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Flachsenfingen ist die Haupt- und Residenzstadt eines deutschen Fürstentums, zwar, wie das Fürstentum selbst, von nur geringem Umfange, aber von desto größerer Bildung. In dieser Beziehung darf Flachsenfingen mit den größten Städten wetteifern. Alle Institute, welche irgend als Symptome von Kultur und Bildung gelten können, sind daselbst vorhanden: Theater, Konzerte, Lesezirkel, Leihbibliotheken, Klubs, Vereine und Gesellschaften aller Art. Keines dieser Institute aber hatte mehr Ruf in Flachsenfingen und war gesuchter als der vor einigen Jahren gestiftete Kunstklub. Derselbe war, wie schon sein Namen andeutete, vorzugsweise der Kunst gewidmet, aber nicht einer Kunst allein, sondern allen Künsten, der bildenden Kunst, der Musik, der Poesie usw. Wer sich für irgend eine von diesen Künsten interessierte, oder gar eine derselben selbst ausübte und sonst durch seine Stellung, seine Verhältnisse und Ansichten sich dazu paßte, war zur Mitgliedschaft dieses Klubs – versteht sich nach vorhergegangenem Ballotement – geeignet. Auf solche Weise vereinigte dieser Klub alle Notabilitäten der Stadt und bildete – wie sich ein Zeitungsartikel über diesen Klub ausdrückte – ›den wahren geistigen Mittelpunkt von Flachsenfingen‹. Die Aussprüche des Klubs über künstlerische Leistungen irgend welcher Art waren für das Urteil des gesammten Publikums entscheidend, doch mißbrauchte die Gesellschaft diese ihre kritische Autorität niemals zum Schlimmen, d. h. zum Tadel, denn da sämtliche einheimische Künstler Mitglieder des Klubs waren, alle fremde aber sich in denselben einführen ließen, so konnte diesen wie jenen der unbedingte Beifall des Klubs, mithin auch der des Publikums, nicht fehlen.
Von Zeit zu Zeit fanden besondere Diners der Klubgesellschaft statt, und zwar in der Regel an dem Geburtstage irgend eines berühmten und in den Künsten ausgezeichneten Mannes, wie Goethe, Mozart, Raphael usw. Ueber solche Feierlichkeiten wurde dann von einem Klubmitgliede (dessen Namen eigentlich ein Geheimnis war, das aber jedermann kannte) in einer auswärtigen Zeitung berichtet, die dabei ausgebrachten Toaste, die gehaltenen Vorlesungen beschrieben u. dergl. mehr. Es wurden nämlich von Zeit zu Zeit, und zwar vorzugsweise bei dergleichen festlichen Gelegenheiten, von einzelnen Mitgliedern Vorträge über Gegenstände der Kunst dgl. gehalten. Obgleich der Klub allen Künsten gewidmet war, so hatten sich doch die bildenden Künste, man wußte selbst nicht wie und weshalb, eine Art vorherrschender Geltung verschafft, so daß jene Vorträge, ja selbst die gewöhnlichen Gespräche, kurz die ganze Richtung des Klubs vorzugsweise sich diesen zuwandten, vielleicht weil die in dem Klub den Ton angebenden Mitglieder sich vorzugsweise für die bildende Kunst interessierten.
Das Lokal des Klubs (wo sich derselbe wöchentlich dreimal versammelte) befand sich in einem Wirtshause und bestand in einem großen Zimmer, an dessen Wänden die Portraits mehrerer berühmten Schriftsteller und Künstler hingen, namentlich solcher, deren Geburtstag die Gesellschaft festlich zu begehen pflegte. Bei dergleichen Gelegenheiten wurde dann das betreffende Portrait mit einem der Gesellschaft gehörenden (sub. No. 25 des Klubinventars verzeichneten) künstlichen Lorbeerkranze geschmückt und außerdem der Anfangsbuchstabe des gefeierten Künstlers in einem zu diesem Zwecke an der Wand besonders angebrachten Kasten transparent erleuchtet. In einem dazu bestimmten Schranke befanden sich das Archiv der Gesellschaft, die zur demnächstigen Herausgabe bestimmten Manuskripte mehrerer Vorträge, welche von Mitgliedern gehalten worden waren, die Statuten, Protokolle usw., endlich auch das kostbarste Besitztum des Klubs, sein »Album«, ein eleganter Band weißen Papiers in Folio, worin sich Zeichnungen und Denksprüche sowohl von einheimischen Mitgliedern als namentlich auch von durchreisenden und in den Klub eingeführten Fremden, Schauspielern, Malern, Schriftstellern usw. befanden. Auf dem Schranke, der diese Kostbarkeiten in sich schloß, war die Bibliothek des Klubs aufgestellt, mehrere Bücher über Kunst u. dergl., die von einzelnen großmütigen Mitgliedern hergeschenkt waren.
Gleich vorn am Eingange des Klubzimmers war ein anderes Geschenk eines Mitgliedes aufgestellt, ein Gipsabguß der Venus von Medici in der Größe des Originals. Eine solche Aufstellung der Schönheitsgöttin gleich am Eingange des Klublokals sollte ohne Zweifel symbolisch ausdrücken, daß diese Räume dem Schönen geweiht seien. Der ursprünglich gipsweiße Teint dieser Venus hatte, nachdem dieselbe einige Jahre ausgestellt gewesen war, ein gar übles Ansehen erhalten: Fliegen, Tabaksqualm und andere Dünste hatten die Göttin schlimm zugerichtet. Indessen hatte der Gips doch eine ziemlich gleichförmige Farbe angenommen. Aber ein Teil der Venus war unverhältnismäßig gefärbt, das war der ziemlich hervorragende Hinterteil derselben. – Am Eingange, wo die Statue stand, pflegten die eintretenden Mitglieder Hut, Mantel usw. abzulegen, und sodann der Göttin den Hinterteil zu streicheln, wie Kunstkenner dies zu tun pflegen, um ihren Sinn für plastische Schönheit zu betätigen, auch die Aufwärter usw. mochten beim Reinigen des Zimmers ihren Formensinn auf ähnliche Weise geübt haben, – und so war es denn gekommen, daß jener Teil der armen Venus eine sehr schmutzig dunkle Farbe angenommen hatte, die mit dem Weiß des übrigen Körpers, so wenig rein dieses Weiß auch eigentlich noch war, auffallend kontrastierte. Indes hatten die Mitglieder des Klubs das Schwarzwerden des göttlichen Hinterteils nicht bemerkt, eben weil dasselbe allmählich geschehen war, und so nahm niemand Anstoß daran, bis einem neu aufgenommenen Mitgliede bei seinem ersten Besuche des Klubs die ungebührlich dunkle Färbung jenes Teils der Statue auffiel. Mit einigem Erstaunen hatte sich dieses Mitglied darüber geäußert, und nun waren sämtliche Mitglieder des Klubs ebenfalls erstaunt und verwundert über das so augenfällige und bisher doch stets übersehene Faktum, wie es immer mit solchen Dingen, die niemand sieht, eben weil sie am Wege liegen, zu gehen pflegt, wenn sie einmal entdeckt sind. Es wurden sofort Stimmen laut, welche auf Abhilfe dieses Übelstandes drangen, als aber die Art und Weise dieser Abhilfe zur Sprache gebracht wurde, waren die Ansichten darüber so geteilt, daß eine Vereinigung nicht zustande kommen wollte. Man beschloß daher diese Angelegenheit in der nächsten Versammlung des Klubs einer förmlichen Beratung zu unterziehen und ging mit um so größerem Ernst daran, als diese Sache, wie alles, was im Kunstklub vorfiel, sehr bald in ganz Flachsenfingen bekannt und Gegenstand lebhafter Besprechung wurde. An einem der nächsten Versammlungstage des Klubs fand diese Beratung statt.
Präsident des Klubs war der Hofrat Ameyer. Hofrat Ameyer war ein eifriger Kunstfreund; er hatte wohl ein halbes Dutzend großer Mappen voll Kupferstiche und Lithographien, diejenigen ungerechnet, welche eingerahmt an den Wänden seiner Zimmer hingen; er war nebenher ein angesehener Mann, einer der tüchtigsten Redner in der Flachsenfingenschen Ständeversammlung und sein Haus eines der angenehmsten. Diesem seltenen Vereine ausgezeichneter Eigenschaften verdankte er seine Wahl zum Präsidenten des Kunstklubs, welche Stelle er vortrefflich versah.
Hofrat Ameyer eröffnete die Sitzung, indem er der zahlreich versammelten Gesellschaft in einer höchst lichtvollen Darstellung auseinandersetzte, um was es sich eigentlich handle. Nachdem er auf die Größe des Übels aufmerksam gemacht und die Notwendigkeit einer baldigen Abhilfe nachgewiesen hatte, schloß er seinen Vortrag rekapitulierend also: »So, meine Herren, ist das Übel entstanden, unbemerkt, weil allmählich, allmählich, also unbemerkt; so hat es sich, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, eingeschlichen, eingenistet, und nun steht es vor unseren plötzlich geöffneten Augen, entsetzlich, riesengroß! Ich war Zeuge, meine Herren, Ihrer Verwunderung, Ihres Schmerzes, als jene Entdeckung gemacht ward; als Präsident dieser Gesellschaft darf ich es mit gerechtem Stolze sagen: ich freuete mich Ihres Schmerzes. Daß etwas geschehen müsse, dem Übel abzuhelfen, darüber war nur eine Stimme. Aber zugleich wurde Ihnen allen klar, daß in einer so wichtigen Sache kein übereilter Beschluß gefaßt werden dürfe. Die Angelegenheit verlangt und verdient die reiflichste Überlegung; sie soll ihr werden. Lassen Sie uns, meine Herren, nach biederer deutscher Weise reiflich und bedächtig prüfen, was geschehen müsse, um gründlich, ich sage mit Absicht gründlich, zu helfen; lassen Sie uns prüfen, was zu tun sei, sowohl um das Übel für die Gegenwart zu beseitigen als ihm vorzubeugen für die Zukunft. Denn – das wird Ihnen allen klar sein – wir dürfen uns nicht darauf beschränken, dem Übel lediglich für den Augenblick abzuhelfen. Das hieße eine Wunde künstlich verdecken, so daß fort und fort die Zukunft daran krank läge. Nein, meine Herren, wir müssen Maßregeln treffen, daß das Übel auch in Zukunft nicht wiederkehre. Also Abhilfe für jetzt und Sicherheit für die Zukunft: das, meine Herren, sind die beiden wichtigen Fragen, deren Lösung uns heute beschäftigen soll. – Sie alle werden sich seit der neulichen Sitzung mit der Sache beschäftigt haben; ich sehe daher Ihren wohldurchdachten Vorschlägen entgegen.«
Ein Gemurmel des Beifalls folgte der Rede des Präsidenten. »Vortrefflich gesprochen! wundervoll geredet!« rief der Kommerzienrat Bemeyer. »finden Sie nicht, meine Herren?« Die Gesellschaft gab Zeichen der Zustimmung und der Präsident verneigte sich dankend.
»Ich bewundere,« begann darauf der Steuerrat Cemeyer, »wie Sie alle, meine Herren, den vortrefflichen Vortrag unseres würdigen Herrn Präsidenten. Aber eins ist mir darin nicht klar geworden. Daß wir über ein Mittel beraten und ein solches finden, um die Statue zu reinigen, das sehe ich ein, das verstehe ich. Aber wie wir dieselbe für die Zukunft schützen wollen, daß sie nicht wieder schmutzig werde, das vermag ich nicht einzusehen.«
»Sehr wahr, sehr wahr!« rief der Kommerzienrat Bemeyer.
»Nichts einfacher als das!« sprach der Assessor Demeyer. »Wir nehmen eine Bestimmung in das Statut auf, welche das Berühren der Statue untersagt. Ich schlage sofort vor, in dem § 102 des Statuts, wo es heißt: »An dem Inventar des Klubs steht sämtlichen Mitgliedern das ausgedehnteste Recht des Gebrauchs zu,« – den Zusatz aufzunehmen: »jedoch ist es nicht erlaubt, die der Gesellschaft zugehörige, im Klublokal aufgestellte und unter Nr. 14 des Inventars verzeichnete Statue der Venus mit den Händen zu berühren, unter welchem Vorwande oder an welchem Teile der Statue es sei.« – Eine solche Bestimmung des Statuts wird das Wiedereintreten eines ähnlichen Übelstandes, wie der ist, den wir jetzt beklagen, für alle Zukunft verhüten. Einen solchen Beschluß hat auch ohne Zweifel unser würdiger Herr Präsident vor Augen gehabt.«
Ehe der Präsident noch auf diese an ihn gerichteten Worte etwas erwidern konnte, nahm der Advokat Dr. Emeyer das Wort und sprach:
»Ich habe einen solchen Antrag kommen sehen, aber ich will mich ihm entgegenstemmen mit all den schwachen Kräften, die mir verliehen sind. Es ist ein verderblicher Antrag, eine verderbliche Richtung, woraus derselbe hervorgegangen. Will man immer nur Verbote und nichts als Verbote? Will man stets ein Verbot auf das andere pfropfen, immer nur die schon so vielfach beschränkte Freiheit noch mehr beschränken? Soll denn am Ende nichts mehr erlaubt, alles verboten sein? Soll man überall in allen und jeden Beziehungen den Strick am Beine, die Kette am Halse fühlen, die uns eben nur so weit gehen läßt, als sie reicht? Soll denn der Mensch ganz und gar in einen Kreis von Verboten gebannt werden? Lasse man doch der menschlichen Freiheit auch ein wenig Spielraum, habe man vor dem menschlichen Willen doch auch ein wenig Achtung; lasse man doch irgend etwas unverboten und damit dem Menschen die Möglichkeit, auch einmal etwas nicht tun zu wollen, was er tun dürfte. – Der Hinterteil der Venus ist so oft berührt worden, daß derselbe endlich schmutzig, ja ich darf ohne Übertreibung behaupten, sehr schmutzig geworden ist. Diesem Übelstande soll abgeholfen werden. Das ist recht, das billige ich. Schaffe man diesen Schmutz weg, auf welche Weise man will, mir ist jede recht. Ich wünsche auch von Herzen, daß die Venus nie wieder schmutzig werde. Aber nur kein Verbot! Eher lasse man die Venus noch zehnmal schmutziger werden. Ich für meine Person habe nicht dazu beigetragen, sie ganz oder teilweise zu beschmutzen, meine Hände haben niemals jene Teile berührt, so oft dies auch zu meinem Schmerze von anderen Mitgliedern geschehen ist, – aber feierlichst protestiere ich gegen jedes Verbot, ich –«
Diese letzten Äußerungen des Redners riefen sehr stürmischen Widerspruch hervor. Viele Mitglieder versicherten, daß auch sie niemals die Venus berührt hätten, andere widersprachen der Versicherung Emeyer's, daß er die Statue niemals berührt habe, noch andere verlangten mit Ungestüm, Emeyer solle erklären, ob seine Schlußäußerung wohl gar auf sie gehe, – kurz, es erhoben sich vielfache Reklamationen und großer Lärm gegen Emeyer.
»Ich fordere,« rief mit Heftigkeit der Assessor Demeyer, »daß der geehrte Herr erkläre, welche Mitglieder er mit jener Andeutung gemeint habe? Ich für meinen Teil, ich weise diese Insinuation mit Entrüstung zurück: ich habe nie die Venus berührt!«
»Ich auch nicht! Ich auch nicht! Wir alle nicht!« riefen viele Mitglieder. »Wir alle weisen die Insinuation zurück! Wir haben nie die Venus berührt!«
»Ich aber,« rief der Kriegsrat Esmeyer, »ich habe sie berührt, ich habe sie oft berührt, ich gestehe das nicht allein, nein, ich rühme mich dessen! Ich wollte das Bewußtsein dieser göttlichen Formen nicht bloß mit dem Auge empfangen, auch das Gefühl sollte mir dieselben verdeutlichen. Ja, ich habe mehr als einmal diesen göttlichen Linken nachzufühlen, das Geheimnis dieser wundervollen Formen zu erfassen gesucht! Ja, ich besitze – und ich rühme mich dessen – soviel Kunstsinn, daß ich nicht wie andere gleichgültig an diesem herrlichsten aller Kunstwerke vorübergehen kann. Ja, ich habe jenen Teil der Göttin oft berührt, ich rühme mich dessen!«
»Und ich,« rief der Finanzrat Gemeyer, »ich habe sie auch oft berührt, sehr oft!«
»Ich auch! Ich auch! Wir alle!« riefen viele Mitglieder. »Wir alle haben sie oft berührt! Wir alle haben soviel Kunstsinn!«
»Sehr wohl, meine Herren!« nahm der Advokat Dr. Emeyer wieder das Wort. »Wie ich einerseits diese Erklärungen akzeptiere, so erkläre ich zugleich anderseits, daß ich niemand mit meinem Ausspruche habe zunahetreten wollen. Ich betrachte diesen Punkt also als erledigt, und will nur noch wenige Worte hinzufügen. Ich habe, so sagte ich, »niemals die Venus berührt, mag man dieserhalb von meinem Kunstsinn auch immerhin gering denken –«
»Das habe ich mit meiner Bemerkung durchaus nicht sagen wollen,« erklärte der Kriegsrat Efmeyer.
»Sehr wohl!« fuhr Emeyer fort. »Ich habe die Venus nicht berührt, ich habe sie nie berührt, obgleich sie von allen berührt wurde.«
»Lassen wir diese verdrießlichen Persönlichkeiten!« bemerkte der Präsident.
»Ich habe die Venus nicht berührt,« wiederholte Emeyer mit Nachdruck, »ich habe sie nie berührt. Wollte man aber jetzt verbieten, sie zu berühren, dann, meine Herren, würde ich, wenn es mir nicht gelingen sollte, einen Beschluß zu hintertreiben, dann würde ich bei jeder Gelegenheit, wo und wie ich nur könnte, das Verbot übertreten, dann würde auch ich an dieser Stelle der Statue meinen Kunstsinn üben.«
»Dagegen,« bemerkte Assessor Demeyer, »würde man durch Strafbestimmungen die Venus zu sichern wissen.«
»Gut!« erwiderte Emeyer, »Verbote und Strafen! Das ist all' eure Weisheit! Zeigt doch Vertrauen, und man wird dies Vertrauen mehr als alle Verbote respektieren. Der Hinterteil der Statue ist durch öfteres Berühren schmutzig geworden, reinigt denselben und sprecht die vertrauensvolle Erwartung aus, daß niemand ihn wieder berühren werde. Aber gebt kein Verbot; ich stehe dafür ein, daß das Aussprechen einer solchen Erwartung die Statue besser schützen werde als alle Verbote und Strafen.«
»Der Meinung bin ich auch,« sagte der Senator Hameyer. »Ich schlage vor, daß an der betreffenden Stelle eine Tafel angebracht werde mit der Inschrift: daß man von dem gebildeten Publikum erwarte, dasselbe werde sich keinen Mißbrauch damit erlauben, – gerade wie dies in dem Garten des Herrn Ministers geschehen ist, seit dieser dem Publikum geöffnet worden. So was hilft, das ist gewiß. Dann will jeder zu dem gebildeten Publikum gehören und benimmt sich anständig.«
»Ja!« nahm der Advokat Emeyer noch einmal das Wort, »diese ewigen Verbote sind eine unglückliche Richtung der Zeit, welche –«
»Keine Politik, keine politischen Anspielungen« unterbrach mit ernster Stimme der Präsident Hofrat Ameyer den Redner. »Keine Politik! Das geehrte Mitglied weiß, daß politische Verhandlungen statutenmäßig untersagt sind, übrigens muß ich zu meinem Bedauern bemerken, daß die Diskussion von der eigentlichen und Hauptfrage sich entfernt oder vielmehr, daß sie dieselbe noch garnicht berührt hat. – Wir haben zunächst und vorab die Pflicht zu untersuchen, wie dem gegenwärtigen Übel abzuhelfen sei. Wie dem Übel für die Zukunft vorzubeugen, ist eine zweite Frage. Lassen sie uns, meine Herren, daher zuerst die Hauptfrage erledigen; jene zweite Frage wird sich dann weit leichter lösen lassen.«
Einige Minuten lang waren alle still, dann begann Justizrat Imeyer: »Es will mich fast bedünken, daß man die Sache für schwieriger ansieht, als sie es in der Tat ist. Die Venus ist hinten schwarz geworden; ich meine, da wäre das nächste und einfachste, daß man sie wieder weiß macht, das heißt: daß man die schwarz und schmutzig gewordenen Teile mit weißer Farbe überstreicht.«
»Diesem Vorschlage kann ich nicht beipflichten,« erwiderte der Steuerrat Cemeyer. »Wenn wir bloß die jetzt besonders geschwärzten Teile überweißen, so haben wir denselben Übelstand in Weiß, den wir jetzt in Schwarz haben. Die ganze Statue hat nicht mehr die ursprüngliche Weiße, sondern ist über und über bedeutend nachgedunkelt, um mich eines technischen Ausdrucks zu bedienen, aber die fraglichen Teile find freilich unverhältnismäßig schwarz geworden. Streichen wir diese allein weiß an, so werden dieselben gegen den übrigen Körper unverhältnismäßig weiß erscheinen. Das hieße also aus der Scylla in die Charybdis geraten. Ich bin daher der Ansicht, daß es zweckmäßig sei, die ganze Statue weiß zu überstreichen.«
»Ich bin doch nur für Überstreichung der betreffenden Partien,« entgegnete Imeyer. »Ich habe dabei namentlich den Umstand im Sinn, daß wir uns über kurz oder lang wieder in demselben Falle befinden werden wie jetzt. Es wird nicht lange dauern, so wird der Kunstsinn den Hinterteil der Statue wieder beschmutzt haben; sollen wir dann jedesmal die ganze Statue übermalen lassen, so würden am Ende die Kosten in Betracht kommen. Ein anderes ist es, wenn wir jedesmal nur die beschmutzte Partie überstreichen lassen. Ich nehme an, daß höchstens etwa der zwölfte Teil der ganzen Körperfläche schmutzig ist und des Anstriches bedarf. Wenn wir die ganze Statue nur einmal überstreichen lassen, so können wir daher für dasselbe Geld die schmutzig gewordenen Partien, um die es sich hier allein handelt, zwölfmal übermalen lassen, wenn sie eben so oft wieder schmutzig werden.«
»Gerade um diesem Wiederschmutzigwerden vorzubeugen,« sagte Assessor Demeyer, »habe ich ja den Zusatz zum Statut beantragt, daß es verboten sei, die Statue ferner zu berühren.«
Steuerrat Cemeyer wollte seinen Vorschlag (die ganze Statue zu überweißen) verteidigen und Advokat Emeyer schickte sich zu gleicher Zeit an, den Antrag des Assessors Demeyer (Verbot des Berührens der Statue) aufs neue zu bekämpfen, als der Hofbaumeister Jodmeyer mit einem anderem Vorschlage auftrat: »Ich erlaube mir,« sagte er, »den Vorschlag, die Statue zu überweißen, etwas zu modifizieren, und zwar so, daß darin zugleich einige Garantie gegen eine Erneuerung des Übels läge. Ich schlage nämlich vor, die ganze Statue mit grauer Steinfarbe zu überstreichen, wohlverstanden die ganze Statue, nicht bloß den Hinterteil. Eine solche graue Steinfarbe würde sehr gut aussehen, und daneben ist auch das Grau nicht so empfindlich als das Weiß und würde daher in der Folge den Schmutz nicht so leicht annehmen.«
»Eine gute Idee!« sagte Kommerzienrat Bemeyer.
»Und ich,« sagte der Hoftheaterdirektor Kameyer, »will wiederum den Vorschlag des farbigen Anstrichs modifizieren, so wenig ich sonst die Zweckmäßigkeit der grauen Steinfarbe verkenne. Da die Statue einmal angestrichen werden muß, um den Schmutz zu entfernen, so schlage ich vor, daß wir sie fleischfarben anstreichen lassen.«
»Eine sehr gute Idee!« sagte Kommerzienrat Bemeyer.
»Diesem Vorschlage,« erklärte der Hofbaumeister Jodmeyer, »will ich mich anschließen, und meine graue Steinfarbe gern der Fleischfarbe aufopfern. Ich finde diese Idee des fleischfarbenen Anstrichs vortrefflich; auf diese Weise würde doch auch einmal etwas zur Weckung des Farbensinnes geschehen, nicht immer nur für die Hebung des Formensinnes.«
»Auch ich,« erklärte Justizrat Imeyer, »habe gegen einen solchen fleischfarbenen Anstrich der Statue nichts einzuwenden.«
»Ich bin sehr dafür!« sagte der Hofbanquier von Elmeyer.
»Ich bin auch dafür!« sagte der Senator Hameyer.
Auch der Hofmusikus Emmeyer unterstützte diesen Vorschlag, weil er die Fleischfarbe sehr liebe.
»Ja, meine Herren!« rief der Steuerrat Cemeyer, »kein anderer Anstrich als fleischfarben! Diese Idee ist von allen gebilligt. Ich schlage vor, dieselbe durch Akklamation zu genehmigen!«
Schon erhoben sich fast sämtliche Mitglieder, um dieser Aufforderung gemäß den fleischfarbenen Anstrich durch Akklamation zu genehmigen, als der Hofmaler Enmeyer mit fast leidenschaftlich bewegter Stimme ausrief: »Nein, meine Herren, nein! Um alles in der Welt keinen fleischfarbenen Anstrich! Beschließen Sie nicht einen solchen Vandalismus! Ein fleischfarbener Anstrich einer Statue wäre ein Frevel am guten Geschmack, eine Sünde wider die heilige Kunst, eine Schande für unseren Klub! Ich bitte Sie, was sollen die Fremden, die hier eingeführt werden, von unserer Kunstbildung denken, wenn sie eine fleischfarbig angestrichene Venus von Medici sehen! Ich wenigstens, ich protestiere gegen eine solche Entweihung, und wenn Sie die Venus trotz meiner Warnung fleischfarb anstreichen lassen, so hänge ich einen Zettel daran, auf welchem steht, daß der Hofmaler Enmeyer gegen diese Geschmacklosigkeit protestiert hat, daß er unschuldig daran ist!«
»Aber,« bemerkte ziemlich schüchtern der Hoftheaterdirektor Kameyer, »der Herr von Bethmann hat die berühmte Ariadne doch auch gewissermaßen fleischfarben gefärbt, indem er eine Vorrichtung dabei angebracht hat, um sie rosafarben zu beleuchten!«
»Schlimm genug!« rief Hofmaler Enmeyer, »schlimm genug für die Ariadne! Aber, was weiß so ein Frankfurter Bankier von Kunst und Geschmack!«
»Gott behüte!« rief der Hofbankier von Elmeyer, »Gott behüte! Herr Hofmaler, versündigen Sie sich nicht!«
»Ja!« rief der Maler heftig, »ich wiederhole es: es ist eine Geschmacklosigkeit, ein Vandalismus! Ich bin Künstler und muß das verstehen!«
»Ganz gewiß!« erwiderte der Bankier; »dagegen sag' ich auch nichts! Gott bewahre, daß ich dagegen was sage! Aber der Herr von Bethmann ist doch auch ein sehr reicher Mann gewesen und hat sich also doch gewiß gut auf den Geschmack verstanden. Er hat doch alle Künstler bezahlen können und fragen: »tu ich gut, wenn ich die Statue fleischfärbigt beleuchte?« Und dann sehe ich nicht ein, wenn ich eine Statue habe, die mein ist, die ich bezahlt habe mit meinem Gelde, warum ich die nicht soll anmalen lassen dürfen, wie ich will, ganz allein wie ich will. Und wenn ich sie gelb und grün gestreift oder Gott behüte, kariert wollte anmalen lassen, sollte mir kein Mensch was dagegen sagen dürfen. Hab' ich nicht recht?«
Mit dieser Frage wandte sich Herr von Elmeyer an die übrigen Mitglieder. Aber niemand wagte in dieser Angelegenheit dem Hofmaler als einem »Manne von Fach« zu widersprechen. Nur der Dr. Omeyer, Redakteur eines belletristischen Journals, das in der Stadt erschien, hielte es für seine Pflicht oder hatte Gründe, den Hofbankier nicht stecken zu lassen und einige Worte zu dessen Verteidigung zu sagen.
»So wenig ich es mir herausnehmen will,« sprach er, »einem so kompetenten Urteile, wie dem unseres berühmten Elmeyer widersprechen zu wollen, so glaube ich dennoch, daß die Ansicht des verehrten Herrn von Elmeyer keine ganz unrichtige ist. Wenn ich als unzweifelhaft feststehend annehmen darf, daß der höchste Zweck der Kunst vollkommene Nachahmung der Natur ist, so laßt sich doch nicht leugnen, daß der fleischfarbige einer nackten weiblichen Statue der Natur unendlich näherkommt als die weiße oder graue Farbe derselben. Daneben dürfte der von unserem trefflichen Hofbaumeister Jodmeyer für den fleischfarbigen Anstrich angeführte Grund, daß man durch denselben nicht bloß den Sinn für Formen, sondern auch für Farbe wecken und heben könne, doch auch einigermaßen schwer in der Wagschale wiegen.«
»Schnickschnack das alles!« erwiderte Enmeyer ziemlich grob.
»Wenn das wahr wäre, so müßte man nicht bloß die ganze Venus fleischfarb anstreichen, sondern müßte ihr die Haare schwarz oder blond, die Augen blau malen und so weiter. Am Ende ließen die Herren ihr auch noch weiße Strümpfe malen, damit sie noch natürlicher aussähe! Nein, meine Herren! Lassen Sie die Statue meinethalb weiß anmalen oder grau oder grün oder wie Sie wollen! Nur nicht fleischfarb, dagegen protestiere ich!«
»Und ich« erhob sich der Hofbildhauer Professor Pemeyer, »muß gegen allen und jeden Anstrich protestieren. Im höchsten und heiligsten Interesse der Kunst muß ich mich jedem An- und Überstrich der Statue widersetzen. Meine Herren, die Linie des Wahren, des Schönen ist unendlich schmal, sie zu treffen unendlich schwer, in allen Künsten, in keiner Kunst aber schwerer als gerade in der Skulptur. Niemand hat diese schmale, so schwer zu treffende Linie sicherer getroffen als die Griechen in ihren bewunderungswürdigen Werken. Aber, meine Herren, diese Linie der Schönheit, der Wahrheit ist nur eine; sie ist nicht auch daneben, weder diesseits noch jenseits; die Schönheit besteht nur in dieser Linie, nicht außerhalb derselben. Jede Abweichung von ihr, jede Veränderung, und betrüge sie nur die Breite eines Haares, ja nur den hundertsten Teil einer Haarbreite, jede Abweichung von dieser Linie ist eine Abweichung von der Schönheit und der Wahrheit. Der griechische Künstler, der die Venus von Medici geschaffen –«
»Kleomenes,« bemerkte der Konrektor Kuhmeyer,
»der griechische Künstler,« fuhr Pemeyer fort, »hat genau gewußt, was er wollte, als er diese Form so, jene so bildete, als er jener Linie diese, dieser Linke jene Biegung gab, kurz als er die Statue so schuf, wie sie ist. So wie sie ist, so ist sie einzig recht, einzig schön. Ändern Sie, meine Herren, das Leiseste, das Unbedeutendste daran, so ist sie nicht mehr schön, so ist sie nicht mehr die Venus von Medici. Zwar mag eine solche Änderung, wenn sie unbedeutend ist, dem ungeübten Auge gänzlich unbemerkbar bleiben, aber, meine Herren, nicht dem ungeübten Auge, sondern dem geübten steht in solchen Sachen allein ein Urteil, eine Entscheidung zu. Vergrößern oder verkleinern Sie die Statue einmal um einen halben Fuß; ein Bauer wird die Änderung schwerlich bemerken, Ihnen allen wird sie auffallen. Vergrößern oder verkleinern Sie die Statue um die Breite eines Haares, Sie werden wahrscheinlich kein Arg daraus haben, dem geübten Auge eines Künstlers aber, eines Mannes von Fach wird es ein Greuel sein. Es ist, und wäre die Änderung auch noch so unbedeutend, nicht mehr die Venus von Medici, wie sie der griechische Künstler geschaffen. Nun aber, meine Herren, ist ein Anstrich der Statue eine Änderung derselben. Lassen Sie die Farbe auch noch so dünn austragen, dennoch verändert, verrückt die Farblage die Linie, welche der Meister der Statue als die einzig richtige und wahre erkannt hat. Und wäre die Lage der Farbe auch nur so dünn als die Hälfte einer Haarbreite, die Statue wird dadurch geändert, sie bleibt nicht mehr dieselbe. Ist Ihnen, meine Herren, also die Kunst, die Schönheit heilig, so beschließen Sie keinen Anstrich der Statue, weder der ganzen Statue, noch des Hinterteils allein. Ein Anstrich des Hinterteils allein würde noch obendrein alle und jede Proportion verderben. Wie gesagt, meine Herren, ein weniger geübtes Auge würde die Änderung, die Verschlechterung, ja ich darf sagen die Vernichtung der ursprünglichen Statue nicht bemerken, aber dem geübten Auge – und es gibt doch solche in dieser Gesellschaft – würde sie ein Dorn sein. Ich hoffe, meine Herren, es ist mir gelungen, Sie von der Richtigkeit meiner Ansicht zu überzeugen. Wem der wahre Sinn für Schönheit und Kunst innewohnt, der wird, der muß mir beipflichten.«
Als Professor Pemeyer seine Rede geendet, befand sich die Gesellschaft in großer Aufregung. Gegen die von ihm vorgebrachten Gründe ließ sich, wie es schien, nichts sagen, zumal es ein Künstler, ein »Mann von Fach«, ein Bildhauer war, der sie vorgebracht; es ließ sich um so weniger etwas dagegen sagen, als er am Schlusse durch die Äußerung, daß jeder, der Sinn für Kunst habe, ihm beipflichten müsse, allen Widerspruch mit einer Art von Anathem belegt hatte. Einem solchen gegenüber war Widerspruch, selbst wenn man ihn sonst gewagt hätte, völlig unmöglich.
Der Hofmaler Enmeyer ergriff zuerst das Wort und sagte: »Ich brauche wohl kaum ausdrücklich zu erklären, daß ich als Künstler allem, was mein Freund Pemeyer gegen den Anstrich der Statue gesagt hat, vollkommen beipflichte.«
In demselben Sinne, nur noch ausführlicher, namentlich unter Bezugnahme auf die Schriftsteller des klassischen Altertums sprach sich der Konrektor Kuhmeyer aus. Ebenso der Finanzrat Gemeyer. Nun erfolgte eine Beitrittserklärung nach der andern. Kommerzienrat Bemeyer, Steuerrat Cemeyer, Assessor Demeyer, Bankier von Elmeyer, Dr. Omeyer usw. erklärten, daß sie niemals eine Übermalung der Statue zugeben würden und daß sie niemals anderer Ansicht gewesen seien. Eine Übermalung einer Statue, sagte Dr. Omeyer, sei ein Greuel, eine Sünde an der Kunst, die man dem Kunstklub nicht nachsagen solle.
Als sich die durch diese einzelnen Beitrittserklärungen verursachte Aufregung wieder etwas gelegt hatte, nahm der Präsident Hofrat Ameyer die Debatte wieder auf und sprach:
»Bis jetzt, meine Herren, sind wir nur über das einig geworden, was nicht geschehen soll. Die bisher gemachten Vorschläge laufen im wesentlichen darauf hinaus, das vorhandene Übel durch Anstrich, Anstreichung, Anmalung, Übermalung zu beseitigen, und zwar sind in dieser Beziehung zwei Hauptvorschläge gemacht worden, von denen der erste, der des partiellen Anstrichs, nur die betreffenden Teile, die in Frage stehende Partie der Statue, die beschmutzte Kehrseite derselben, angestrichen, überweißt, mit weißer Farbe übermalt wissen will. Ich habe, wenn von diesem partiellen Anstriche, von Übermalung nur dieser Partien die Rede war, darunter immer lediglich die Übermalung mit weißer Farbe verstanden. Ein zweiter Vorschlag will nicht einen partiellen, sondern einen generellen Anstrich, Übermalung der ganzen Figur. Dieser Vorschlag eines generellen Anstrichs zerfällt in mehrere Modifikationen, das heißt: verschiedene Farben, die hinsichtlich des Anstrichs proponiert worden. Es ist nämlich der Vorschlag gemacht worden, die ganze Statue entweder a) weiß, oder b) grau, oder endlich c) fleischfarben zu übermalen. Aber, meine Herren, alle diese Vorschläge, sowohl der des partiellen als der des generellen Anstrichs, und letzterer mit allen seinen verschiedenfarbigen Modifikationen sind mit überzeugenden Gründen widerlegt, auf entschiedene Weise zurückgewiesen worden, und wir stehen jetzt wiederum an demselben Punkte, von welchem wir ausgegangen sind, mit dem wichtigen Unterschiede freilich, daß wir über das meiste, was nicht geschehen darf, über die hauptsächlichsten Mittel, welche nicht angewendet werden können, uns klar geworden sind. Und damit, meine Herren, ist auch schon ein Großes erreicht!«
Dieses lichtvolle Resümé des Präsidenten erregte, wie man bei allen Reden desselben gewohnt war, die Bewunderung der ganzen Gesellschaft. Ein Gemurmel des Beifalls folgte. Hofrat Ameyer verneigte sich dankend und fuhr dann fort:
»Aber, meine Herren, die Resultate unserer bisherigen Beratung dürfen uns nicht irremachen, uns nicht ablenken von unserem Zwecke. Wenn etwas geschehen muß, so ist es schon ein Großes, wenn man weiß, was nicht geschehen kann.«
Diese mit besonderer Feierlichkeit gesprochene inhaltsschwere Sentenz erregte aufs neue die Bewunderung der Gesellschaft. Und als Hofrat Ameyer bemerkte, daß Dr. Omeyer (der Redakteur des belletristischen Journals) sein Notizbuch hervorzog, wiederholte er seinen Ausspruch in salbungsvoll-langsamem Tone. Dann schloß er seinen Vorschlag folgendermaßen:
»Wenn wir uns also darüber klar geworden sind, meine Herren, so lassen Sie uns jetzt prüfen, was geschehen kann, was geschehen darf, was geschehen muß. Ich ersuche die Herren, die Vorschläge zur Abhilfe des Übels zu machen haben, damit hervorzutreten.«
Der Aufforderung des Präsidenten folgte eine kurze Stille. Der Hofintendant Ermeyer nahm zuerst das Wort. »Ich möchte mir erlauben,« sagte er, »zur Beseitigung des Schmutzes die Anwendung von Fleckwasser vorzuschlagen. Ich kann dieses Mittel aus eigener Erfahrung empfehlen. Vor drei Jahren ist mir durch hochfürstliche Gnade die Aufsicht über das Tafelzeug übertragen worden, indem die bis dahin demselben vorgesetzte Behörde aufgelöst wurde. Um Wein- und sonstige böse Flecken aus dem hochfürstlichen Tafelleinen zu entfernen, bediene ich mich des Fleckwassers aus einer Pariser Fabrik, welches dem Zwecke, die Flecken zu entfernen, vollständig entspricht, aber leider nur den einen Übelstand hat, daß an die Stelle der Flecken häufig Löcher kommen, so daß mehrere der schönsten Gedecke unbrauchbar geworden sind, und die fürstliche Regierung genötigt sein wird, von der nächsten Ständeversammlung eine Bewilligung wegen Komplettierung der solchergestalt defekt gewordenen Tafelgedecke zu fordern. Indessen fragt es sich noch, ob diese Löcher, welche auf eine korrosive Wirkung des angewandten Fleckwassers schließen lassen, von diesem Wasser und nicht vielleicht von anderen Einflüssen herrühren. Wenigstens behauptet der Fabrikant des Fleckwassers, bei dem ich mich über die zerstörenden Wirkungen seines Mittels beklagt habe, daß die Löcher durch die Flecken, nicht aber durch das Fleckwasser verursacht worden. Dies ist nicht ganz unmöglich, da die Flecken in den betreffenden Gedecken, welche ausschließlich an der Kavaliertafel gebraucht worden, meist von Wein herrührten. Dem sei aber wie ihm wolle, die Flecken werden durch das Wasser sich er entfernt, die nachteiligen Wirkungen aber (selbst wenn sie von dem Wasser herrührten) sind in unserem Falle um so weniger zu besorgen, als wir es weder mit Servietten noch mit Weinflecken zu tun haben.«
Der Vorschlag des Hofintendanten Ermeyer fand jedoch Widerspruch. Kommerzienrat Bemeyer meinte, man müsse doch wohl erst anderweitige Versuche mit dem Fleckwasser anstellen, ehe man es auf die Venus anwendete und dabei Gefahr liefe, daß zwar der Schmutz entfernt, aber auch zugleich der beschmutzte Teil der Venus von der ätzenden Kraft des Wassers zerfressen würde. Professor Pemeyer aber erklärte, daß das Fleckwasser, ganz abgesehen von den möglichen korrosiven Wirkungen desselben, auf den porösen Gips unanwendbar sei, daß dasselbe den Schmutz daselbst nur noch vermehren und fixieren würde.
Darauf trat der Leutnant Eßmeyer mit einem anderen Vorschlage auf. Er fragte, ob es nicht zum Zwecke führen würde, wenn man das schmutzig gewordene Gesäß der Venus kollerte? Das Lederzeug des Militärs wenigstens erhielte, und wenn es auch noch so schmutzig wäre, durch Kollern jedesmal wieder die bundespflichtmäßige Weiße. Er meine, es lasse sich doch auch mit der Venus wohl ein solcher Versuch machen.
Professor Pemeyer erklärte auch diesen Vorschlag wegen der Natur des Gipses für durchaus unausführbar, worauf der Kammersekretär Temeyer – kürzlich zum ersten Male Vater geworden – fragte: ob es nicht vielleicht zum Ziele führen werde, wenn man die beschmutzten Teile einfach mit einem nassen Schwämme abwüsche und mit einem Handtuche trocknete? Dergleichen einfache Mittel führten, wie er sagte, erfahrungsmäßig in der Regel zum Ziele.
Aber auch dieser schüchtern vorgebrachte Vorschlag fand Widerspruch, weil Gips, eben seiner porösen Natur wegen, nicht abgewaschen werden könne.
»Um doch auch einen Vorschlag zu machen,« sagte Kommerzienrat Bemeyer, »will ich mir die Frage erlauben, ob man den Schmutz nicht auf galvanoplastischem Wege entfernen könnte, wovon ich jetzt immer so viel lese?«
Allein ehe diese Frage irgend Beantwortung finden konnte, nahm der Medizinalrat Umeyer das Wort und sprach:
» Quod medicamenta non sanant, ferrum sanat! Diesen Spruch des Hippokrates, meine Herren, wende ich, ein treuer Schüler desselben, auf den vorliegenden Krankheitsfall an. Ich betrachte die Flecken, welche die Glutäen unserer Göttin verunstalten, als eine Art Exanthem, als eine Art Gewächs. Innere Mittel sind nicht anwendbar, Waschungen helfen nichts: medicamenta non sanant. Greifen wir also zum › ferrum‹, exstirpieren wir dieses Gewächs. Nur die Epidermis ist schadhaft, lösen wir die ab, so ist der Patient gerettet. Mit einem Worte: ich schlage Ihnen vor, die schmutzigen Partien mit einem feinen Messer sauber abzukratzen, abzuschaben. Das kann, wenn es sorgfältig und vorsichtig geschieht, die Statue nicht beschädigen und führt sicher zum Ziele.«
Aber der unerbittliche Professor Pemeyer widersetzte sich auch diesem Vorschlage, obgleich bereits mehrere Mitglieder demselben als höchst vortrefflich und geistreich ihre Zustimmung gegeben hatten; Pemeyer erklärte den Vorschlag für unausführbar aus denselben Gründen, wie das Übermalen der Statue. Dieselbe werde durch das Abschaben der beschmutzten Oberfläche, wenn auch noch so unbedeutend, geändert, folglich vernichtet.
Es herrschte einige Minuten lang eine tiefe Stille, es schien, als ob die Gesellschaft mit ihrer Weisheit zu Ende sei. Eine Menge von Mitteln war vorgeschlagen worden, hatte aber gegründeten Widerspruch gefunden, und nun konnte oder wollte niemand neue Vorschläge machen. Man sah sich einander mit verlegenen Gesichtern an.
In dieser peinlichen Situation war man sehr erfreut, als der Finanzrat Gemeyer, zu dessen Scharf- und Kunstsinn man großes Zutrauen hatte, folgendermaßen das Wort ergriff:
»Ich glaube bemerkt zu haben, meine Herren, daß ein jeder aus dieser verehrten Gesellschaft, der ein Mittel vorgeschlagen hat, um dem Übel abzuhelfen, das uns heute beschäftigt, bei der Auffindung und Wahl dieses Mittels vorzugsweise durch die Ideen und Beschäftigungen seines Standes, seines Geschäftes geleitet worden ist. Ich erinnere nur an den letzten von unserem würdigen Medizinalrat Umeyer gemachten Vorschlag, der offenbar den Arzt, den Chirurg, den kühnen Operateur verrät. So ist der Vorschlag, die beschmutzten Teile der Statue zu kollern, vom Herrn Leutnant Eßmeyer ausgegangen, und so kann man selbst in dem von Hoftheaterdirektor Kameyer gemachten Vorschlage, die Venus fleischfarben anzustreichen, den geschmackvollen Anordner unseres Ballets erkennen. So trägt fast jeder der gemachten Vorschläge eine Art Ursprungszertifikat an sich. Erlauben Sie mir, meine Herren, dieses Privileg auch für den Vorschlag in Anspruch zu nehmen, den ich Ihnen machen will. – Wenn der Arzt in dem Schmutze der Venus eine Art Hautkrankheit erblickt, so betrachte ich als Finanzmann das Übel als ein Defizit und suche es daher zunächst zu decken. Allein die Deckung eines Defizits ist oft eine so schwierige Sache, daß daran die Weisheit der geübtesten Finanzmänner scheitert; dann, meine Herren, bleibt nichts anderes übrig, als es zu verstecken. Zu diesem Auskunftsmittel müssen wir, da Deckung, wie wir gesehen, nicht möglich ist, in vorliegendem Falle uns entschließen, und dasselbe erfüllt unseren Zweck vollkommen. Denn wenn es uns gelingt, das Defizit, den Schmutz der Venus, zu verstecken, so werden die Fremden, die in unseren Klub eingeführt werden, und die wir doch hauptsächlich im Auge haben, den Schmutz nichtsehen; folglich ist er für sie so gut wie gar nicht vorhanden. Mein Vorschlag ist, die Statue von ihrem jetzigen Platze, wo man sie von allen Seiten betrachten kann, wegzunehmen, und sie auf einem erhöheten Postamente in eine Ecke zu plazieren, und zwar dergestalt mit dem Rücken in die Ecke und so hoch, daß man die beschmutzte Kehrseite nicht sehen kann. Unser hauptsächlichster Zweck, die Schmutzflecken dem Auge zu entziehen, ist dadurch so gut erreicht, als wenn wir die Statue überstreichen ließen.«
»Der Vorschlag des geehrten Herrn Finanzrats,« nahm der Kriegsrat Efmeyer das Wort, als Gemeyer geendet, »ist ebenso einfach, als die Motivierung desselben geistreich. Aber dennoch muß ich mich demselben im Interesse der Kunst widersetzen. Die Statue der Venus steht in unserem Lokale nicht als bloße Dekoration oder als müßiges Symbol, nein, sie steht hier, damit wir uns an dem täglichen Anblicke dieser göttlichen Formen bilden, damit unser Kunstsinn daran sich hebe und stärke. Werden die Schmutzflecken auf die von dem geehrten Herrn vorgeschlagene Weise versteckt, so wird auch zugleich ein Teil der Statue dem Auge entzogen, damit aber auch ein wesentliches Mittel zur Bildung des Kunstsinns.«
Auch der Kanzleirat Vaumeyer widersprach dem vom Finanzrat Gemeyer gemachten Vorschlage. Er sagte: »Wenn sich Herr Kriegsrat Efmeyer dem Vorschlage, das Übel lediglich zu verstecken, aus künstlerischen Gründen widersetzt, so muß ich denselben, sozusagen, aus moralischen Gründen bekämpfen. Nach des Herrn Finanzrats Ansicht wollen wir die Schmutzflecken der Venus lediglich deshalb beseitigen, weil wir fürchten müssen, den Fremden, die unseren Klub besuchen, damit Anstoß zu geben. Zu diesem Zwecke sollen wir die Statue so mit dem Rücken in die Ecke stellen, daß man den Schmutz nicht sieht. Nun wird aber jeder in den Klub eingeführte Fremde aus wirklichem oder affektiertem Interesse an der Kunst der Statue große Aufmerksamkeit widmen, namentlich wenn er vielleicht aus der Provinz kommt, wo er eben keine Gelegenheit hatte, Kunstwerke zu sehen. Die Statue steht nach des Herrn Finanzrats Vorschlage so in der Ecke, daß die hintere Ansicht verborgen ist. Ich müßte mich wenig auf Menschen verstehen, wenn nicht der Fremde, je mehr der Hinterteil versteckt ist, desto mehr sich Mühe geben wird, denselben zu sehen. Und dies wird nicht unbedingt verhindert werden können. Nun bitte ich Sie, meine Herren, vergegenwärtigen Sie sich unsere peinliche Situation, wenn ein hier eingeführter Fremder die Statue zu betrachten anfängt. Müssen wir alle nicht, ich möchte sagen zittern, daß der Fremde bei genauer Betrachtung nun doch die unglücklichen Schmutzflecken gewahrt? »Was sollen wir sagen, wenn er sie gewahrt und sich darüber äußert, was sagen, wenn er sie gewahrt und darüber schweigt? Denken Sie sich in diese Situation hinein, meine Herren, und Sie werden mir beipflichten, daß der Vorschlag des Herrn Finanzrats durchaus unausführbar ist.«
Justizrat Imeyer unterstützte diese Ansicht des Kanzleirats Vaumeyer, indem er sagte: »Ich stimme der Ansicht des Herrn Kanzleirats und namentlich den Gründen desselben durchweg und in allen Stücken bei. Wir würden nach dem Vorschlage des Herrn Finanzrats das Übel verheimlichen, aber heimlich würde es uns desto schwerer drücken. Es würde uns die Unbefangenheit, das ruhige Bewußtsein rauben, und ein gutes Gewissen ist doch in jeder Hinsicht ein so unschätzbares Gut, daß selbst –«
Mit ernster Miene unterbrach der Präsident, Hofrat Ameyer, den Redner, indem er sagte: »Ich muß den geehrten Herrn allen Ernstes bitten, sich aller politischen Anspielungen zu enthalten. Ich habe schon zu Anfang unserer heutigen Sitzung ein anderes Mitglied an diese Vorschrift unseres Statuts erinnern müssen; ich muß diese Erinnerung jetzt auf das nachdrücklichste wiederholen. Die Gesellschaft hat mich mit dem Auftrage beehrt über die Aufrechterhaltung des Statuts und die Ordnung der Verhandlungen zu wachen; ich werde, ich muß dieses Vertrauen ehren, indem ich keinen Verstoß gegen die Bestimmungen des Statuts dulde. Es ist mir das in diesem Falle um so schmerzlicher, als es heute bereits das zweite Mal ist, daß ich eine Verletzung gerade dieser Vorschrift zu rügen habe.«
Sich entschuldigend erwiderte Imeyer: »Ich redete doch nur von einem guten Gewissen – «
»Noch einmal,« unterbrach ihn der Präsident »noch einmal muß ich auffordern, keine Politik einzumischen; ich sehe mich sonst genötigt, die Sitzung aufzuheben!«
»Jawohl,« sagte Leutnant Eßmeyer, »darum muß ich sehr bitten, daß nicht von solchen politischen Sachen geredet wird, wenn ich dabei bin.«
»Seien Sie ohne Sorgen, Herr Leutnant,« sagte mit Würde der Präsident, »ich werde den Vorschriften des Statuts Achtung zu verschaffen wissen.«
Justizrat Imeyer aber wollte sich nicht darüber beruhigen, daß er auf solche Weise zur Ordnung gerufen worden. Er sagte: »Herr Doktor Emeyer sprach vorhin, wenn ich nicht irre, von »unglücklicher Richtung«, ich jetzt von einem »guten Gewissen«. Wenn man darin politische Anspielungen finden will, so – –«
»Gewiß!« rief Kommerzienrat Bemeyer, »ist das Politik!« – »Ohne Zweifel,« rief Finanzrat Gemeyer, »ist ein gutes Gewissen eine politische Anspielung!« – »Eine sehr boshafte Anspielung!« rief Doktor Omeyer. – »Nichts Boshafteres als ein gutes Gewissen!« rief Senator Hameyer. – »Nichts von Politik, keine politischen Anspielungen!« riefen alle, sodaß Imeyer mit seinen Entschuldigungen gar nicht zu Worte kommen konnte.
Als es wieder einigermaßen still geworden war, sprach der Präsident: »Ich freue mich, daß ich in meiner schwierigen Aufgabe, das Statut aufrechtzuerhalten, von der ganzen Gesellschaft so kräftig unterstützt werde. Ich sage der Gesellschaft meinen herzlichen Dank dafür. Ich darf, so hoffe ich, diesen unangenehmen Zwischenpunkt als erledigt ansehen und bitte sehr darum, daß keiner der Herren darauf zurückkomme. Lassen Sie uns vielmehr zur Tagesordnung zurückkehren.«
Finanzrat Gemeyer nahm die Diskussion wieder auf: »Mein Vorschlag, den Schmutz zu verstecken, ist mit zweierlei Gründen bekämpft Worden. Diese Gründe widersprechen sich aber dergestalt, daß ich selbst gar nicht nötig habe, sie zu widerlegen. Auf der einen Seite soll die Gesellschaft dadurch, daß die Statue mit dem Rücken in die Ecke gestellt wird, diesen nicht sehen und dadurch ein Mittel zur Kunstbildung verlieren. Auf der anderen Seite sollen Fremde, die eingeführt werden, die schmutzige Kehrseite sehen und Ärgernis daran nehmen. Diese beiden Argumente heben sich einander auf. Sieht die Gesellschaft die Hinterseite nicht, so können auch Fremde sie nicht sehen; können aber Fremde den Hinterteil sehen und sich daran ärgern, so kann auch die Gesellschaft denselben sehen und daran lernen. Aber nicht nur heben solchergestalt sich diese Sätze in ihrer Gleichzeitigkeit einer den anderen auf, sondern ein jeder derselben ist auch für sich unhaltbar. Die Gesellschaft hat an der übrigen Statue genug zu sehen und zu lernen und wird deshalb den Hinterteil nicht vermissen. Wenn nun aber wirklich ein Fremder so scharfsichtig wäre, daß er den Hinterteil zusehen bekäme, den die Gesellschaft nicht sehen kann, so sehe ich noch gar nicht ein, daß daraus eine so schrecklich peinliche Situation für die Gesellschaft entstehen müßte. Im Gegenteil muß der Fremde sich darüber freuen und die Gesellschaft noch höher darum achten, –er wird ja dadurch belehrt, weshalb die Statue mit dem Rücken in die Ecke gestellt worden.«
Als Finanzrat Gemeyer geendet, schickten sich sowohl Kanzleirat Vaumeyer als Kriegsrat Efmeyer an, ihm zu entgegnen. Allein ehe sie noch dazu kommen konnten, ergriff der Konrektor Kuhmeyer das Wort und sagte: »Die von dem Herrn Finanzrat nur angedeuteten Grundsätze verfolge ich in meinem Vorschlage bis zur äußersten Konsequenz. Ich gehe einen ganzen Schritt weiter als die sämtlichen Herren, welche Vorschläge gemacht haben. Ich ziehe den Vordersatz in Zweifel und frage: »Wozu überall eine Änderung?« und meine Antwort ist: »Eine Änderung ist unnötig«, und mein Vorschlag der: statum quo zu lassen. – Lassen wir die Statue so wie sie ist, unverändert, unangefärbt, unabgewaschen, unabgeschabt, lassen wir sie auf derselben Stelle, wo sie steht, lassen wir auch fernerhin jeden, der die Hand daran legen will, dies ungehindert tun, lassen wir die Statue und den Schmutz ganz wie er ist; bewahren wir diesen Schmutz. Wir wollen ihn nicht verstecken, diesen Schmutz, sondern im Gegenteil ihn offen zeigen, als eine aerugo nobilis, als ein Denkmal des wahren Kunstsinnes unserer Gesellschaft. Ist er das nicht in der Tat? Ist dieser Schmutz nicht ein Zeugnis unseres Studiums der Kunst, unseres Sinnes für schöne Formen? Ist dieser Schmutz nicht Zeuge, daß wir unsere Hände an diese Formen gelegt haben, um uns zu vergewissern, uns zu überzeugen, wie klassisch schön, wie antik göttlich dieselben sind? Als jener griechische Weise einen Backenstreich erhielt, hing er ein Täfelchen an die geschwollene Backe, darauf stand: »Das hat der und der getan«. Er tat das zum Schimpfe dessen, der ihn geschlagen, wir wollen es umgekehrt machen: wir wollen zu unserem Ruhme an der schmutzigen Stelle eine Tafel aufhängen: »Das haben wir getan!« Jeder Fremde oder Nichtfremde mag wissen, soll wissen, daß jene Schmutzflecken unser Werk sind, daß wir stolz darauf sind, daß ein solches Zeugnis besteht unseres Sinnes für göttliche Schönheit. Ja, meine Herren, wenn diese Schmutzflecken von selbst verschwänden, so würde ich vorschlagen, sie aufzufrischen, wie – –«
Soweit hatte der Konrektor Kuhmeyer geredet, als Pastor Wehmeyer ihn unterbrach. Dieser hatte schon während der ganzen Beratung mehrfache Zeichen der Ungeduld und des höchsten Mißfallens gegeben; während des Vortrages des Konrektors Kuhmeyer aber hatte sich die Steigerung seines Mißfallens durch Augenverdrehen und Gesichterschneiden kundgetan. Endlich hielt er sich nicht länger; mit einer vor Zorn kreischenden Stimme unterbrach er den Konrektor, indem er ausrief: »Herr, nicht länger dulde den Greuel! Bin ich denn hier unter Christen, in einem christlichen Lande, unter christlicher Obrigkeit oder ist hier eitel Sodom und Gomorrha?«
»Sind es meine Worte, die den Herrn Pastor erzürnt haben?« fragte der Konrektor Kuhmeyer, aber der Pastor antwortete nicht, sondern fuhr fort:
»Als mich der würdige Herr Senator Hameyer aufforderte, in diesen Klub einzutreten, da glaubte ich in eine christliche Gesellschaft zu kommen, deren Reden und Werke Gott wohlgefällig. Ich wußte, daß man sich hier mit Kunst beschäftige, aber es gibt Künste, die nicht ein Greuel sind vor den Augen des Herrn. Ich sah bald ein, daß ich mich geirrt habe, daß ich hier nicht fände, was ich gesucht, aber ich blieb in der Gesellschaft, weil ich hoffen durfte, vielleicht eine Seele retten zu können. Darum kam ich in die Versammlungen, wenn ich gleich oft Auge und Ohr verschließen mußte vor dem, was ich sah und hörte.«
»Das ist doch ein bißchen arg!« rief der Assessor Demeyer, »gegen dergleichen Vorwürfe muß ich mich und die Gesellschaft verwahren!« »Ja, das ist zu arg!« rief Advokat Emeyer. »Nein, was zu arg, das ist zu arg!« rief Kommerzienrat Bemeyer.
Aber Pastor Wehmeyer ließ sich nicht stören, sondern fuhr fort: »O ja, ich weiß, ich kränke die Herren in ihrer heidnischen Lust, ich störe ihre sündige Freude. Aber das ist ja mein Beruf. Ich bin nicht gekommen den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Ja, es ist heidnischer Greuel, den Ihr treibt, sündiges Satanswerk! Seit mehreren Stunden schon beraten Menschen, die Christen heißen wollen, darüber, wie ein heidnisches Götzenbild von Schmutz zu reinigen sei. O, laßt dem Götzenbild seinen Schmutz! Reinigt lieber Euer Inneres, wascht ab die Flecken von Eurem Gewissen, kratzt ab den Schmutz von Eurer Seele, überstreicht Euer Herz, damit es wieder rein und weiß werde. Was glaubt Ihr denn, was jene Schmutzflecken des Götzenbildes bedeuten, die Euch soviel zu schaffen machen? Meint Ihr etwa, sie seien davon entstanden, daß Ihr Eure Hände an den Teil gelegt habt, den meine Stellung näher zu bezeichnen mir verbietet? O der Verblendung! Nein, diese Flecken sind eine Strafe der Abgötterei, die Ihr treibt, das ist der Grund, weshalb jenes Götzenbild schwarz wird und immer schwärzer. Übertüncht sie nur, diese Flecken, kratzt sie nur ab, sie werden schon wiederkehren, um Eure frevele Lust zu stören, ein schreckliches Menetekel. Doch es ist noch einige Scham in Euch; darum sind Euch die Flecken ein Ärgernis und darum möchtet Ihr sie gern vertilgen; sie beunruhigen, sie stören Euch, diese Flecken. Aber einer ist unter Euch, der ist ganz ersoffen in heidnischem Greuel und sündiger Abgötterei; dem ist der Schmutz des Götzenbildes nicht ein Ärgernis wie den anderen, nein, der freut sich des Schmutzes, der berühmt sich des Schmutzes, der will ihn nicht vertilgen, der will ihn bewahren als etwas Kostbares. O der heidnischen Verruchtheit, o des sündigen Greuels!«
Das wurde dem Konrektor zu arg; hastig fuhr er auf: »Herr, meinen Sie mich?«
Ohne auf diese Frage zu antworten fuhr der Pastor fort: »Ja, dieser eine ist ersoffen in Sünde und Greuel, der –«
»Nein, Herr!« rief der Konrektor, »das soll Ihnen nicht so hingehen. Sie, meine Herren, sind Zeugen dieser Injurien; ich werde klagbar werden, ich –«
Aber ohne auf den Konrektor und dessen Drohungen zu hören, fuhr Wehmeyer fort: »Ihr anderen schämt Euch im Grunde Eures Herzens der Abgötterei; aber einer ist unter Euch, der berühmt sich ihrer, der – «
»Jetzt, Herr Pastor,« rief der Konrektor zornig, »hören Sie augenblicklich mit Ihren Injurien auf, sonst sollen –«
»Lassen Sie doch, lieber Herr Konrektor,« beruhigte Kriegsrat Efmeyer den Erzürnten, »wie kann dergleichen tolles Zeug Sie beleidigen? Über solche Kapuzinaden muß man nur lachen.«
»Ja,« fuhr der Pastor fort, nachdem der Präsident, Hofrat Ameyer, vergebens versucht hatte, ihn zum Schweigen zu bringen, »ja einer ist da, der berühmt sich der Abgötterei, der prahlt mit der Sünde. Möchte er es tun, wenn er nur seine eigene Seele damit dem höllischen Feuer überlieferte. Aber nein, gerade dieser, der sich berühmt ein Heide zu sein, dieser ist ein Lehrer der Jugend. Ein Lehrer? O nein, ein Verkehrer, ein Verderber der Jugend. Solchen Händen ist übergeben das Kostbarste, was wir besitzen, die Herzen der Jugend. O, wie kann es anders sein, als daß die Sünde immer mächtiger wird auf Erden. Ist doch die Erziehung und der Unterricht der Jugend ein Greuel und eine Sünde über die andere! Nicht das Christentum, nein das Heidentum ist ja die Grundlage der Erziehung. Nicht die heiligen Lehren des Evangeliums, nein, die sündlichen Fabeln des heidnischen Götzentums sind das erste, was die Jugend lernt, womit die unschuldigen Herzen vergiftet werden.«
»Ach so,« rief der Konrektor, »ich war nur der Sack, auf den man schlug. Den klassischen Studien gilt es. Nun, nur lustig drauf los, das ist eine bekannte Melodie.«
»Ja,« rief der Pastor, »den klassischen Studien gilt es, dem verruchten, verfluchten heidnischen Philologentum! Das ist des Übels Wurzel!«
Der Pastor sprach sich nun auf die allerschärfste Weise gegen die klassischen Studien aus: der Unterricht und die Erziehung der Jugend sei bei den Philologen, als welche insgesamt Heiden und Götzendiener, in den schlechtesten Händen; derselbe müsse allein der Geistlichkeit übergeben werden, usw., usw.
Als er seine lange Strafpredigt geendet, wollte der Konrektor eine Widerlegung derselben und eine Verteidigung der klassischen Studien, der Freiheit des Unterrichts usw., geben. Aber der Präsident, Hofrat Ameyer, der den Redefluß des Pastors zu hemmen mehrmals vergeblich versucht hatte, ermahnte den Konrektor davon abzustehen, indem die Diskussion immer weiter von dem eigentlichen Zwecke abkomme; schon mehrere Stunden lang habe man beraten und noch immer kein entscheidendes Resultat gewonnen; er, der Präsident, müsse daher ersuchen, wenigstens jetzt die Abschweifungen zu unterlassen und zur eigentlichen Frage zurückzukehren.
Aber Konrektor Kuhmeyer bestand auf eine Widerlegung des Pastors mit der ganzen eigensinnigen Heftigkeit eines Schulmannes. »Hat der Herr Präsident,« sagte er, »dem Herrn Pastor gestattet, nicht bloß mich persönlich, sondern auch meinen Stand, meine Wissenschaft mit Schmähungen zu überhäufen, so gebietet die Billigkeit und Gerechtigkeit, mir die Verteidigung nicht abzuschneiden.«
»Auch ich,« rief Pastor Wehmeyer, »bitte dringend darum, daß dem Herrn Gelegenheit gegeben werde, mir zu widersprechen. O, er zeige nur recht, welche Grundsätze er hegt, damit jedermann davor zurückbebe. Wenn Satanas den Pferdefuß zeigt, ist er nicht halb so gefährlich. O, lassen Sie den Mann der Abgötterei nur reden, ich werde ihn niederschmettern mit dem Schwerte der Wahrheit!«
»Nein,« erklärte Hofrat Ameyer, »der Herr Pastor würde replizieren, der Herr Konrektor duplizieren, und so nähme die Sache, die gar nicht hierher gehört, kein Ende. Mögen die Herren den Streit anderswo ausmachen.« »Aber ich« rief Advokat Emeyer, »fordere in dieser Sache das Wort, nicht um das zu widerlegen, was der Herr Pastor gegen die klassischen Studien vorgebracht hat, sondern nur um die krassen Schmähungen zu rügen, mit denen er uns alle, die ganze Gesellschaft, unsere ganze Tendenz begeifert hat. Ich werde den Herrn mit seinen eignen Waffen bekämpfen. Denn die Religion –«
Der Präsident, Hofrat Ameyer, hatte sich schon halb und halb resigniert, dieser neuen Abschweifung freien Lauf zu lassen, als der Regierungsrat Ixmeyer, der bisher an der Debatte gar keinen Teil genommen hatte, sich erhob und den Advokaten Emeyer unterbrechend in fast feierlichem Tone sagte:
»Meine Herren, ich ersuche Sie um Ihrer selbst willen alle und jede Diskussion über diese durchaus nicht hierher gehörigen Gegenstände zu unterlassen.«
Advokat Emeyer aber entgegnete: »Man hat mich zur Ordnung gerufen, als ich von »schlechter Richtung«, den Herrn Justizrat Imeyer, als er von »gutem Gewissen« redete; man hat erklärt, das seien politische Gegenstände und von Politik dürfe nicht geredet werden. Ich habe mich dem gefügt, weil die Statuten das Besprechen politischer Gegenstände untersagen. Aber jetzt lasse ich mir in dieser Angelegenheit das Wort nicht nehmen. Die Religion, sage ich –«
»Und dennoch,« rief Regierungsrat Ixmeyer, »muß ich dem Herrn erklären, daß eine Besprechung auch dieser Gegenstände hier durchaus unzulässig ist!«
»Aber,« rief Advokat Emeyer heftig, »das ist ja eine wahre Tyrannei! Das kann und darf die Gesellschaft nicht dulden! Und obendrein ist es nicht einmal das Präsidium, das mir das Wort nimmt! Meine Herren, das kann nicht geduldet werden, das ist Usurpation, das ist eine schändliche Tyrannei!«
»Das ist Tyrannei!« rief Doktor Omeyer. »Eine entsetzliche Tyrannei!« rief Kommerzienrat Bemeyer. »Das ist unerhört!« der Senator Hameyer. »Das dulden wir nicht!« der Hoftheaterdirektor Kameyer. »Nein, nein, keine Tyrannei!« rief man von vielen Seiten.
So schrie und tobte der größte Teil der Mitglieder gegen den Regierungsrat Ixmeyer an; der Präsident suchte vergebens zu besänftigen und den Lärm zu stillen.
Als wieder einige Ruhe eingetreten war, sprach Advokat Doktor Emeyer: »Meine Herren, ich danke Ihnen. Ich werde, was ich zu sagen habe, kurz und bündig vortragen. Ich – «
Da erhob sich von neuem Regierungsrat Ixmeyer und sprach mit scharfer Betonung: »Und ich erkläre, daß ich ein Besprechen der vorhin angeregten Gegenstände nicht zugeben werde, wenngleich ich nicht Präsident der Versammlung bin. Die Herren zwingen mich, ihnen zu sagen, was ich lieber verschwiege.«
Eine allgemeine Stille trat ein. Mit noch schärferer, schneidender Betonung fuhr Ixmeyer fort: »Mögen denn die Herren, die über Tyrannei klagen, sich merken, was ich ihnen erklären will. – Als bei der Regierung um die Erlaubnis zur Konstituierung dieses Kunstklubs nachgesucht und die Statuten desselben vorgelegt wurden, erteilte man die nachgesuchte Erlaubnis nicht ohne Besorgnisse, welche durch die in dieser Beziehung in und außerhalb Deutschland gemachten Erfahrungen nur zu sehr gerechtfertigt erschienen. Die angegebene Tendenz des Klubs war eine anscheinend unschuldige, unverdächtige. Aber es ist bekannt, wie oft die Demagogen, diese »im Dunkeln schleichenden Feinde des Rechts und der Ordnung«, um mich eines klassischen Ausdrucks zu bedienen, wie oft sie unter anscheinend unschuldigen und harmlosen Aushängeschildern von den getäuschten Regierungen die Erlaubnis erschlichen haben, Vereine zu stiften, in denen sie ihre verbrecherischen Pläne schmiedeten zum Umsturz von Thron und Altar. Wie oft ist solchergestalt die Erlaubnis erteilt worden, Lesevereine, Singvereine oder dergleichen unschuldig scheinende Gesellschaften zu errichten, während sich unter der unschuldigen Maske nichts anderes versteckte, als verbrecherisches, revolutionäres Treiben. Diese Erfahrungen schwebten unserer Regierung vor. Als die Erlaubnis zur Konstituierung dieses Kunstklubs nachgesucht wurde, mußte die Regierung riskieren, daß sich unter der anscheinend harmlosen Tendenz hoch- und staatsverräterische Umtriebe verstecken könnten.«
Bei diesen Worten des Regierungsrats durchbebte ein Schauder die ganze Gesellschaft. Der Regierungsrat fuhr fort: »Einerseits hätte nun zwar die Regierung die Gefahr vermeiden können, wenn sie die nachgesuchte Erlaubnis verweigerte, aber anderseits wollte unsere milde, landesväterliche, alles Gute mit größter Aufopferung fördernde Regierung nicht durch Verweigerung dieser Erlaubnis der Hebung der Kunst in den Weg treten. In dieser äußerst schwierigen Lage verfuhr sie mit ihrer gewohnten Weisheit, Milde und Vorsicht. Sie bewilligte die nachgesuchte Erlaubnis; zugleich aber wird sie gewiß nicht versäumt haben, Maßregeln anzuordnen, die es ihr möglich machen, eine fortlaufende Kenntnis von sämtlichen Verhandlungen der Gesellschaft zu erhalten.«
Der Regierungsrat sprach diese Worte mit einer eigentümlichen Betonung, welche die Zuhörer bis ins innerste Mark erbeben machte. Der Regierungsrat fuhr fort:
»Die Regierungen müssen auf ihrer Hut sein, denn sie wissen, ihre Feinde ruhen und rasten nicht, sondern unterwühlen fort und fort den Boden, um so Thron als Altar zu stürzen. Die Regierungen sind aber auch auf der Hut: sie kennen ihre Feinde.«
Bei diesen Worten warf der Regierungsrat einen scharfen stechenden Blick auf den Advokaten Emeyer. Als Advokat mußte derselbe natürlich ein Feind der Regierung sein. Mit Entsetzen bemerkten die übrigen Mitglieder diesen Blick; eiligst rückten Emeyer's Nachbarn von ihm weg. Emeyer hatte den Blick gleichfalls bemerkt und saß da in trostloser Vernichtung; gern wäre er von sich selber weggerückt. Der Regierungsrat fuhr fort:
»Die Regierungen, sage ich, sind auf ihrer Hut; sie müssen auf ihrer Hut sein, sie müssen sorgfältig alles überwachen, was, wär's auch nur in seinen allerletzten Konsequenzen, irgend staatsgefährlich werden könnte. Aber, meine Herren, staatsgefährlich sind nicht allein alle Verhandlungen über eigentlich politische Gegenstände. Zwar hat eine Regierung alle Ursache, zunächst und am strengsten alle Verhandlungen von eigentlich politischem Charakter zu überwachen, aber die Verhandlungen religiöser und sozialer Fragen erfordern nicht minder ihre volle Aufmerksamkeit. Dergleichen Verhandlungen sind nur gar zu oft die Vorläufer der Revolution.«
Tiefes Schweigen der Gesellschaft; der Regierungsrat fuhr fort: »Ich muß es hiernach der Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse anheim geben, ob sie mein Benehmen, vermöge dessen ich die Diskussion der angeregten, so tief in alle sozialen und politischen Verhältnisse eingreifenden Fragen zu verhindern strebte, aus dem richtigen Gesichtspunkte auffassen und demnach die Rücksichten nehmen will, von denen das Fortbestehen unseres Kunstklubs abhängen, ja, welche möglicherweise noch weitergreifende Maßregeln zur Folge haben könnten. Denn sähe sich unsere Regierung genötigt diesen Klub, weil sich derselbe mit irgend staatsgefährlichen Verhandlungen befaßt hat, zu schließen, so würde man ohne Zweifel diplomatischerseits davon Notiz nehmen und höchst wahrscheinlich würde dann gegen alle Institute dieser Art in ganz Deutschland eingeschritten werden.«
Die letzten Worte sprach der Regierungsrat noch mit besonders nachdrücklicher Betonung; dieselben machten, wie seine ganze Rede, den allertiefsten Eindruck auf die ganze Gesellschaft; lautlose Stille folgte; es war, als ob ein Polizeidiener durch's Zimmer flöge.
Besonders schien der Senator Hameyer durch die Rede des Regierungsrats ergriffen zu sein. Er erhob sich, als wolle er etwas sagen, aller Blicke kehrten sich ihm zu. Da stöhnte er mit schwacher Stimme: »Ich glaube – ich – werde unwohl!« und fiel in Ohnmacht.
Es war ein rührender, ergreifender Anblick, wie der alte Mann da lag, das fast immer lächelnde, heitergefärbte Gesicht deckte Todesblässe, die freundliche, zierlich frisierte Perücke war auf eine Seite geschoben. Niemand wagte anfangs ihm Hilfe zu leisten, weil die meisten glaubten, Hameyers Schrecken sei Folge eines bösen Gewissens und des Bewußtseins von staatsverräterischen Umtrieben oder einer ähnlichen Schuld, was gewissen Verhältnissen und Hameyer's Stellung nach nicht ganz unmöglich schien. Einem solchen Manne zu helfen schien somit nicht ganz unbedenklich. Erst als Regierungsrat Ixmeyer selbst hinzusprang, dem Ohnmächtigen Hilfe zu leisten, eilten auch die anderen Mitglieder herbei.
Dieser Vorfall brachte wieder einiges Leben und Bewegung in die Mitglieder, von denen jedoch mehrere große Lust zu haben schienen, sich zu entfernen, angeblich um den inzwischen wieder zu sich gekommenen Senator Hameyer nach Hause zu bringen. Der Präsident, Hofrat Ameyer, aber, nachdem der Regierungsrat einige, wahrscheinlich die Fortsetzung der Beratung betreffende Worte leise mit ihm gewechselt hatte, rief die Fortgehenden zurück. »Meine Herren,« sagte er, »ich muß sehr bitten, die Beratung nicht durch Fortgehen zu unterbrechen.« Indessen hörten nur wenige darauf, bis Regierungsrat Ixmeyer, dem jetzt die Macht des Präsidenten de facto anheim gefallen zu sein schien, gleichfalls zum Dableiben ermahnte. So kam die Gesellschaft einigermaßen wieder in Ruhe und Ordnung. Advokat Emeyer aber war verschwunden.
Hameyer's Unfall hatte das Gute gehabt, daß man die Andeutungen und die Warnungen des Regierungsrats, deren ganze Bedeutung man wohl verstanden hatte, mit guter Manier und ohne weitere Debatte auf sich beruhen lassen konnte. Auch nahm der Präsident, sobald nur einigermaßen die Ordnung wieder hergestellt war, das Wort und hielt einen ausführlichen Vortrag über das, was bis jetzt hinsichtlich des eigentlichen Zweckes der Beratung, die Entfernung der Flecken an der Venus, vorgekommen war. Den in seinem früheren Resümé besprochenen Vorschlägen waren jetzt nur noch zwei der Berücksichtigung würdige Vorschläge hinzugekommen, nämlich der des Finanzrats Gemeyer: die Statue mit dem Rücken in eine Ecke zu stellen, um auf diese Weise den Schmutz zu verbergen, und der des Konrektors Kuhmeyer: die Sache ganz und gar in statu quo zu lassen.
Als Ameyer, dem diesmal zum ersten Mal die sonst bei seinen Reden hergebrachten Beifallsbezeugungen fehlten, dieses Resümé beendigt hatte, fragte er, ob noch jemand Vorschläge zu machen habe?
Die Gesellschaft hatte sich während seines Vortrages einigermaßen wieder von dem tiefen Eindrucke erholt, den die Ixmeyer'sche Rede gemacht hatte. Doch wagte trotz Ameyers Aufforderung aus Furcht, unwillkürlich einen der Regierung irgend mißfälligen Gegenstand zu berühren, niemand mit Äußerungen und Vorschlägen hervorzutreten.
Einige Minuten lang herrschte solchergestalt eine peinliche Stille. Da erhob sich der Regierungsrat Ixmeyer aufs neue und sagte: »Ich glaube voraussetzen zu dürfen, meine Herren, daß das, was ich vorhin angedeutet, auf die heutige Beratung und deren völlig unverfänglichen, ja, ich darf sagen: der Regierung wohlgefälligen Zweck durchaus keinen Einfluß äußern wird. Ich hoffe ferner, daß jene Angelegenheit als vollständig abgetan und erledigt, durchaus nicht weiter berührt werden wird. Was aber unsere heutige Beratung und deren Zweck betrifft, Abhilfe des Übelstandes, der unsere Venus verunstaltet, so würde ich, wenn keiner der geehrten Herren desfallsige Vorschläge zu machen hat, mir erlauben, meinerseits einen solchen vorzubringen.«
Er sah sich fragend um. Alle schwiegen. Endlich begann der Kammersekretär Temeyer: »Wir warten ungeduldig Ihres Vorschlages, verehrtester Herr Regierungsrat. Gewiß wird derselbe unser aller Beifall haben.«
Die ganze Gesellschaft gab ihre Zustimmung zu erkennen, worauf denn der Regierungsrat mit besonders freundlichem und leutseligen Ausdrucke, als wolle er die Gesellschaft vollkommen beruhigen, also sprach:
»Wenn denn keiner der Herren einen Vorschlag zu machen hat, so will ich mir erlauben, meinerseits auf ein Mittel zur Abhilfe jenes Übelstandes aufmerksam zu machen. Mein Vorschlag dürfte um deswillen einigen Anspruch auf Beachtung haben, als er von fast allen bisher gemachten Vorschlägen etwas in sich vereinigt. Es ist der Vorschlag gemacht worden, die Statue ganz oder wenigstens die leidenden Teile zu überstreichen, den Schmutz zu übertünchen; unser Pemeyer, der das verstehen muß, hat erklärt, daß jede Veränderung des Volums der Statue, sei diese Veränderung auch noch so unbedeutend, den Kunstwert der Statue wesentlich alteriere; durch Übertünchen würde aber das Volum, wenngleich nur unbedeutend vermehrt, also verändert werden. Es ist ferner der Vorschlag gemacht worden, den Schmutz abzukratzen, abzuschaben. Herr Professor Pemeyer hat sich auch diesem Vorschlage aus demselben Grunde widersetzt: wie durch Übermalen das Volum der Statue vermehrt, so werde es durch Abschaben vermindert, also immer verändert. Der Vorschlag, den ich zu machen habe, meine Herren, ist ein mezzo termine. Ich schlage vor, daß zuvörderst die beschmutzten Teile sauber und vorsichtig abgeschabt, und wenn dieses geschehen ist, ebenso vorsichtig weiß übertüncht werden. Was durch die erste Operation, das Abschaben, dem Volum der Statue genommen worden, an dem Kunstwerte alteriert worden, wird ihr durch die zweite Operation, das Übermalen ersetzt, der Kunstwert also in integrum restituiert. So wird das wahre primitive Volum, die ursprüngliche Linie und Form konserviert und der Schmutz dennoch beseitigt. Dann können wir die Statue auch stehen lassen, wo sie steht; wird sie wieder schmutzig, so wiederholt man die beiden Operationen. Indessen ist dergleichen kaum zu besorgen, da unsere Gesellschaft erfahren hat, wie schwer es ist, dergleichen Übelstände zu beseitigen. Dies, meine Herren, ist der Vorschlag, den ich zu machen habe, ein Juste-milieu, das vielleicht Ihren Beifall hat.«
»Ganz und gar!« rief der Kriegsrat Efmeyer. »Vortrefflich!« rief Finanzrat Gemeyer. »Sublim!« der Theaterdirektor Kameyer. »Einzig!« der Hofintendant Ermeyer. »Gott, wie schön, wie genial!« Der Doktor Omeyer.
»Eine ganz vortreffliche Idee,« rief der Kommerzienrat Bemeyer, »ganz vortrefflich, ganz vortrefflich, mir aus der Seele genommen! Erst übermalen und dann abkratzen, ganz vortrefflich!«
Die ganze Gesellschaft überströmte den Regierungsrat mit Lobsprüchen; alle waren extasiiert und freuten sich der geistreichen, glücklichen Lösung der so schwierigen Aufgabe.
»Keine Abstimmung!« rief der Assessor Demeyer, der besonders über den Vorschlag des Regierungsrats exaltiert schien, »keine Abstimmung, der Vorschlag wird durch Akklamation genehmigt!« »Jawohl, jawohl!« riefen alle. »Der trägt kein deutsches Herz im Busen,« rief Kommerzienrat Bemeyer, »der diesem Vorschlage nicht beistimmt!«
Hofrat Ameyer aber, in unerschütterlicher Würde, wie sie dem Präsidenten auch in den schwierigsten Verhältnissen geziemt, nahm von diesem Beifallsjubel keine offizielle Notiz, sondern sprach ruhig: »Meine Herren! Der Herr Regierungsrat Ixmeyer hat zur Beseitigung des Schmutzes einen Vorschlag gemacht, den Sie eben vernommen haben. Dieser Vorschlag hat, wie es beinahe scheint, Ihren Beifall gefunden, Widerspruch hat sich gegen denselben bislang nicht erhoben. Ich fordere diejenigen Mitglieder, welche etwas dagegen vorzubringen haben, auf, damit hervorzutreten.«
Alles schwieg; Ameyer fuhr fort: »So bringe ich denn diesen Vorschlag des Herrn Regierungsrat Ixmeyer zur Abstimmung und fordere die Herren, welche für denselben stimmen, auf, sich zu erheben.«
Die ganze Gesellschaft rauschte in die Höhe, Ixmeyers Vorschlag war einstimmig angenommen. Freude erfüllte alle Gemüter; die schwierige Aufgabe war gelöst, gelöst zur Zufriedenheit aller, gelöst in einem Augenblick, als man schon an der Möglichkeit der Lösung verzweifelte. Die Mitglieder drückten einander freudig die Hände; jeder wußte neue Vorzüge an dem Vorschlage, der nun Beschluß der Gesellschaft war, hervorzuheben, des Lobens und Preisens war kein Ende. Ixmeyer war ein großes, denkendes, administratives Talent, vielleicht der bedeutendste Staatsmann seines Jahrhunderts, würdig ein großes Land, z. B. England oder Frankreich, zu regieren. »Wenn das kein Bürgerlicher wäre,« sagte Kommerzienrat Bemeyer, »der Mann wäre längst Minister.« »Geheimer Regierungsrat wird er gewiß sehr bald,« sagte Steuerrat Cemeyer. »Das muß er schon dieses Vorschlages halber werden, von dem doch die Regierung durch ihn auch Kenntnis erhalten wird,« sagte der Hofbaumeister Jodmeyer.
»Welch ein Mann, welch ein Mann!« wimmerte voll Entzückung der Kammersekretär Temeyer. »Ich bewundere schweigend!« rief Assessor Demeyer.
Mit der Bescheidenheit eines großen Mannes schien Ixmeyer von diesen Lobeserhebungen wenig Notiz zu nehmen. Mit wahrhaft bezaubernder Freundlichkeit wandte er sich an den Senator Hameyer, der von seiner Ohnmacht noch immer etwas angegriffen zu sein schien, und fragte ihn, wie es ihm ginge? »Ich hoffe,« sagte Ixmeyer, »Sie befinden sich wieder ganz wohl, lieber Herr Senator!« Der Bewunderung der Gesellschaft entging auch dieser schöne Zug in Ixmeyers Benehmen nicht, und wie man eben seinen Geist gepriesen hatte, so lobte man nun sein Gemüt. Der alte Senator Hameyer aber dankte voll freudiger Rührung auf Ixmeyers Frage, und als dieser nun gar um die Erlaubnis bat, den noch Angegriffenen nach Hause zu geleiten, traten Tränen in Hameyers Augen und die Bewunderung der Gesellschaft erreichte ihren Gipfel.
So endigte diese Beratung nach Überwindung der größten Schwierigkeiten mit einer wahrhaft glücklichen Lösung der Frage zur reinsten, schönsten Freude aller. Der Venus geschah, wie Ixmeyer vorgeschlagen und die Gesellschaft beschlossen hatte. Nachdem die Operation glücklich vollendet norden, ward zur Feier der glücklichen Wiederherstellung der Venus ein solennes Diner des Kunstklubs beschlossen. Als der Präsident die Subskriptionsliste zu demselben unter den Mitgliedern des Klubs zirkulieren ließ, war er anfangs wegen des Advokaten Emeyer in einiger Verlegenheit, indessen schickte er nach reiflicher Überlegung auch diesem die Liste zu, hoffend jedoch, derselbe werde an dem Diner nicht teilnehmen. Diese Hoffnung wurde aber getäuscht, Emeyer unterschrieb und fand sich zur bestimmten Zeit ein.
Die Gesellschaft war sehr zahlreich in dem festlich geschmückten Klublokale versammelt. Man freute sich der Venus, deren Hinterseite wieder in der Weiße der Unschuld glänzte; ein Lorbeerkranz ( No. 25 des Inventars) schmückte dieselbe, kunstreich an einem Bande befestigt, das um den Leib der Statue geschlungen war. Die Gesellschaft hatte sich vollständiger als je eingefunden, nur Regierungsrat Ixmeyer, den jeder der Eintretenden zuerst gesucht hatte, fehlte noch; Advokat Emeyer dagegen war erschienen, stand aber einsam und verlassen in einer Fensternische; mehrere Mitglieder, mit denen er ein Gespräch anzuknüpfen versucht hatte, hatten sich scheu zurückgezogen. Endlich erschien Regierungsrat Ixmeyer. Alle drängten sich begrüßend ihm entgegen. Ixmeyer warf seine Augen suchend im Kreise der Versammelten umher, als fehle ihm jemand. Endlich erblickte er Emeyern und schien nun gefunden zu haben, was er suchte. Die Gesellschaft war in der peinlichsten Verlegenheit; sie mußte glauben, Emeyers Anblick sei dem hochverehrten Ixmeyer widerwärtig, und nun schien es doch kaum möglich, jenen mit guter Manier zu entfernen. Wie aber war die ganze Gesellschaft überrascht und verwundert, als Regierungsrat Ixmeyer, statt durch Emeyers Anblick verletzt zu sein, auf ihn zuging, ihm freundschaftlich die Hand druckte und einige Minuten lang sich eifrig mit ihm unterhielt. Wer vermochte dieses Rätsel zu lösen, über welches die Gesellschaft sich den Kopf zerbrach? Erst mehrere Tage nachher erfuhr Doktor Omeyer von dem Bedienten des Regierungsrats, mit dem er wegen Mitteilung von Neuigkeiten in Verbindung stand, daß Advokat Emeyer gleich am Tage nach jener Beratung über die Venus dem Regierungsrat einen Besuch gemacht und ihn von der Unsträflichkeit seiner politischen und sonstigen Gesinnungen überzeugt habe. Auch meinte der Bediente, daß Advokat Emeyer dem Regierungsrat ein Kapital verschafft habe, dessen dieser gerade benötigt gewesen; indessen hatte über diesen letzten Punkt der Bediente nichts Genaueres gewußt. Wenngleich nun diese Nachrichten das Benehmen des Regierungsrats gegen den Advokaten einigermaßen zu erklären vermocht hätten, so erfuhr die Gesellschaft dieselben doch erst später, und die Sache machte daher an jenem Tage und während des Diners den Mitgliedern des Klubs viel zu schaffen. Nachdem Regierungsrat Ixmeyer sich so freundschaftlich mit Advokat Emeyer unterhalten hatte, nahten sich auch die anderen Mitgliedern diesem wieder, ein jeder ging zu ihm heran und drückte ihm freundlich die Hand. Advokat Emeyer war über dieses freundliche Empressement, mit welchem seine Freunde, die sich noch eben scheu von ihm entfernt hatten, ihm jetzt sich nahten, auf das freudigste gerührt und ergriffen.
Das Diner selbst war sehr heiter und durch nichts gestört. Der zweite, vom Präsidenten Hofrat Ameyer ausgebrachte Toast galt dem Wiederhersteller der Venus, dem allverehrten Regierungsrat Ixmeyer. Ameyer sagte, er glaube nur dem Gefühle, welches alle beseele, Worte zu geben, wenn er diese Gesundheit ausbringe. Allgemeiner Jubel begleitete diesen Toast. Aber der Jubel steigerte sich noch, als Ixmeyer dankte und dann »das Wohlergehen und die fernere Blüte des Kunstklubs« ausbrachte.
Als nach Tisch die Stimmung der Gesellschaft einen vaterländischen Charakter angenommen hatte, nahm Senator Hameyer den Lorbeerkranz, der die Venus schmückte, von seinem Platze und setzte ihn auf Ixmeyers Haupt, was allgemeinen Beifall fand. Nach einer Weile nahm Regierungsrat Ixmeyer den Kranz von seinem Kopfe und setzte ihn dem Hofrat Ameyer, dem würdigen Präsidenten des Klubs, auf, was wiederum allgemeinen Beifall fand. Hofrat Ameyer setzte den Kranz darauf dem Kommerzienrat Bemeyer, dieser dem Steuerrat Cemeyer, dieser dem Assessor Demeyer auf, und so weiter und so weiter, unter immer erneuertem Beifall der Gesellschaft, bis der Kranz eines jeden Haupt geschmückt hatte.
Die Kunde von der Art und Weise, wie jene schwierige Aufgabe gelöst worden, und von den Verhandlungen und Beratungen, die dieserhalb im Kunstklub stattgefunden hatten, verbreitete sich bald in ganz Flachsenfingen, und mußte natürlich dazu beitragen, das hohe Ansehen, das der Kunstklub bereits genoß, noch bedeutend zu vermehren. Und so entfaltete sich dieser Klub zu immer schönerer Blüte, zu immer weiterer Anerkennung.