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Es liegt wohl an der Grausigkeit des Stoffes, daß das »Tagebuch aus dem Pestjahr« (Journal of the Grand Plague of London. -- London 1723), abgesehen von einer unauffindbaren Übersetzung aus dem 18. Jahrhundert, jetzt wohl zum erstenmal in deutscher Sprache erscheint. Wer es mit seinen, bis in die kleinsten und unbedeutendsten Einzelheiten gehenden Schilderungen durchgelesen hat, dürfte einigermaßen erstaunt sein, zu hören, daß es von einem 61jährigen Manne geschrieben wurde, der zurzeit der großen Pest 4 Jahre alt war, und daher aus eigener Anschauung nichts und vom Hörensagen kaum allzuviel über jenes Ereignis wissen konnte. Auch mit gründlichen Quellenstudien hat Defoe sich sicherlich nicht abgegeben. Das geht einmal aus der ungemeinen Flüchtigkeit bei der Abfassung des Werkes hervor, die in zahlreichen Widersprüchen und noch viel zahlreicheren oft wörtlichen Wiederholungen (die in der Übersetzung ein wenig beschnitten wurden) zutage tritt, dann aus dem Umstande, daß er im gleichen Jahre, außer einem religiösen Traktat und einer Gelegenheitsschrift, noch eine Kriminalgeschichte und zwei umfangreiche Romane veröffentlichte. Daß trotzdem in dem »Pestbuche« ein Werk entstehen konnte, das trotz Robinson von vielen für die beste Arbeit Defoes gehalten wird und selbst wohlunterrichtete Männer der Wissenschaft dazu verführte, in ihm eine historische Quelle für die damaligen Zustände zu sehen, erklärt sich aus der besonderen Natur von Defoes Schaffensweise. Er besaß, neben einer erstaunlichen Fruchtbarkeit, im allerhöchsten Maße die Gabe, die man »Wirklichkeitsphantasie« nennen könnte, d. h. die Fähigkeit, sich in eine erdichtete und bloß vorgestellte Umwelt ganz und gar hineinzuversetzen und so völlig in ihr aufzugehen, als ob er tatsächlich darin zu leben und sich ihr anzupassen hätte. Da er aber in allen möglichen Tätigkeiten sich versucht hatte und als überaus vielseitiger Journalist auf fast jedem Gebiete der öffentlichen Angelegenheiten zu Hause war, fand seine Phantasie immer Schranken und Anhaltspunkte an den ihm wohlvertrauten Umständen und Verhältnissen aller Seiten des menschlichen Lebens. Das behütete sie davor, ins Uferlose zu schweifen und gibt den vielleicht phantasievollsten Werken der Weltliteratur den Anschein einer fast grausamen Nüchternheit. Darum wird die einzigartige Begabung Defoes bei den Lesern nicht immer die ihr gebührende Wertschätzung finden, wer aber gerade das vorliegende Buch als bewußte Mystifikation mit ähnlichen Werken der neuesten Zeit vergleicht, möchte doch vielleicht das Urteil Walter Scotts nicht allzu übertrieben finden, daß Defoe, würde er auch den Robinson nicht geschrieben haben, für sein »Pesttagebuch« die Unsterblichkeit verdient hätte.
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