Charles Dickens
Drei Weihnachtsgeschichten
Charles Dickens

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Dritter Teil

Sechs Jahre war die Welt seit dieser Nacht älter geworden. Es war ein warmer Herbstnachmittag, und ein starker Regen war gefallen. Die Sonne brach plötzlich aus den Wolken hervor, die alte Walstatt strahlte ihr ein Willkommen entgegen, das sich über das ganze Land verbreitete, als sei ein Freudenfeuer angezündet, das von tausend Orten Antwort winkte. Schön lag die Landschaft glitzernd im Lichtschein da, ein reicher, üppiger Hauch glitt dahin wie himmlische, alles erhellende Gegenwart. Der Wald, eben noch eine dunkle, schwarze Masse, spielte in bunten Farben von gelb, grün, braun und rot. Regentropfen sanken zitternd und funkelnd von den Blättern seiner Bäume nieder. Das grünende Wiesenland im Sonnenglanz, eben noch blind gewesen, hatte seine Augen wieder aufgeschlagen und blickte empor in den leuchtenden Himmelsraum. Die Kornfelder, Hecken und Zäune, die Hütten, die dicht gedrängten Dächer, Kirchturm, Bach und Mühle, alles trat lächelnd aus nebelgrauem Dunkel hervor. Lieblich sangen die Vögel, Blumen erhoben das Haupt, und frischer Geruch stieg aus dem feuchten Boden empor. Die blauen Streifen, hoch oben, wurden größer und weiter, und die schrägen Strahlen der Sonne trafen mit tödlichem Pfeil die Wolkenwand, die noch zu fliehen zögerte. Ein Regenbogen, der Inbegriff aller Farben, die Erde und Himmel schmücken, wölbte sich triumphierend über den ganzen Horizont.

Um diese Stunde zeigte eine kleine Schenke an der Straße, lauschig versteckt hinter einer großen Ulme mit einer köstlichen Ruhebank um den dicken Stamm, ihr freundliches Gesicht dem Wanderer, wie es sich für ein Wirtshaus geziemt, und winkte mit stummer, aber bedeutungsvoller Versicherung eines freundlichen Willkommens. Das rötliche Schild mit seinen goldenen, in der Sonne glänzenden Buchstaben lugte aus dem dunklen Laube des Baumes hervor wie ein fröhliches Gesicht und verhieß gute Bewirtung. Die Tränke voll reinen Wassers und auf dem Erdboden drunter Halme wohlriechenden Heus machten jedes Pferd, das vorbeiging, die Ohren spitzen. Die roten Vorhänge in den Zimmern zur ebenen Erde und die saubern weißen Gardinen in den kleinen Schlafzimmern oben winkten bei jedem Luftzug ein freundliches: Tritt ein! Auf den glänzend grünen Läden war in goldenen Buchstaben zu lesen von Bier und Ale, von guten Weinen und netten Betten, und darüber hing das beredte Bild einer schäumenden Trinkkanne. Auf den Fenstersimsen standen blühende Blumen in roten Töpfen, die sich lebendig von der weißen Front des Hauses abhoben, und in dem dunklen Torweg glänzten Streifen von Licht auf Flaschen und Zinnkrügen.

In der Türe erschien jetzt die saubere Gestalt eines Wirtes. Klein, aber rund und breit, stand der Mann da, die Hände in den Taschen und die Beine gerade weit genug gespreizt, um Zuversicht zu seinem Keller auszudrücken und sorgloses Vertrauen auf die Unterkunft, die die Schenke bieten könne, einzuflößen.

Die reichliche Nässe, die nach dem starken Regen von jedem Gegenstand herabtröpfelte, paßte recht gut zu dem Mann. Nichts war um ihn herum, das nach Durst aussah. Einige Dahlien mit schwerem Kopf, die über das Staket des nett gehaltenen Gartens guckten, hatten offenbar mehr getrunken, als sie vertragen konnten – vielleicht ein wenig zu viel – und schienen jetzt genug zu haben. Aber die Hagebutten, die Levkojen, die Zierpflanzen an den Fenstern und die Blätter des alten Baumes waren in der gehobenen Stimmung von mäßigen Leuten, die nie mehr zu sich nehmen, als ihnen gesund ist, und doch Sorge tragen, ihre besten Eigenschaften zur Entfaltung zu bringen. Wie sie klare Tropfen auf dem Boden verstreuten, schienen sie harmlose sprühende Fröhlichkeit reichlich zu spenden und Gutes zu wirken, wo sie sie hinwerfen, vernachlässigte Winkel betauend, die den Regen nur selten sahen.

Diese Dorfschenke hatte bei ihrem Entstehen ein ungewöhnliches Zeichen gewählt. Sie führte den Namen »Zum Muskatnußreiber«. Und unter diesem Wort stand auf demselben rotflammenden Schild im dunkeln Laub und ebenfalls in goldenen Buchstaben: Benjamin Britain.

Ein zweiter Blick auf die Gesichtszüge und eine genauere Betrachtung verriet, daß Benjamin Britain in eigener Person in der Türe stand – ein wenig verändert zwar gegen früher, aber nur zu seinem Vorteil; ein recht gemütlicher, stattlicher Gastwirt.

»Mrs. B.«, sagte Mr. Britein und sah die Straße hinab, »bleibt etwas lange. Es ist Teezeit.«

Da noch immer keine Mrs. Britain zu entdecken war, schlenderte er langsam bis in die Mitte der Straße und warf einen Blick voll Zufriedenheit auf das Haus. »Sieht ganz so aus wie eine Wirtschaft, in die ich selbst einkehren möchte, wenn es nicht meine eigene wäre.« Dann schlenderte er an das Gartenstaket und betrachtete die Dahlien. Sie blickten über ihn hinweg mit hilflos und schläfrig hängenden Köpfen und nickten jedesmal, wenn die schweren Regentropfen von ihnen auf den Boden fielen.

»Für euch muß Sorge getragen werden«, sagte Benjamin. »Darf nicht vergessen, es ihr zu sagen. Wo sie nur so lange bleibt.«

Mr. Britains Ehehälfte schien in so hohem Maße seine bessere Hälfte zu sein, daß er ohne sie ratlos und verloren war.

»Sie hat doch nicht so viel zu besorgen, glaube ich«, sagte Ben, »ein paar Geschäfte nach dem Markt abzumachen, aber nicht viel. Aha, da kommen wir endlich.«

Ein Sesselwägelchen, kutschiert von einem Burschen, kam die Straße dahergerasselt, und darin, einen großen durchnäßten Regenschirm hinter sich zum Trocknen aufgespannt, saß die behäbige Gestalt einer Frau gesetztem Alters, die bloßen Arme über einem Korb, den sie auf dem Schoße trug, verschränkt und verschiedene andere Körbe und Pakete um sich herum. Ein gewisser freundlicher, gutmütiger Ausdruck in ihrem Gesicht und eine zufriedene Art von Unbehilflichkeit, wie sie von den Stößen des Wagens auf ihrem Sitze hin und her schwankte, erinnerten schon aus der Ferne an alte Zeiten. Bei ihrem Näherkommen trat dies noch deutlicher hervor, und als das Fuhrwerk an der Schenke »Zum Muskatnußreiber« hielt und ein Paar Schuhe schnell an Mr. Briteins offenen Armen vorbeischlüpften und aus dem Wagen stiegen und gewichtig auf den Boden trafen, da war kein Zweifel mehr: diese Schuhe gehörten niemand anders als Clemency Newcome.

Und sie gehörten ihr auch. Und Clemency stand in ihnen, die frische, rote, behäbige Person, die sie war, mit so rein gescheuertem Gesicht wie jemals, nur mit heilen Ellbogen, die jetzt sogar Grübchen zeigten.

»Du bleibst lange, Clemy«, sagte Mr. Britain.

»Du weißt, Ben, ich hatte eine Menge zu tun«, antwortete sie und beaufsichtigte rührig das Hineinschaffen ihrer Körbe und Pakete: »Acht, neun, zehn – wo ist elf? Ach, meine elf Körbe. Es ist alles in Ordnung. Schirre das Pferd ab, Harry, und wenn es wieder hustet, so gib ihm heute abend warme Streu. Acht, neun, zehn, wo ist nur elf? Ach ja, ich vergaß, es ist schon richtig. Was machen die Kinder, Ben?«

»Frisch und munter, Clemy.«

»Gott segne ihre lieben Gesichter!« sagte Mrs. Britain – mit ihrem Manne jetzt im Schenkzimmer –, band sich den Hut ab und strich sich das Haar mit der flachen Hand glatt.

»Gib mir einen Kuß, Alter!«

Mr. Britain beeilte sich, es zu tun.

»Ich glaube«, sagte Mrs. Britain, widmete sich ihren Taschen und zog einen riesigen Ballen dünner Bücher und zerknitterter Papiere, ein wahres Eselsohrendurcheinander, hervor, »ich habe alles erledigt. Alle Rechnungen bezahlt – die Rüben verkauft – die Brauerrechnung abgemacht – Tabakpfeifen bestellt – siebzig Pfund vier Shillinge in die Bank gezahlt – Dr. Heathfields Guthaben wegen der kleinen Clemy erledigt – du kannst dir schon denken, wie's ausgefallen ist – Dr. Heathfield will wieder nichts nehmen, Ben.«

»Hab mir's gleich gedacht«, bemerkte Britain.

»Ja. Er sagt, wie groß unsere Familie auch würde, er möchte dir nie einen halben Penny abnehmen dafür – nicht, wenn du zwanzig Kinder kriegen solltest.«

Mr. Britains Gesicht nahm einen sehr ernsten Ausdruck an, und er sah starr an die Wand.

»Ist das nicht hübsch von ihm?« sagte Clemency.

»Außerordentlich«, entgegnete Mr. Britain. »Aber ich möchte seine Freundlichkeit um keinen Preis mehr in Anspruch nehmen.«

»Nein«, stimmte Clemency bei. »Natürlich nicht. Dann ist das Pony – es hat acht Pfund zwei Shillinge abgeworfen – nicht schlecht, was?«

»Sehr gut«, sagte Ben.

»Es freut mich, daß du zufrieden bist. Ich dachte es mir gleich; so, das ist, glaub' ich, alles! Und jetzt nichts mehr von Geschäften und cetrera, Britain. Hahaha, da nimm die Papiere und schau sie durch. Halt, wart einen Augenblick. Hier ist ein neues Plakat. Frisch aus der Druckerei. Wie gut es riecht.«

»Was ist's?« fragte Ben und sah das Blatt durch.

»Weiß ich nicht«, antwortete seine Frau. »Ich habe keine Silbe davon gelesen.«

»Öffentliche Feilbietung«, las der Wirt »Zum Muskatreiber«. »Vorbehaltlich früherer Erledigung durch Privatvertrag.«

»Ja, das schreiben sie immer drauf«, sagte Clemency.

»Ja, aber nicht, was jetzt kommt«, erwiderte er. »Schau mal her: Wohnhaus usw., Wirtschaftsgebäude usw., Wald und Garten usw., Hof und Zaun usw., Messrs. Snitchey & Craggs usw., Beigabe und Zubehör zu der unbelasteten und schuldenfreien Gutsherrschaft Michael Wardens Wohlgeboren wegen Übersiedlung ins Ausland.«

»Wegen Übersiedlung ins Ausland«, wiederholte Clemency.

»Hier steht's«, sagte Mr. Britain. »Schau her.«

»Und erst heute noch habe ich im alten Hause drüben wispern hören, daß sie bald bessere und genauere Nachrichten schicken wolle«, sagte Clemency, den Kopf sorgenvoll schüttelnd und wieder nach ihrem Ellbogen greifend, als ob die Erinnerung an frühere Zeiten auch alte Gewohnheiten wachrufe. »O mein, o mein, o mein, das wird wieder schweres Herzleid drüben geben, Ben.«

Mr. Britain stieß einen Seufzer aus und schüttelte auch den Kopf und sagte, er könne die Sache nicht begreifen und habe den Versuch schon längst aufgegeben. Mit diesen Worten machte er sich daran, das Plakat beim Schenkfenster aufzukleben. Clemency, die mittlerweile sinnend dagestanden, raffte sich auf und eilte hinaus, nach ihren Kindern zu sehen.

Obgleich der Wirt der Schenke »Zum Muskatnußreiber« große Achtung vor seiner Frau hegte, so geschah das doch ganz nach der alten Gönnerweise, und alles, was seine Gattin tat, ergötzte ihn höchlichst. Nichts hätte ihn mehr in Erstaunen gesetzt, als wenn ihm jemand bewiesen hätte, daß nur sie allein es war, die die ganze Wirtschaft führte und durch verständige Sparsamkeit, gute Laune, Ehrlichkeit und Fleiß ihn zum wohlhabenden Manne machte.

Es tat Mr. Britain sehr wohl, daran zu denken, daß er sich herabgelassen, als er Clemency geheiratet. Sie war ihm ein ständiges Zeugnis seines guten Herzens, und er hielt dafür, daß ihre Vortrefflichkeit als Hausfrau nur eine Bestätigung des alten Spruchs sei, »jede gute Tat trägt in sich selbst den Lohn«.

Er hatte das Plakat aufgeklebt und die Quittungen in den Schenkschrank geschlossen, wobei er immerwährend über ihre Geschäftsgewandtheit vor sich hin lachte, als sie mit der Nachricht hereinkam, daß die beiden jungen Herren Britain unter der Aufsicht einer gewissen Betsy im Wagenschuppen spielten, die kleine Clemy aber schlafe &rsaquo;wie ein Bild&lsaquo;. Dann setzte sich Clemency zum Tee, der ihrer auf einem kleinen Tische harrte. Es war eine kleine, hübsche Schankstube mit dem üblichen Schmuck an Gläsern und Flaschen, dazu eine einfache Uhr, die auf die Minute ging – es war genau halb sechs –, und jedes Ding stand an seinem Platz peinlichst blank gescheuert und poliert.

»Das erste Mal, daß ich heut zum Sitzen komme«, sagte Mrs. Britain und holte so tief Atem, als ob sie nun für den ganzen Abend festsäße. Gleich darauf stand sie aber doch wieder auf, um ihrem Mann Tee einzuschenken und Butterbrot zu schneiden.

»Wie mich dieses Plakat an alte Zeiten erinnert!«

»Hm«, sagte Mr. Britain, indem er seine Untertasse handhabte wie eine Auster und sie dementsprechend ausschlürfte.

»Dieser selbe Mr. Michael Warden«, sagte Clemency mit einem Blick auf die Versteigerungsanzeige, »hat mich um meine alte Stelle gebracht.«

»Aber dir deinen Gatten verschafft«, sagte Mr. Britain.

»Ja, das hat er«, erwiderte Clemency, »das verdanke ich ihm.«

»Der Mensch ist ein Sklave der Gewohnheit«, sagte Mr. Britain und betrachtete sie über seine Untertasse hinweg. »Ich hatte mich einigermaßen an dich gewöhnt, Clemy, und sah ein, daß ich ohne dich nicht gut würde leben können. Hahaha, wer hätte gedacht, daß wir einander heiraten würden.«

»Ja, wer hätte das gedacht«, rief Clemency, »es war sehr gut von dir, Ben.«

»Nein, nein, nein!« antwortete Ben mit einer Miene von Selbstverleugnung, »nicht der Rede wert.«

»O doch, Ben«, sagte seine Gattin mit großer Herzenseinfalt. »Ich denke doch, und ich bin dir sehr dankbar dafür.« Sie blickte wieder nach dem Plakat. »Ach, als das liebe Kind fort und in Sicherheit war, da konnte ich mich nicht enthalten, um ihretwillen und der andern wegen zu erzählen, was ich wußte. Hätte ich das nicht sollen?«

»Jedenfalls hast du es erzählt«, bemerkte ihr Gatte.

»Und Dr. Jeddler«, fuhr Clemency fort, setzte ihre Tasse nieder und betrachtete gedankenvoll das Plakat, »jagte mich in seinem Gram und seinem Zorn von Haus und Hof. Ich bin nie in meinem ganzen Leben über etwas so froh gewesen wie darüber, daß ich kein böses Wort gesagt und daß ich ihm nichts nachgetragen habe, selbst damals nicht. Es hat ihm später aufrichtig leid getan. Wie oft hat er hier gesessen und wieder und wieder davon gesprochen, wie leid es ihm täte. Zum letzten Mal gestern noch, als du aus warst. Wie oft hat er hier in der Stube gesessen und stundenlang von diesem und jenem geredet, als ob es ihn interessiere – aber eigentlich nur der alten Zeit zuliebe und weil er weiß, daß sie mich so gern gehabt hat, Ben.«

»Wie hast du das alles damals nur herausgebracht, Clemy?« fragte Britain, erstaunt, daß seine Gattin eine Wahrheit deutlich erfassen konnte, die er trotz seines spekulativen Geistes nur in dämmernden Umrissen begriffen hatte.

»Das weiß ich selber nicht«, sagte Clemency und blies in ihren Tee, um ihn abzukühlen. »Gott, ich könnte es nicht sagen, und wenn hundert Pfund Belohnung draufstünden.«

Er würde seine metaphysischen Grübeleien wohl noch weiter fortgesponnen haben, wenn nicht Clemy hinter ihm an der Tür des Schenkzimmers ein sehr greifbares Etwas in Gestalt eines in Trauer gekleideten Gentlemans im Reitanzug erspäht hätte. Der Herr schien ihrem Gespräch zuzuhören und es gar nicht eilig zu haben.

Clemency stand rasch auf. Auch Mr. Britain tat desgleichen und begrüßte den Gast.

»Wollen Sie sich vielleicht hinaufbemühen, Sir. Es ist ein sehr hübsches Zimmer oben, Sir.«

»Ich danke«, sagte der Fremde und betrachtete Mrs. Britain aufmerksam. »Kann man hier eintreten?«

»O gewiß, wenn es Ihnen beliebt, Sir«, antwortete Clemency und lud den Herrn ein. »Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?«

Das Plakat fiel dem Fremden ins Auge, und er las es.

»Ein vorzüglicher Besitz das, Sir«, bemerkte Mr. Britain.

Der Gast gab keine Antwort, sondern drehte sich um, als er zu Ende gelesen, und betrachtete Clemency mit derselben forschenden Neugier wie früher, ohne den Blick von ihr zu wenden: »Sie fragten mich eben?«

»Was Sie wünschten, Sir«, antwortete Clemency und musterte ihn ebenfalls verstohlen.

»Wenn Sie mir einen Schluck Ale geben«, sagte er und trat zu einem Tisch am Fenster, »und es mir hierherbringen wollen, werde ich Ihnen sehr verbunden sein. Aber lassen Sie sich nicht beim Essen stören.«

Ohne weitere Umstände setzte sich der Fremde dann nieder und sah auf die Landschaft hinaus. Er war ein Mann in der Blüte des Lebens und sehr gut gewachsen. Sein sonnengebräuntes Gesicht beschatteten dunkle Haare, und er trug einen Schnurrbart. Nachdem er sein Bier bekommen, schenkte er sich ein Glas ein, trank freundlich auf das Wohl des Hauses und fügte hinzu, als er das Glas wieder niedersetzte: »Ist wohl ein neues Haus, das hier, nicht wahr?«

»Nicht ganz neu«, antwortete Mr. Britain.

»So zwischen fünf und sechs Jahre alt«, sagte Clemency mit deutlicher Betonung.

»Vorhin, als ich eintrat, glaubte ich Dr. Jeddlers Namen vernommen zu haben«, erkundigte sich der Gast. »Auch dieses Plakat erinnert mich an ihn, denn ich weiß zufällig etwas von der Geschichte durch Hörensagen und durch Verbindungen, die ich habe. Lebt der alte Herr noch?«

»Ja, Sir, er lebt noch«, antwortete Clemency

»Hat er sich sehr verändert?«

»Seit wann, Sir?« fragte Clemency mit besondrem Nachdruck.

»Seit seine Tochter – aus dem Hause ging?«

»Ja. Seit damals hat er sich wohl sehr verändert. Er ist alt und grau geworden und hat nichts mehr von seiner alten Weise an sich. Aber ich glaube, er ist jetzt getröstet. Er hat sich seitdem mit seiner alten Schwester versöhnt und besucht sie oft. Das hat ihm gleich sehr wohl getan. Anfangs war er sehr niedergebeugt, und es zerriß einem fast das Herz, wenn man ihn herumwandern sah und auf die Welt schimpfen hörte, aber nach einem oder zwei Jahren wurde es wieder besser mit ihm. Er fing wieder an, von seiner verlorenen Tochter zu sprechen und sie zu loben und die Welt sogar auch. Er wurde nie müde, mit Tränen im Auge zu erzählen, wie schön und wie gut sie gewesen. Er hat ihr verziehen. Das war um die Zeit herum, als Miss Grace heiratete. Britain, du erinnerst dich doch?«

Mr. Britain erinnerte sich sehr gut.

»Die Schwester ist also verheiratet«, bemerkte der Fremde. Er schwieg eine Weile, ehe er fragte: »Mit wem?«

Clemency hätte fast das Teebrett fallen lassen, so sehr überrascht war sie über diese Frage.

»Haben Sie denn nie davon gehört?«

»Ich möchte gerne Genaueres darüber wissen.« Er schenkte sich ein neues Glas ein und setzte es an die Lippen.

»Oh, das wär' eine lange Geschichte, wenn man sie genau erzählen wollte«, meinte Clemency und stützte ihr Kinn auf die linke Hand und ihren Ellbogen auf die andere und blickte kopfschüttelnd im Geiste auf die verflossenen Jahre zurück, wie jemand, der ins Feuer sieht. »Das würde eine lange Geschichte werden.«

»Aber wenn man es in Kürze erzählt?« fragte der Fremde.

»In Kürze erzählt«, wiederholte Clemency in demselben nachdenklichen Ton und scheinbar ganz geistesabwesend, »was wäre da zu erzählen? Daß sie sich zusammen abhärmten, ihrer gedachten wie einer Verstorbenen, daß sie sie in liebem Angedenken hielten und ihr mit keinem Worte Vorwürfe machten und Entschuldigungen aller Art für sie fanden, weiß jeder. Ich wenigstens weiß es. Niemand besser«, fügte sie hinzu und wischte sich mit der Hand die Augen.

»Und so –«, half der Fremde weiter.

»Und so«, sagte Clemency, mechanisch die Worte wiederholend und ohne ihre Stellung zu verändern, »so heirateten sie endlich. Sie wurden getraut an Marions Geburtstag – er kehrt morgen wieder. In aller Stille, aber sehr glücklich. Mr. Alfred sagte eines Abends, als sie im Obstgarten spazierengingen: &rsaquo;Soll unsere Hochzeit nicht an Marions Geburtstag sein?&lsaquo;, und so geschah es dann auch.«

»Und leben sie glücklich miteinander?« fragte der Fremde.

»Ja. Nie lebten zwei Menschen glücklicher, und nichts drückt sie als nur der alte Gram.«

Clemency erhob den Kopf, als ob sie plötzlich sich darüber klar werde, unter welchen Umständen sie diese Ereignisse sich ins Gedächtnis zurückrufe, und warf einen raschen Blick auf den Fremden. Da sie bemerkte, daß sein Gesicht dem Fenster zugewandt war, als sei er in Betrachtung der Aussicht versunken, machte sie ihrem Gatten allerhand erregte Zeichen und wies auf das Plakat und bewegte den Mund, als ob sie immer dasselbe Wort oder denselben Satz angestrengt wiederhole. Sie ließ dabei keinen Laut vernehmen, und ihre stummen Gebärden waren so außergewöhnlicher Art, daß dies unerklärliche Benehmen Mr. Britain an den Rand der Verzweiflung brachte. Er starrte den Tisch an, den Fremden, die Löffel, seine Frau, folgte ihrer Pantomime mit Blicken tiefsten Staunens und gänzlicher Ratlosigkeit, fragte sie in derselben stummen Sprache, ob vielleicht das Besitztum in Gefahr schwebe, ob er selbst in Gefahr schwebe oder sie; beantwortete ihre Signale mit andern, die die tiefste Verwirrung ausdrückten und riet halblaut aus den Bewegungen ihrer Lippen auf die merkwürdigsten Dinge, auf: »Milch und Wasser? – Monatswechsel – Maus und Walnuß« – und konnte doch nicht herausbekommen, was sie eigentlich wollte.

Clemency gab es endlich auf und rückte ganz allmählich ihren Stuhl ein wenig näher, beobachtete den Fremden mit scheinbar gesenkten Augen scharf und wartete gespannt, bis er ihr wieder eine Frage stellen werde. Sie brauchte nicht lange zu warten, denn er sagte gleich darauf:

»Und was war das spätere Schicksal der jungen Dame, die das Haus verließ? Ihre Familie weiß doch davon, nehme ich an?«

Clemency schüttelte den Kopf. »Dr. Jeddler soll mehr davon wissen, als er sich merken läßt, hörte ich. Miss Grace hat Briefe von ihrer Schwester bekommen, in denen sie schreibt, daß sie sich wohl befinde und glücklich darüber sei, daß sich Grace und Alfred geheiratet hätten. Und Miss Grace hat wieder geantwortet. Aber es schwebt ein Geheimnis über Marions Leben und ihrem Schicksal, das bis zu dieser Stunde noch nicht aufgeklärt ist und das –«

Sie wurde unsicher und stockte.

»Und das –«, wiederholte der Fremde.

»Das wohl nur eine einzige Person aufklären könnte«, sagte Clemency tief aufatmend.

»Und wer wäre das?« fragte der Fremde.

»Mr. Michael Warden«, antwortete Clemency fast mit einem Schrei, der gleichzeitig ihrem Manne verständlich machte, was ihr vorher nicht hatte gelingen wollen, und Michael Warden verriet, daß er erkannt sei.

»Sie erinnern sich meiner, Sir«, sagte Clemency und zitterte vor Erregung. »Ich hab es gleich bemerkt. Sie kennen mich noch von jener Nacht im Garten her. Ich war bei ihr.«

»Ja, Sie waren es«, sagte der Gast.

»Ja, Sir, ja gewiß. Und dies hier ist mein Mann, wenn Sie gestatten. Ben, mein lieber Ben, lauf zu Miss Grace, lauf zu Mr. Alfred, lauf wohin du willst, Ben, bring irgend jemand her, Ben, auf der Stelle!«

»Halt!« sagte Michael Warden, sich ruhig zwischen die Tür und Britain stellend. »Was wollen Sie tun?«

»Sie wissen lassen, daß Sie hier sind, Sir«, antwortete Clemency, außer sich vor Erregung die Hände zusammenschlagend, »ihnen sagen, daß sie von Ihren eigenen Lippen Nachricht über sie bekommen können, daß sie ihnen nicht ganz verloren ist und wieder nach Hause kommt und ihren Vater, ihre liebe Schwester und sogar ihre alte Dienerin, sogar mich« – sie schlug sich mit beiden Händen auf die Brust – »wieder mit dem Anblick ihres süßen Gesichtchens selig machen wird. Lauf, Ben, lauf!« – Sie wollte Britain wieder zur Türe drängen, aber immer noch wehrte ihm Mr. Warden den Ausgang, nicht zürnend, aber schmerzerfüllt.

»Oder vielleicht«, sagte Clemency und faßte in ihrer Erregung Mr. Warden am Mantel, »vielleicht ist sie jetzt hier, vielleicht ganz in der Nähe. Ich sehe es Ihnen an, sie muß hier sein. Bitte, Sir, lassen Sie mich doch zu ihr. Ich wartete sie, wie sie noch ein kleines Kind war. Ich sah sie aufwachsen als den Stolz der ganzen Ortschaft. Ich kannte sie noch, als sie Mr. Alfreds Braut war, und versuchte, sie zurückzuhalten, als Sie sie weglockten. Ich weiß, wie es in ihrem Vaterhaus aussah, als sie noch die Seele darin war, und wie es anders geworden ist, seit sie entflohen ist. Lassen Sie mich doch mit ihr sprechen, Sir!«

Warden sah sie mitleidig und ein wenig verwundert an, gab aber kein Zeichen der Zustimmung von sich.

»Ich glaube nicht, daß sie wissen kann«, fuhr Clemency fort, »wie aufrichtig ihr alle vergeben haben, wie sehr sie sie lieben und welche Freude sie hätten, sie noch einmal sehen zu dürfen. Sie fürchtet sich vielleicht, nach Hause zurückzukehren. Vielleicht kann ich ihr Mut machen. Sagen Sie mir nur das eine, Mr. Warden, ist sie bei Ihnen?«

»Nein«, sagte der Gast mit einem Kopfschütteln.

Seine Antwort, sein Benehmen, seine Trauerkleider, seine stille Rückkehr, seine öffentlich angekündigte Absicht, ins Ausland zu ziehen, erklärten ihr alles.

Marion war tot!

Er widersprach ihr nicht. Ja, sie war tot.

Clemency setzte sich hin, legte das Gesicht auf den Tisch und weinte.

In diesem Augenblick kam ein alter, grauhaariger Herr ganz außer Atem hereingestürzt und keuchte so stark, daß er an seiner Stimme kaum als Mr. Snitchey zu erkennen war.

»Gott im Himmel, Mr. Warden!« sagte der Advokat und zog den Gentleman beiseite. »Welcher Wind –«, er war so erschöpft, daß er innehalten mußte und erst nach einer Pause ganz schwach hinzusetzen konnte – »hat Sie hierhergeführt.«

»Ein ungünstiger, fürchte ich«, gab Mr. Warden zur Antwort. »Wenn Sie hätten hören können, was eben hier vorging, wie man mich bat, Unmögliches zu tun und wie ich nur Verwirrung und Herzleid bringen konnte.«

»Ich kann mir schon alles denken, aber warum sind Sie gerade hierher gegangen, mein lieber Herr«, rief der Advokat.

»Ich bitte Sie! Wie konnte ich denn wissen, wem das Haus gehört. Als ich meinen Bedienten zu Ihnen schickte, stolperte ich hier herein, weil mir das Haus ganz neu war und ich ein begreifliches Interesse fühle an allem, was sich hier in dieser alten Umgebung verändert hat. Überdies wollte ich doch mit Ihnen erst außerhalb der Stadt zusammenkommen, ehe ich mich öffentlich zeigte. Ich wollte erfahren, was die Leute von mir sprächen. Ich sehe übrigens an Ihrem Benehmen, daß Sie es mir sagen können. Wäre nicht Ihre verwünschte Vorsicht gewesen, hätte ich längst alles schon wissen können.«

»Unsere Vorsicht!« rief der Advokat aus. »Wie können Sie uns einen Vorwurf machen, Mr. Warden! Ich spreche im Namen meiner Wenigkeit & Craggs' – selig –«, dabei blickte Mr. Snitchey den Flor auf seinem Hute an und schüttelte den Kopf. »Wir hatten doch vereinbart, daß wir den Gegenstand nicht wieder berühren sollten, da es eine Angelegenheit wäre, in die sich so ernste und gesetzte Männer wie wir – ich notierte mir Ihre damaligen Äußerungen – nicht mischen dürften. Unsere Vorsicht! Während Mr. Craggs, Sir, in sein geachtetes Grab stieg in dem vollen Glauben –«

»Ich hatte ein feierliches Versprechen gegeben, zu schweigen, falls ich zurückkehren würde, wann immer das auch geschehen möchte«, unterbrach ihn Mr. Warden, »und habe es gehalten.«

»Gewiß, Sir, und ich wiederhole es, wir waren ebenfalls zum Schweigen verpflichtet, einesteils unserer Pflicht gegen uns selbst wegen, und dann verschiedener Klienten halber, zu denen auch Sie zählten. Es kam uns nicht zu, Sie über eine derartig delikate Angelegenheit auszuforschen. Ich hatte wohl so meinen Argwohn, Sir; es sind kaum sechs Monate her, daß ich von der Wahrheit unterrichtet wurde.«

»Von wem?« fragte Mr. Warden.

»Von Dr. Jeddler selbst, Sir, der mich aus freien Stücken ins Vertrauen zog. Er und nur er allein hat die volle Wahrheit seit mehreren Jahren gewußt.«

»Und Sie wissen sie auch?« fragte Mr. Warden.

»Ich auch, Sir«, antwortete Snitchey. »Und ich habe auch Grund, anzunehmen, daß Grace sie morgen abend ebenfalls erfahren wird. Man hat es ihr versprochen. Mittlerweile werden Sie mir hoffentlich die Ehre geben, Gast meines Hauses zu sein, da man Sie in Ihrem eignen nicht erwartet. Doch um weiteren Verlegenheiten auszuweichen, falls man Sie erkennen sollte – Sie haben sich zwar sehr verändert, und ich glaube, ich selbst wäre an Ihnen, Mr. Warden, ahnungslos vorübergegangen –, wäre es vielleicht besser, wir dinierten hier und gingen erst abends in die Stadt. Man ißt hier sehr gut zu Mittag, Mr. Warden; übrigens ist hier Ihr eigener Grund und Boden. Meine Wenigkeit & Craggs – selig – nahmen hier öfter ein Kotelett und waren immer sehr zufrieden.«

»Mr. Craggs, Sir«, fuhr Snitchey fort, die Augen auf einen Moment fest schließend und dann wieder öffnend, »wurde leider allzufrüh aus dem Buche der Lebendigen gestrichen.«

»Der Himmel vergebe mir, daß ich Ihnen nicht längst kondolierte«, erwiderte Michael Warden und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, »aber ich bin wie im Traume. Es ist mir, als sei ich nicht recht bei Vernunft. Mr. Craggs, ja richtig. Es tut mir wirklich sehr leid, daß wir Mr. Craggs verloren haben.« Er sah bei diesen Worten auf Clemency und schien viel eher mit Benjamin zu sympathisieren, der sich bemühte, seine Frau zu trösten.

»Mr. Craggs, Sir«, bemerkte Snitchey, »mußte sich, wie ich zu meinem Leidwesen konstatiere, leider überzeugen, daß es dem Menschen nicht so leicht gemacht ist, das Leben zu behalten, wie ihm seine Theorie sagte, sonst wäre er noch unter uns. Es ist ein großer Verlust für mich! Mr. Craggs war mein rechter Arm, mein rechtes Bein, mein rechtes Ohr, mein rechtes Auge; ohne ihn bin ich wie gelähmt. Er vermachte seinen Anteil am Geschäfte Mrs. Craggs, den Testamentsvollstreckern, Administratoren und Kuratoren. Sein Name steht bis zum heutigen Tag noch über der Firma. Ich versuche manchmal wie ein Kind, mir einzureden, daß er noch lebe. Ich spreche immer noch gewohnheitsmäßig: für meine Wenigkeit & Craggs – selig, – Sir, selig.« Und der weichherzige Advokat wedelte mit dem Taschentuch.

Michael Warden, der Clemency noch immer beobachtete, beugte sich zu Snitchey und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Ach, die Ärmste!« sagte Snitchey und schüttelte den Kopf. »Ja, sie hing immer so sehr an Marion. Sie hatte sie immer so gern. Hübsche Marion! Arme Marion! Kopf hoch, Mistress! Sie sind doch jetzt verheiratet. Denken Sie doch daran, Clemency.«

Clemency seufzte nur und schüttelte den Kopf.

»Nun, nun, warten Sie halt bis morgen«, sagte der Advokat freundlich.

»Morgen macht die Toten nicht mehr lebendig, Mister«, sagte Clemency schluchzend.

»Nein, das freilich nicht, sonst würde es uns Mr. Craggs – selig wieder zurückgeben«, entgegnete Snitchey. »Aber es kann gewisse mildernde Umstände bringen. Etwas Angenehmes. Warten Sie nur bis morgen.«

Clemency schüttelte die dargebotene Hand und sagte, sie wolle es tun, und Britain, der beim Anblick seiner in Schmerz aufgelösten Gattin – es war gerade, als ob das ganze Geschäft den Kopf hängen ließe – schrecklich niedergeschlagen war, sagte, daß es recht so sei. Und Mr. Snitchey und Michael Warden gingen die Treppe hinauf und waren bald in eine so vorsichtig geführte Unterhaltung vertieft, daß keine Silbe ihres Geflüsters hörbar wurde inmitten des Geklappers von Tellern und Schüsseln, des Zischens der Bratpfannen, des Brodeins der Kasserollen und des eintönigen Schnarrens des Bratspießrades, das von Zeit zu Zeit so schrecklich schnappte, als ob ihm ein Schlaganfall zugestoßen wäre – und all der andern Maßnahmen in der Küche.

Der folgende Tag war hell und friedevoll, und nirgendwo glänzten die herbstlichen Farben schöner als in dem stillen Obstgarten vor des Doktors Haus. Der Schnee vieler Winternächte war hier geschmolzen, manchen Sommer hindurch hatten die welken Blätter hier geraschelt, seit Marion geflohen war. Die Geißblattlaube war wieder grün, die Bäume warfen reiche und wechselnde Schatten auf das Gras, die Landschaft lag so still und heiter wie je. Nur sie fehlte.

Nur sie, nur sie. Sie hätte sich seltsam ausgenommen jetzt in dem alten Hause, seltsamer vielleicht, als damals das Haus ohne sie. Eine Dame saß jetzt an ihrem alten Platz, eine Dame, aus deren Herzen sie nie entschwunden war, in deren Gedächtnis sie treu fortlebte, unverändert, in Jugendfrische strahlend. In deren Liebe – Grace war jetzt selbst Mutter, und ein reizendes, kleines Töchterchen spielte an ihrer Seite – sie keine Nebenbuhlerin, keine Nachfolgerin hatte und auf deren Lippen jetzt der Name Marion schwebte.

Der Geist der Dahingegangenen blickte aus diesen Augen, aus Graces Augen, die jetzt an ihrem Hochzeitstag, dem gemeinsamen Geburtstage Marions und Alfreds, mit ihrem Gatten im Obstgarten saß.

Er war kein berühmter Mann geworden und auch nicht reich. Er hatte die Freunde seiner Jugend und die alte Umgebung nicht vergessen und überhaupt keine von des Doktors Prophezeiungen erfüllt. Aber bei seinen häufigen, geduldigen und heimlichen Besuchen in den Häusern der Armen, bei den vielen Nachtwachen an Krankenbetten und täglich so viel Mildem und Gutem, das auf den Seitenpfaden des Lebens blüht und dennoch nicht niedergetreten wird vom schweren Fuß der Armut, vor Augen, hatte er mit jedem Jahr die Wahrheit seines alten Glaubens besser erkannt und bewiesen. Seine wenn auch stille und bescheidene Lebensweise hatte ihm gezeigt, wie oft noch immer Engel bei den Menschen einkehren, so wie vor alters. Und wie oft gerade die Unscheinbarsten – selbst solche, die dem Auge häßlich und abstoßend erscheinen und in Lumpen gekleidet sind – am Schmerzenslager der Kranken in einem neuen Lichte erscheinen und zu hilfreichen Engeln werden mit einer Strahlenkrone um das Haupt.

Er lebte auf diesem alten Schlachtfeld vielleicht einem bessern Zwecke, als wenn er ruhelos ehrgeizigen Zielen nachgejagt hätte. Und er lebte glücklich mit seiner Gattin, seiner lieben Grace.

Und Marion? Hatte er sie vergessen?

»Die Zeit ist schnell entschwunden seitdem, liebe Grace« – sie sprachen von jener Nacht – »und doch scheint es so unendlich lange her zu sein. Wir zählen nach Veränderungen und Ereignissen in uns. Nicht nach Jahren.«

»Aber es sind auch Jahre verflossen, seit Marion gegangen ist«, erwiderte Grace. »Sechsmal, mein lieber Alfred, den heutigen Tag mit eingerechnet, haben wir an ihrem Geburtstag hier gesessen und von ihrer so heißersehnten und lange verschobenen Rückkehr gesprochen. Wann wird es nur endlich sein. Wann endlich?«

Alfred betrachtete sie aufmerksam, wie ihr die Tränen in die Augen traten, und zog sie näher an sich:

»Aber Marion sagte dir doch in ihrem Abschiedsbrief, den sie auf dem Tische zurückließ und den du so oft liest, daß Jahre vergehen müßten, ehe es sein kann, nicht wahr.«

Grace zog den Brief aus dem Busen und küßte ihn und nickte.

»Und daß sie während dieser Jahre, so glücklich sie auch sein möge, die Zeit ersehnen werde, wo sie zurückkehren und alles aufklären könne, und daß sie dich bitte, hoffnungs- und vertrauensvoll desgleichen zu tun. Lautet der Brief nicht so, mein Herz?«

»Ja, Alfred.«

»Und steht es nicht immer wieder in jedem Brief, den sie seitdem geschrieben hat?«

»Nur im letzten nicht – dem letzten seit einigen Monaten –, in dem sie von dir sprach und von dem, was du damals schon gewußt haben sollst und was ich heute abend erfahren darf.«

Er blickte in das Abendrot und sagte, daß sie es erfahren dürfe, wenn die Sonne untergegangen sei.

»Alfred«, sagte Grace und legte die Hand voll Ernst auf seine Schulter. »Es steht etwas in dem alten Brief, was ich dir nie gesagt habe, aber heute abend, lieber Alfred, wo dieser Sonnenuntergang naht und unser Leben mit dem scheidenden Tag feierlicher und stiller zu werden scheint, kann ich es nicht geheimhalten.«

»Was ist es, Geliebte?«

»Als Marion von uns ging, schrieb sie in diesem ersten Brief, daß sie jetzt dich, Alfred, in meine Hände lege wie du einst sie mir, und sie bat mich und beschwor mich, daß ich, wenn ich sie und dich liebte, nicht deine Neigung zu mir – sie wisse genau, daß eine solche bestünde – zurückweisen möge, wenn einmal die noch frische Wunde geheilt sei, sondern sie ermutigen und erwidern solle.«

»– und mich wieder zu einem stolzen und glücklichen Mann machen, Grace. Schrieb sie das nicht?«

»Sie wollte mich so glücklich über deine Liebe machen, wie es der Fall ist«, war die Antwort, und sie schloß ihn in ihre Arme.

»Hör zu, Geliebte«, sagte er. – »Nein, so!« Und er legte sanft ihr Haupt an seine Schulter. »Ich weiß, warum ich von dieser Stelle im Brief nie etwas gehört habe. Ich weiß, warum du damals nie eine Spur davon in Wort oder Blick gezeigt hast. Ich weiß auch, warum meine Grace, trotzdem sie immer so freundlich zu mir gewesen ist, doch so schwer zu bewegen war, mein Weib zu werden. Und weil ich es weiß, kenne ich auch den unschätzbaren Wert des Herzens, das ich in meinen Armen halte, und danke Gott für den unendlichen Reichtum.«

Sie weinte, aber nicht aus Kummer, als er sie an sein Herz drückte. Nach einer Weile sah er auf das Kind zu seinen Füßen, das mit einem Körbchen voll Blumen spielte, und sagte zu ihm: »Schau doch, wie rot und golden die Sonne ist!«

»Alfred«, Grace blickte bei seinen letzten Worten rasch auf. »Die Sonne geht unter, vergiß nicht, daß ich es jetzt erfahren soll.«

»Du sollst die Wahrheit von Marions Geschichte jetzt erfahren, Geliebte«, antwortete er.

»Die ganze Wahrheit!« bat sie flehend. »Die unverhüllte Wahrheit. So lautet doch das Versprechen, nicht wahr?«

»Gewiß.«

»Ehe die Sonne sinkt an Marions Geburtstag. Und du siehst, Alfred, sie sinkt schnell.«

Er legte den Arm um sie und sah ihr fest in die Augen.

»Die Wahrheit, liebe Grace, soll nicht ich dir sagen. Sie soll dir von ändern Lippen kommen.«

»Von ändern Lippen?«

»Ja, ich kenne dein festes Herz. Ich weiß, wie tapfer du bist und daß ein vorbereitendes Wort bei dir genügt. Du sagtest, die Zeit ist gekommen. Ja, sie ist gekommen. Sage mir, daß du stark genug bist, eine Prüfung, eine Überraschung – eine Erschütterung zu ertragen: Und der Bote steht vor der Türe.«

»Welcher Bote? Welche Nachricht bringt er?«

»Ich darf nicht mehr sagen. Glaubst du, du verstehst mich?«

»Ich fürchte mich, daran zu denken«, sagte sie.

Trotz seinem ruhigen Blick lag eine Erregung in seinem Gesicht, die sie erschreckte. Wieder barg sie ihr Gesicht an seiner Schulter und bat ihn zitternd, noch einen Augenblick zu warten.

»Mut, Grace! Wenn du Kraft genug hast, den Boten zu empfangen, so wartet er vor dem Tore. Die Sonne sinkt an Marions Geburtstag. Also Mut, Mut, Grace!«

Sie erhob das Haupt, sah ihn an und sagte, daß sie bereit sei. Wie sie dastand und ihm nachblickte, war ihr Gesicht Marions Zügen, wie sie in den letzten Tagen im Vaterhause gewesen, wunderbar ähnlich. Er nahm das Kind mit sich. Sie rief es zurück – es trug ihrer Schwester Namen – und drückte es an ihre Brust. Wieder freigelassen, sprang das Kind Alfred nach, und Grace war allein.

Sie wußte nicht, wovor sie sich fürchtete oder was sie erhoffte. Sie blieb regungslos stehen und blickte nach der Pforte, wo die beiden verschwunden waren.

Gott, was trat da aus dem Schatten, stand dort auf der Schwelle! Diese Gestalt in den weißen, von der Abendluft bewegten Kleidern, das Haupt zärtlich ruhend an ihres Vaters Brust! O Gott, war das eine Vision, die sich aus des alten Mannes Armen loslöste und mit einem Schrei in wildem Ungestüm schrankenloser Liebe ihr in die Arme sank!

»O Marion, Marion! O meine Schwester, mein Herzensliebling! Was für ein unaussprechliches Glück, dich wiederzusehen!«

Es war kein Traum, kein von Hoffnung und Furcht heraufbeschworenes Phantasiegebilde, sondern Marion, die süße Marion selbst. So glücklich, so lieblich, so unberührt von Kummer und Prüfung, so herrlich in ihrer Anmut, daß, wie die untergehende Sonne auf ihr himmelwärts gerichtetes Gesicht schien, sie wie ein Engel aussah, der auf die Erde segenspendend herabgekommen.

Marion hielt ihre Schwester umfaßt, hatte sie zu einer Bank gezogen und beugte sich über sie und lächelte durch Tränen. Dann kniete sie vor ihr nieder und konnte keine Sekunde das Auge von ihr wenden. Endlich brach sie das Schweigen, und ihre Stimme war klar, tief und ruhig wie im Einklang mit der Abendstille.

»Als dies noch mein liebes Vaterhaus war, Grace, wie es jetzt es wieder sein soll –«

»O mein süßes Herz, nur einen Augenblick! O Marion, dich wieder sprechen zu hören!«

»Als dies noch mein Vaterhaus war, Grace, das es jetzt wieder sein soll, liebte ich Alfred von ganzem Herzen. Ich liebte ihn auf das innigste und wäre gern für ihn gestorben, obwohl ich noch so jung war. Ich verschmähte seine Liebe nie in meinem innersten Herzen. Keinen einzigen Augenblick. Sie war mir teuerer, als ich sagen kann. Es ist lange her und längst vorbei, und alles ist ganz anders geworden, und doch ertrug ich den Gedanken nicht, du könntest glauben, ich hätte ihn einst nicht treu geliebt. Ich liebte ihn nie heißer, Grace, als an jenem Tage, wo er Abschied nahm. Ich liebte ihn nie mehr als an jenem Abend, wo ich von hier verschwand.«

Ihre Schwester konnte ihr bloß ins Antlitz schauen und sie fest umschlungen halten.

»Aber ohne es zu wissen«, sagte Marion mit sanftem Lächeln, »hatte er bereits ein anderes Herz gewonnen, ehe ich noch eins besaß, um es ihm zu schenken. Dieses Herz – deines, liebe Schwester – war so von Zärtlichkeit zu mir erfüllt, so hingebend und so edel, daß es seine Liebe verbarg und sie geheimhielt vor aller Augen, außer vor meinen – oh, welche Augen wären auch so von Zärtlichkeit und Dankbarkeit geschärft gewesen –, und sich für mich opferte. Aber ich kannte gar wohl die Tiefe dieses Herzens. Ich wußte um den Kampf, den es ausgestanden. Ich wußte, wie hoch und unschätzbar sein Wert für ihn war und wie hoch er es hielt, mochte er mich lieben, wie er wollte. Ich wußte, wieviel ich diesem Herzen schuldete, und hatte das Vorbild täglich vor Augen. Was du für mich getan, Grace, fühlte ich, würde ich auch für dich tun können. Ich legte mich nie zur Ruhe, ohne unter Tränen zu beten, daß ich die Kraft dazu haben möge. Ich legte mich nie zur Ruhe in die Kissen, ohne an Alfreds eigene Worte an seinem Abschiedstag zu denken, daß täglich im menschlichen Herzen Siege erfochten würden, gegen die die Siege auf diesem Schlachtfeld in nichts versänken. Und je mehr ich an die Entsagung dachte, die täglich und stündlich in dem großen Lebenskampf, von dem er sprach, bewiesen wird, ohne daß jemand ihrer gedächte, da fühlte auch ich meine Aufgabe täglich leichter werden. Und er, der unsere Herzen sieht in diesem Augenblick und weiß, daß kein Tropfen Gram oder Leid in dem meinen ist, nichts als ungemischte Freude – er gab mir die Kraft zum Entschluß, niemals Alfreds Weib zu werden. Mein Bruder und dein Gatte, wenn meine Handlungsweise dieses glückliche Ende herbeiführen könnte, sollte er sein, aber ich niemals sein Weib!«

»O Marion! O Marion!« –

»Ich versuchte, gleichgültig gegen ihn zu sein« – sie drückte ihrer Schwester Gesicht an ihre Wangen–, »aber das war schwer, und du warst immer seine treue Fürsprecherin. Ich wollte dir meinen Entschluß mitteilen, aber es ging nicht. Du mochtest mich nie anhören und würdest mich nicht verstanden haben. Die Zeit seiner Rückkehr kam heran. Ich fühlte, daß ich handeln mußte, ehe der tägliche Umgang mit ihm sich erneuern würde. Ich erkannte, daß ein großer Schmerz in diesem Augenblick uns allen langes Leid ersparen würde, erkannte, daß, wenn ich vor ihm entfloh, das Ende so kommen müßte, wie es gekommen ist, und daß wir beide noch glücklich werden würden, Grace. Ich schrieb an die gute Tante Martha und bat sie um Aufnahme in ihrem Hause; ich sagte ihr damals nicht die volle Wahrheit, und doch gewährte sie mir gern meine Bitte. Während ich noch mit mir selbst rang und mit meiner Liebe zu dir und dem Vaterhaus, da wurde Mr. Warden durch einen Unglücksfall eine Zeitlang unser Hausgenosse.«

»Wie oft habe ich in all den Jahren gezittert«, rief Grace aus und wurde leichenblaß, »daß du ihn niemals liebtest und ihn nur geheiratet hast, um dich für mich aufzuopfern.«

»Er war damals im Begriff, heimlich ins Ausland zu flüchten«, fuhr Marion fort und zog ihre Schwester näher zu sich. »Er schrieb an mich, setzte mir seine Verhältnisse und Absichten auseinander und bot mir seine Hand an. Er sagte mir, er habe bemerkt, daß ich Alfreds Rückkehr nicht mit Freude entgegensähe – ich glaube, er war der Meinung, mein Herz habe keinen Teil an diesem Bunde. Ich hätte Alfred vielleicht früher geliebt, aber es wäre vorbei, ich suchte meine Gleichgültigkeit zu verbergen, indem ich mich absichtlich gleichgültig stellte – kurz, ich weiß es nicht. Aber es war mein Wunsch, daß Alfred glauben solle, er habe mich ganz verloren, und daß ihm keine Hoffnung mehr bliebe. Verstehst du mich, geliebte Schwester.«

Grace sah ihr aufmerksam ins Gesicht; sie schien in Ungewißheit zu schweben.

»Ich kam mit Mr. Warden zusammen und vertraute seiner Ehrenhaftigkeit. Ich gestand ihm mein Geheimnis am Vorabend seiner und meiner Flucht. Er hat es treu bewahrt.«

Grace blickte sie verwirrt an. Sie schien kaum zu hören.

»Meine liebe, liebe Schwester!« sagte Marion. »Sammle deine Gedanken einen Augenblick und hör zu. Sieh mich nicht so seltsam an. Es gibt Stätten, wohin diejenigen, die eine rebellische Leidenschaft unterdrücken oder einen tiefen Schmerz in ihrer Brust heilen wollen, sich in Abgeschlossenheit vor der Welt und ihren Hoffnungen für immer zurückziehen wollen. Wenn Frauen dies tun, so nehmen sie den Namen an, der dir und mir so teuer ist, und nennen einander Schwestern. Aber es gibt auch Schwestern, Grace, die in der weiten Welt und mitten im Menschengewühl bemüht sind, Segen zu spenden und Gutes zu tun, und so dasselbe Ziel erreichen und mit frischem, jugendlichem Herzen und noch empfänglich für Glück auch sagen können: der Kampf ist vorbei und der Sieg gewonnen. Und so ist es mir gegangen. Verstehst du mich jetzt?«

Immer noch blickte Grace sie starr an und gab keine Antwort.

»O Grace, meine liebe Grace«, und Marion schmiegte sich noch zärtlicher an die Brust jener, die sie so lang gemieden, »wenn du nicht glücklich als Gattin und Mutter wärest – wenn ich keine kleine Namensschwester hier fände – wenn Alfred, mein lieber Bruder, nicht dein zärtlicher Gatte wäre, woher sollte ich denn dann die Glückseligkeit nehmen, die ich jetzt empfinde. Wie ich das Haus verlassen habe, so kehre ich zurück. Mein Herz hat keine andere Liebe gekannt, meine Hand ist noch immer frei, ich bin immer noch deine jungfräuliche Schwester, unverheiratet, unversprochen – deine alte Marion, in deren Herzen du allein ohne Nebenbuhler wohnst, Grace.«

Grace verstand jetzt. Die Spannung in ihren Zügen ließ nach, sie fiel Marion um den Hals und weinte und weinte und liebkoste sie wie ein Kind.

Als sie sich wieder gesammelt hatten, sahen sie den Doktor und Tante Martha, seine Schwester, und Alfred neben sich stehen. »Das ist ein schwerer Tag für mich«, sagte Tante Martha und lächelte unter Tränen, als sie ihre Nichten umarmte, »denn indem ich euch alle glücklich mache, verliere ich mein liebes Kind, und was könnt ihr mir für meine Marion geben?«

»Einen bekehrten Bruder«, sagte der Doktor.

»Das ist wenigstens etwas«, antwortete Tante Martha, »in einer Posse wie –«

»Ich bitte dich, hör auf«, sagte der Doktor bußfertig.

»Na, ich will's gut sein lassen«, meinte Tante Martha. »Aber ich komme wahrhaftig schlecht dabei weg. Ich weiß wirklich nicht, was aus mir ohne meine Marion werden soll, wo wir fast ein halbes Dutzend Jahre zusammengelebt haben.«

»Du mußt zu uns ziehen und hier leben«, rief der Doktor, »wir zanken uns gewiß nicht mehr.«

»Oder heiraten, Tante«, riet Alfred.

»Ich glaube wirklich«, erwiderte die alte Dame, »es wäre nicht übel, wenn ich Michael Warden ins Auge faßte, der sich in jeder Hinsicht gebessert haben soll, wie ich höre. Aber da ich ihn schon als Knaben kannte und ich schon damals nicht mehr sehr jung war, könnte er mir vielleicht einen Korb geben. Nein, ich will lieber zu Marion ziehen, wenn sie heiratet – was wohl nicht mehr sehr lang dauern kann –, und bis dahin allein bleiben. Was meinst du dazu, Bruder?«

»Ich habe doch wieder große Lust, zu sagen, daß es eine lächerliche Welt ist, in der es nichts Ernsthaftes gibt«, bemerkte der Doktor.

»Du könntest zwanzig Gutachten darüber ausstellen, Anthony«, bemerkte seine Schwester, »und es würde dir's doch niemand glauben, wenn du dabei ein solches Gesicht machst.«

»Es ist eine Welt voller Herzen«, sagte der Doktor und umarmte seine jüngere Tochter, und sich hinüberbeugend, um auch Grace an sich zu ziehen, denn er konnte die Schwestern nicht voneinander trennen: »Eine ernste Welt trotz aller ihrer Narretei, trotz aller ihrer Torheiten, die groß genug waren, die ganze Erde zu überschwemmen. Eine Welt, über der die Sonne nie aufgeht, ohne auf Tausende von unblutigen Kämpfen niederzuscheinen, die die Leiden und Verbrechen der Schlachtfelder einigermaßen wiedergutmachen, eine Welt, die wir nicht verspotten dürfen, Gott verzeih' mir, denn sie ist eine Welt voll heiliger Geheimnisse, und nur ihr Schöpfer allein weiß, was unter der Oberfläche seines geringsten Ebenbildes sich verbirgt.« – – –

Ich täte niemand einen Gefallen damit, wenn ich mit plumper Hand die Freude dieser langgetrennten und jetzt wieder vereinigten Familie ausmalen wollte. Ich will dem Doktor nicht durch die Erinnerungen an seinen Schmerz folgen, den er nach Marions Flucht gefühlt, und will nicht erzählen, wie ernst er die Welt empfunden, in der tief wurzelnde Liebe das Erbteil aller Menschen ist, auch nicht, wie ihn eine Kleinigkeit, ein einziger kleiner Rechenfehler in seiner großen närrischen Philosophie zu Boden gedrückt hatte, auch nicht, wie ihm seine Schwester schon längst aus Mitleid die Wahrheit allmählich enthüllt und ihm das Herz seiner Tochter, die freiwillig in die Verbannung gegangen war, entdeckt und ihn an Marions Brust zurückgeführt hatte.

Ich will auch nicht schildern, wie Alfred Heathfield im letzten Jahre die Wahrheit erfahren, wie Marion ihn gesehen und ihm als ihrem Bruder versprochen hatte, am Abend ihres Geburtstags Grace mit eigenem Munde alles zu enthüllen. – – –

»Verzeihung, Doktor«, sagte plötzlich Mr. Snitchey, in den Garten guckend. »Darf ich mir die Freiheit nehmen, näher zu treten?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er geradenwegs auf Marion zu und küßte ihr erfreut die Hand.

»Wenn Mr. Craggs noch am Leben wäre, meine teure Miss Marion«, begann er, »würde er am heutigen Ereignis lebhaftestes Interesse nehmen. Er würde sicher zur Ansicht kommen, daß Ihnen das Leben nicht allzu leicht gemacht wurde, und vielleicht, daß es recht angebracht ist, kleine Erleichterungen zu spenden, wann immer wir können. Denn Mr. Craggs war ein Mann, der sich überzeugen ließ. Er war Belehrungen stets zugänglich. Wenn er jetzt einer solchen Belehrung ein offenes Ohr leihen könnte – doch hier liegt der schwache Punkt der Sache. Mrs. Snitchey, teure Gattin« – auf diesen Ruf erschien die Dame in der Türe – »wir sind unter alten Freunden.«

Nachdem Mrs. Snitchey ihren Glückwunsch dargebracht, nahm sie ihren Gatten beiseite. »Nur einen Augenblick, Mr. Snitchey«, sagte die würdige Dame. »Es liegt nicht in meiner Natur, die Asche der Toten aufzuwirbeln.«

»Nein, meine Teure«, antwortete der Advokat.

»Mr. Craggs ist –«

»Ja, meine Liebe. Er ist gestorben«, sagte Mr. Snitchey.

»Nichtsdestoweniger bitte ich dich«, fuhr seine Gattin fort, »dir jenen Ballabend ins Gedächtnis zurückzurufen. Nur darum bitte ich dich. Wenn dich dein Erinnerungsvermögen nicht ganz verläßt und du nicht ganz und gar geistesschwach bist, so ersuche ich dich, den heutigen Abend mit jenem zu verknüpfen und daran zu denken, wie ich dich auf meinen Knien anflehte und bat–«

»Auf den Knien?« fragte Mr. Snitchey

»Ja«, sagte Mrs. Snitchey mit Festigkeit. »Du weißt es noch ganz gut – – – anflehte, dich vor diesem Mann zu hüten – sein Auge zu beobachten. Jetzt sage mir, ob ich damals nicht recht hatte und ob er an jenem Tage nicht um Geheimnisse wußte, die zu verschweigen er für gut fand.«

»Mrs. Snitchey«, flüsterte ihr der Advokat ins Ohr, »Madame, bemerkten Sie auch etwas in meinem Auge?«

»Nein«, sagte Mrs. Snitchey mit Schärfe. »Bilden Sie sich das nicht ein!«

»Ich sage das bloß, weil wir an jenem Abend zufällig«, fuhr Snitchey fort und hielt seine Gattin am Ärmel fest, »alle beide im Besitz eines Geheimnisses waren, das wir nicht verraten durften, und beide firmagemäß ein und dasselbe wußten. Je weniger Sie, Madame, von dieser Sache sprechen, desto besser. Nehmen Sie es als eine Lehre hin und sehen Sie in Zukunft die Dinge mit weiserem und barmherzigerem Auge an. Miss Marion, ich habe Ihnen eine alte Freundin mitgebracht. Hier, Mistress.«

Die alte Clemency trat, die Schürze vor den Augen, von ihrem Gatten geführt, langsam herein; Britain wie in einer bösen Vorahnung, daß es mit dem Wirtshaus »Zum Muskatreiber« vorbei sei, falls seine Gattin den Mut verlöre.

»Nun, Mistress«, sagte der Advokat und hielt Marion zurück, die der alten Dienerin entgegeneilen wollte, »was ist denn mit Ihnen los?«

»Los?« schrie die arme Clemency.

Aber wie sie jetzt, verwundert und verletzt durch die Frage und erschrocken über ein lautes Gebrüll Mr. Britains, aufblickte und das wohlbekannte liebe Gesicht so dicht vor sich sah, da machte sie große Augen, schluchzte, lachte, weinte und schrie, umarmte Marion, hielt sie fest, ließ sie wieder los, fiel über Mr. Snitchey her und umarmte ihn – zur größten Empörung Mrs. Snitcheys –, fiel über den Doktor her und umarmte ihn, dann über Mr. Britain, und umarmte schließlich sich selbst, warf die Schürze über den Kopf und lachte und weinte durcheinander.

Ein Fremder war hinter Mr. Snitchey in den Obstgarten gekommen und an der Türe stehengeblieben, ohne von den ändern bemerkt zu werden, die sehr wenig Aufmerksamkeit übrig hatten und durch Clemencys Ekstasen vollständig in Anspruch genommen waren. Er wollte offenbar nicht auffallen, sondern blieb abseits stehen mit niedergeschlagenen Augen.

Sein Gesicht machte den Eindruck von Betrübnis, der in der allgemeinen Fröhlichkeit nur noch auffälliger wurde. Es war ein Herr von sehr vornehmer Erscheinung. Nur Tante Marthas scharfen Augen schien er nicht entgangen zu sein. Kaum hatte sie ihn erspäht, war sie schon in die lebhafteste Konversation mit ihm verwickelt. Gleich darauf trat sie wieder zu Marion, die neben Grace und ihrer kleinen Namensschwester stand, und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie sehr zu überraschen schien. Aber schnell sich wieder fassend, näherte sich Marion mit der Tante dem Fremden und ließ sich mit ihm in eine Unterhaltung ein.

»Mr. Britain«, sagte der Advokat und zog ein nach einem Aktenstück aussehendes Dokument aus der Tasche. »Ich beglückwünsche Sie. Sie sind jetzt der einzige und alleinige Eigentümer jenes Grundstückes, das Sie bisher in Pacht hatten und auf dem Sie eine konzessionierte Schenke oder Gastwirtschaft betreiben, die gemeinhin nach ihrem Schilde als das Wirtshaus »Zum Muskatreiber« bezeichnet wird und bekannt ist. Ihre Frau ging durch Verschulden meines Klienten, Mr. Michael Warden, eines Hauses verlustig und gewinnt nun durch ihn ein anderes. Ich werde mir das Vergnügen machen, Ihnen an einem der nächsten Vormittage meine Aufwartung zu machen, um mich um Ihre Stimme bei den nächsten Wahlen zu bewerben.«

»Würde es einen Unterschied in der Stimmenabgabe machen, wenn das Schild geändert würde, Sir?« fragte Britain.

»Durchaus nicht«, antwortete der Advokat.

»Dann«, sagte Mr. Britain und gab Snitchey die Urkunde zurück, »flicken Sie noch die Worte ein: &rsaquo;und Fingerhut&lsaquo;, und ich werde die beiden Sprüche im Wohnzimmer aufhängen lassen anstelle des Porträts meiner Gattin.«

»Und mir?« sagte eine Stimme hinter ihnen, es war Michael Wardens, des Fremden Stimme. »Lassen Sie mir den Segen dieser Inschriften zukommen! Mr. Heathfield und Dr. Jeddler, ich hätte Ihnen großes Unrecht zufügen können! Daß es nicht dazu kam, ist nicht mein Verdienst. Ich will nicht sagen, daß ich um sechs Jahre weiser oder besser bin, als ich war, aber jedenfalls habe ich so lange bereut. Ich habe keinen Anspruch auf schonende Behandlung von Ihrer Seite. Ich mißbrauchte die Gastfreundschaft dieses Hauses, lernte aber meine Fehler einsehen mit einer Beschämung, die ich nie vergessen habe, und nicht ohne Nutzen, durch eine Dame« – er blickte Marion an – »die ich demütig um Verzeihung bat, als ich ihren innern Wert und meine eigne Unwürdigkeit erkannte. In wenigen Tagen werde ich diesen Ort für immer verlassen, und ich bitte Sie alle um Verzeihung: – Was du nicht willst, das man dir tu', das füg auch keinem ändern zu! Vergiß und vergib!«

*   *   *

Der Geist der Zeit, der mir den letzten Teil dieser Geschichte mitteilte und den seit fünfunddreißig Jahren persönlich zu kennen ich das Vergnügen habe, teilte mir gelegentlich mit, nachlässig auf seine Sense gelehnt, daß Michael Warden England nie verließ und auch sein Haus nicht verkaufte, sondern es zu einer goldnen Stätte der Gastlichkeit machte und sich eine Gattin gewann, den Stolz und die Ehre der ganzen Gegend, die den Namen Marion führt. Allerdings ist mir bekannt, daß der Geist der Zeit zuweilen die Tatsachen arg untereinandermengt, und daher weiß ich nicht, wieviel Gewicht auf seine Aussagen zu legen ist.


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