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Da die »Anglobengalische uneigennützige Anlehens- und Lebensversicherungsgesellschaft« ganz in der Nähe lag, waren Mr. Montague und Jonas ziemlich bald dort angelangt. Die Fahrt hätte aber geradesogut viele Stunden dauern können, ohne daß einer von beiden ein Wort gesprochen haben würde. Jonas hatte offenbar gar keine Lust, das Schweigen zu brechen, und im Plane seines lieben Freundes lag es durchaus nicht, ihn in eine Unterhaltung zu verstricken.
Da kein Grund mehr vorhanden war, sich weiter zu vermummen, hatte Jonas seinen Mantel abgeworfen und über sein Knie gelegt; dabei drückte er sich, wie es der beschränkte Raum nur immer gestattete, in die Wagenecke, um so weit wie möglich weg von seinem Begleiter zu sein. In seinem Wesen war eine große Veränderung eingetreten, wenn man es mit dem Benehmen verglich, das er noch vor ein paar Minuten gezeigt, als Tom ihm im Salon des Schiffes so unerwartet entgegengetreten war, oder mit dem, als ihm damals Mr. Montague in seinem Ankleidezimmer ein paar Worte ins Ohr geflüstert hatte. Er sah ganz aus wie jemand, den man bei irgend etwas Sträflichem ertappt hat oder den man im Schach hält. Er war das Bild eines Menschen, der, von allen Seiten umstellt, endlich dingfest gemacht worden ist. Obgleich noch blaß vor Schrecken und atemlosem Entsetzen, schien er doch irgendwie einen neuen Entschluß gefaßt zu haben, der alle andern Regungen seiner Seele niederkämpfte.
Auch in seinen besten Zeiten hatte er niemals sehr gewinnend ausgesehen, um so weniger konnte man das jetzt von ihm erwarten. Seine Unterlippe zeigte tiefe Spuren der Vorderzähne, und dies und die Zeichen der eben mitgemachten Aufregung verschonten sein Aussehen ebensowenig wie die tiefen Falten in seiner Stirn. Aber er hatte sich immerhin bis zu einer gewissen Selbstbeherrschung durchgerungen – zu einer geradezu unnatürlichen Selbstbeherrschung, wie man sie an Menschen, die sonst nichts weniger als mutig sind, in Augenblicken der Verzweiflung wahrzunehmen pflegt. Und als der Wagen hielt, ließ er sich nicht erst lange bitten, sondern sprang entschlossen hinaus und eilte die Treppe hinauf.
Der Präsident folgte ihm, schloß, als sie eingetreten waren, die Türe des Sitzungszimmers und warf sich auf sein Sofa. Jonas blieb vor dem Fenster stehen und schaute auf die Straße hinunter, die Stirn an die Scheibe gedrückt und den Kopf in die Hand gestützt.
»Das ist wirklich nicht hübsch von Ihnen, Mr. Chuzzlewit«, brach Mr. Montague endlich das Schweigen. »Meiner Seel – wahrhaftig gar nicht hübsch.«
»Aber was wollen Sie denn eigentlich von mir?« rief Jonas, jäh herumfahrend. – »Was will man von mir?«
»Vertrauen, mein lieber Freund – ein wenig mehr Vertrauen!« antwortete Mr. Montague gekränkt.
»Zum Teufel nochmal, weil Sie mir vielleicht so großes Vertrauen entgegenbringen, was?«
»Tue ich das nicht?« fragte Mr. Tigg schlicht, erhob sein Haupt und sah Jonas freundlich an. – Aber dieser hatte sich bereits wieder umgedreht. »Tue ich's vielleicht nicht? Habe ich Sie nicht in alle Pläne eingeweiht, die ich zu unserm Besten entwarf – wohlgemerkt zu unserm Besten und zu unserm Vorteil –, nicht bloß zu dem meinigen? Und was ist der Dank dafür? – Ein Fluchtversuch.«
»Woher wissen Sie das? Wer sagt Ihnen, daß ich zu fliehen gedachte?«
»Wer mir das sagte? Na hören Sie mal! Ein Schiff, das nach Antwerpen geht, und noch dazu in so früher Stunde, und dabei die reizende Vermummung? Na, wenn es da nicht Ihre Absicht war auszureißen, dann bin ich blind. Und wenn Sie mich nicht hintergehen wollten, weshalb sind Sie dann wieder zurückgekommen?«
»Ich bin zurückgekommen«, sagte Jonas, »um kein Aufsehen zu erregen.«
»Das war sehr klug von Ihnen«, lobte Mr. Tigg.
Jonas schwieg und sah noch immer, den Kopf auf die Arme aufgestützt, auf die Straße hinunter.
»Trotzdem, Mr. Chuzzlewit«, fing Mr. Montague wieder an, »und trotz allem Vorgefallenen will ich offen gegen Sie sein. Sie hören doch, was ich sage? – Sie drehen mir beständig den Rücken.«
»Aber ich höre doch; – weiter.«
»Also, ich sage, daß ich trotz allem Vorgefallenen offen gegen Sie sein will.«
»Das habe ich bereits gehört. Und ich habe Ihnen auch zu verstehen gegeben, daß ich gehört habe. – Also weiter.«
»Sie scheinen etwas gereizt zu sein. – Macht weiter nichts. Zufällig habe ich ein glückliches Temperament. – Aber sehen wir uns jetzt einmal an, wie die Sachen stehen. Vor ein paar Tagen erzählte ich Ihnen, lieber Freund, daß ich glaubte, eine gewisse Entdeckung gemacht zu haben –«
»Wollen Sie wohl still sein!« rief Jonas und blickte wild um sich und nach der Türe.
»Schon gut, schon gut«, besänftigte ihn Mr. Montague. »Sehr vernünftig, so vorsichtig zu sein. Auch in meinem Interesse, denn wenn meine Entdeckung bekannt wird, hat sie für mich weiter keinen Wert mehr. Sie sehen daraus, lieber Chuzzlewit, wie offen und freimütig ich Ihnen entgegenkomme und Ihnen meine eigenen Schwächen verrate. Aber jetzt zur Sache. Also ich machte eine Entdeckung – oder glaube wenigstens eine gemacht zu haben – und flüsterte sie Ihnen, wiederum ganz mit jenem Vertrauen, das, wie ich zuversichtlich hoffe, zwischen uns besteht, ins Ohr. Vielleicht ist etwas dran, vielleicht auch nicht. Ich habe meine Meinung darüber und Sie wohl die Ihrige. Darüber wollen wir uns nicht streiten. Aber eines, mein lieber Freund: Sie haben Ihre Schwäche verraten. Ich sage weiter nichts als: Sie haben Ihre Schwäche verraten. Möglicherweise suche ich nun diesen kleinen Vorteil zu meinem Nutzen auszubeuten, aber mein Vorteil liegt nicht darin, daß ich diese Entdeckung weiter verfolge oder gegen Sie gebrauche.«
»Was heißt das, Sie gebrauchen sie nicht gegen mich?« fragte Jonas, ohne seine Stellung zu verändern.
»Ach Gott«, meinte Mr. Montague lachend, »wozu leeres Stroh dreschen.«
»Sie wollen mich eben zum Bettler machen –« knurrte Jonas.
»Nein.«
»Aber natürlich«, schrie Jonas wütend. »Das ist doch das einzige daran, das Ihnen Vorteil bringt. So ist es und nicht anders.«
»Ich wünsche lediglich, daß Sie nur noch eine Kleinigkeit mehr riskieren, im Grunde ist gar nichts riskiert – und im übrigen hübsch den Mund halten«, sagte Mr. Montague. »Das haben Sie mir versprochen, und Sie müssen Wort halten. Jawohl, lieber Chuzzlewit, Sie müssen! Überlegen Sie sich die Sache. Wollen Sie nicht – nun, dann ist mein Geheimnis wertlos für mich, und ich kann es in diesem Falle ebensogut Gemeingut werden lassen, wie ich es bisher als Privateigentum betrachtete. Ersteres ist dann vorteilhafter für mich, da ich immerhin ein gewisses Verdienst in Anspruch nehmen kann, wenn ich etwas Derartiges ans Licht bringe. – Aber jetzt zu etwas anderem: Ich brauche Sie ferner als eine Art Köder in einer Sache, die ich Ihnen bereits angedeutet habe. Sie sind nicht der Mann dazu, sich aus dergleichen ein Gewissen zu machen, das weiß ich ganz genau, und der Mensch, um den es sich handelt, ist Ihnen nebenbei vollkommen gleichgültig – wie Ihnen die ganze Welt gleichgültig ist, denn Sie sind viel zu – ›gerissen‹, als daß es anders sein könnte – und wenn er etwas dabei verliert, ja sogar meinetwegen ruiniert wird, so werden Sie das mit frommer Standhaftigkeit zu ertragen wissen. Hahaha! – – – Sie haben nun versucht, sich heute meiner Machtsphäre zu entziehen, aber ich versichere Ihnen, gegen dergleichen habe ich vorgebaut. Das haben Sie übrigens heute gesehen. Sie wissen, daß ich kein Moralist bin, und ich kümmere mich den Teufel darum, was Sie getan oder gelassen haben, und wenn Sie eine kleine Unvorsichtigkeit begangen haben, so geht das mich nichts an. Ich wünsche lediglich dadurch zu profitieren, und einem Manne von Ihrer Einsicht gegenüber trage ich auch kein Bedenken, dies offen einzugestehen. Ich habe diese Schwäche übrigens nicht allein, glaube ich. Jeder sucht die Unklugheit seines Nächsten auszunutzen, und die Angesehensten und Leute von bestem Rufe pflegen das am liebsten zu tun. Warum bereiten Sie mir also solche Schwierigkeiten? Es muß ganz einfach zwischen uns zu einem freundschaftlichen Einverständnis oder aber zu einem Bruche kommen. Ein Drittes gibt es nicht. Im ersten Fall kommen Sie mit einem blauen Auge davon, im letzteren – – – nun, Sie wissen ja am besten, was daraus resultieren kann.«
Jonas wandte sich vom Fenster weg und ging auf Mr. Tigg zu. Er sah ihm dabei nicht ins Gesicht, denn das war nicht seine Art, aber er heftete seine Augen auf ihn – auf seine Brust oder auf die Schulter – und bemühte sich, offenbar mit größter Anstrengung, eine deutliche Antwort hervorzubringen, ungefähr in der Weise eines Menschen, der zwischen Trunkenheit und klarem Bewußtsein kämpft.
»Leugnen hat keinen Zweck«, krächzte er endlich heraus, »das ist klar. Gut, ich hatte vor, heute morgen zu fliehen, – das heißt, besser gesagt, mich ins Ausland zu begeben, um mich aus der Ferne besser mit Ihnen verständigen zu können.«
»Selbstverständlich, natürlich!« sagte Mr. Montague. »Und ich habe das vorausgesehen und bin Ihnen zuvorgekommen. Aber, Pardon, ich habe Sie unterbrochen.«
»Und ich will Sie auch nicht fragen«, fuhr Jonas mit gewaltsamer Anstrengung fort, »wie, zum Teufel, Sie gerade den Boten gewählt haben, der mir den Brief brachte, und wo sie ihn aufgefunden haben. Ich habe sowieso mit dem Burschen noch ein Hühnchen zu pflücken. Wenn Ihnen die ganze Welt so gleichgültig ist, wie Sie soeben gesagt haben, so wird es Ihnen auch ganz gleichgültig sein, was aus einem solchen Mistköter wird wie diesem Burschen. Sie werden daher wohl nichts dagegen haben, wenn ich mit ihm abrechne, wie es mir beliebt?«
Hätte Jonas Mr. Tigg ins Gesicht gesehen, so würde er bemerkt haben, daß dieser den Sinn seiner Worte gar nicht begriff. Da er aber, seinen haßerfüllten Blick seitwärts gerichtet, nicht aufsah und jetzt nur innehielt, um sich seine fieberhaft ausgetrockneten Lippen anzufeuchten, so entging ihm diese Tatsache. Mr. Montague seinerseits war rasch mit seiner Antwort zur Hand, obgleich er sie aufs Geratewohl gab. Diesbezüglich herrsche nicht die geringste Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen, sagte er, nicht im geringsten.
»Die große Entdeckung, von der Sie reden«, fuhr Jonas mit krankhaftem Hohnlächeln fort, »kann wahr und kann falsch sein. So oder so, eins ist gewiß: daß ich nicht schlechter bin als andere Menschen.«
»Nicht im geringsten«, beteuerte Mr. Tigg, »nicht im geringsten. Wir alle sind einander gleich – oder doch wenigstens so ziemlich.«
»Ich möchte nur wissen«, sagte Jonas, »sind Sie selbst dahintergekommen? Sie brauchen sich nicht zu wundern, daß ich diese Frage stelle.«
»Selbst dahintergekommen?« wiederholte Mr. Montague unsicher.
»Ja«, versetzte Jonas mürrisch: »Ob sonst noch jemand davon weiß? Na, heraus damit, machen Sie keine Umstände.«
»Nein«, sagte Montague fest und ruhig. »Was glauben Sie denn, wäre das Geheimnis für mich wert, wenn ich es nicht allein besäße.«
Jetzt zum erstenmal sah ihm Jonas ins Gesicht. Nach einer Pause streckte er die Hand aus und sagte lachend:
»Na, also gut; machen Sie mir die Sache nicht zu schwer, und ich bin der Ihrige. Wer weiß, vielleicht bin ich im Grunde hier besser aufgehoben, als wenn ich diesen Morgen ins Ausland gegangen wäre. Aber jetzt bin ich nun einmal hier und bleibe auch, darauf können Sie sich verlassen.«
Er räusperte sich, denn seine Sprache wurde wieder heiser. Dann fuhr er mit hellerer Stimme fort:
»Also, wann wollen Sie, daß ich zu Pecksniff gehe? Sie brauchen nur zu bestimmen.«
»Sogleich«, rief Mr. Montague. »Man soll so etwas nie verschieben.«
»Donnerwetter«, rief Jonas mit wildem Lachen. »Eigentlich ist es ein Mordsjux, den alten Heuchler zu fangen. Ich hasse ihn. – Soll ich noch diesen Abend fahren?«
»Bravo«, rief Mr. Montague entzückt. »Das nenne ich mir Geschäftssinn. Ich sehe schon, wir verstehen uns. Unter allen Umständen heute abend, lieber Freund.«
»Begleiten Sie mich. Wir müssen in Prunk und Pracht auftreten und Dokumente mitnehmen, denn er ist ein verdammt schlauer Fuchs, und wenn man nicht sehr listig zu Werke geht, ist er nicht zu fangen. Ich kenne ihn. Da ich Ihr Logis und Ihre Dinners nicht mitnehmen kann, so muß ich eben Sie mitnehmen. Also abgemacht, nicht wahr?«
Mr. Tigg schien zu schwanken. Er hatte diesen Vorschlag weder erwartet, noch fand er sonderlichen Geschmack daran.
»Unsern Plan können wir ja auf dem Wege besprechen. Wir dürfen uns nicht direkt zu ihm begeben, sondern müssen von irgendeinem andern Ort vorbeigefahren kommen, als hätten wir einen Abstecher gemacht, um ihn zu besuchen. Aber jedenfalls müssen Sie mit dabei sein. Ich kenne meinen Mann, seien Sie versichert.«
»Aber was, wenn der Mann auch mich kennt?« wendete Mr. Montague voll Bedenken ein.
»Wenn er Sie kennt?« rief Jonas. »Riskieren Sie denn dasselbe nicht mindestens fünfzigmal am Tag auch ohne dies? Würde Ihr eigener Vater Sie erkennen? Habe ich Sie vielleicht erkannt? Zum Donnerwetter, Sie haben damals verflucht anders ausgesehen! Hahaha! Ich sehe heute noch die Fetzen und Lumpen vor mir. Was wäre übrigens auch dran, wenn er Sie erkennt? Eine solche Veränderung würde nur beweisen, daß Sie gute Geschäfte gemacht haben. Aber das wissen Sie ja selbst. Sie hätten sich doch auch sonst mir gegenüber nicht zu erkennen gegeben. Also wollen Sie mitkommen?«
»Mein lieber Freund«, sagte Mr. Montague noch immer unentschieden, »ich kann Ihnen jetzt auch allein trauen.«
»Donnerwetter noch mal, das will ich meinen; allerdings können Sie das. Ich werde gewiß keinen Versuch mehr machen, auszureißen, darauf können Sie sich verlassen. Nein, jetzt nicht mehr.« – Jonas hielt plötzlich inne und setzte nüchtern hinzu: »Aber ohne Sie kann ich unmöglich gehen. Also kommen Sie?«
»Nun gut, wenn Sie's denn durchaus wollen«, antwortete Mr. Montague. – Sie schüttelten einander die Hände. – »Abgemacht.«
Die laute lärmende Art, die Jonas während des letzten Teils dieses Zwiegespräches an den Tag gelegt und die sich fast mit jedem Satze gesteigert hatte, verließ ihn jetzt nicht mehr. Sie hätte zu jeder andern Zeit höchst ungewöhnlich und als mit seinem Charakter unvereinbar erscheinen müssen, aber unter so kritischen Umständen war es besonders auffallend, daß er plötzlich so aufgeräumt zu sein schien. In einer Hinsicht hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Betrunkenen, aber andererseits sprach er vollkommen zusammenhängend und überlegt. Nicht minder merkwürdig war auch, daß dieser Zustand ihn gegen die Wirkung von Alkohol fest zu machen schien, und trotzdem er den ganzen Tag oft und stark trank, so sank oder hob sich seine Lebhaftigkeit dennoch nicht im geringsten.
Nachdem die beiden Ehrenmänner übereingekommen waren, die Nacht durch zu fahren, um in den Tagesgeschäften keine Stockung eintreten zu lassen, berieten sie sich über die Art und Weise, wie sie reisen wollten. Mr. Montague hielt es für geraten, vierspännig zu fahren, da das den Leuten mehr Sand in die Augen streue, und so wurde denn um neun Uhr ein vierspänniger Wagen bestellt. Jonas ging nicht erst nach Hause, denn er meinte, wenn er in Geschäftssachen die Stadt in so großer Hast verlasse, so werde das die beste Entschuldigung für die plötzliche Umkehr von heute morgen für ihn sein. Er schickte also nur einen Boten mit ein paar Zeilen zu seiner Frau, um seinen Mantelsack holen zu lassen, und als der Mann mit dem verlangten Gepäck zurückkam, brachte er auch ein paar Zeilen von Gratia mit, die darin um die Erlaubnis bat, Jonas vor seiner Abreise noch einen Augenblick sprechen zu dürfen. Da aber dieser keine andere Antwort darauf hatte als ein: »Sie solle sich zum Teufel scheren«, so hielt sie es für das geratenste, zu Hause zu bleiben.
Mr. Montague hatte den Tag über noch allerlei zu tun, und so ließ Mr. Chuzzlewit seine gute Laune an dem Doktor aus, mit dem er auf dessen Zimmer frühstückte. Auf dem Wege dahin begegnete er Mr. Nadgett und neckte diesen geheimnisvollen Gentleman mit der Frage, ob er sich vielleicht vor ihm fürchte. Mr. Nadgett erwiderte etwas scheu: »Das gerade nicht, sogar bestimmt nicht« – aber es scheine eine Art Angewohnheit von ihm zu sein, sich immer so zu benehmen, als täte er es, denn man habe ihm dergleichen schon öfters vorgeworfen.
Mr. Montague hörte das Gespräch mit an, und als Jonas fort war, winkte er Mr. Nadgett mit dem Federhalter zu sich und fragte ihn:
»Wer hat ihm denn heute früh meinen Brief gegeben?«
»Mein Mieter, Sir«, flüsterte Mr. Nadgett hinter der Hand hervor.
»Wie ging denn das eigentlich zu?«
»Ich bemerkte ihn zufällig auf dem Kai, Sir, und da die Sache große Eile hatte und Sie nicht kamen, so galt es, geschwind irgend etwas zu tun. Hätte ich ihm selbst den Brief überreicht, wäre ich in Hinkunft in meiner weiteren Tätigkeit behindert gewesen. Er hätte mich sofort durchschaut gehabt.«
»Mr. Nadgett, Sie sind ein Juwel!« jubelte Mr. Montague und klopfte dem Detektiv auf den Rücken. »Wie heißt denn Ihr Mieter?«
»Pinch, Sir – Mr. Thomas Pinch.«
Mr. Montague sann eine kleine Weile nach und fragte dann:
»Ist er aus der Provinz – wissen Sie das vielleicht?«
»Er ist aus Wiltshire, Sir, wie er mir sagte.«
Dann trennten sie sich. Wer mit ansah, was für ein Kompliment Mr. Nadgett seinem Prinzipal machte, als er das nächstemal mit ihm zusammenkam, und wie sich dieser wieder gegen ihn verbeugte, würde darauf geschworen haben, die beiden hätten in ihrem Leben noch nicht ein einziges vertrautes Wort miteinander gewechselt.
Inzwischen erquickten sich Mr. Jonas und der Doktor im oberen Stock an einer guten Flasche Madeira und einigen Sandwichs, denn der Doktor, der bereits zum Dinner um sechs Uhr abends eingeladen war, wollte zum Lunch nur eine kleine Erfrischung einnehmen.
»Dies ist aus zwei Gesichtspunkten sehr rätlich«, erklärte er. »Erstens ist es an und für sich gesund, und zweitens bekommt man dadurch Appetit zum Mittagessen. Man ist vor allem verpflichtet, besondere Sorgfalt auf die Verdauung zu verwenden, Mr. Chuzzlewit«, sagte er, trank ein Glas Wein aus und schmatzte mit den Lippen. »Verlassen Sie sich darauf, es lohnt die Mühe. Die Verdauung muß in bewunderungswürdigem Zustand sein – sozusagen ein vollkommenes Uhrwerk repräsentieren. ›Unsres Busens Herrschaft sitzt leicht auf seinem Throne‹, sagte ein gewisser Dichter in einer Komödie. Übrigens so nebenbei: es wäre besser gewesen, er hätte unserem Beruf in dieser Komödie ein wenig mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es kommt nämlich ein Apotheker in dem Stück vor, Sir – ein ganz erbärmlicher Bursche –, Sir, ein höchst gemeiner Kerl, und außerordentlich unnobel.«
Dabei zupfte Doktor Jobling an seinem feinen Busenstreifen, als wollte er sagen: »Das ist's, was ich bei einem Manne von unserm Fach nobel nenne, Sir«; und sah Jonas, eine Antwort erwartend, an.
Dieser war jedoch durchaus nicht in der Stimmung, das Thema weiterzuspinnen, und nahm schweigend ein Lanzettetui, das neben ihm lag, zur Hand, und öffnete es.
»Hm«, sagte der Doktor erklärend und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, »ich lege es stets ab; es geniert mich in der Tasche, wenn ich esse. Hahaha!«
Jonas hatte eins der blitzenden kleinen Instrumente aus dem Futteral gezogen und prüfte es mit einem Blick so scharf wie die Schneide des Instruments selbst.
»Guter Stahl, Doktor, was? Guter Stahl.«
»O ja«, sagte der Doktor bescheiden, »vorzüglich zum Aderlassen, Mr. Chuzzlewit.«
»Hat wohl auch schon mehr als eine geöffnet, was?« fragte Jonas und betrachtete das Instrument mit steigendem Interesse. »Nicht wenige, mein werter Herr, nicht wenige. Es hat mir in meiner ziemlich ausgedehnten Praxis seine Dienste geleistet, wie ich wohl sagen darf«, sagte der Doktor, sich räuspernd, als sei die Sache so selbstverständlich, daß sie wohl keiner weiteren Erklärung bedürfe. »Ja, hem, in meiner sehr umfangreichen Praxis«, wiederholte er und setzte wieder sein Glas Wein an den Mund.
»Was meinen Sie, könnte man mit einem solchen Ding wohl einem Menschen die Kehle durchschneiden?« fragte Jonas.
»Nun, das versteht sich. Selbstverständlich, wenn Sie ihn an der rechten Stelle treffen. Darauf kommt alles an.«
»Da, wo Sie jetzt Ihre Hand haben, wie?« rief Jonas, sich vorneigend, um genauer hinzusehen.
»So ist es, Sir«, bestätigte der Doktor, »das ist die Vena jugularis.«
Jonas fuhr mit dem Stahl in seiner Lebhaftigkeit so dicht vor des anderen Schlagader durch die Luft, daß dieser einen Augenblick ganz bestürzt war; dann brach er plötzlich in ein lautes mißtönendes Gelächter aus.
»Oh! Oh!« rief der Doktor kopfschüttelnd, »da muß man sich wohl ein wenig in acht nehmen. Mit so scharfen Messern darf man nicht spielen. Übrigens, da fällt mir gerade ein merkwürdiges Beispiel ein, wie wirksam ein solches Instrument sein kann, wenn man es geschickt handhabt. Es handelte sich dabei um einen Mord. Ja, ich fürchte, es war ein Mord, den einer unseres Berufes begangen haben muß, da er so kunstgerecht ausgeführt wurde.«
»Wieso?« fragte Jonas, »das interessiert mich.«
»Ach, sehen Sie, Sir«, erklärte Mr. Jobling, »die Sache war eigentlich ganz einfach. Eines Morgens fand man einen Herrn in einer dunklen Straße aufrecht im Winkel eines Torweges angelehnt, und auf seiner Weste war nur ein einziger Tropfen Blut sichtbar. Und doch war er tot, mausetot und kalt, und offenbar ermordet worden.«
»Nur ein einziger Tropfen Blut«, wiederholte Jonas.
»Jawohl, Sir, er war genau durchs Herz gestochen worden, und zwar mit solcher Sicherheit, daß er sofort tot war und sich innerlich verblutete. Man vermutet, daß ein Arzt, ein Freund von ihm – auf den man später Verdacht hatte –, ihn unter irgendeinem Vorwand in ein angelegentliches Gespräch verwickelt, ihn wahrscheinlich, wie man so pflegt, beim Rockknopf genommen hatte, mit der andern Hand so in aller Muße und unauffällig das Terrain prüfte – sozusagen –, dann den richtigen Punkt herausfand, geschwind das Instrument, oder was es sonst war, herauszog und im rechten Augenblick –«
»Zustach«, ergänzte Jonas.
»Richtig. Man hätte es geradesogut eine Operation nennen können, die ganz prächtig ablief. Der ärztliche Freund hat sich nie wieder blicken lassen; aber trotzdem man überzeugt war, er sei der Mörder, konnte man ihm doch nichts beweisen. Ich hatte die Ehre, mit zwei oder drei Kollegen zu diesem Fall gerufen zu werden. Und da ich mit ihnen zusammen die Wunde sorgfältig untersuchte, nahm ich auch keinen Anstand zu versichern, daß es eine Art Operation war, die jedem Arzte Ehre gemacht hätte, und daß es, wenn der Täter kein Arzt gewesen, entweder als ein ganz außerordentliches Kunststück oder als das Resultat eines geradezu wunderbaren Zufalls angesehen werden müsse.«
Jonas Chuzzlewit interessierte sich so lebhaft für den Fall, daß der Doktor ihm schließlich die Sache noch näher erklärte und praktisch anschaulich machte, indem er Finger, Daumen und Weste zu Hilfe nahm, sich auf Jonas' Ersuchen in eine Zimmerecke stellte und in eigener Person bald den Mörder, bald den Ermordeten spielte. Als die Flasche ausgetrunken und die Geschichte zu Ende war, befand sich Jonas wieder in derselben seltsamen, krampfhaft fröhlichen Stimmung wie vorhin. Wenn der Grund dazu, wie Mr. Jobling nach seinen Theorien annehmen mußte, in einer guten Verdauung lag, so mußte Jonas wahrhaftig einen Straußenmagen haben.
Bei und nach dem Dinner hielt dieselbe Stimmung noch immer an, obgleich vorzüglich gespeist und Wein im Überfluß getrunken wurde. Auch um neun Uhr hatte sie noch nicht nachgelassen. Da der Wagen inwendig durch eine Laterne beleuchtet war, so bestand Jonas darauf, man müsse ein Spiel Karten und eine Flasche Wein mitnehmen, und wirklich nahm er auch beides unter seinen Mantel, als er und Montague hinab zur Haustür gingen.
»Aus dem Weg da, Knirps, scher dich ins Bett!«
Mit diesem Gruß beehrte er Mr. Bailey, der gestiefelt und gespornt am Wagenschlag stand, um ihm hineinzuhelfen.
»Ins Bett, Sir? Ich fahr doch mit«, sagte Mr. Bailey.
Rasch sprang Jonas wieder aus dem Wagen heraus, packte Mr. Bailey am Kragen und schleppte ihn in den Hausflur zurück, wo Mr. Montague sich soeben eine Zigarre anzündete.
»Sie werden doch diesen Affen da nicht mitnehmen wollen, was?«
»Allerdings«, antwortete Mr. Montague.
Jonas rüttelte den Jungen noch tüchtig durch und schleuderte ihn dann beiseite. Es lag mehr von seinem wirklichen Ich in dieser Handlung als in allem, was er heute gezeigt und getan. Gleich darauf brach er in ein lautes Lachen aus, führte mit der Hand einen Stoß nach der Brust des Doktors, um das Manöver des »ärztlichen Freundes« nachzuahmen, verfügte sich dann wieder zum Wagen und nahm seinen Sitz ein. Mr. Montague folgte ihm auf dem Fuß, und Mr. Bailey kletterte hinten auf seinen Bedientensitz.
»Es wird heute eine böse Nacht geben«, rief der Doktor, als sie fortfuhren.