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Der Brief, den Toby vom Alderman Cute bekommen, war an einen großen Mann in dem großen Bezirk der Stadt adressiert, in dem größten Bezirk der Stadt besser gesagt, denn er hieß bei seinen Bewohnern allgemein die »Welt«. Der Brief schien schwerer zu wiegen als je ein anderer Brief. Nicht weil der Alderman ihn mit einem großen Wappen und einer Menge Siegellack gesiegelt hatte, sondern wegen des gewichtigen Namens auf der Adresse und der schweren Menge Gold und Silber, das sich an ihn knüpfte.
»Wie verschieden von uns«, dachte Toby in tiefem Ernst und großer Einfalt, als er seine Blicke in die Richtung des Bezirkes warf. »Dividiere die Zahl der lebendigen Schildkröten im Weichbild durch die Zahl der Vornehmen, die sie kaufen können, und auf jeden fällt der richtige Teil. Den Leuten die Kuttelflecke vom Munde wegzunehmen – dazu sind sie zu erhaben.«
Mit unwillkürlicher Ehrfurcht vor der bedeutenden Person legte Toby einen Zipfel seiner Schürze zwischen den Brief und seine Finger.
»Seine Kinder –«, sagte Trotty, und ein Nebel schwamm vor seinen Augen, »seine Töchter – vornehme Herren können sich um ihre Herzen bewerben und sie heiraten, sie dürfen glückliche Frauen und Mütter werden und schön sein, wie meine liebe Me –«
Er konnte ihren Namen nicht aussprechen, der letzte Buchstabe quoll in seiner Kehle auf zur Größe des ganzen Alphabets.
»Macht nichts«, dachte der arme Trotty, »ich weiß schon, was ich meine. Das ist mehr als genug für mich«, und mit diesem ungemein tröstlichen Gedanken trabte er weiter.
Es war bitterkalt an diesem Tage. Die Luft war scharf, schneidend und klar. Die Wintersonne schien hell, wenn auch ohne Wärme, herab auf das Eis, das zu schmelzen sie zu schwach war, und warf einen strahlenden Glanz darüber hin. Ein andermal hätte Trotty aus der Wintersonne eine Lehre gezogen, die auf arme Leute gepaßt hätte, aber heute ging es ihm nicht zusammen.
Das Jahr war steinalt an diesem Tag. Es hatte geduldig die Vorwürfe und Lästerungen seiner Verleumder ertragen und getreulich seine Arbeit verrichtet. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es hatte den vorgeschriebenen Kreis durchlaufen und legte jetzt müde sein Haupt nieder, um zu sterben. Ohne neue Hoffnungen, ohne heiße Triebe, ohne eigene Glückseligkeit, wohl aber ihr Bringer gewesen für andere, erhob es Anspruch darauf, daß man auch seine mühevollen Tage und langweiligen Tage im Gedächtnis bewahren möge und es jetzt in Frieden sterben lasse. Trotty hätte in dem scheidenden Jahr die Allegorie vom Leben des armen Mannes sehen können, aber jetzt war er dafür unempfänglich.
Hätte nicht auch er den gleichen Anspruch erheben können? Oder jeder beliebige englische Arbeiter die ganzen letzten siebzig verflossenen Jahre hindurch?!
Die Straßen waren voll Leben, und die Läden schimmerten bunt aufgeputzt. Das neue Jahr wurde wie ein junger Erbe der ganzen Welt mit Willkommen und hellem Jubel erwartet. Da gab es Bücher und Spiele fürs neue Jahr, glitzernde Schmucksachen fürs neue Jahr, Kleider fürs neue Jahr, Glückskarten fürs neue Jahr, Witze und Späße. Sein ganzes künftiges Leben war in Kalendern und Taschenbüchern aufgeteilt. Aufgang und Untergang des Mondes und der Sterne, Ebbe und Flut, alles wußte man schon vorher so genau bei Tag und Nacht wie Mr. Filer die Einwohnerzahl.
Neujahr! Neujahr, überall Neujahr! Das alte Jahr betrachtete man bereits als tot, und seine Habseligkeiten wurden so billig losgeschlagen wie die eines ertrunkenen Matrosen. Seine Muster und Moden galten als abgetan und wurden verschleudert, ehe es noch den Atem ausgehaucht. Seine Schätze waren wie Abfälle neben dem Reichtum seines noch ungeborenen Nachfolgers.
Trotty hatte in seinen Gedanken keinen Anteil, weder an dem neuen Jahr noch an dem alten. Rottet aus, rottet aus, Daten und Zahlen, Daten und Zahlen, gute Zeit, alte Zeit, rottet aus, rottet aus! Nach dieser Weise ging sein Trab, wollte sich keiner andern anpassen.
Aber auch dieser schwermütige Trott brachte ihn endlich an das Ende seines Wegs, an das Haus des Parlamentsmitglieds Sir Joseph Bowley.
Ein Portier öffnete die Tür, aber was für ein Portier! Nichts von Tobys Art. Er war etwas ganz anderes. Auch er trug einen Stab, aber einen andern als Toby.
Der Portier keuchte gewaltig, ehe er ein Wort sprechen konnte. Er war so atemlos geworden, weil er sich unvorsichtig schnell aus seinem Lehnstuhl erhoben hatte, ohne sich erst Zeit zu nehmen, nachzudenken und seine Gedanken zu sammeln. Als er die Stimme wiedergefunden, was eine geraume Zeit kostete, denn sie war weit, weit weg und lag unter einer schweren Last von Fleisch versteckt, sagte er mit einem speckigen Flüstern:
»Von wem?«
Toby verriet es ihm.
»Den müssen Sie selber reintragen«, und der Portier wies nach einem Zimmer, das am Ende der Halle lag. »Heute wird alles vorgelassen. Sie kommen noch gerade recht, der Wagen steht bereits vor der Tür. Man ist bloß auf ein paar Stunden in die Stadt gekommen.«
Toby streifte seine Füße, obwohl sie ganz rein waren, mit größter Sorgfalt ab, schlug den bezeichneten Weg ein und machte im Gehen die Bemerkung, daß es ein schrecklich großes Haus war, in dem das tiefste Schweigen herrschte und alles in Decken gehüllt war, wahrscheinlich, weil die Familie auf dem Lande lebte. Als er an die Zimmertür klopfte, wurde »herein« gerufen, und bald befand er sich in einer geräumigen Bibliothek, wo an einem mit Rollen und Papieren bedeckten Tisch eine vornehme Dame im Hut saß und einem nicht sehr noblen Herrn in schwarzem Anzug etwas diktierte, während ein anderer älterer und viel stattlicherer Herr, dessen Hut und Stock auf dem Tisch lagen, mit der einen Hand an der Brust auf und nieder ging und von Zeit zu Zeit wohlgefällig nach seinem eignen Porträt in Lebensgröße hinblickte, das über dem Kamin hing.
»Was ist das?« fragte der letztbezeichnete Gentleman. »Mr. Fish, wollen Sie wohl die Güte haben, die Angelegenheit zu erledigen.«
Mr. Fish bat um Verzeihung, nahm Toby den Brief ab und übergab ihn mit großer Ehrfurcht.
»Vom Alderman Cute, Sir Joseph.«
»Ist das alles? Sonst haben Sie nichts, Dienstmann?« verhörte ihn Sir Joseph.
Toby verneinte. »Haben Sie nicht irgendeine Rechnung oder so was für mich – ich heiße Bowley, Sir Joseph Bowley. Irgend etwas, das man bezahlen könnte?« fragte Sir Joseph. »Wenn Sie was haben, geben Sie's her. Dort neben Mr. Fish ist das Scheckbuch. Ich dulde nicht, daß etwas ins neue Jahr verschleppt wird. Alle Rechnungen werden in diesem Hause am Schlusse des alten Jahrs beglichen, so daß, wenn der Tod meinen Lebensfaden zer – zer –«
»– reißen sollte«, half Mr. Fish.
»– schneiden sollte, Sir«, verbesserte Sir Joseph zurechtweisend und scharf, »alle meine Angelegenheiten in tadelloser Ordnung befunden werden.«
»Mein teuerer Sir Joseph«, unterbrach die Lady, die bedeutend jünger war als ihr Gatte, »wie schrecklich!«
»Mylady«, entgegnete Sir Joseph, bei manchem Worte stotternd, offenbar wegen des großen Tiefsinnes seiner Bemerkungen, »zur Zeit der Jahreswende sollen wir an uns – uns – uns – selbst denken. Wir sollen mit uns – uns – uns – abrechnen. Wir sollen fühlen und empfinden, daß jede Rückkehr dieser wichtigen Periode in den menschlichen Angelegenheiten Geschäfte mit sich bringt von höchstem Belang zwischen dem Menschen und seinem – seinem – seinem – Bankier.« Sir Joseph sprach diese Worte, als sei er tief erschüttert von dem ungeheuren sittlichen Gehalt dessen, was er sagte, und fühlte den Wunsch, daß auch Trotty Gelegenheit haben sollte, durch seine Rede gebessert zu werden. Wahrscheinlich war dies auch der Grund, weshalb er das Siegel des Briefes immer noch nicht erbrach und Trotty sagte, er möge noch eine Minute warten.
»Hegten Sie, Mylady, nicht die Absicht, Mr. Fish sollte – – –«, bemerkte Sir Joseph.
»Ich dachte, Mr. Fish erwähnte es bereits«, antwortete die Lady und warf einen Blick auf den Brief. »Aber mein Wort, Sir Joseph, ich glaube nach allem doch, daß ich es nicht so aus der Hand geben kann. Es ist so ungemein teuer.«
»Was ist teuer?« fragte Sir Joseph.
»Ach, diese milde Stiftung, Geliebter. Bloß zwei Stimmen zu einer Subskription von fünf Pfund werden zugelassen. Wirklich ungeheuerlich.«
»Mylady Bowley«, entgegnete Sir Joseph, »Sie setzen mich in Erstaunen. Richtet sich die Wonne der Empfindung nach der Anzahl der Stimmen, oder rechnet nicht vielmehr ein rechtschaffenes Herz mit der Anzahl der Bittsteller und der lautern Sinnesart derselben? Ist es nicht ein Vergnügen reinster Art, zwei Stimmen unter fünfzig zur Verfügung zu haben?«
»Für mich nicht, muß ich gestehen«, antwortete die Lady. »Mir ist es eine Qual, und außerdem kann man sich seine Bekanntschaften nicht verpflichten. Freilich, Sie sind des armen Mannes Freund, Sir Joseph, Sie denken anders.«
»Ja, ich bin der armen Leute Freund«, versetzte Sir Joseph mit einem Blick auf den armen Mann, der zugegen war. »Das kann man mir zum Vorwurf machen. Das ist mir zum Vorwurf gemacht worden. Doch ich begehre keinen andern Titel.«
»Gott segne den edlen Herrn!« dachte Trotty.
»Ich stimme zum Beispiel mit Cute hierin nicht überein«, sagte Sir Joseph und hielt den Brief in die Höhe. »Ich stimme nicht mit der Partei Filer überein. Ich stimme überhaupt nicht mit irgendeiner Partei überein. Mein Freund, der arme Mann, hat nichts mit dergleichen zu schaffen, und nichts dergleichen hat mit ihm zu schaffen. Mein Freund, der arme Mann in meinem Bezirk, ist meine Sache. Kein Mensch und keine Körperschaft haben irgendwie ein Recht, sich zwischen meinen Freund und mich zu stellen. Das ist das Fundament, auf dem ich stehe. Ich nehme eine – eine – väterliche Stellung zu meinem Freunde ein. Ich sage, guter Mann, ich will dich behandeln wie ein Vater.«
Toby hörte mit tiefem Ernste zu, und ein Gefühl von Behaglichkeit überkam ihn.
»Sie haben nur mit mir zu tun, guter Mann«, fuhr Sir Joseph fort und sah Toby zerstreut an. »Einzig und allein nur mit mir. Sie brauchen sich sonst um nichts zu kümmern. Sie brauchen sich keine Mühe zu nehmen, selber über etwas nachzudenken. Ich will schon für Sie denken. Ich weiß, was Ihnen frommt, und bin Ihr beständiger Vater. Das ist die Ordnung einer allweisen Vorsehung. Der Zweck der Schöpfung ist nicht, daß ihr schwelgen und schlemmen und wie unvernünftige Tiere in Essen und Trinken alles sehen sollt« – Toby dachte reuevoll an seine Kuttelflecke –, »sondern daß ihr die Würde der Arbeit fühlt. Gehet hinaus in die frische Morgenluft und – und – bleibet da. Lebet streng und mäßig. Seid ehrerbietig. Übet euch in der Selbstverleugnung. Haltet eure Familie im Zaum, bezahlet eure Miete regelmäßig wie die Uhr schlägt, seid pünktlich im Bezahlen eurer Auslagen (ich gebe Ihnen ein gutes Beispiel, Sie werden Mr. Fish, meinen Geheimsekretär, stets an der Kasse sehen), – – dann werdet Ihr in mir stets einen Freund und Vater finden.«
»Nette Kinder, wahrhaftig, Sir Joseph«, unterbrach die Lady mit einem Schauder. »Rheumatismus, Fieber, krumme Beine und Asthma und alle Art von Scheußlichkeiten!«
»Mylady«, entgegnete Sir Joseph feierlich, »und trotzdem bin ich des armen Mannes Freund und Vater, trotzdem soll er sich Mut holen bei mir. Jedes Quartal kann er mit Mr. Fish in Verbindung treten. Alle Neujahrstage werde ich mit meinen Freunden auf sein Wohl trinken. Einmal in jedem Jahr werde ich mit meinen Freunden aus tiefstem Herzen heraus eine Rede an ihn halten. Einmal in seinem Leben kann er vielleicht sogar öffentlich und vor den Augen der ganzen vornehmen Welt von meinesgleichen eine Kleinigkeit bekommen, und wenn er, von dieser Anregung und der Würde der Arbeit nicht mehr aufrecht erhalten, dereinst in sein stilles, behagliches Grab sinkt, dann, Mylady« – Sir Joseph blähte die Nasenflügel auf –, »dann will ich – unter denselben Bedingungen – seinen Kindern ein Freund und Vater sein.«
Toby war tief ergriffen.
»Oh, Sie haben eine dankbare Familie, Sir Joseph«, rief seine Gattin.
»Mylady«, sagte Sir Joseph mit majestätischer Miene, »Undankbarkeit ist bekanntlich die Erbsünde dieser Menschenklasse. Ich erwarte keinen Dank.«
»Ja! Schlecht von Geburt an!« dachte Toby. »Nichts rührt uns.«
»Was ein Mensch tun kann, tue ich«, fuhr Sir Joseph fort. »Ich tue meine Schuldigkeit als des armen Mannes Freund und Vater und suche seinen Geist zu bilden, indem ich ihm bei jeder Gelegenheit die großen, sittlichen Lehren, deren seine Klasse bedarf, vor Augen halte, nämlich: gänzliche Unterordnung unter mich. Ihr habt mit euch selber gar – gar – nichts zu tun. Wenn euch schurkische und berechnende Personen etwas anderes sagen, und ihr werdet ungeduldig und unzufrieden und lasset euch widersetzliches Benehmen und schwarzen Undank zuschulden kommen, was unzweifelhaft vorkommt, so bin ich dennoch euer Freund und Vater. So ist's bestimmt in Gottes Rat. Es liegt in der Natur der Dinge.«
Mit diesen grandiosen Worten öffnete Sir Joseph den Brief des Alderman und las ihn.
»Sehr höflich und aufmerksam, in der Tat! Mylady, der Alderman ist so liebenswürdig, mich daran zu erinnern, daß er die ausgezeichnete Ehre (sehr – sehr gut) gehabt habe, mich im Hause unseres gemeinsamen Freundes, des Bankiers Deedles, zu treffen, und er erlaubt sich anzufragen, ob es mir angenehm sei, daß Will Fern eingesteckt werde.«
»Sehr angenehm«, entgegnete Lady Bowley, »das war der Allerschlimmste. Er hat hoffentlich einen Raubüberfall verübt?«
»Das gerade nicht«, sagte Sir Joseph, »das gerade nicht, nicht so ganz, aber beinah. Er kam nach London, sich nach Arbeit umzusehen (er wollte sich verbessern, aha, da steckt der Haken), und man fand ihn nachts in einem Schuppen schlafen, nahm ihn fest und rührte ihn am nächsten Morgen vor den Alderman. Der Alderman bemerkt (sehr wichtig und vernünftig), daß er entschlossen sei, derlei gründlich auszurotten, und daß, wenn es mir angenehm wäre, es ihn glücklich machen werde, mit Will Fern einen Anfang zu machen.«
»Auf jeden Fall soll man an ihm ein Exempel statuieren, für alle Fälle«, erwiderte die Lady. »Letzten Winter, als ich das Häkeln und Stricken unter den Männern und Knaben im Dorf als hübsche Abendbeschäftigung einführte und die Verse:
Mit Freuden wollen wir dem Gutsherrn fronen,
Nebst den Verwandten, welche bei ihm wohnen,
Zufrieden sein mit unseren Portionen,
Zum Himmel flehn, er möge uns verschonen,
Mit falschem Stolz und unsere Demut lohnen;
nach dem neuen System in Musik hatte setzten lassen, damit sie sie während der Arbeit singen sollten, da greift dieser Fern – ich seh ihn noch vor mir – an seinen Hut und sagt: ›Mylady, ich bitte demütig um Verzeihung, aber bin ich nicht etwas anderes als ein großes Mädchen?‹ Ich war nicht erstaunt, denn wer kann etwas anderes als Unverschämtheit und Undank von dieser Volksklasse erwarten. Das gehört vielleicht nicht hierher, aber bitte statuieren Sie jedenfalls ein Exempel an ihm, Sir Joseph.«
»Ehüm«, hüstelte Sir Joseph. »Mr. Fish, wenn Sie die Angelegenheit erledigen möchten –«
Mr. Fish ergriff eilends die Feder und schrieb nach dem Diktat Sir Josephs: »Mein lieber Sir, ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Freundlichkeit in Sachen des Subjekts Will Fern, von dem ich zu meinem Bedauern nichts Günstiges berichten kann. Ich hatte mich beständig als seinen Freund und Vater betrachtet, bin aber leider wie gewöhnlich mit Undank und fortwährender Widersetzlichkeit gegen meine guten Absichten belohnt worden. Er ist ein unruhiger, widerspenstiger Kopf. Sein Charakter verträgt keine nähere Prüfung. Nichts kann ihn bewegen, dort glücklich zu sein, wo er es zu sein hat. Angesichts solcher Umstände scheint mir, ich gestehe es, wenn er wieder vor Sie kommt, und wie Sie mir mitteilen, hat er sich morgen zu stellen versprochen, und ich glaube, daß man sich insoweit auf ihn verlassen kann, seine Einsperrung für eine Zeit als Landstreicher ein der Gesellschaft geleisteter guter Dienst zu sein, und es würde ein warnendes Beispiel abgeben in einem Lande, wo sowohl derer wegen, die unbekümmert um gute und böse Worte die Freunde und Väter der Armen sind, als auch hinsichtlich der, allgemein gesprochen, verführten Volksklassen selber, solche Exempel sehr nötig sind. Ich bin, Sir, usw. usw.«
»Es scheint«, bemerkte Sir Joseph, als er den Brief unterzeichnet hatte und Mr. Fish siegelte, »als wäre dies Vorsehung. In der Tat! Am Schluß des Jahres bringe ich meine Rechnungen in Ordnung und ziehe meine Bilanz – – – selbst mit William Fern.«
Trotty, der schon längst wieder in seine trübe Stimmung verfallen war, trat mit wehmütigem Gesicht vor und nahm den Brief in Empfang.
»Meinen Dank und meine Empfehlung«, sagte Sir Joseph. »Halt!«
»Halt!« rief auch das Echo Mr. Fish.
»Ihr habt vielleicht«, sagte Sir Joseph orakelhaft, »gewisse Bemerkungen gehört, die zu machen ich mich veranlaßt sah in Hinblick auf den feierlichen Zeitabschnitt, bei dem wir angelangt sind, und auf die Verpflichtung, die uns obliegt, unsere Angelegenheiten zu ordnen, um auf alles vorbereitet zu sein. Ihr habt gehört, daß ich mich nicht hinter meiner hohen Stellung in der Gesellschaft verstecke, sondern daß Mr. Fish – dieser Herr hier – stets das Scheckbuch neben sich liegen hat und deswegen hier ist, um mich in den Stand zu setzen, ein völlig neues Blatt aufzuschlagen, um in den vor uns liegenden Zeitabschnitt mit glatter Rechnung einzutreten. Nun, mein Freund, kann er die Hand aufs Herz legen und sagen, daß er sich ebenfalls auf das neue Jahr gebührend vorbereitet hat?«
»Ich fürchte sehr, Sir«, stotterte Trotty, demütig zu ihm aufblickend, »daß ich noch ein wenig bei der Welt im Rückstande bin.«
»Im Rückstande bei der Welt?« wiederholte Sir Joseph Bowley mit schrecklich bestimmtem Ton.
»Ich fürchte, Sir«, stotterte Trotty, »daß es sich noch so um zehn oder zwölf Shillinge dreht bei Mrs. Chickenstalker.«
»Bei Mrs. Chickenstalker«, wiederholte Sir Joseph in gleichem Ton wie vorher.
»Die Höcklerin«, erläuterte Toby. »Und dann eine – Kleinigkeit auf den Zins. Aber nur ganz wenig, Sir. Man soll nichts schuldig bleiben, ich weiß, aber die Not hat uns dazu getrieben.«
Sir Joseph sah seine Gemahlin und Mr. Fish und Trotty einen nach dem andern zweimal der Reihe nach an.
Dann machte er eine verzweifelte Bewegung mit beiden Händen zugleich, als gebe er es jetzt ganz auf.
»Wie ein Mann, und wenn er auch zu dieser unklugen und leichtsinnigen Menschenklasse gehört, wie ein alter Mann mit grauem Haar dem neuen Jahr entgegensehen kann, während seine Geschäftsangelegenheiten sich in einer derartigen Lage befinden! Wie er sich am Abend in sein Bett legen und am Morgen wieder aufstehen kann, ohne – – – da, da nehmt den Brief.« Und er drehte Trotty den Rücken zu: »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!«
»Ich wünschte von Herzen, es wäre anders, Sir«, sagte Trotty, sich nach Kräften entschuldigend. »Wir sind schwer geprüft worden.«
Sir Joseph wiederholte nur immer: »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!« und Mr. Fish sagte nicht bloß dasselbe, sondern verlieh der Aufforderung noch mehr Nachdruck, indem er Toby zur Türe drängte, so daß diesem nichts anderes übrigblieb, als noch schnell einen Bückling zu machen und das Haus zu verlassen. Und auf der Straße drückte der arme Trotty seinen schäbigen alten Hut über die Augen, um seinen Gram zu verbergen, weil er so gar keinen Anteil am neuen Jahr haben sollte.
Er lüftete ihn nicht einmal, um nach dem Glockenturm zu sehen, als er nach der alten Kirche zurückkam. Er blieb wohl einen Augenblick stehen aus alter Gewohnheit und erkannte, daß es dunkelte und daß der Turm sich in unbestimmten und schwachen Umrissen in die neblige Luft erhob. Er wußte auch, daß die Glocken sogleich einfallen würden und daß sie um diese Zeit in seine Träumereien wie Stimmen zu klingen pflegten. Um so mehr eilte er sich, beim Alderman den Brief abzugeben, um ihnen auszuweichen, bevor sie begännen, denn er fürchtete sich, sie zu allem noch vielleicht die Worte: »Freund und Vater! Freund und Vater!« läuten hören zu müssen.
Er entledigte sich daher seines Auftrags so schnell wie möglich und trabte heimwärts. Teils wegen seines Trabs, der auf der Straße wenigstens gar nicht angebracht war, teils infolge seines Hutes, der die Sache nicht besser machte, rannte er gegen jemand an und taumelte auf den Fahrdamm hinab.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, und er riß in so großer Verwirrung an seinem Hut, daß sein Kopf zwischen der Krempe und dem zerrissenen Futter stecken blieb wie in einer Art Bienenkorb. »Hoffentlich hab ich Sie nicht verletzt, Sir.«
Was das Verletzen anbelangt, so war Toby kein solcher Simson, daß er bei einer derartigen Gelegenheit nicht viel schlechter weggekommen wäre – und in der Tat war er weggeflogen wie ein Federball –, allein er hatte eine solche Meinung von seiner Stärke, daß er in großer Besorgnis um den andern schwebte und noch einmal fragte: »Hoffentlich habe ich Sie doch nicht verletzt.«
Der Mann, gegen den er angerannt war, ein sonnenverbrannter, sehniger Landmann mit graumeliertem Haar und einem Stoppelbart, blickte einen Augenblick argwöhnisch jenen an, ob er ihn vielleicht verhöhnen wollte, aber als er den Ernst sah, antwortete er: »Nein, Freund, Sie haben mich nicht verletzt.«
»Und das Kind hoffentlich auch nicht?« fragte Trotty.
»Das Kind auch nicht«, antwortete der Mann. »Ich danke Ihnen herzlichst.«
Dabei warf er einen Blick auf das kleine Mädchen, das in seinen Armen schlief, bedeckte das Gesichtchen mit dem langen Zipfel seines ärmlichen Halstuchs und ging langsam weiter. Der Ton, in dem er sagte: »Ich danke Ihnen herzlichst«, ging Trotty tief zu Herzen. Der Mann war so matt und müde und so schmutzig vom Wandern und fühlte sich so fremd und verlassen in der Stadt, daß es ihm ein Trost zu sein schien, irgend jemand danken zu können, und wenn es auch für gar nichts war. Toby sah ihm nach, wie er sich mühselig weiterschleppte, während das Kind den Arm um seinen Nacken legte.
Trotty blickte, blind für die ganze übrige Straße, nur der Gestalt nach in den zerrissenen Schuhen, die nur mehr Überbleibsel waren in den rohledernen Gamaschen, in der groben Jacke und dem breitkrempigen Hut, der jenem über die Augen hing – sah nach dem Kind, das ihm die Arme um den Nacken gelegt hatte.
Ehe der Fremde in der Dunkelheit verschwand, blieb er stehen und sah sich um. Als er Trotty noch dort erblickte, schien er unschlüssig, ob er umkehren oder weitergehen sollte. Er schwankte eine Weile, dann kam er zurück, und Trotty ging ihm auf halbem Weg entgegen.
»Können Sie mir vielleicht sagen«, fragte der Mann mit einem müden Lächeln, »Ihr werdet es ja am besten wissen, wo der Alderman Cute wohnt?«
»Gleich hier in der Nähe. Ich will Sie mit Vergnügen hinführen.«
»Ich sollte ihn eigentlich erst morgen und an anderem Orte aufsuchen«, sagte der Mann und ging neben Toby her. »Aber ich möchte mich von einem Verdacht reinigen, der mich drückt, und dann gehen, wohin ich will und mir mein Brot suchen, wenn ich auch noch nicht weiß, wo. So wird er es mir nicht übelnehmen, wenn ich heut in sein Haus gehe.«
»Sie heißen doch nicht am Ende Fern?« rief Toby und fuhr zurück.
»Was?« rief der andere und sah den Dienstmann erstaunt an.
»Fern? Will Fern?« sagte Trotty.
»Das ist mein Name.«
»Nun dann«, sagte Trotty faßte den Mann am Arm und sah sich vorsichtig um, »gehen Sie um Gottes willen nicht hin. Gehen Sie nicht hin. Er wird Euch beide zugrunde richten, so wahr Ihr auf der Welt seid. Hier! Kommen Sie in diese kleine Gasse, und ich will Ihnen sagen, was ich weiß. Gehen Sie nicht zu ihm!«
Der neue Bekannte sah Toby an, als hielte er ihn für verrückt, ging aber nichtsdestoweniger mit. Als sie sicher waren, daß sie niemand beobachten konnte, erzählte Trotty, was er wußte und wie man über Fern Bericht erstattet hatte, und alles andere.
Will Fern hörte ihm mit erstaunlicher Ruhe zu. Er widersprach nicht und unterbrach nicht ein einziges Mal. Er nickte dann und wann mit dem Kopfe, mehr zur Bekräftigung einer längst bekannten Sache, wie es schien, als zu ihrer Widerlegung, und schob nur ein- oder zweimal seinen Hut zurück, um sich mit der sommersprossigen Hand über die Stirn zu fahren, wo jede Ackerfurche, die er einst gepflügt, ihr Abbild im kleinen zurückgelassen zu haben schien. Doch weiter tat er nichts.
»Die Geschichte ist in der Hauptsache wahr genug, Mann«, sagte er endlich. »Ich könnte wohl hier und da etwas hinzufügen, aber soll es schon sein, wie's ist. Was liegt daran. Ich habe seinen Plänen zuwidergehandelt zu meinem Unglück, und ich kann mir nicht helfen, ich würde es morgen wieder tun. Was den Personalbericht anbelangt, so sucht und spioniert dieses vornehme Volk so lange herum, bis es irgendeinen kleinen Makel gefunden, bloß um keinen guten Faden an uns zu lassen. Nun, ich hoffe, sie verlieren ihren guten Ruf nicht so leicht wie unsereiner. Was mich betrifft, Mann, ich habe niemals mit dieser Hand« – er streckte sie aus – »etwas genommen, was nicht mein war und habe niemals eine Arbeit gescheut, mochte sie noch so schwer oder schlecht bezahlt sein. Wer etwas anderes sagen kann, der soll sie mir abhacken. Wenn mich aber die Arbeit nicht mehr nährt wie ein menschliches Geschöpf, wenn ich so schlecht lebe, daß ich Hunger leiden muß in und außer dem Hause, wenn ich sehe, daß das ganze Leben nichts als solche Arbeit ist, so anfängt und so endet, ohne Wechsel und Aussicht, dann sag ich zu dem vornehmen Volk: Bleibt mir vom Halse, laßt meine Hütte in Ruh. Meine Tür ist finster genug, ihr braucht sie nicht noch mehr zu verdunkeln. Ruft mich nicht in den Park, wenn ihr wieder einmal einen Geburtstag feiert, damit ich euch die Menge der Zuschauer vergrößern helfen soll. Oder wenn ihr eine feine Rede sprechen wollt oder sonst was. Haltet eure Spiele und euren Sport ab, ohne daß ich zuschauen muß, und freut euch drüber und amüsiert euch, soviel ihr wollt. Aber wir haben nichts miteinander zu schaffen. Mir ist am liebsten, man läßt mich allein.«
Als er sah, daß das Kind in seinen Armen die Augen aufgeschlagen hatte und verwundert umherblickte, hielt er inne, um ihm ein paar liebe Worte ins Ohr zu sagen, und stellte es neben sich auf den Boden. Dann wickelte er langsam eine der langen Flechten um seinen Zeigefinger wie einen Ring, während sich das Mädchen an sein bestaubtes Bein klammerte, und sagte zu Trotty: »Ich bin keine störrische Natur und leicht zufriedengestellt. Ich trage gegen niemand Böses im Sinn. Ich möchte nur leben wie ein Geschöpf des Allmächtigen. Ich kann es nicht und darf es nicht, und so ist eine Kluft gegraben zwischen mir und denen, die's dürfen und können. Und so wie ich bin, gibt's noch andere. Ihr könnt sie nach Hunderten und Tausenden zählen und nicht nach Dutzenden.«
Trotty wußte, daß Fern die Wahrheit sprach, und nickte beistimmend mit dem Kopf.
»Ich habe mir auf diese Weise einen bösen Namen geschaffen«, sagte Fern, »und fürchte, ich werde mir wahrscheinlich keinen bessern erwerben. Es ist nicht recht, daß man murrt, und ich murre. Gott weiß, daß ich lieber heiter wäre und zufrieden, wenn ich könnte. Na, ich weiß nicht, ob mir dieser Alderman viel antäte, wenn er mich einsperren ließe. Da ich niemand zum Freunde hab, der für mich ein Wort einlegen würde, täte er es gewiß, und sehen Sie das«, – und er zeigte mit dem Finger auf das Kind.
»Sie ist sehr hübsch«, sagte Trotty.
»O ja«, antwortete der andere mit leiser Stimme, indem er das kleine Gesichtchen mit beiden Händen sanft dem seinen zukehrte und es lange ansah. »Mir sind schon oft mancherlei Gedanken gekommen. Es hat sich mir aufgedrängt, wenn mein Herz sehr kalt war und der Brotkorb leer. Auch neulich wieder, als sie uns wie zwei Diebe aufgegriffen haben. Aber sie – sie sollen das kleine Gesichtchen mir nicht zu oft behelligen, nicht wahr, Lilly. Es kann einen Menschen in Versuchung führen.«
Er dämpfte seine Stimme und sah das Kind so ernst und sonderbar an, daß ihn Toby fragte, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, ob sein Weib noch lebe.
»Ich habe niemals eins gehabt«, antwortete der Mann und schüttelte den Kopf. »Sie ist das Kind von meinem Bruder, eine Waise, neun Jahre alt, wenn man's ihr auch nicht ansieht. Sie ist so müde und erschöpft jetzt. Sie hätten sich ihrer vielleicht angenommen, die vom Armenverein, achtundzwanzig Meilen von dem Ort, wo wir her sind, und hätten sie zwischen vier Wände gesperrt, wie sie's mit meinem alten Vater auch gemacht haben, als er nicht mehr arbeiten konnte. – Er hat sie nicht mehr lang belästigt. – Ich nahm das Mädchen an Kindes Statt an, und seit der Zeit hat es bei mir gelebt. Ihre Mutter hat einmal hier in London eine Freundin gehabt. Wir gaben uns alle Mühe, sie ausfindig zu machen und Arbeit zu finden, aber es ist eine große Stadt. Macht nichts. Desto mehr Platz haben wir, darin herumzugehen, Lilly.«
Er sah dem Kind mit einem Lächeln in die Augen, das Toby mehr rührte als Tränen. Er faßte Fern bei der Hand.
»Ich weiß nicht einmal Ihren Namen«, sagte der Mann, »und habe Ihnen mein Herz ausgeschüttet, denn ich bin Ihnen dankbar und habe guten Grund dazu. Ich werde Ihrem Rat folgen und mich hüten vor dieser –«
»Justizperson«, ergänzte Toby.
»So, so,« sagte der Mann. »Ist das der Name, den man ihm gibt. Also gut, vor dieser Justizperson. Und morgen will ich versuchen, ob ich vielleicht in der Umgebung von London mehr Glück habe. Gut Nacht! Glückliches neues Jahr!«
»Halt«, rief Toby und hielt die Hand fest, als sie sich losmachen wollte, »halt! Das neue Jahr könnte mir kein Glück bringen, wenn wir so auseinandergingen. Ich hätte kein Glück, wenn ich das Kind und Sie so obdachlos herumirren ließe. Kommen Sie mit mir nach Hause. Ich bin ein armer Mann und wohne ärmlich. Aber ich kann Euch ein Nachtquartier geben, ohne daß mir deswegen etwas abginge. Kommt mit mir! So. Ich will sie tragen«, rief Trotty und hob das Kind auf. »Ein hübsches Kind. Ich könnte eine zwanzigmal schwerere Last tragen, ohne es zu spüren. Sagen Sie mir, wenn ich zu rasch gehe. Ich bin nämlich ungeheuer schnell zu Fuß. Ich war es von jeher.« Trotty sprach's und machte immer sechs seiner trabenden Schritte, wenn sein ermüdeter Begleiter nur einen brauchte, und seine dünnen Beine zitterten unter der Last, die er trug.
»Wie leicht sie ist«, sagte er und hielt seine Zunge im gleichen Trab wie seine Beine, denn er wollte nicht, daß sich der andere bedanke, und wünschte keine Pause eintreten zu lassen. »Leicht wie eine Feder. Leichter als eine Pfauenfeder, noch viel leichter. Dort um die nächste Ecke rechts müssen wir, Onkel Will. An der Pumpe vorüber und links gerade die Straße hinauf dem Wirtshaus gegenüber. Quer hinüber, Onkel Will, wo der Pastetenbäcker ist. Gleich sind wir dort. Die Marställe entlang, Onkel Will, und dann Halt gemacht an der schwarzen Tür mit dem Schild: ›T. Veck, Dienstmann‹. So, jetzt sind wir da, wirklich und leibhaftig, meine liebste Meg. Was! Da staunst du!« Mit diesen Worten setzte Trotty atemlos das Kind vor seiner Tochter in der Stube nieder.
Das kleine Mädchen sah Meg an, und da es in ihrem Gesicht nur Zutrauenerweckendes sah, lief es in ihre Arme.
»Hier sind wir und hier bleiben wir«, sagte Trotty und lief hörbar keuchend in der Stube herum. »Hier, Onkel Will, ist ein Feuer, seht Ihr! Warum kommt Ihr nicht zum Feuer? So, jetzt sind wir da. Meg, lieber Schatz, wo ist der Teekessel. So– – –da ist er und wird sogleich kochen!« Trotty hatte wirklich den Teekessel auf seiner wilden Jagd durch die Stube erwischt und stellte ihn jetzt an das Feuer, während Meg in einer warmen Ecke vor dem Kinde kniete und ihm die Schuhe auszog und die nassen Füße mit einem Tuch abtrocknete. Ja, und sie lächelte Trotty entgegen – so fröhlich und so heiter, daß Trotty sie hätte segnen mögen, wie sie dort kniete, denn er hatte beim Eintreten wohl bemerkt, daß sie in Tränen am Feuer gesessen.
»Ei, Vater«, sagte Meg, »bist du heute abend wunderlich. Ich möchte gern wissen, was die Glocken dazu sagen würden. Arme, kleine Füße, wie kalt sie sind!«
»Oh, sie sind jetzt wärmer«, rief das Kind. »Sie sind schon ganz warm.«
»Nein, nein, nein,« sagte Meg, »wir haben sie noch lange nicht genug gerieben. Wir haben so viel zu tun, so viel, und wenn sie trocken sind, wollen wir das feuchte Haar kämmen, und dann wollen wir mit frischem Wasser wieder etwas Farbe in das kleine, bleiche Gesichtchen bringen, und dann wollen wir so munter und fröhlich und glücklich sein.« – Das Kind brach in Schluchzen aus, schlang den Arm um ihren Hals, streichelte mit der Hand ihre schönen Wangen und sagte: »O Meg, meine liebe Meg!«
Tobys Segen hätte nicht mehr tun können. Wer hätte mehr tun können!
»Nun, Vater?« sagte Margaret nach einer Pause.
»Hier bin ich, hier bleib' ich«, sagte Trotty, »mein Schatz.«
»Du lieber Gott«, rief Meg, »er ist wirklich verrückt geworden. Er hat die Haube des Kindes auf den Teekessel gesetzt und den Deckel an die Tür gehängt.«
»Ich hab's nicht mit Absicht getan, mein Liebling«, sagte Trotty und machte schleunigst sein Versehen wieder gut.
»Meg, mein Liebling!« Margaret blickte auf und sah, daß er sich hinter dem Stuhl seines Gastes aufgestellt hatte und ihr allerlei geheimnisvolle Zeichen machte und den halben Shilling in die Höhe hielt, den er verdient.
»Als ich vorhin hereinkam, sah ich draußen auf der Treppe eine halbe Unze Tee liegen und ein Stück Speck dabei, wenn ich nicht irre. Da ich mich nicht mehr genau erinnere, wo es war, will ich selber nachschauen gehen und es suchen.« Mit dieser unerhört schlauen Ausrede entfernte sich Trotty, um den besagten Proviant gegen bar bei Mrs. Chickenstalker zu kaufen, und kam dann mit dem Vorwande, er habe das Gesuchte im Finstern nicht gleich finden können, wieder zurück.
»Hier ist es endlich«, und er packte aus. »Alles in Ordnung. Ich war meiner Sache ganz sicher, daß es Tee und Speck gewesen. Meg, mein Augapfel, wenn du Tee machen möchtest, während dein unwürdiger Vater den Speck röstet, werden wir schnell fertig sein. Es ist ein außerordentlich merkwürdiger Umstand«, und er machte sich mit der Röstgabel an die Arbeit, »ein höchst merkwürdiger Umstand, der aber allen meinen Freunden wohlbekannt ist, daß ich Speckschnitten und Tee absolut nicht leiden kann. – Ich freue mich, wenn es andern schmeckt«, sagte Trotty sehr laut, damit es sein Gast hören möge, »aber selber essen könnt' ich es absolut nicht.«
Und doch sog er den Duft des zischenden Specks ein, als wenn er ihn, ach! selber nur zu gern äße. Und als er das kochende Wasser in die Teekanne goß, blickte er liebevoll hinab in die Tiefen des blanken Kessels und ließ sich den duftigen Dampf um die Nase wirbeln und sich Kopf und Gesicht in eine dichte Wolke hüllen. Trotzdem trank er nicht und aß nicht, außer am Anfang einen Bissen – der Form wegen –, der ihm unendlich behagte, wie er aber laut erklärte, nicht im geringsten schmecken wollte. Nein!
Trottys einzige Beschäftigung war, Will Fern und Lilly beim Essen und Trinken zuzusehen, und dasselbe tat auch Meg. Niemals wohl fanden Zuschauer bei einem City-Gastmahl oder bei einem Hofbankett so viel Vergnügen daran, andere speisen zu sehen, und wären es König und Papst gewesen.
Margaret lächelte Trotty an, Trotty nickte Meg zu. Meg schüttelte den Kopf und applaudierte Trotty unhörbar, und Trotty erzählte Meg in der Taubstummensprache unverständliche Geschichten, wie und wo und wann er den Besuch gefunden. Und sie waren glücklich. Sehr glücklich.
»Trotzdem«, dachte Trotty bekümmert, als er Margarets Gesicht beobachtete, »trotzdem das Verhältnis abgebrochen ist, wie ich sehe.«
»Jetzt will ich euch etwas sagen«, sagte Trotty nach dem Tee. »Die Kleine schläft natürlich bei Meg.«
»Bei der guten Meg!« rief das Kind und liebkoste sie. »Bei Meg!«
»Recht so«, sagte Trotty »ich würde mich gar nicht wundern, wenn auch Megs Vater einen Kuß bekäme. Ich bin Megs Vater.«
Mächtig entzückt war er, als das Kind schüchtern auf ihn zukam und ihn küßte, worauf es wieder zu Margaret zurückging.
»Sie ist so feinfühlig wie Salomo«, sagte Trotty, »hier sind wir und hier – nein ich versprach mich. Wir bleiben nicht – ich – was wollt' ich doch nur sagen, Meg, mein Herzblatt?«
Meg blickte den Gast an, der auf seinem Stuhle lehnte, das Gesicht abgewandt, und den Kopf des Kindes streichelte, das in ihrer Schürze halbversteckt ruhte.
»Wahrhaftig«, sagte Toby. »Wahrhaftig, ich weiß nicht, was heute mit mir los ist, meine Gedanken gehen wahrscheinlich Holz klauben im Walde. Will Fern, Ihr kommt mit mir. Ihr seid todmüde und ganz erschöpft vor Mangel an Ruhe. Ihr kommt mit mir.«
Der Mann spielte noch immer mit des Kindes Locken, lehnte immer noch auf Megs Stuhl, wandte immer noch sein Gesicht ab. Er sprach nicht, doch wie seine rauhen groben Finger zitternd in dem schönen Haar des Kindes spielten, da lag mehr Beredsamkeit in ihnen, als Worte hätten sagen können.
»Ja, ja«, sagte Trotty, unbewußt die Bitte beantwortend, die sich im Gesicht seiner Tochter ausdrückte. »Nimm sie mit dir, Meg, und bring sie zu Bett. So, fertig! Und Euch, Will, will ich zeigen, wo Ihr liegt. Es ist nicht gerade ein feiner Platz, bloß ein Heuboden, doch ich sag' es immer, es ist einer der größten Vorteile, wenn man in einem Marstall wohnt, der einen Heuboden hat. Solange Remise und Stall nicht besser vermietet sind, wohnen wir hier billig. Es ist eine Menge weiches Heu oben, das einem Nachbarn gehört, und es ist so sauber, wie Meg es selber nicht sauberer machen könnte. Nur Mut, Mann, – Kopf hoch und frischen Mut fürs neue Jahr allerwegen.«
Die Hand hatte des Kindes Haar losgelassen, war zitternd auf Trottys Arm gefallen, und Trotty rastlos schwatzend, führte seinen Gast so zärtlich und behutsam hinauf wie ein Kind.
Schneller als Meg zurückkommend, horchte er einen Augenblick an der Tür der kleinen Kammer, die an die Stube stieß. Das Kind sprach ein einfaches Gebet, ehe es schlafen ging, und er hörte es Megs Namen zärtlich nennen und dann innehalten und nach dem seinen fragen.
Es dauerte einige Zeit, ehe der kleine, närrische Kerl sich sammeln, das Feuer schüren und seinen Stuhl an den warmen Kamin rücken konnte. Doch als er dies getan und das Licht geputzt, nahm er seine Zeitung aus der Tasche und begann zu lesen. Sorglos zuerst und die Zeilen überfliegend, bald aber mit ernster und trauriger Aufmerksamkeit. Dieses selbige gefürchtete Zeitungsblatt lenkte Trottys Gedanken wieder in das gleiche Fahrwasser, in dem sie den ganzen Tag einhergetrieben waren, seine Gedanken, die die Ereignisse des Tages so scharf gekennzeichnet hatten. Sein Interesse an den beiden müden Wanderern hatte seinem Denken eine Zeitlang eine andere Richtung gegeben und eine glücklichere, als er aber jetzt wieder allein war und von Verbrechen und Gewalttat las, da verfiel er wieder in seinen frühern Ideengang.
In dieser Stimmung geriet er auf einen Bericht – es war nicht der erste der Art, den er gelesen – von einer Frau, die in der Verzweiflung Hand an sich und ihr Kind gelegt hatte. Ein so schreckliches Verbrechen, wenn er an seine liebe Meg dachte, schien es ihm, daß er die Zeitung fallen ließ und entsetzt in den Stuhl zurücksank.
»Unnatürlich und grausam!« sagte er, »unnatürlich und grausam! Nur Leute, die von Herzen schlecht und von Natur böse sind und auf der Erde nichts zu suchen haben, können solche Taten begehen. Es ist nur zu wahr, was ich heute gehört habe, nur zu richtig. Wir sind böse von Geburt.«
Die Glocken nahmen ihm die Worte so plötzlich vom Munde, brüllten auf, so laut, klar und dröhnend, daß es Toby wie ein Blitz traf.
Und was war's, das sie sagten? »Toby Veck, Toby Veck! Wir warten deiner! Warten dein! Toby Veck! – Warten dein! warten dein! Komm zu uns! Komm zu uns! Bringt ihn her! Bringt ihn her! Plagt ihn und jagt ihn! Plagt ihn und jagt ihn! Stört ihn im Schlaf! Stört ihn im Schlaf! Toby Veck! Toby Veck! Türe auf, Toby Veck! Türe auf, Toby Veck! Türe auf! Toby! Toby! Türe auf! Toby!«
Dann fingen sie wieder von vorn an mit ihrem wilden, ungestümen Geläut und dröhnten, daß die Steine in den Wänden und der Mörtel zitterten.
Toby horchte. »Träume, Träume.« Es befiel ihn wie Reue, daß er nachmittags von ihnen weggelaufen. »Nein, nein, nein, nichts mehr dieser Art.« Aber wieder und wieder kam es, noch ein dutzendmal. »Jagt ihn und plagt ihn! Plagt ihn und jagt ihn! Bringt ihn her! Bringt ihn her!« Bis die ganze Stadt wie taub war.
»Meg«, fragte Trotty und öffnete leise ihre Tür. »Hörst du etwas?«
»Ich höre die Glocken, Vater. Sie läuten heute nacht so laut.«
»Schläft sie schon?« fragte Toby, um irgend etwas zu sagen.
»Und wie friedlich und glücklich! Sie hält meine Hand fest, ich kann noch nicht fortgehen.«
»Meg«, flüsterte Trotty, »hör nur die Glocken!«
Sie horchte, die ganze Zeit über ihr Gesicht ihm zukehrend, aber ihre Mienen veränderten sich nicht. Sie verstand die Glocken nicht. Trotty zog sich zurück, er nahm seinen Platz am Feuer wieder ein und lauschte noch einmal.
Es litt ihn nicht lange da. Er konnte es unmöglich mehr ertragen. Die Kraft der Glocken war furchtbar.
»Wenn die Turmtüre wirklich offenstünde«, sagte er, legte hastig seine Schürze ab und vergaß dabei seinen Hut, »was könnte mich hindern, hinaufzusteigen und mir Gewißheit zu verschaffen? Wenn sie verschlossen ist, brauch' ich weiter keine Gewißheit mehr. Dann weiß ich genug.«
Er war eigentlich fest überzeugt, als er leise auf die Straße hinausschlüpfte, daß die Turmtür fest verschlossen sein müsse, denn er kannte sie gar wohl und hatte sie kaum dreimal im Leben offen gesehen. Sie hatte ein niedriges, rundes Portal außen an der Kirche in einer dunkeln Ecke hinter einer Säule und so große eiserne Angeln und ein so ungeheures Schloß, daß man mehr von den Angeln und dem Schlosse sah als von der ganzen Türe. Aber wie groß war Trottys Erstaunen, als er jetzt barhäuptig zur Kirche kam, die Hand suchend in den dunkeln Winkel streckte, schaudernd vor Furcht, es könne sie jemand unversehens packen, und bereit, sie jeden Augenblick zurückzuziehen – – und die Tür offen fand. Im ersten Schrecken wollte er umkehren und ein Licht oder einen Begleiter holen. – Bald jedoch fand er seinen Mut wieder.
»Was hab' ich denn zu fürchten?« fragte er sich. »Es ist doch eine Kirche, und wahrscheinlich ist der Mesner drin und hat die Tür vergessen zu schließen.«
So ging er denn hinein und tappte sich vorwärts, wie ein Blinder, denn es war stockfinster. Totenstille. Die Glocken schwiegen.
Den Staub von der Straße hatte es hereingeweht. Er lag dort fußtief, daß Toby wie auf Sammet ging. Es war etwas Beängstigendes, Unheimliches dabei. Die enge Treppe stieß so dicht an die Tür, daß Toby bei der ersten Stufe stolperte, sie im Fallen hinter sich zuwarf und dann nicht mehr aufklinken konnte.
Das war ihm nur ein Grund mehr, vorwärts zu gehen. Er tastete sich aufwärts, immer aufwärts, im Kreise herum, immer höher, immer höher und höher.
Es war eine böse Treppe, so niedrig und schmal, daß seine tastende Hand immer an etwas stieß. Und es fühlte sich so oft an wie eine gespenstische Gestalt, die aufrecht stand und ihm auswich, um nicht entdeckt zu werden, daß er oft an der glatten Mauer in die Höhe fühlte, um nach dem Gesicht zu suchen, während ihn eine Gänsehaut überlief. Zweimal oder dreimal unterbrach eine Nische, die ihm so groß vorkam wie die ganze Kirche, die einförmige Mauerfläche. Dann glaubte er am Rand eines Abgrunds zu stehen und kopfüber hinunterstürzen zu müssen, bis er die Wand wiederfand. Immer hinauf, hinauf und hinauf, im Kreise herum und hinauf, hinauf, hinauf, höher, höher und höher hinauf. Allmählich wurde die dumpfe, erstickende Luft frischer – Zugluft wehte, und endlich blies der Wind so stark, daß Toby sich kaum auf den Beinen halten konnte. Endlich gelangte er an ein Bogenfenster in dem Turm wie an eine Brustwehr und hielt sich fest und sah hinab auf die Giebel der Häuser, die rauchenden Schornsteine, auf die Lichtflecken und Strahlenmassen (in der Gegend, wo Margaret sich jetzt wahrscheinlich wunderte, wo er nur sein möchte, und vielleicht nach ihm rief, die wie in einen Teig von Nebel und Finsternis eingeknetet waren.
Das war die Glockenstube, wohin der Mesner kam. Toby hatte eins von den zerschlissenen Seilen erfaßt, die durch Öffnungen von der eichenen Decke herunterhingen. Zuerst fuhr er zurück, denn es fühlte sich an wie ein Haarbüschel. Dann zitterte er bei dem bloßen Gedanken, daß er die dumpfe Glocke aufwecken könnte.
Die Glocken selber hingen höher! Und höher hinauf tastete sich Trotty in seiner Betäubung oder unter dem Einfluß des Spuks. Über Leitern, steil und beschwerlich, wo die Füße kaum mehr Halt fanden, und hinauf, hinauf, hinauf sich klammernd und klimmend, hinauf, hinauf, hinauf, höher, höher, höher hinauf!
Bis er durch die Luke klomm und mit dem Kopf über dem Balken war. Da hing er mitten unter den Glocken. Es war kaum möglich, in der Dunkelheit ihre gewaltigen Umrisse zu unterscheiden, aber da waren sie, da hingen sie, schattenhaft, finster und stumm.
Ein bleiernes Gefühl von Furcht und Einsamkeit überfiel ihn augenblicklich, als er in dies luftige Nest von Gestein und Erz emporklomm. Ihn schwindelte. Er lauschte. Dann rief er ein wildes »Hallo!«
»Hallo!« dehnte traurig das Echo.
Schwindelnd, verwirrt, außer Atem und von Entsetzen geschüttelt, blickte Toby ins Leere und sank ohnmächtig zusammen.