen herumgedruckst, »nicht um alle Schätze und Ehren der Welt möchte ich, daß auch nur ein Schatten eines traurigen Gedankens auf ihr glückliches Gesichtchen oder in ihr zartes Herz fiele.«
Wirklich, John ist außerordentlich gütig, und ihr leiblicher Vater hätte nicht mehr Anteil an ihr nehmen können als er, sagte sich Tom.
Aber obgleich er und seine Schwester außerordentlich gesprächig waren, so schienen sie dennoch nicht so fröhlich und heiter zu sein wie sonst. Es fiel Tom nicht im entferntesten ein, daß Ruth daran schuld sein könne, im Gegenteil hielt er es für ausgemacht, daß die Langweile von ihm ausgehe. Und das hatte in gewisser Beziehung auch seine Richtigkeit, denn das leichteste Wölkchen an dem Himmel ihres sonst so ruhigen Gemütes warf auf ihn stets einen Schatten.
Und heute abend lag wirklich eine Wolke auf der Stirn der kleinen Ruth. Sooft Tom zufällig wegblickte, stahlen sich ihre hellen Augen nach seinem Gesichte, leuchteten dann noch glänzender auf und trübten sich gleich darauf. Wenn Tom schwieg und hinausschickte in das Sommerwetter, machte sie bisweilen eine hastige Bewegung, als treibe es sie, sich ihm um den Hals zu werfen, doch jedesmal bezwang sie sich wieder, und wenn er sich umsah, zeigte sie ihm ein lachendes Gesicht wie sonst und plauderte fröhlich mit ihm. Hatte sie ihm etwas zu reichen oder irgendeinen Vorwand, in seine Nähe zu kommen, so hüpfte sie um ihn herum und legte wie zögernd ihr Händchen auf seine Schulter und wollte gar nicht wieder weggehen – kurz, sie verriet auf jede mögliche Art, daß ihr etwas auf dem Herzen liege, was sie ihm gern gesagt hätte, was sie aber auszusprechen nicht den Mut besaß.
So saßen sie, sie mit ihrer Handarbeit vor sich, aber ohne zu arbeiten, und Tom mit einem Buche neben sich, ohne zu lesen, als Martin an die Haustüre klopfte. Tom, der sofort erriet, wer es sein könne, stand auf, um zu öffnen, und kam dann in Gesellschaft seines Gastes wieder ins Zimmer zurück. Er machte dabei ein ziemlich verdutztes Gesicht, denn Martin hatte auf seinen herzlichen Gruß kaum ein Wort erwidert.
Auch Ruth bemerkte das sonderbare Benehmen ihres Besuches und blickte fragend zu Tom auf, als erwarte sie von ihm eine Erklärung, aber er schüttelte nur den Kopf und blickte fragend Martin stumm an.
Martin setzte sich nicht wie sonst, sondern trat ans Fenster, blieb davor stehen und blickte hinaus. Dann drehte er sich plötzlich um, als wollte er etwas sagen, wandte aber wieder den Kopf ab und schwieg.
»Was ist denn vorgefallen, Martin?« fragte Tom ängstlich, »bringen Sie schlimme Nachrichten, lieber Freund?«
»Ach, Tom«, versetzte Martin mit vorwurfsvollem Tone, »daß Sie sich so stellen können, als interessierten Sie sich für etwas, das mich betrifft, verletzt mich fast noch mehr als Ihr unschönes Vorgehen selbst.«
»Mein unschönes Vorgehen, Martin, mein –« Tom blieben die Worte in der Kehle stecken.
»Wie konnten Sie nur, Tom – wie konnten Sie nur sich von mir so heiß und innig danken lassen für Ihre Freundschaft, ohne mir wie ein Mann gerade heraus zu sagen, daß Sie mich im Stiche gelassen hatten?! War das offen gehandelt, Tom, war das ehrlich gehandelt? War es Ihres früheren Charakters würdig – oder besser gesagt, des Charakters, den ich Ihnen beimaß –, mich zu veranlassen, Ihnen mein Herz auszuschütten, nachdem Sie schon mein Gegner geworden waren? Ach, Tom, Tom!«
Es lag etwas unbedingt Verletzendes und dabei doch tief Bekümmertes in seiner Rede. Was er sagte, bekundete ebensosehr seine frühere Anhänglichkeit an Tom wie tiefes Leid über die Entdeckung seines vermeintlichen Unterdes. Tom schlug einen Augenblick die Hände vors Gesicht und brachte kein Wort hervor, um sich zu rechtfertigen, wie wenn er in Wirklichkeit ein Ungeheuer an Falschheit gewesen wäre.
»Ich versichere Ihnen, so wahr ich lebe«, rief Martin, »daß es mich tief schmerzt, in Ihnen nicht mehr den Menschen sehen zu können, für den ich Sie gehalten habe, und zwar in einem Maße, daß ich ganz und gar mein eigenes erlittenes Unrecht darüber vergessen könnte. Erst in Augenblicken nach einer solchen Entdeckung fühlen wir, wie sehr wir den verlorenen Freund früher geliebt haben, und ich schwöre Ihnen – wenn ich es auch niemals sehr merken ließ –, daß ich Sie wie einen Bruder geliebt habe, Tom.«
Mr. Pinch hatte sich inzwischen gefaßt und antwortete treuherzig:
»Martin, ich weiß nicht, was Sie auf dem Herzen haben und was Ihnen zugestoßen ist und Sie so umgewandelt haben mag, jedenfalls aber hat man Sie hintergangen, und es ist kein Jota Wahrheit in dem, was Sie so beunruhigt. Sie sind von A bis Z in einem Irrtum befangen, und ich kann Ihnen beruhigt voraussagen, daß Sie das Unrecht, das Sie mir jetzt antun, noch tief bereuen werden. Ehrlich und offen sage ich Ihnen, daß ich sowohl Ihnen wie mir treu geblieben bin. Ihr Benehmen wird Ihnen noch einmal sehr leid tun, das kann ich Ihnen mit Bestimmtheit voraussagen, Martin.«
»Leid empfinde ich jetzt schon, wenn auch in anderm Sinne«, antwortete Martin und schüttelte traurig den Kopf, »bis zu diesem Augenblick habe ich nicht gewußt, was es heißt, Herzeleid wegen einer großen Enttäuschung zu empfinden.«
»Gut«, sagte Tom, »aber wenn es auch stets so gewesen wäre, wie Sie jetzt von mir annehmen, und ich niemals Ihre Achtung besessen und stets Ihre Geringschätzung verdient hätte, so müßten Sie mir dennoch offen heraussagen, inwiefern Sie mich für treulos halten und woraus Sie das schließen. Ich bitte nicht um diese Erklärung, Martin, sondern ich habe ein Recht darauf, sie zu verlangen.«
»Soll ich vielleicht meinen eignen Augen nicht trauen?« fuhr Martin auf.
»Nein, wenn sie mich anklagen, nicht.«
»Und Ihre eignen Worte – Ihr eigenes Vorgehen, soll ich denen vielleicht auch nicht glauben?«
»Nein«, sagte Tom ruhig, »Sie dürfen dem Schein nicht glauben, wenn er gegen mich spricht. Aber sie haben auch nie etwas gegen mich bewiesen; wer sie in solcher Absicht auch verdreht haben mag, der tut mir beinahe so schweres Unrecht« – es schien einen Augenblick, als wolle er ganz und gar außer Fassung geraten – »wie Sie.«
»Ich bin hierher gekommen«, sagte Martin, »und wende mich jetzt an Ihr liebenswürdiges Fräulein Schwester. Sie soll mich anhören –«
»An sie dürfen Sie nicht appellieren«, unterbrach ihn Tom, »denn sie wird Ihnen niemals Glauben schenken« – dabei zog er Ruths Arm zärtlich durch den seinigen.
»Ich es glauben, Tom!« rief Ruth entsetzt.
»Nein, nein!« besänftigte sie Tom, »freilich nicht. Sei doch ruhig, närrisches Mädchen!«
»Ich hatte niemals im Sinn«, fiel Martin hastig ein, »Sie gegen Ihren Bruder anzurufen; so unmännlich und lieblos bin ich nicht. Ich wünschte bloß, daß Sie mit anhören, was ich hier zu erklären habe, nämlich, daß ich nicht gekommen bin, um Vorwürfe zu erheben – nein, ich mache niemandem einen Vorwurf –, aber bekümmert bin ich bis ins tiefste Innere. Sie können sich vorstellen, wie bitter es mir sein muß, wenn ich Ihnen sage, daß ich oft und oft an Ihren Bruder gedacht habe und mich im Zustande fast hoffnungsloser Krankheit stets nach der Gelegenheit sehnte, ihm zu beweisen, wie hoch ich seine Freundschaft anschlug und wie fest ich auf ihn baute und an ihn glaubte.«
»Still, still«, sagte Tom und legte seiner Schwester zärtlich die Hand auf den Mund, als er sah, daß sie sprechen wollte. »Es ist ein Mißverständnis; man hat ihn hintergangen; laß es gut sein; schließlich wird doch die Wahrheit an den Tag kommen.«
»Gesegnet sei die Stunde, die mich eines andern belehren wird«, rief Martin, »wenn sie je kommen sollte.«
»Amen!« sagte Tom, »sie wird kommen.«
Martin schwieg eine Weile und fuhr dann traurig fort: »Sie haben Ihre Wahl getroffen, Tom, und wenn wir uns jetzt für immer trennen, wird dies eine Erleichterung für Sie sein. Wir scheiden nicht in Groll – wenigstens von meiner Seite nicht.«
»Von meiner gewiß auch nicht«, sagte Tom.
»Sie haben es so gewollt, und es ist so gekommen. Wie gesagt, Sie haben Ihre Wahl getroffen, so wie es sich von den meisten Menschen in Ihrer Lage erwarten ließ, wenn auch nicht von Ihnen. Vielleicht sollte ich eher meiner Unbesonnenheit als Ihnen die Schuld beimessen. Auf der einen Seite winkte Ihnen Reichtum und Gunst, und auf der andern lag die an und für sich wertlose Freundschaft eines verlassenen, hilflosen Menschen. Die Wahl stand Ihnen frei, und Sie haben gewählt. Es ist eben gekommen, wie es vorauszusehen war. Allerdings sollte auch jemand, der den Mut nicht besitzt, solchen Versuchungen zu widerstehen, immerhin die Kraft haben, zuzugeben, daß er unterlegen ist. Und nur daraus mache ich Ihnen einen Vorwurf. Sie haben mich anscheinend herzlich empfangen, mich zu freier, offener Rede ermutigt und mich verlockt, Ihnen zu vertrauen, während Sie sich bereits an andre verkauft hatten. – Ich habe nicht geglaubt«, fuhr Martin erregt fort – »und ich sage es auch jetzt nochmals aus tiefstem Herzen heraus; ich kann es nicht glauben, Tom, wenn ich Ihnen in die Augen sehe, daß Sie aus eigenem Antrieb planten, mir Schaden zuzufügen, selbst wenn ich nicht durch Zufall entdeckt hätte, in wessen Diensten Sie stehen. Aber freilich, ich wäre Ihnen zur Last gefallen; ich hätte Sie in ein noch schieferes Licht gebracht und Sie würden sich die Gunst verscherzt haben, für die Sie einen so hohen Preis bezahlt haben, indem Sie auf Ihren früheren Charakter verzichteten. Aber dennoch ist es das beste für uns beide, daß ich endlich entdeckt habe, was Sie sich geheimzuhalten so sehr bemühten.«
»Seien Sie gerecht«, sagte Tom, der Martin während dessen ganzer Rede ununterbrochen mild ins Auge geblickt hatte, »seien Sie gerecht auch in Ihrer Ungerechtigkeit, Martin. Sie vergessen, daß Sie mir noch immer nicht gesagt haben, wessen Sie mich bezichtigen.«
»Wozu auch«, wehrte Martin ab und schritt zur Türe, »mehr Erkenntnis könnte Ihnen daraus nicht erwachsen. Nein, Tom, was vorbei ist, soll vorbei sein. – Ich kann in diesem Augenblick von Ihnen Abschied nehmen – hier, wo Sie mich einst so freundlich und gütig aufgenommen haben – und tue es so herzlich wie jemals früher, als wir uns kennenlernten. Möge es Ihnen auch weiterhin wohl ergehen, Tom, ich –«
»Und mit diesen Worten wollen Sie mich verlassen? So können Sie mich verlassen? Wirklich?« unterbrach ihn Tom.
»Ich – Sie – Sie haben selbst gewählt, Tom! – Ich – war – hem – wohl etwas unüberlegt –« stotterte Martin, »ja gewiß, unüberlegt – – leben Sie wohl.«
Und er ging.
Tom führte Ruth stumm nach ihrem Stuhl und setzte sich auf seinen Platz. Dann nahm er sein Buch wieder vor und las oder schien vielmehr zu lesen. Als er das erste Blatt umwandte, sagte er laut vor sich hin:
»Es wird die Stunde kommen, wo es ihm sehr, sehr leid tun wird.« Dabei stahl sich eine Träne über seine Wangen und fiel auf das Blatt.
Ruth sprang auf, kniete neben ihm nieder und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Nein, Tom, nicht so! Bitte, bitte, lieber Tom, sei nicht so trostlos!«
»Ich bin – ganz und gar nicht trostlos«, sagte Tom leise, »es wird sich ja alles noch aufklären.«
»Und das ist der Dank!« rief Ruth.
»Nein, nein«, wehrte ihr Tom, »er glaubt es wirklich. Ich kann mir nicht vorstellen, warum, aber er glaubt es. Es wird und muß sich ja alles aufklären.«
Ruth schmiegte sich noch dichter an ihn und schluchzte, schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte.
»Still, still, beruhige dich, liebes Kind«, tröstete sie Tom. »Warum verbirgst du dein Gesicht, mein Kind?«
Ruth ließ jetzt unverhohlen ihren Tränen freien Lauf.
»Ach, Tom, mein geliebter Tom, ich weiß doch, was dir so sehr das Herz bedrückt! Ich habe es entdeckt – du konntest die Wahrheit vor mir nicht verbergen. – Ach, warum hast du mir nicht alles gesagt? Ich hätte dir doch Trost zusprechen können! – Ich weiß, du liebst sie, Tom – liebst sie innig.«
Tom machte eine abwehrende, heftige Bewegung mit der Hand, aber sie fiel kraftlos nieder und umschloß die ihrige – eine ganze kurze Leidensgeschichte lag in dieser Gebärde – eine ergreifende Beredsamkeit in dem stummen Druck.
»Und trotzdem«, schluchzte Ruth, »bist du so treu und gut gewesen, lieber Tom! Trotzdem hast du den schwersten Kampf, den es für ein menschliches Herz gibt, gekämpft! – Du bist so edel, so hochherzig und voller Selbstverleugnung gewesen, daß ich nie einen zornigen Blick von dir gesehen habe oder ein gereiztes Wort aus deinem Munde hörte. Und dennoch diese grausame Verrenkung! Ach, Tom, geliebter Tom – wie kann das alles je wieder gut werden! Glaubst du, Tom, daß es möglich ist? Wirst du ewig diesen Kummer im Herzen tragen, der du so glücklich zu sein verdienst; oder hast du noch Hoffnung?«
Und noch immer verbarg sie ihr Gesicht vor ihrem Bruder, hielt seinen Hals umschlungen, weinte um ihn und ließ ihr ganzes weibliches Herz ausströmen mit ihren Tränen.
Und dann setzten sie sich Seite an Seite. Ruth blickte ernst und gefaßt in sein Gesicht, und er sprach zu ihr, ruhig, gelassen und heiter, wenn auch im tiefsten Ernst:
»Es freut mich, liebe Schwester, daß alles jetzt zwischen uns zur Sprache gekommen ist; nicht, weil es mir deine Liebe und Zärtlichkeit beweist – daran konnte ich doch niemals zweifeln –, sondern weil mir damit eine schwere Last vom Herzen genommen ist.«
Sein Auge leuchtete, als er von ihrer Liebe sprach, und er küßte sie auf die Wange.
»Meine liebe, liebe Schwester, mit welchen Gefühlen ich auch an sie denken mag –«, sie schienen beide den Namen sorgsam zu vermeiden – »so habe ich doch längst – ja, ich kann wohl sagen, von Anfang an – das Ganze kaum für mehr als für einen schönen Traum gehalten – für etwas, das sich nie verwirklichen läßt. Aber jetzt sage mir, was meintest du damit, als du fragtest, ob ich glaubte, daß alles noch gut werde?«
Ruth warf ihm einen so beredten Blick zu, daß er erriet, was sie meinte.
»Liebste Ruth, sie ist aus freier Wahl mit Martin verlobt, und zwar längst, ehe eines von beiden von meiner Existenz auch nur wußte. Hast du an die Möglichkeit gedacht, daß sie sich je mit mir verlobe?«
»Ja«, sagte Ruth hastig.
»Dadurch würde die Sache nicht gut, sondern nur schlecht werden«, antwortete Tom und fügte mit wehmütigem Lächeln hinzu: »Glaubst du denn, daß sie mich überhaupt hätte lieben können, selbst wenn sie ihn niemals vorher gesehen hätte?«
»Warum nicht, lieber Bruder?«
Tom schüttelte nur den Kopf und lächelte stumm.
»Du hältst mich, Ruth – und es ist ganz natürlich, daß du es tust – wahrscheinlich für einen Helden, wie sie in Romanen vorkommen. Du glaubst, die poetische Gerechtigkeit erfordere, daß ich schließlich durch irgendein seltsames Wunder mit der verbunden werde, die ich liebe, aber es gibt noch eine viel höhere Gerechtigkeit als die poetische, mein Kind, und die bestimmt die Ereignisse nach andern Grundsätzen. Die Menschen, die immer nur an ihre Bücherhelden denken und aus sich selbst Bücherhelden machen möchten, halten es für so schön, unzufrieden, verdüstert und menschenfeindlich, vielleicht auch ein wenig gotteslästerlich zu sein, bloß weil ihnen nicht zufällt, was sie gerne hätten; möchtest du, daß ich auch so ein Mensch würde?«
»Nein, Tom. – – Aber dennoch weiß ich«, fügte Ruth schüchtern hinzu, »daß es dir Kummer bereitet, wenn auch nicht den Kummer unbefriedigter Selbstsucht.«
Tom wollte ihre Annahme widerlegen, sah aber ein, daß es vergeblich gewesen wäre, und unterließ es daher.
»Liebste«, sagte er, »ich will dir deine Zärtlichkeit dadurch vergelten, daß ich dir jetzt offen die Wahrheit – die ganze Wahrheit mitteile. Gewiß nagt ein Kummer in meinem Innern, und ich habe es oft gefühlt, trotzdem ich mich stets dagegen wehrte. Denke dir, es stürbe dir ein teueres Wesen, und dann träumtest du, daß du mit dem Dahingeschiedenen im Himmel vereint seist – und es wird dir dann schmerzlich sein, wieder zum Erdenleben zu erwachen, obgleich es nicht schwerer zu ertragen ist als zur Zeit deines Einschlafen. Der Gedanke an den Traum wird dich mit Wehmut erfüllen, aber du wußtest gleich anfangs, daß es ein Traum war, und haderst deshalb nicht mit der Wirklichkeit, die dich umgibt. Sie ist stets dieselbe wie zuvor. Liebe Schwester, meine liebe, liebe Gefährtin, die mir dieses Haus so lieb und wert macht, sage, liebt sie mich darum weniger, als sie getan hätte, wenn mich jener schöne Traum niemals umgaukelt hätte, und mein alter Freund John, der doch ebensogut kalt und gleichgültig gegen mich sein könnte, ist er darum weniger herzlich gegen mich? Und ist in der Welt rings um mich her weniger Gutes deshalb? Sollen meine Worte deswegen härter, meine Blicke verbittert und mein Herz kalt werden, weil mir ein gutes und schönes Wesen begegnet ist? Nein, liebe Schwester, nein«, wiederholte er mit Festigkeit, »wenn ich all der Wege gedenke, die mir zu meinem Glücke offenstehen, so wage ich es kaum, dies nagende Etwas einen Kummer zu nennen. Welchen Namen es auch immer tragen mag, ich danke Gott, daß es mich für Liebe und Anhänglichkeit empfänglicher und nicht weniger glücklich macht. Nein, nicht weniger glücklich, Ruth!«
Es war ihr unmöglich, ein Wort zu erwidern, aber sie liebte Tom von ganzem Herzen, so wie er es verdiente.
»Sie wird Martin die Augen öffnen«, fuhr Tom froh und stolz fort, »und dann wird es ihm von Herzen leid tun. Ich weiß, daß sie nun und nimmer glauben wird, daß ich ihn jemals verraten haben könnte. Unser Geheimnis, Ruth, bleibt unter uns – soll mit uns leben und sterben. – Ich glaube nicht, daß ich dir jemals etwas davon gesagt haben würde«, setzte er lächelnd hinzu, »aber es freut mich, daß du selbst darauf gekommen bist.«
Dann beschlossen sie einen Spaziergang zu machen, und er gab ihnen soviel Frieden, wie sie sich nur wünschen konnten. Tom erzählte Ruth alles so offenherzig, einfach und dabei so bemüht, ihre Zärtlichkeit dadurch zu erwidern, daß er ihr sein Herz ganz ausschüttete, daß sie weit über die gewohnte Stunde aufblieben und erst spät zu Bett gingen. Als sie sich endlich gute Nacht sagten, lag ein so schöner ruhiger Ausdruck in Toms Gesicht, daß Ruth ihm auf den Zehen nachschlich bis an seine Kammertür und stehen blieb, bis er sie bemerkte, und dann umarmten sie sich und gingen schlafen. Und in ihrem Nachtgebet war sein Name ihr erster und letzter Gedanke.
Als Tom allein war, dachte er viel und lange darüber nach, wieso es wohl gekommen sei, daß Ruth sein Geheimnis durchschaut habe. »Vielleicht, weil ich gar zu vorsichtig war«, dachte er. »Freilich sehe ich es klar ein, daß es töricht und unnötig war, zu schweigen; aber mir ist jetzt doch so wohl ums Herz, daß sie darum weiß. Wozu hatte ich auch nötig, es so sorgsam vor ihr geheimzuhalten? Ich wußte von jeher, daß sie eine rasche Auffassungsgabe hat, aber soviel Scharfsinn hätte ich ihr doch nicht zugetraut. Und wie plötzlich sie überdies diese Entdeckung gemacht hat! Wirklich merkwürdig«, brummte er.
Der Gedanke verfolgte ihn noch bis in den Schlaf.
»Und wie sie zitterte, als sie allmählich damit herausrückte, sie wisse davon«, dachte er und rief sich alle die kleinen Ereignisse und Umstände des Abends wieder ins Gedächtnis zurück. »Und wie ihre Wangen glühten! Aber das war ganz natürlich. Ja ja, ganz natürlich. – Es ist weiter nichts zu erklären daran.«
Aber wie natürlich es war und wie wenig es einer weiteren Erklärung bedurfte, daß erst in neuester Zeit sich in Ruths eigenem Herzen etwas festgesetzt hatte, das ihr sein Geheimnis lesen half, daran dachte er wenig – er verstand das Geflüster der Tempelfontäne nicht, trotzdem er täglich dort vorüberging.
Wie fröhlich und lebhaft am nächsten Morgen die kleine Ruth war! Ihr Klopfen früh an seiner Tür und ihr leiser, flüchtiger Schritt draußen würden schon Musik für ihn gewesen sein, auch wenn sie ihm nicht gesagt hätte, es sei der schönste Morgen draußen, den man je gesehen. Und wenn es auch nicht der Fall gewesen wäre, sie würde ihn durch ihre bloße Anwesenheit für Tom dazu gemacht haben.
Sie war mit seinem Frühstück bereits fertig, als er hinunterkam, hatte ihren Hut zum Morgenspaziergang bereit gelegt und wußte so viele Neuigkeiten, daß sich Tom halb tot wunderte. Schien es ihm doch, als wäre sie die ganze Nacht aufgewesen und hätte sie gesammelt, nur um ihn in der Frühe damit unterhalten zu können. – Mr. Nadgett sei immer noch nicht nach Hause gekommen, erzählte sie, und dann sei unten ein Laib Brot für einen Penny zu haben, der Tee sei zweimal so stark wie sonst, der Mann der Milchfrau sei glücklich kuriert aus dem Spital heimgekommen und das krausköpfige Kind gegenüber habe sich verirrt und wäre gestern den ganzen Tag nicht zu finden gewesen. Dann wieder plauderte sie davon, sie wolle alle möglichen Kompotte einkochen und sei so glücklich, daß sie zufällig gerade die richtige Pfanne dafür im Hause habe – und was in Toms letztem Buche stand, das sie nach Hause gebracht, wußte sie ebenfalls, trotzdem es, wie sie sagte, eine Qual wäre, es zu lesen –, kurz, sie habe ihm so viel zu berichten, daß sie deshalb ihr Frühstück schon vorher eingenommen habe. Dann setzte sie ihren Hut auf, Tee und Zucker wurden eingeschlossen, die Schlüssel kamen in den Strickbeutel, wie gewöhnlich mußte eine Blume Toms Knopfloch zieren, kurz, sie waren früher fertig, als Tom nur irgend erwarten konnte.
Er wurde förmlich geschwätzig durch sie – es war unmöglich, ihr zu widerstehen, so viele Fragen stellte sie über Bücher, über Kirchen und Orgeln, über den Tempel und alles mögliche: mit einem Wort, sie erhellte den ganzen Weg und auch sein Herz mit so viel Glück, daß der Tempel ihm ganz öde und leer vorkam, als er sich am Tore von ihr trennte.
»Vermutlich kommt Mr. Fips' Freund auch heute wieder einmal nicht«, sagte er sich, als er die Treppe emporklomm.
Jedenfalls war er noch nicht dagewesen, denn die Türe war wie gewöhnlich verschlossen, und er mußte sie mit seinem Schlüssel öffnen. Er hatte jetzt die Bücher vollständig in Ordnung gebracht, die eingerissenen Blätter geklebt, wo es nötig war, neue Rücken aufgepappt und die vermischten Titel durch neue selbstgeschriebene ersetzt. Es sah jetzt alles so reinlich und ordentlich aus, daß man den Ort gar nicht mehr wiedererkannte. Tom war beinahe stolz, wenn er die Wirkung seines Fleißes betrachtete, ob auch niemand da war, der seine Arbeit gelobt oder getadelt hätte.
Er war eben damit beschäftigt, sein Katalog-Konzept ins reine zu schreiben, und verwendete darauf, da die Sache keine Eile hatte, dieselbe Sorgfalt, die er auch früher schon in Mr. Pecksniffs Atelier auf Pläne und Risse zu verwenden gewohnt war. Es wurde ein wahres Wunder von einem Kataloge, denn Tom fürchtete bisweilen, er verdiene sein Geld viel zu leicht, und hatte sich daher vorgenommen, sein Allerbestes an dieses Dokument zu wenden.
So arbeitete er mit Lineal und Feder, mit Zirkel und Radiergummi und Bleistift, mit roter und schwarzer Tinte den ganzen Morgen drauflos. Er mußte dabei sehr viel an Martin und seine gestrige Zusammenkunft mit ihm denken und kam zur Ansicht, daß es ihm leichter ums Herz werden würde, wenn er sich entschließen könnte, seinem Freunde John die ganze Sache anzuvertrauen. Aber dabei drängte sich ihm der Gedanke auf, John werde in seiner Gutherzigkeit sofort aufbrausen und Martin vielleicht aus Zorn seinem Schutz entziehen. Und wenn das geschah, mußte Martin ein ernstlicher Nachteil daraus erwachsen.
»Da will ich's doch lieber für mich behalten«, sagte sich Tom und seufzte.
Und wieder fing er an, mit Lineal und Feder, mit Radiergummi und Bleistift, mit roter und schwarzer Tinte darauflos zu arbeiten, um seinen Kummer zu vergessen.
Er hatte ungefähr zwei Stunden geschrieben, als er unten im Torweg einen Schritt hörte. »Ach«, sagte er mit einem Blick auf die Türe, »es ist noch nicht lange her, wo mich ein solcher Ton mit größter Neugierde und Erwartung erfüllt haben würde, aber jetzt hab ich's nachgerade schon aufgegeben.«
Doch die Fußtritte kamen immer näher – die Treppe herauf.
»Sechsunddreißig, siebenunddreißig, achtunddreißig!« zählte Mr. Pinch. »Jetzt wird er stehenbleiben. Über die achtunddreißigste Stufe ist noch niemand heraufgekommen.«
Allerdings blieb der Mann, oder wer es sonst war, stehen, aber offenbar, nur um Atem zu schöpfen, denn dann kam der Schritt wieder höher herauf: vierzig, einundvierzig, zweiundvierzig – –
Die Türe stand offen. Wie die Schritte näher kamen, blickte Tom gespannt und mit klopfendem Herzen hin. Eine Gestalt kam auf den Treppenabsatz herauf, trat über die Schwelle, blieb stehen und blickte ihn an. Tom erhob sich langsam von seinem Stuhl und glaubte beinahe, einen Geist vor sich zu sehen.
Der alte Martin Chuzzlewit stand da, derselbe alte Herr, den er schwach und gebrechlich bei Pecksniff verlassen hatte.
Derselbe? Nein, nicht derselbe. Dieser alte Mann hier war alt, aber kräftig, lehnte sich rüstig auf seinen Stock und gab mit der andern Hand Tom ein Zeichen, keinen Lärm zu machen. Ein Blick auf das entschlossene Gesicht, das scharfe Auge, die starke Hand auf der Stockkrücke, die ganze fast triumphierende Haltung des Mannes – und plötzlich ging Tom ein Licht auf, das ihn fast blendete.
»Sie haben mich wohl schon lange erwartet?« begann der alte Herr.
»Man hat mir gesagt, mein Prinzipal würde bald kommen« stotterte Tom, »aber –«
»Ist mir bekannt. Sie wußten aber nicht, wer Ihr Chef ist. Ich wollte es ausdrücklich so haben und freue mich, daß meinen Wünschen entsprochen wurde. Ich hoffte schon früher mit Ihnen zusammenzutreffen und glaubte, die Stunde habe schon geschlagen. Ich dachte nicht mehr und nichts Schlimmeres von – ihm – zu hören zu bekommen als damals, wo er Sie in meiner Gegenwart entließ, doch ich hatte mich geirrt.«
Mr. Chuzzlewit war indessen zu Tom herangetreten und faßte jetzt seine Hand.
»Ich habe in seinem Hause gelebt, Pinch, und habe ihn tage-, wochen- und monatelang vor mir kriechen sehen. Sie wissen das. Ich habe mich von ihm, ohne mir etwas anmerken zu lassen, wie ein Werkzeug gebrauchen lassen. – Sie haben es gesehen. Ich habe zehntausendmal mehr gelitten und durchgemacht, als ich ausgehalten haben würde, wenn ich wirklich der elende schwache Greis gewesen wäre, für den er mich hielt. Sie wissen es. Ich habe gesehen, wie er Mary seine Liebe aufdrängen wollte. Sie wissen es, und wer könnte es besser wissen als Sie treuer braver Mensch!? Tag für Tag hatte ich die ganze Niedertracht seiner Denkungsart klar vor Augen, ohne daß ich mich nur ein einziges Mal verraten hätte. Niemals hätte ich diese Pein aushalten können, wäre es mir nicht um die Zukunft – um den jetzigen Augenblick zu tun gewesen.« Er hielt inne, trotz der Leidenschaftlichkeit seiner Sprache – wenn so etwas Festes und Entschiedenes überhaupt Leidenschaft genannt werden kann –, um Tom abermals die Hand zu drücken. Dann fuhr er in großer Erregung fort:
»Schließen Sie die Türe! Schließen Sie die Türe! Geschwind! Er ist hinter mir her und könnte zu früh kommen. Die Zeit rückt jetzt heran«, fügte er hastig hinzu. Seine Augen und sein ganzes Gesicht leuchteten dabei – »die Stunde, die alles wiedergutmachen wird. Aber ich möchte nicht um Millionen, daß ihn der Schlag träfe oder er sich erhängte. Schließen Sie die Türe!«
Tom gehorchte, wußte aber kaum, ob er schlafe oder wache.