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Es war an einem Abend Ende Novembers. Töbing hatte wieder mit aller Macht der Überzeugung geredet, er hatte Anerkennung, Bewegung in allen Mienen gelesen und war jetzt den getreuen Seinen auf das Dach des Turmes gefolgt, um den Rückweg anzutreten. Als Freund der Soltaus hätte er auch auf dem gewöhnlichen Wege, durch das vordere Haus, kommen und gehen können. Allein es entsprach seinem Sinne, jede Möglichkeit einer Gefahr mit den Seinen zu teilen, und für sich keinerlei Bedenken zu kennen. Er ließ stets die andern voran gehen und folgte, Andreas die Hand reichend, als der letzte. Sie waren alle mit Knotenstöcken bewaffnet, Franz trug für alle Fälle einen Stoßdegen unter dem Mantel.
»Ihr habt euch heute verspätet, ich flehe dich an, geh!« sagte Andreas, wie immer voll banger Sorge. »Von welcher Seite kehrt heute die Streifwache zurück?«
»Kröger war wie immer unser Posten,« antwortete Töbing wohlgemut, »er hat mir gleich gemeldet, daß Stern vom Rotenthore aus, also zur Linken um die Stadt marschiert sei.«
»Natürlich geht ihr auch nach links.«
»Gewiß. Also auf übermorgen Abend mit den andern, wenn kein Schnee fällt, der könnte uns lange Zeit hindern.«
Andreas seufzte; heimlich wünschte er diese Verhinderung. Sie waren jetzt alle gegangen, nur Kröger stand noch neben ihm auf dem Turmdache. Manchmal zog der Bursche die Leiter in die Höhe und übersprang selbst mit keckem Satz den geringen Zwischenraum bis zum Wall, um dann bei der nächsten Zusammenkunft durchs Vorhaus zu Andreas zu gehen, was er, als Sterns Lehrling, ohne Aufsehen zu erregen thun konnte. Manchmal auch lief er selbst noch über die Leiter, schleppte diese mit fort und barg sie in einem Mauerwinkel bis zum nächsten Gebrauch.
Des Mondes letztes Viertel trat klar und lichtspendend aus den hastig ziehenden Wolken hervor, die von einem scharfen Ost dahin getrieben wurden, unten am Horizonte aber türmte sich eine schwarze Bank auf. Es war kalt und den besorgten Freund überlief ein Schauder. Doch vermochte er seinen Lauscherposten nicht eher zu verlassen, als bis er annehmen durfte, sie würden alle vom Wall hinunter und verteilt in den Straßen der Stadt in Sicherheit sein.
Schon atmete Andreas mit einem: »Gelobt sei Gott, er ist geborgen!« auf und wollte in sein Gemach zurückkehren, als das Geräusch eines fernen Tumultes an sein Ohr schlug.
Das mußte noch auf dem Walle sein. Geschrei, Stampfen, Waffenlärm wurden immer deutlicher, Andreas rang die Hände. Niklas Kröger sprang über die Leiter auf den Wall und stürzte davon. Der gequälte Andreas hielt es nicht länger in der Ungewißheit aus. Mühsam folgte er dem Behenden.
Jetzt entfernte sich das Getöse des Kampfes. Andreas sah, wie fliehende Gestalten die Walltreppe hinunter stürzten, wie die Söldnermasse folgte, wie einzelne miteinander rangen, wie sich der Knäuel unter wildem Geschrei in die Gasse hinab wälzte. Er hatte den forteilenden Burschen aus den Augen verloren. Heftige Windstöße trieben düsteres Gewölk über die Mondsichel, es war ganz finster geworden, aber der Angsterfüllte rannte, so gut es seine schwachen Glieder gestatteten, vorwärts.
Da, zwei Gestalten dicht vor ihm am Boden. Stöhnende Laute, einer, der sich bemühte, dem andern empor zu helfen.
»Faßt an, Meister Soltau, sie haben ihn erstochen,« jammerte Kröger.
»Großer Gott – mein Franz.«
Sie müheten sich beide mit verzweifelter Anstrengung. Eine wahre Todesangst hatte sie ergriffen, daß etliche der Stadtsoldaten zurückkehren und sich des Verwundeten bemächtigen könnten. Endlich gelang es, den fast Hilflosen aufzurichten und fortzuschaffen. Das heiße Blut, welches aus einer Brustwunde des Freundes über Andreas' kältestarren Hände rieselte, zeigte ihm die Ursache von Töbings Kraftlosigkeit.
Mit unsäglicher Mühe und Not gelang es endlich den beiden Getreuen, ihr Liebeswerk zu vollbringen, und Franz über Wall und Leiter in den Turm und aufs Bett zu schaffen. Hier öffnete Andreas des Freundes Wams und wusch ihm Stirn und Wunde.
»Ich laufe zum Bader,« sagte Niklas.
»Schicke meine Schwester mit Wein herauf.«
»Jetzt ist alles gleich, wenn wir ihn nur retten!«
Der Bursche verschwand. Bald darauf trat Seutemine ein, sie brachte den verlangten starken Wein, ihr freundliches Gesicht sah blaß und erschrocken aus. »Der treffliche Junker verwundet – wie furchtbar, Bruder! Ich hörte fernen Lärm – sollte David auch dabei gewesen sein?«
»Mein Franz ist vielleicht noch zu retten, gieb rasch!«
Beide Geschwister mühten sich, dem Bewußtlosen Wein einzuflößen. Als sie seinen Kopf hoben, sahen sie, daß er auch auf die Stirn einen Schlag erhalten hatte, der die nächste Ursache seiner jetzigen Besinnungslosigkeit sein mochte. Die junge Frau ging, noch Leinwand und Eis zu holen, das sich, wie sie wußte, in einem draußen stehenden Faß angesetzt hatte.
Der Kranke schlug endlich die Augen auf und kam allmählich zu sich. »Mein Treuer,« flüsterte er, »bei dir geborgen – sind die andern gefangen?«
»Ich weiß es nicht, Franz. Halte dich ruhig, mache dir keine Sorgen, es wird sich alles finden – es wird alles wieder gut werden.«
»Meinst du?« Die Hand des matt Daliegenden fuhr nach der Wunde.
»Wenn nur Kröger mit dem Bader käme,« sagte Andreas und lauschte an der Thür.
»Ist Niklas auch da? Mir ist, als hättet ihr beiden mich getragen.«
Ein paar bange Augenblicke vergingen, der Wind hatte sich stärker aufgemacht, heulte um den Turm, schüttelte die Fensterladen und dann fuhr ein prasselnder Hagelschauer herunter und schlug mit Gerappel gegen die Mauern.
Mine brachte das Verlangte. »Welch' ein Unwetter,« sagte sie, blickte sich scheu um und schrak zusammen, als harte Schritte die Treppe herauf kamen. »Sollte es David sein?«
Aller Augen richteten sich auf die Thür. Gevert Hitzacker, der rotgesichtige Feldscher, trat ein, Niklas folgte. »Hier soll's Not geben, sagt der Bursche,« rief die harte Stimme des Feldschers gegen das Getöse des Unwetters. »Dachte erst, mein Hauptmann könnte es sein. Liegen ihrer noch mehrere in der Rauferei zusammengeschlagen.« Er trat an das Lager. »Ihr, Junker Töbing? So wart Ihrs wieder mit der Brüderschaft und habt doch keine Ruhe gehalten? Dachte mirs gleich. Seid einer von den Rabiaten. Laßt sehen, was Ihr abgekriegt habt.«
Er untersuchte mit derben Griffen die Wunde; atemlos, bang klopfenden Herzens standen die drei und lauschten auf des Kundigen Ausspruch. Andreas hatte sich mit gefalteten Händen an das Bett gelehnt, seine Füße trugen ihn kaum.
»Das ist ja meines Hauptmanns zweischneidiger Stoßdegen gewesen,« sagte Gevert Hitzacker kopfnickend. »Na, wo der trifft, schrinnt es. Ihr seid ein Mann, Junker Töbing, und könnt die Wahrheit vertragen. Ich will Euch ein wenig das Blut stillen mit meinem berühmten Pflaster groen jenuensy. Schickt zum Pfaffen, wenn Ihr etwas von den Schwarzröcken haltet. Hier ist Matthäi am letzten; glaub's kaum, daß Ihr die Mitternacht überlebt.«
Die junge Frau hatte einen Schrei ausgestoßen und war in die Kniee gesunken, als sie gehört, daß dies ihres Mannes Werk sei. Andreas und Kröger stöhnten laut.
»Ich danke Euch, Feldscher, daß Ihr mir sagt, wie es steht,« hob der Verwundete mit schwacher Stimme an. »So geht und bringt Eure Hilfe solchen, denen zu helfen ist.«
»Ja, ja, gleich, erst noch das Pflaster, es ist probat, hält den Lebenssaft im Leibe zurück. Ich war auf dem Wege der Reitendendienergasse, wo sie die Unsrigen hingeschleppt haben. Da traf mich der Bursche und lockte mich hier hinter die rote Mauer. Na einem kann man zur Zeit nur was anthun. Gebt mir 'en Glas Wein, Soltau. Ich sehe, da steht er. Einem heilen Manne ist er dienlicher, als einem, der doch hingeht.«
Andreas Hand flog, als er einschenkte. Gevert nahm ihm die Flasche ab und setzte sie an den Mund.
»So, nun kann mans wieder mit der Kälte aufnehmen.« Er nickte und polterte, während Niklas leuchtete, die Turmstiege hinunter. Der Bursche kam zurück und hängte die Lampe wieder an den Nagel, von dem aus ihr Schein gerade auf das Bett fiel.
»O, Andreas, Andreas!« schluchzte das junge Weib, »wie konnte David dies thun?«
»Sei ruhig, Seutemine. Er oder ich. Wir waren im redlichen Kampf,« sprach Töbing, der sich zusammengefaßt und etwas gekräftigt zu haben schien. »Aber dies alles ist ja nichts, liegt hinter mir. Doch mein Werk – meine große Sache – o, verloren!« Bei diesen Worten fuhr er mit dem Oberleibe im Bette empor, Verzweiflung malte sich in seinen Zügen, er wollte die Hände ringen, kraftlos glitten sie auseinander, wie ohnmächtig lag er da. Plötzlich fuhr er wiederum empor, halb irre stierte er seinen Freund an, packte seine Hand und fragte: »Die Seele – wie wars? Wird sie wiederkommen – werde ich mein Werk vollenden?«
»O mein Franz – wenn ich dir doch den Trost geben könnte – wenn ich es doch sicher wüßte,« stammelte Andreas, den Freund umfassend.
»Wie oft hab' ich deiner Meinung über Leben und Sterben gelauscht. – Du hast Trost für mich. O sage mir noch einmal, wie du denkst!«
»Wohlan,« sprach Andreas, sich aus Liebe für den Scheidenden gewaltsam aufraffend, »so will ich dir sagen, woraus ich Trost schöpfe, und woran ich glaube.« Er atmete schwer und sah sich besorgt nach Mine um. »Ich denke, es ist besser, daß meine Schwester uns verläßt. Für ein Weib möchten solche Betrachtungen nicht dienlich sein.«
»Mag sie bleiben,« sagte Töbing matt, »es wäre mir ein Trost, wenn ihr reines Herz sich zu Gott im Gebet erheben wollte, daß der Gewaltige über uns mir den Wunsch erfüllen möchte, mit dem ich scheide.«
»Ich bleibe, Junker, und höre nicht auf das, was Ihr redet. Ich will für Euer Seelenheil beten, wie mich mein Christentum lehrt und zugleich um Vergebung für meines Mannes That.« Das junge Weib faltete die Hände, ein Ausdruck überirdischer Innigkeit lag auf den süßen lieblichen Zügen, sie bewegte die Lippen und manchmal drang der Flüsterton eines frommen Wortes wie Engelshauch durch den Raum.
Kröger hockte auf der Erde am Fußende des Bettes. Sein schmerzlich verzogenes Gesicht, sein starrer Blick waren auf des Meisters bleiches Antlitz gerichtet.
Andreas setzte sich auf den niedrigen Rand der Lagerstatt und nahm des Heißgeliebten schlaffe Hand in die seinige. »Wo soll ich anfangen?« stammelte er. »Jetzt wo ich nichts klar empfinde, als daß ich mit dir leide. Alle erklügelten, hoch gehaltenen Grundsätze gehen unter in der flutenden Empfindung. Doch du willst es. Ich kann nichts anderes für dich thun, so muß ich mich denn zwingen. Ja ich glaube an das stufenweise Aufwärtssteigen und Erzogenwerden der Menschenseele. Vielleicht muß sie nach dem Losreißen aus dieser Leibesgestalt, schwebend im All, erst mit neuem Gottesodem durchtränkt werden, bevor sie wieder zur Erde geboren wird. Hoffen wir, daß der glühende Trieb des Wesens zur That Gott in seiner Gnade bewegen kann, ihm rascher zu neuer Erdengestalt zu helfen, ihm rascheren Fortschritt zu gönnen als dem trägen müde gelebten Geschöpfe. Die mit vollem Thatendrange gerüstete und mitten aus freudigem Wirken hinweg gerufene Seele würde dann also ihr Ziel der höchsten Entwickelung früher erreichen, als jene ermattete. Natürlich kommt auf der zweiten Stufe jedem das zu gut, was er auf der früheren errungen hat. So wird deine Seele, in neuer Gestalt wiedergeboren, ein reicheres Geschöpf sein, als du bei deiner Geburt gewesen bist.«
»Wird meine Seele über Tod, Grab und Kindheitsdauer hinaus an dem Wollen festhalten, das mich jetzt mit ganzer Kraft durchdringt?« flüsterte der Erschöpfte.
Ein Zug bangen Zweifels ging über das begeisterte Gesicht des Verwachsenen. »Deine Seele wird ganz gewiß mit den eigensten Zügen deines Wesens ausgestattet bleiben. Sie wird eine Herrenseele sein. Thatkraft, Großmut, scharfer Blick und heißes Empfinden werden ihr nicht fehlen. Worauf sie aber ihre großen Eigenschaften verwendet, das wird darauf ankommen, wohin Gott sie stellet.«
Der Leidende stöhnte schmerzlich. »Betet für mich, Seutemine, daß Gott mich wieder hierher sendet« – flehte er.
Die junge Frau that es mit aller Inbrunst ihres kindlichen Herzens.
»Wirst du mich lieb behalten, Andreas? Soll mein Andenken zwischen euch fortleben? – O, meine Hete!« Fast ein Schrei war's, mit dem der Sterbende empor fuhr. »Sagt ihr – sie war mein – Liebstes auf der Welt. Alles Glück über sie! – Ich konnte – es ihr nicht geben. – Und – meine – Eltern. Ich verzeihe ihnen, was sie mir in ihrer Blindheit angethan. Ich lernte dadurch ein Höheres ergreifen – möchten auch sie mir vergeben.« –
»Ich will ihnen allen treulich ausrichten, was du gesprochen,« flüsterte Andreas unter Thränen.
»Möchte ein Besserer kommen, mein Werk zu vollbringen« – harte Anstrengung und Willenskraft lag in der fast gebrochenen Stimme des mit dem Tode Ringenden. »Ein Besserer – ein Glücklicherer – möchte meine Seele – in ihm erstehen –.« Er sank zurück. Die Hand zuckte nach der Brust, die Glieder streckten sich, ein kurzes Röcheln und der schöne, kräftige Mann war – eine Leiche.
Andreas warf sich in maßlosem Schmerz über den Freund. Dann fuhr er fast wild empor. »Ich muß mit ihm allein sein. Geht – geht.«
»Herr, lasse seine Seele hier unter uns wieder erstehen – Amen,« flüsterte Seutemine in nochmaliger Wiederholung. Dann erhob sie sich und verließ, von dem laut schluchzenden Kröger begleitet, das Sterbezimmer.
Unten im Vorderhause schlüpfte Niklas in die Küche, um bei Lotte zu klagen und zu weinen. Die junge Frau aber ging erfüllt von dumpfem Schmerz mit wankenden Knieen in das Wohnzimmer und setzte sich in Erwartung der Heimkehr ihres Mannes, vor welchem sie doch eine unbestimmte Furcht empfand, an den Tisch, auf dem neben der Lampe ihre hingeworfene Arbeit lag. Mine dachte aber nicht daran, dieselbe wieder aufzunehmen. Ihr sanftes, heiteres Gemüt war tief erschüttert. Sie weinte leise vor sich hin. Eine Flut von fremden, unverstandenen Gedanken, von schmerzlichen bitteren Empfindungen wogte in ihr.
Sie lauschte ängstlich hinaus. Nichts als der heulende Wind war zu hören. Laut schnob der Sturm ums Haus. Einzelne Stöße waren so stark, daß der Luftzug hier im geschlossenen Zimmer die Lampe flackern machte und ein kalter Odem die brennende Wange der Zitternden umflog. Die dürren Zweige des Gebüsches unter dem Seitenfenster schlugen und raschelten dagegen und pochten wie mit Geisterfingern an.
Gefühle von Verlassenheit und Grauen ließen Mine bei jedem Laut zusammenfahren. Sie dachte daran, in die Küche zur Magd zu flüchten, aber Lotte sang mit schriller Stimme ein Sterbelied, das von dem Stöhnen und Schluchzen des treuen Niklas kläglich begleitet wurde. Die Jammertöne schnitten der Lauschenden durch Mark und Bein, so daß sie sich noch mehr fürchtete, dorthin zu gehen als allein zu bleiben. Etwas wie ein Schwindel der Erschöpfung umfing sie, der schwere Kopf sank in die stützende Hand und sie lag, ohne es zu wissen, in den Banden eines Halbschlafes. Sie fühlte noch, wo sie war und litt unter dem, was sich begeben hatte. Von fern her mischten sich die Laute der Wirklichkeit in ihre Traumbilder. Ohne sich von ihrem Platze zu rühren, sah sie das vom Sturm gepeitschte Gewölk am matt erhellten Himmel dahin fahren, sah den blassen Mond gleich einem Kahn schaukeln und vor dem Winde durch Wellenberge schwanken, sah, wie schleierartige Wolkenfetzen sich loslösten und jetzt ihrem Dache zuflatterten. Der Windesatem, der an Thüren und Fenstern seufzte und stöhnte, blies seine Gesellen durch unscheinbare Spalten zu ihr herein. Menschenähnlich gestalteten sich die Dunstgewebe, die Schläferin glaubte weiße Arme winken, flatternde Tücher wehen zu sehen. Wie ein Reigen schlang sichs und stob es um sie her, nichts klar erkennbar – waren es gar nur welke Blätter, die raschelnd im Wirbelsturm umgetrieben wurden? Klagelaute, flehende Stimmen tönten dazwischen, sie klangen noch trauriger als der Magd einförmiges Sterbelied.
Da ein Luftgebilde, von erkennbarer Form. Es hob die durchsichtigen Hände, die Augen, welche sie oft strahlen gesehen, schienen zu weinen. Es war des Ermordeten Abbild, ähnlich wie er oben hingestreckt lag. Schmerzerfüllt blickte er sie an, fast so wie er sie angeschaut, als er gefleht, sie solle für ihn beten; aber bleich und erloschen alles an ihm, als gehe ein Schauer von Nebel und Regen vor ihm nieder.
Grenzenloses Erbarmen füllte die Seele der Träumenden. Ihr ganzes Wesen löste sich in warme, zärtliche Wonne auf.
Da plötzlich Zuwerfen der Hausthür, harte Schritte auf dem Flur, die Mine weckten und in die Wirklichkeit zurück rissen. Sie sah das düstere Zimmer, die trübe glühende Lampe; der tobende Sturm schien sich gelegt zu haben, auch in der Küche alles still. In ihr und um sie Frieden; dahinein wollte sich der polternde Kriegsknecht drängen mit der Klinge an seiner Seite, an welcher des Gemordeten Blut klebte?
Als David Stern hereintrat und sich näherte, fuhr das junge Weib schreckensbleich empor. Sie breitete wie zur Abwehr ihrem Manne die Hände entgegen und flüsterte; »Junker Töbing ist tot. Das hast du gethan!«
»Der Feldscher sagte es mir,« erwiderte David mit harter Stimme, wandte sich von seiner Frau ab und lehnte sich mit dem Rücken an den erkalteten Ofen. »Ich hatte es lange gemerkt,« fuhr der Hauptmann fort, »daß die Brüderschaft wieder im Gange sei. Wir konnten aber nicht heraus kriegen, wo sie zusammen kamen. Da meinte der alte Marten vom Gelen Turm, es husche oft reichlich viel Gesindel auf dem Walle. Es spüre sich auch andern Tages was im Grase. Ich drehe also auf dem Rundgange um und treffe richtig die Meute an der Roten-Thorstreppe. Natürlich kamen wir aneinander. Es hat von beiden Seiten Püffe und Hiebe gesetzt. Daß es dem Junker ans Leben ging, der allen Randal anstiftete, kann der Stadt nur recht sein.«
»Aber, Andreas – und die Eltern,« – schluchzte Mine.
Der lange Kriegsknecht wurde nachdenklich. David wußte nur zu gut, daß, trotz der Feindschaft des Junkers mit seinen Eltern, der Bürgermeister seinen Sohn heimlich in Schutz nahm und als nächste Behörde für die Söldlinge, ihm tausendfachen Ärger anthun konnte. Der erzürnte Vater würde ihm das Leben sauer machen. Wie sollte er mit dem gekränkten Freunde, seinem Schwager Andreas, unter einem Dache weiter leben? Wehrte seine sanfte, zärtliche Frau ihn nicht sogar von sich? Auch sein Bruder Johannes hatte mit dem Erschlagenen unter einer Decke gesteckt.
Trotz und Unmut bäumten sich wild in der unruhig begehrlichen Seele des Kriegsmannes auf. Wozu dies alles über sich ergehen lassen? Wozu diesen Menschen, die sich von ihm abwandten, Opfer bringen? In Dänemark konnte er alles erreichen, wonach ihm verlangte. Er wollte ja Weib und Kind nicht eigentlich im Stiche lassen; sein Vermögen blieb ihnen, und er gewann reichlich dazu; wie viele Kriegsleute lebten von ihren Weibern getrennt. Das Kind, welches sie haben würde, mochte Seutemine entschädigen. Wie, wann sollte er es thun? –
Ein Thor war er, wenn er länger aushielt, länger, als er mußte, Haß, Verdruß, Abwehr über sich ergehen ließ! Heute schrieb man den letzten November, bald schlug es Mitternacht. Bis zum andern Morgen, wo die Löhnung erfolgte, und er sich aufs neue für den nächsten Monat verpflichtete, war er ein freier Mann. Jeden Augenblick konnte er sein Roß nehmen und gen Kopenhagen aufbrechen, wohin, wie er wußte, Herzog Georg mit den Neuangeworbenen gezogen war. Was hinderte ihn, so zu handeln? Er hatte lange genug mit dem Gedanken gespielt. Auf zur That!
»Ich will nicht, Seutmine,« sagte er barsch,, »daß du weinst und mich anklagst. Du weißt, daß ich ungern hier aushalte. Macht ihr mir obenein Verdruß, so werf' ich den ganzen Plunder hier zum Kukuk.«
Sie sah ihn mit großen Augen erschrocken an. Ihr sanftes, thränenfeuchtes Gesicht begann zu erstarren. Sie hatte ihn nicht ganz begriffen, aber sie hatte gefühlt, daß er sich von ihr abwandte. »Du – willst gehen – willst mich jetzt verlassen?« kam es abgerissen von ihren Lippen.
»Wenn du es selbst sagst, wird es so sein.«
»David!« Staunen, Schreck und Schmerz lagen in dem Ton. Ihr Köpfchen sank wie eine geknickte Blume auf die Brust, sie legte die Hände auf den Tisch und das Gesicht hinein.
Wäre sie auf ihn zugeflogen, hätte ihn umfaßt, und gefleht, sie nicht zu verlassen, würde er, wie er meinte, sich wohl besonnen haben. So aber, da er sie ganz ergeben fand, was hielt ihn noch? Sie hatte ja ruhig ausgesprochen, als selbstverständlich angenommen, daß er gehen werde. Da sollte sie's auch haben!
Er schritt an der ganz Versunkenen vorüber zur Thür. Zögernd stand er und sah sich nach dem holden Weibe um, das sich, von allem Durchlittenen erstarrt, nicht rührte.
Da erklang plötzlich vom Turm der nahen Lambertikirche in tief hallenden Schlägen die Mitternachtsstunde. Der Dezember brach an; David Stern fühlte sich als freier Mann. Er reckte seine lange Gestalt noch höher, der Degen schlug klirrend an die Sporen, harten Schrittes verließ er Zimmer und Haus.
Fest gehalten vom Banne lähmenden Unvermögens, hatte Seutemine jeden Ton gehört, vielleicht sogar nachempfindend geahnt, was in ihm vorgegangen, sich aber nicht rühren können. Liebte sie wirklich diesen Mann noch, der sie so gleichmütig verlassen hatte? Sie wußte es nicht und wunderte sich, daß ihr Schmerz, ihn zu verlieren, nicht heißer sei. Ja, es lehnte sich diesen Abend eine Regung ihres verstörten Gefühls gegen ihn auf. Geh nur, flüsterte es still und lind in ihr, wir sind nicht liebearm und allein.
Als Seutemine sich endlich mühsam erhob, fühlte sie sich so unwohl, daß sie die in der Küche nickende Lotte erwecken und diese bitten mußte, ihr beizustehen. Auch Kröger saß noch schlaftrunken in der Ecke. Die verständige alte Magd schickte den Burschen mit einer Bestellung an Frau Anna Stein, dann brachte Lotte ihre junge Frau in die Kammer und zu Bett.
In kürzester Frist kam die Schwester mit einer Begleiterin gelaufen und verschwand mit dieser, nach einigen Fragen an die Magd, im Schlafzimmer.
Lotte überlegte. Der Hauptmann war nicht zu Hause, Herr Andreas oben im Turmzimmer bei dem toten Freunde; ob sie ihn abrief, damit er wisse, was unten vorging? Sie trug diesen Gedanken mehrere Stunden mit sich umher, endlich wurde der Anreiz, etwas Neues zu verkünden, mächtiger als das Grauen vor dem Toten und sie schlich mit ihrem Lämpchen in der Hand die Wendelstiege im Turm hinauf und klopfte an ihres Herrn Thür.
»Wer ist da – was wollt Ihr von mir?« fragte Andreas mit von Schluchzen gebrochener Stimme.
»Ich wollte Euch etwas ansagen, Meister Soltau.«
»Du bist's, Lotte; laß mich!«
»Kommt nur einmal an die Thürspalte.«
Er folgte lässigen, schleppenden Schrittes. Als sie ihm ein paar Worte zugeflüstert hatte, schien neues Leben in ihn zu kommen. Er eilte, so rasch er's vermochte, an ihr vorüber die Treppe hinunter.
So wie er die Wohnstube betrat, hörte er aus der Kammer das Schreien eines kleinen Kindes. Er faltete die Hände, wie angesichts eines Wunders. Aus der angelehnten Kammerthür trat ihm seine Schwester Anne freudig erregt entgegen: »Seutemine hat einen starken Jungen!«
»Gott sei gelobt,« antwortete Andreas mit zitternder Stimme. »Kann ich das Kind sehen?«
»Ich will es dir gleich holen.«
Frau Anne kam mit dem eben geborenen Würmchen herbei. Das Kind war in warme Windeln gehüllt und sah kaum mit dem handgroßen roten Gesichtchen daraus hervor. Es trug eine der kleinen Mützen, die Seutemine mit so vieler Liebe angefertigt hatte, etwas verschoben auf dem kahlen Kopfe.
»Wie klein,« sagte Andreas erschrocken.
»Viel größer als meine beiden Mädchen waren,« entgegnete die Frau.
Andreas kehrte wieder in sein Turmgemach zu dem toten Freunde zurück, aber der schier verzweifelte Jammer war von ihm gewichen. Er trat noch öfter zu der Leiche heran und blickte den schönen kräftigen Körper des Dahingeschiedenen an. Es kam ihm vor, als sei ein Fruchtbaum in voller Blüte gefällt, und er fühlte die Thräne schmerzvoller Traurigkeit, innigen Bedauerns sich ins Auge steigen. Sein Herz – das wankelmütige, immer frisch hoffende Menschenherz, das Andreas selbst unmutigen Sinnes also schalt – fand Trost in dem jungen Wesen, das da eben zum Dasein geboren war. Er staunte, daß er gleich so sehr daran hängen konnte. Wie ein Wunder empfand er dies große Liebesgefühl für das winzige Geschöpf. Aber die Zuneigung war da, war mit dem Kinde geboren. Er ging manchmal an die Thür, öffnete sie und lauschte hinunter, ob er einen Ton dieser kleinen Menschenstimme, die ihm gleich so warm ans Herz gedrungen war, vernehmen könne.
Sein innerstes Empfinden schien geteilt und abgezogen; das Leben sah ihn nicht mehr liebeleer, trostlos und öde an.
Welche Fülle von Gedanken über Sterben und Geboren werden, über den urewigen Kreislauf des Lebens und die Wunder desselben die in ihrer Wiederholung nicht mehr das Staunen erwecken, welches sie verdienen – bedrängten in dieser ereignisreichen Nacht die Seele des Einsamen. Wollte er sich, vernichtet von der Majestät des Todes, dessen Odem, er um sich spürte, niederwerfen, vergehend im trostlosen Gefühl der Nichtigkeit alles Irdischen, so richtete ihn ein Gedanke an die gewaltige Gottesmacht, die das junge Leben schuf, welches sich im Hause regte, an die unsägliche Gnade dieses Geschenkes, zum Hoffen und Lieben, dieses Trägers einer unsterblichen Seele wieder zu dem Bewußtsein eines Kindes Gottes auf, das in hoher Obhut nicht klagen darf, sondern anbeten muß. Anbeten und danken, daß ein neues Geschöpf dem Kreislauf der göttlichen Wunderthaten eingefügt wurde und sich durchringen kann zu ihm, dem Höchsten, in dessen Schoß es sich, am Ziel aller Stufen, werfen wird, ausgehend im urewigen Licht.
Hätte Andreas gewußt, daß er bestimmt sei, dem Kinde Seuteminens den Vater zu ersetzen, würde er noch mutiger der Zukunft entgegen gesehen haben.