Max Dauthendey
Raubmenschen
Max Dauthendey

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V. Die Ozeanwelle

Mein Zug raste bergab, siebentausend Fuß von der Hochebene der Stadt Mexiko hinunter an die Küste.

An den Stationen, wo die Indianer und Indianerinnen in rote Wollendecken eingewickelt saßen und ihre Zigaretten rauchten und Sommer wie Winter die mächtigen, hohen, breitrandigen Strohhüte trugen, nahm ich Abschied von den schönen stillen Augen dieser an der Erde kauernden genügsamen und lautlosen Menschen, die sanften Waldrehen gleichen und lautlos hinwandernden leichten Gazellen ähnlich sind und mit den großen stummen Augen den Europäern nachsehen, die ihr Land aufgeteilt haben.

Der Zug durchrasselte wieder die vielen Tunnels wie auf der Herreise, aber so wie die Bergabfahrt schneller vonstatten ging als das Hinaufklettern auf die Hochebene, so trennte sich mein Herz auch leichter und flog nach Osten, befreit, dem alten Europa entgegen.

Jetzt werden bald nicht mehr alle Europäer schlafen, wenn ich aufwache, dachte ich; und ich werde nicht immer zu Bett gehen, wenn Europa aufsteht; ich werde auch bald nicht mehr bloß zu Bett gehen, um zu wachen, sondern werde über dem Meer drüben den Schlaf ohne Moskitos wiederfinden, den heiligen Nachtschlaf, den ich seit Monaten nicht mehr empfing.

Ich erkannte die Gegenden, die ich durchfuhr, nicht wieder; denn damals, als ich in Orlas lebhafter Gesellschaft mit dem Abbé und mit dem jungen Astronomenehepaar hier vorbeigereist war, da hatten die Bäume und die Berge die Geste von großzügigen Seelen gehabt, die den Himmelsraum ausfüllen möchten und Sehnsucht nach Abenteuern und Sehnsucht nach unerreichbaren Glückszuständen haben. Jetzt standen Bäume und Berge an der gleichen Stelle, mit der gleichen Geste; aber ich fühlte nicht mehr den Schwung der Sehnsucht in allen Linien dieser Weltlandschaft; ich war allein da, und die Urwälder draußen mit dem graublauen Unterholz und den fächerartig darüber ausgebreiteten Baumriesen, deren Astwerk gleich den Stockwerken und den Gerüsten fabelhafter Waldhäuser sich über die Buschlandschaft erhob –, diese Blätterriesen und die Berggefälle dahinter, an deren Schluchten der Eisenbahnzug entlang bergab fuhr, standen nur wie die leeren Kulissenmalereien einer Bühne da, die nicht mehr von den Geheimnissen eines Dramas belebt werden, die Fenster des Zuges zogen wie an einer Kulissenwelt vorbei, die leer stand, in die das Tageslicht starrte, und die auf ein neues Stück wartete.

Ich war allein wie nie vorher im Leben. Und ich war nur glücklich, wenn ich hinaussah und bemerkte, wie rasend der Zug bergab eilte, und wie schnell der Schauplatz der letzten Monate zurückblieb. Es war, als wollte mir diese eiserne göttliche Maschine des Zuges wie ein guter europäischer Freund helfen, alles Unglück schnell zu vergessen.

Und wenn ich nicht gewußt hätte, daß drüben im Osten, über dem Atlant, mich ein großer Weltteil erwartete, voll Menschen, die mir gut waren, die meine Kräfte anzogen, die mir Hoffnungen und Zukunftsgedanken gaben, wenn ich nicht Europa wie einen Riesenmagneten gefühlt hätte, einen Magneten, der jetzt den Eisenbahnzug nach Osten zog und später das Dampfschiff über das Meer zu sich lenken würde, dann wäre ich gern in einen der Abgründe im Urwald hinabgesprungen, hätte mich an Felsen und Baumstämmen zerschmettert, nur um zu den Toten zu kommen, die mit mir reisten, und die ich doch nicht ganz als ein Spielzeug ansehen konnte, so wie die Indianer es auf dem Totenmarkt von Mexiko konnten.

Am nächsten Morgen kam ich nach Vera Cruz.

Ehe ich aufs Schiff ging, schlenderte ich noch durch die Straßen der Stadt, und mein Weg führte mich an einer Kirche vorbei. Die Kirchentür stand offen, und eine Sehnsucht nach Stille, Frömmigkeit und nach vereinfachten Lebensgesetzen trieb mich aus der Straße, darin die Aasgeier wie Sperlinge umherflogen und die Gossen nach Fieberdünsten stanken, in das Kircheninnere. Ich staunte: drinnen hing nicht Christus, nicht der weißhäutige europäische Gottessohn, sondern ein Indianer, eine Rothaut, am Kreuz. Das Riesenkreuz hing frei über dem Hauptaltar, daran der Indianer geschlagen war, mit schwarzem, schlichtem Haar, mit rotbrauner Haut, den bunten Federschutz um die Lenden. Das machte mir klar, wie gräßlich der Anblick war, an den wir unsere Kinder und uns von Jugend an gewöhnt hatten, so daß wir kaum noch sehen, daß wir zu einer Hinrichtung aufschauen; zum erstenmal, da ich an Stelle des weißen Mannes eine unschuldige sanfte Rothaut mit durchnagelten Füßen und Händen und blutender Hüftwunde aufgerichtet am Kreuz hängen sah, erfüllte mich Schrecken und Grauen vor den Schmerzen eines Gekreuzigten. Unwillkürlich mußte ich an die Tempel der Griechen denken, wo einst die Statue eines lebenbetätigenden Gottes im Allerheiligsten dem Beschauer Mut und Lebensfreude gab. Mir Verzweifeltem gab der Anblick des Hingerichteten und Gekreuzigten nur die Bestätigung, daß der Lebende einer Fülle von Irrtümern preisgegeben ist, die ihm das Dasein aufnötigt. Die Juden, die Christus ans Kreuz schlugen, irrten sich so, wie hundertmal Gericht und Menschenwissen sich irrten. Wo aber war das zum Lebensglück erhebende Symbol? Die Madonna mit dem Christkind konnte mich wiederum nur in Trauer versetzen, denn ich hatte ein unschuldiges Kind vor mir, das man einst, wenn es erwachsen wäre, hinrichten würde, und diese Mutter, die das Kind im Arm trug, müßte tausend Schmerzen um ihr Kind ausstehen. Ich sehnte mich nach Lebensfreude, nach Lebensbetätigung, nach Lebensfrieden und erkannte nur die Weltirrtümer der Menschen, die einen frommen und guten Mann, der sich Gottes Sohn nannte, quälten und ihn ermordeten, und die dann mehr als tausend Jahre lang zu dem Gemordeten aufschauten. Der Mißgriff der Welt, daß die Menschen Mörder am Göttlichen werden, stand hier vor mir, hier, wo ich Trost für den Irrtum der Mörder suchte. Orla war ermordet worden, die Geliebte meines Herzens, und ich fand keinen Gott und keinen Gottesbegriff in der Kirche, der mir nach den Schmerzen eine neue Liebe und neue Lebensfreude auf dieser Welt versprochen hätte. Wäre ich aber in einen griechischen Tempel eingetreten, so würden mir die unendlichen Freuden der unendlich glücklichen Götter vielleicht Hoffnung auf ein sich verlohnendes Weiterleben eingeflößt haben, so wie gute Freunde, die mit Musik und Freude einem die Sorgen vertreiben möchten.

Trauriger, als ich eingetreten war, verließ ich das Haus des gekreuzigten Indianers. Ich mußte immer an die neunzehn zur Hinrichtung verurteilten Polizisten in Mexiko denken, an Mord und Totschlag auf der ganzen Welt; denn seit Christus bis heute war die Welt, nach tausendneunhundert Jahren des Kreuzes, nicht anders geworden, nicht weniger mordlustig als am Hinrichtungstag auf Golgatha. Was nützt es dann, das Traurige anzubeten, wenn dieses die Welt so wenig ändern konnte wie die fröhlichen Heidengötter des Olymps? Wenn ich zwischen dem Anblick eines Hingerichteten und dem Anblick einer Venus, eines Zeus oder eines Baldur, einer Freia, eines Wodan zu wählen hätte, so würde ich, wenn ich Gemütserfrischung und Lebensbestärkung brauchte, lieber der Statue eines lebenskräftigen Gottweibes oder eines lebensstarken Gottmannes mein Leid vorgetragen haben und hätte aus der unverwüstlichern Kraft eines edlen Frauenkörpers oder einer edlen Männergestalt mehr Widerstandsmut geschöpft als jetzt, wo mein Hirn müde von Mördern, Gemordeten und Hingerichteten war und mein Auge zu einem von Menschen verquälten gekreuzigten Menschenkörper aufschauen sollte. Meine Trostlosigkeit wurde noch schwerer. Ich fühlte mich nun auch von allen Gottesgedanken der Welt allein gelassen, ich fand nicht mehr zu dem Gottesbegriff meiner Jugendjahre zurück.

Die Geliebte tot und ermordet; und vor der Kirche auf den Gossen von Vera Cruz huschten die schwarzen riesigen Aasgeier herum wie eine Springprozession verkappter Heuchler und Mörder, wie das Menschengeschlecht, das sich in Aasgeier verwandelt hätte und in schwarzen Federröcken um die Kirche her hockte und nichts vom Leben sähe als die schmutzigen Abfälle, die in den Gassengossen daherschwammen.

Kein Mensch war in den Straßen, nur die sich um Lumpen und Knochen zankenden menschengroßen Aasgeier, die um sich schlugen und die Luft bis in die Kirche hinein mit Hungergezänk erfüllten.

Noch einen Abend verbrachte ich am Land, denn das Schiff verschob seine Abfahrt, und ich wohnte indessen in dem französischen Hotel, wo ich bei der Ankunft vor mehreren Monaten das Mittagessen mit dem Astronomenpaar eingenommen, und wo die junge Frau damals in ihrem Zimmer entdeckt hatte, daß ihre Violine von den roten Ameisen zerstört worden war. Ich hörte noch im Geist durch das Türbrett ihr Schluchzen wie damals, während ihr Mann mir das Unglück mitteilte.

Nein, in diesem Lande hatte die junge Frau wahrscheinlich keine Apollohymne spielen können, hier hatte sie sicher niemals Ruhe und Muße zu einem Violinspiel gefunden, wie sie es in Europa gewohnt gewesen war.

Am Abend spielte auf der kleinen Plaza von Vera Cruz eine Militärkapelle, und die Frauen gingen unter den Kokospalmen in weißen Kleidern und mit weißen Schleiern wie im Hochsommer, und niemand dachte in der lauen Mondnacht daran, daß es November war.

Am nächsten Morgen wurde mir mitgeteilt, daß ich eiligst aufs Schiff kommen solle, es rüste sich zur Abreise.

Ich verließ gern das von Aasgeiern wimmelnde Vera Cruz, und als ich auf das Schiff fuhr, denn es lag draußen im Meer verankert, und ein Kahn fuhr mich mit meinen Koffern an Bord, da fragte ich unterwegs den rudernden Matrosen, wie viele Passagiere an Bord seine. Ich hatte vorher mit Absicht keine Erkundigungen eingezogen, um mir nicht sagen zu müssen, daß ich nur mit dem Schiff führe, weil vielleicht auch die blonde Dame darauf reiste; ich wollte alles auf Glück und Zufall ankommen lassen.

»Es sind keine Passagiere außer Ihrer Frau dort, mein Herr«, sagte der englische Matrose auf englisch.

»Außer meiner Frau?« fragte ich.

»Jawohl, mein Herr, sonst niemand!« antwortete der Mann und sah nicht von seinen Rudern auf; da der Seegang am Dock heftig war, mußte er sorglich auf die Brandung achten.

Was heißt das? dachte ich bei mir.

»Wann ist denn meine Frau an Bord gekommen?« fragte ich und vermied es zu lächeln.

»Vor einer Stunde. Ich habe sie eben erst zum Schiff gerudert«, rief der Matrose zurück. »Jawohl, mein Herr!«

Ich schwieg und überlegte, was das zu bedeuten habe, und fragte nichts mehr. Der Matrose war natürlich in dem guten Glauben, daß ich zu jener Dame gehöre, die er herübergerudert hatte.

»Ich habe eine Kabine erster Klasse vorausbestellt«, sagte ich zu dem Steward, der mich oben an der Schiffstreppe empfing.

»Jawohl, mein Herr«, sagte er und führte mich durch das leere Schiff, hinunter durch den Salon in den Kabinenkorridor. In einer offenen Kabinentür sah ich da die blonde Astronomenfrau in schwarzem Trauerkleid sitzen. Sie hatte die Augen geschlossen, sie war totenblaß, lehnte mit dem Kopf an dem Türpfosten und rührte sich nicht.

»Oh,« sagte der Steward erschrocken, »die Dame – ich glaube, der Dame ist nicht wohl – die gnädige Frau – sie scheint ohnmächtig zu sein!« –

Die junge Dame saß auf einem Koffer, als wäre sie tot; ihre Hände waren eiskalt. Der Steward sprang schnell fort und holte vom Büfett des Eßsaales nebenan Whisky, um ihr die Schlafen und Lippen zu benetzen. Er träufelte Whisky auf eine Serviette und hielt diese ihr an die Stirn. Ich stützte inzwischen ihren Oberkörper, damit sie nicht vom Koffer glitte. Inzwischen kamen Matrosen mit meinen Koffern polternd vom Deck herunter, um mein Gepäck in dieselbe Kabine zu stellen.

»Steward, sagen Sie doch zu diesen Leuten, daß ich nicht hier in dieser Kabine wohne, man hält mich für den Mann der Dame.«

Der Steward dirigierte die Matrosen mit meinen Koffern in eine Kabine nebenan, und in dieser Zeit schlug die Ohnmächtige wieder die Augen auf. Ich dachte sofort: Nun wird sie sich zu Tode erschrecken, wenn sie mich so plötzlich, wie aus allen Himmeln gefallen, neben sich sieht! Sie aber sah kaum auf. Sie war so schwach, daß sie nichts zu erkennen schien.

»Luft, ich ersticke, Luft!« sagte sie schwach und wurde dann wieder ohnmächtig.

Der Steward kam zurück, öffnete das runde Kajütenfenster und sprang fort und brachten einen Palmenfächer. Ich riß eine Decke vom Bett und wehte der Ohnmächtigen Luft zu.

»Eis!« rief der Steward einem neugierigen Schiffsjungen nach, der im schmalen Schiffskorridor draußen vorüberging. »Eis, schnell, lauf und hole vom Koch Eis aus dem Eisschrank, lauf, die Dame stirbt, wenn du dich nicht eilst.« Wir beide wehten indessen Luft mit dem Tuch und dem Fächer aus Leibeskräften. »Es ist zu dumpf hier unten in dem stillstehenden Schiffskasten,« sagte der Steward leise und besorgt, »die Dame scheint herzschwach zu sein, ich habe sie eben noch gesprochen, da zitterte sie schon und war sehr blaß. Wenn sie sich nur auf der langen Seereise aufrecht erhalten kann. Sie hätte besser getan, sie wäre über Nordamerika mit der Bahn gefahren, das wäre schneller und einfacher gewesen. – Aber vielleicht hat sie die lange Seefahrt gewählt, um sich an der Meerluft zu stärken; aber wenn man so schwach ist wie sie, und wenn dann gar unterwegs Sturm käme, könnte es ihr schlimm gehen.« Der Steward sprach das schnell und flüsternd.

Dann trugen wir die Dame vom Koffer auf das Bett und legten ihr einen Eisumschlag auf die Stirn.

»Wir dürfen uns nicht genieren und müssen der Dame das Kleid aufknöpfen,« sagte der Steward, »sie kann vielleicht ersticken, wenn wir ihr die Kleider nicht öffnen.«

»Ich kenne die Dame schon von der Herreise,« sagte ich zum Steward, »ich werde ihr das Kleid öffnen, gehen Sie inzwischen, und holen Sie eine Zitronenlimonade.«

»Sie kennen sie schon?« sagte der Steward und sah mich verblüfft an, als könnte ich doch vielleicht heimlich der Mann oder der Geliebte dieser Dame sein und wolle nur unerkannt bleiben.

Er ging dann rasch und murmelte: »Goddam!«

Ich fühlte mich in der kleinen Kabine, deren schneeweiße, lackierte Wände frisch, sauber und anheimelnd leuchteten und von einem Silbernetz aus Wellenreflexen überrieselt wurden, heimisch und behaglich, als ich neben der schwarz gekleideten Frau stand, die leise atmend in den Kissen lag und die Augen geschlossen hielt, und deren Hand ich nicht loslassen wollte, fürchtend, ich könnte sie erschrecken, wenn ich an die Knöpfe ihres Kleides rührte.

Ich hatte bemerkt, daß sie, seit sie der Eisumschlag auf der Stirn kühlte, wieder eine rosige Gesichtsfarbe bekam, und daß die erschreckende Todesblässe sich verloren hatte.

Unter der weißen Leinwand der Eiskompresse lag ihr gelbes Goldhaar naß, vom Eiswasser an die Schläfen geklebt, und legte sich in schönen, langen Goldlinien ein wenig unordentlich über ihr Ohr und das weiße Kopfkissen. Die weißen Wände der Kabine, die weißen Kissen und das weißen Sonnenlicht draußen vor dem runden Fenster gaben mir die Vorstellung, es läge die junge Frau in einer Schneelawine, und sie hätte, in den Schnee versunken, monatelang hier gelegen, und nun erst hätte die Sonne den Schnee so weit geschmolzen, daß ich sie wiederfinden konnte wie eine Schneeglockenblume im Februar in einer aufgetauten Grube. Und wie diese Blüten einen feinen, frischen Honiggeruch haben, so erinnerte mich ihr goldgelbes Haar an Honig und leuchtete in der kleinen weißen Kabine wie Honigtropfen in einer Wachswabe. Der Meerglanz draußen griff mit seinen silbernen Lichtnetzen herein und streichelte die still atmende junge Frau und kam über die Wände der Kabinen wie ein Lichtregen auf sie herab und überrieselte das ganze Gemach, als wären die Wände voll von erregtem Zittern und Vibrieren und wären so erregt wie mein Auge und mein Herz und mein Blut, die der stillen, regungslosen, schwachen Frau huldigen mußten und glücklich waren, daß ich die Hand einer Frau halten durfte, die auch eine Fremde in diesem fremden Lande war, und die wie ich sich nach Europa zurücksehnte.

Der Steward kam leise mit der Limonade. Er sah mich fragend an und wunderte sich, daß ich der Dame nicht die Kleider geöffnet hatte. Dann sagte er:

»Sie sieht besser aus. Sie scheint eingeschlafen zu sein.«

Ich legte die Hand der Schlafenden auf den Rand des Bettes. Dann stand ich auf und sagte dem Steward, daß es besser wäre, wenn wir die Dame allein ließen. Sie könnte sonst beim Erwachen erschrecken. Es schien auch keine Gefahr mehr für sie vorhanden zu sein, sie hatte wieder eine natürliche Gesichtsfarbe und atmete friedlich.

Wir gingen dann und ließen die Türe halb offen, um den Luftzug in der heißen Kabine nicht zu unterbrechen.

Dann ordnete ich meine Koffer und ging umher, um das Schiff zu betrachten.

»Wir reisen nicht vor morgen,« hatte der Steward gesagt, »der Kapitän ist noch am Land und holt die Schiffspapiere vom Schiffsbureau. Er hat es eben sagen lassen, daß wir erst morgen die Anker lichten werden.«

Der Speisesaal des Schiffes war an den Wänden mit weißen Marmorplatten belegt, auf denen goldene Lorbeerzweige eingegraben waren. Rote Teppiche, rote Sofas und rote Fenstergardinen machten den Raum zu einem kleinen Festsaal.

Das Schiff war vornehm und freundlich wie eine Privatjacht ausgestattet, und ich dachte mir: in dieser freundlichen sonnigen Meeresstille wirst du schöne liebenswürdige Stunden verleben; das Wasser wird die Schrecken der letzten Monate sanft einwiegen, und die junge Frau und ich, wir beide werden wie in einem Kurhaus in diesem kleinen sauberen Meerschloß wohnen, das mit seinen weißen kleinen Korridoren, den weißen Kabinen und dem weißen Marmorsaal voller Sonnenschein ein recht nervenberuhigender, lauschiger und beinah lachender Aufenthalt sein wird.

Ich hätte nicht zu fürchten, daß noch mehr Passagiere kämen, sagte der Steward lächelnd zu mir, denn die meisten hätten erfahren, daß das Schiff seine erste Fahrt nach Westindien gemacht habe, und wollten sich nicht gern dem kleinen neuen Schiff anvertrauen. Zumal, da das Schiff nicht ganz neu ist, fügte der redselige Steward bei. Das Schiff sei früher schon zehn Jahre von England nach Australien gegangen. Es habe jetzt in Dublin im Dock gelegen, sei neu hergerichtet worden und dann zur Fahrt nach Westindien von der Schiffsgesellschaft » Prince Line«, der es gehörte, beordert worden. Es hieß: » The spanish Prince«.

Zum erstenmal seit Monaten atmete ich wieder etwas von europäischer Sicherheit ein, als ich dem englisch sprechenden Steward zuhörte, der vor drei Wochen erst aus Europa gekommen war und mir beinah Respekt einflößte, als wenn er mehr Europäer wäre als ich, und als ob ich mich gegen ihn beinah schon als Mexikaner fühlen müßte, da ich seit Monaten den Heimatkontinent aus den Augen verloren hatte.

Der Mann freute sich am schönen Wetter und an der Sonne in Westindien und sagte, daß in Europa ein sehr schlechter kalter Herbst schon vor vier Wochen gewesen sei.

Ich erstaunte, daß man vom Wetter sprach, denn mit Ausnahme der Stunden des Tropenregens in den Sommermonaten herrschte hier doch immer ein selig blauer Himmel, und ich hatte es ganz verlernt, vom Wetter zu sprechen oder nach dem Wetter zu fragen, sowenig wie ich mich um den Kreislauf meines Blutes befragte, der immer, ohne mich zu fragen, gleichmäßig zum Herzen und vom Herzen strömt.

Aber gern wollte ich wieder in das launische, unbestimmte Europawetter kommen, wenn ich dadurch dem viel fürchterlicheren launischen Schicksalswechsel und Seelenwetter entging, das hier unterm blauen mexikanischen Himmel mich täglich mehr als aller Wetterwechsel von Europa geplagt und verfolgt hatte.

Mir war, als hätte das Schiff, seit ich wußte, daß in einer der Kabinen jene trauernde Frau schlief, ein warmes Herz bekommen. Das Schiff war mir jetzt wie ein großer, lebender, guter Körper, der sich um mich kümmerte und mich vorsichtig und sicher über den Atlant transportieren würde wie ein treues Pferd.

Bei dieser Betrachtung fiel mir ein, daß ich in all der Aufregung der letzten drei Wochen mein Pferd »Stella« im Reitstall vergessen hatte; ich hatte es nicht verkauft, es stand noch dort und wartete, daß ich darauf ausreiten sollte. Ich fühlte jetzt erst, daß ich nach meiner tiefen Krankheit doch noch nicht allen Sinn für die Gegenwart zurückgewonnen hatte, und ließ mich schleunigst wieder nach Vera Cruz rudern, um wegen des Pferdes nach Mexiko zu telegraphieren und im Rennstall wenigstens meine Abreise mitzuteilen.

Neben dem Stadthause von Vera Cruz war die Post, ich schickte das Telegramm ab; aber als ich wieder auf die Straße treten wollte, stellte sich ein Mann neben mir auf und deutete mit dem Finger auf die Plaza.

Ich sah dort einen kleineren Trupp Soldaten. Ich begriff nicht, was der Mexikaner meinte, der da mit einem Brief in der Hand nicht in das Posthaus trat, sondern auf die Soldaten deutete.

»Warten Sie nur, Sie werden etwas erleben!« sagte der Mann rasch, als ich weitergehen wollte.

Ich begriff nicht, warum mich der Trupp Soldaten, die einen Gefangenen in ihrer Mitte führten, interessieren sollte. Jetzt schwenkte das Militär an einer Ecke in die Seitengasse.

»Warten Sie nur, jetzt gleich geschieht etwas!« rief eifrig und hastig der eigentümliche Mann neben mir und hielt mich am Arm fest.

Ich sah in demselben Augenblick einen Menschen in Sträflingskleidern aus der Gasse herausstürzen, in welche die Soldaten eingebogen waren.

Ich hörte dann einen militärischen Zuruf aus der Ferne über die Häuser herüber, dann das Krachen einer Salve. Der fliehende Sträfling machte zwei Sätze in der Luft, fiel wie umgeblasen platt vorwärts, rührte kein Glied und lag still und flach an der Ecke des Platzes wie ein umgefallenes Brett.

»Er sollte zum Tode verurteilt werden. Aber man sagte ihm heimlich, in jener Gasse dürfe er davonlaufen, man würde ihn entkommen lassen; kaum lief jedoch der arme Teufel, so haben sie ihn erschossen. Das sollen Sie in Europa erzählen, mein Herr, wenn Sie hinüberkommen. Ich bin nämlich der Mechaniker des Schiffes, mit dem Sie reisen. Ich sah, daß einer unserer Matrosen Sie von Bord herüberruderte, und dachte mir, es müsse Sie auch einmal interessieren zu sehen, wie der Präsident hier in Mexiko es versteht, dem Unterschreiben von Todesurteilen zu entgehen. So geschieht es oft. Ich habe an dieser Posttür schon viermal solche Exekution beobachtet. Und gestern abend hat es mir der Wachtoffizier im Hotel beim Abendessen mitgeteilt. ›Morgen wird wieder öffentlich hingerichtet ohne Todesurteil!‹ sagte er. ›Wenn Sie es sehen wollen, gehen Sie nur um die Mittagstunde zur Post!‹ Man tut bei der Überführung des Gefangenen vom Gefängnis zur Bahn, als wolle man ihn los sein, und sagt ihm auch: ›Der Präsident will kein Todesurteil fällen; darum laufen Sie nur, wenn wir an der Plaza um die Ecke biegen!‹ Läuft der Arme dann, so befiehlt der begleitende Offizier den Soldaten, nach dem Flüchtling zu feuern. So kommt es, daß der Präsident bisher nie ein Todesurteil unterschrieben hat.«

Inzwischen hatten sich die Soldaten um den Toten gruppiert und warteten auf der Plaza, bis man eine Bahre brachte.

»Sehen Sie nur: die Aasgeier auf den Dächern sind hier schon an die öffentlichen Salven auf Menschen gewähnt. Sie sind alle auf den Dächern in langen Reihen sitzengeblieben. Sie haben das schon öfters gesehen als ich,« lachte der Mechaniker höhnisch, »Raubtiere und Raubmenschen – wo ist da eigentlich ein Unterschied? Alles lebt von der Gewohnheit, Tier und Mensch sind dasselbe«, so schloß der einfache Mann in der blauen Schiffsjacke. Dann grüßte er und ging.

»Dieses war die Abschiedssalve Mexikos für mich«, sagte ich zu mir, als der Pulvergeruch über die Kokospalmen des Platzes wehte und die Luft mit Traurigkeit und Todesangst erfüllte.

Als ich am Abend dieses Tages wieder an Bord des Dampfers kam und auf das Deck stieg, sah ich die Schornsteine rauchen, denn die Kessel wurden geheizt; die Boote, die am Tage um das Schiff gelegen hatten, waren ans Land gefahren; die kreischenden Ketten des Verladekranes auf dem Mitteldeck standen still, die Matrosen waren dabei, die großen Luken der Verstauungsräume mit Brettern und geteerten Leinwanden zu schließen. Man hörte nur noch das Hantieren der Leute und das Glucksen der Wellen unten um die Schiffswände und in der Luft sangen Schwärme von Moskitos, die mit dem Abendwind vom Land aufs Meer hinausgetrieben waren.

Im ölgelben Abendschein lagen die Höhen von Mexiko blaugrau wie angehäufte Aschengebirge, wie die Riesenreste des Feuers der Tropensonne, die am Tage hier gebrannt hatte.

Fern im Hafenwasser standen eine große Baggermaschine und einige verankerte Segelschiffe, deren dünne Masten und Taue wie Stricknadeln fein auf dem Verdeck der langen dunkeln Bootskörper aufgebaut standen. Diese schwarzen Schiffsgespenster im Abend, regungslos verteilt auf der milchglasmatten Meeresfläche, wirkten auf mich wie Gerüste von Guillotinen und wie Schafotte, die auf verurteilte Mörder warten. Ich stand am Schornstein und hatte Lust, tief aufzuseufzen, um mich von dem Alpdruck, den der Anblick des Erschießens und des fliehenden Sträflings heute in Vera Cruz auf mich gemacht hatte, zu befreien, und wünschte mich weit fort von dieser unheimlich fremden und willkürlichen Küste Mexikos.

Plötzlich seufzte nicht ich, sondern die Abendluft neben mir seufzte so tief wie ein Mensch.

»Die junge Frau schläft noch in ihrer Kabine, ich habe mehrmals in ihr Zimmer hineingesehen, sie liegt noch in der gleichen Stellung, wie wir sie hingelegt haben, und schläft«, so hatte mir der Steward mehrmals am Nachmittag versichert, als ich mich nach der Kranken erkundigte. Nun aber sagte mir das Seufzen, daß sie auf dem Verdeck hinter dem Schornstein war; niemand anders konnte es sein als sie, die so viel Leid mit sich trug und Trauer wie ich selbst. Ich ging laut auftretend um den Schornstein und fand die Kranke auf einem Deckstuhl ausgestreckt. Sie hatte wieder die Augen geschlossen und dachte wahrscheinlich, daß ein Schiffsoffizier vorbeigehe. Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen, und ich zog mich wieder zurück, um sie nicht zu stören.

Ich sagte dem Steward: »Wenn die Dame sich nicht nach den Mitreisenden erkundigt, dann sagen Sie ihr nicht, daß ein ihr bekannter Herr mit an Bord ist; ich will die Kranke nicht stören, nur wenn sie sich nach Gesellschaft sehnt, dann sagen Sie ihr, daß ein Freund von ihr, den sie noch von der Herreise über den Atlant kennt, gern mit ihr sprechen würde.« –

Zuerst fuhr das Schiff nach Progreso im Golf, wo es vierundzwanzig Stunden draußen im offenen Wasser lag, dann ging es in ein paar Tagen im Golf der Küste entlang nach Tampiko, wo es im breiten und schilfreichen Fluß vor Tampiko liegenblieb.

Es war immer noch zu keinem Gespräch zwischen mit und der blonden Dame gekommen. Sie war während der Seereise in ihrem Bett geblieben und hatte die Kabine nicht verlassen wollen.

Sie sei nicht in der Stimmung, Menschengesichter zu sehen, die sie nicht kenne, sie fühle sich zu traurig, hatte sie zum Steward gesagt. Sie wollte nicht aufstehen.

Aber an dem Abend, als das Boot bei dem Landstädtchen Tampiko vor Anker lag und man nur Waldufer und flaches grünes Land und keine Stadt voll Menschen sah und der Mond aufging über dem Unterholz auf der anderen Flußseite, da sah ich sie auf Deck kommen. Sie trug nicht mehr ihr schwarzes Kleid, das wahrscheinlich zu warm war. Sie hatte ein hellgraues Taftkleid an und kam unter dem Mondschein geradeaus von der Treppe auf mich zugeschritten. Ihr Gang war erregt und eilig, sie hatte wohl eben erst vom Steward erfahren, daß ein Bekannter von ihr an Bord sei.

»Oh – Sie sind es!« Mehr sagte sie nicht. Ich war aufgestanden und ließ sie sich in meinen Stuhl niedersetzen. Sie weinte plötzlich in ihr Taschentuch und konnte nicht weitersprechen.

Der Mond glänzte auf ihrem Haar, das sah im Mondschein bleigrau aus und hatte in der Nacht jeden gelben Schein verloren.

Dann sprachen wir stundenlang, bis der Mond über den hohen Bäumen der fernen Stadt Tampiko unterging, und bis Nebel dem Fluß entstiegen. Es war mir aber während der ganzen Zeit, als wir auf dem halbhellen mondgrauen Verdeck miteinander sprachen, als schaue ich in einen Spiegel und antworte mir selbst, wenn ich zu ihren Berichten nickte und »ja« und »jawohl« sagte. Ich hörte ihr zu, wie sie die ganze Krankheit ihres Mannes schilderte, als ob ich mich selbst in dem Spiegel krank liegen sähe, und als ob alles, was sie und ihr Mann gelitten hatten, auch mir geschehen wäre. Ich verstand alles so deutlich, daß sie mir endlich sagte: »Wir sind wie zwei auf Moll gestimmte Instrumente. Sie kommen mir verändert vor, als hätten Sie auch ein Leid in Mexiko erlitten. So schweigsam und trauervoll waren Sie früher nicht.«

Aber ich konnte nicht anders: ich mußte schweigen, ich konnte nicht sofort mit meinen Erlebnissen antworten.

Ich nickte nur und sagte: »Ich freue mich unendlich auf Europa!« Und dann erzählte ich ihr nur ganz unvermittelt, daß ich Nachricht aus Europa erhalten hätte: eine mir in Pouldu sehr lieb gewordene junge Dame habe sich erschossen. Kaum hatte ich das ausgesprochen, so fühlte ich, wie konfus das war.

»Ach«, sagte die junge Frau, und ihre Stimme kam staunend zu mir – und sie machte eine Pause, als erwarte sie eine Fortsetzung des Berichtes.

Aber ich sah ein, wie ungeschickt es war, von meiner Freude für Europa zu sprechen und den Bericht von einem Todesfall damit zu verbinden, vom Tode dieser fernen Bekannten, die mir nicht mehr als nur eine Begegnung am Atlant gewesen, und die von Orla längst verdrängt und aus meiner Erinnerung schon halb ausgelöscht war. Ich fühlte: nun war ein Mißverständnis da. Die trauernde Frau glaubte, ich traure um eine gestorbene Geliebte in Europa, und ich sehnte mich, an das Grab dieser Toten nach Europa zu kommen; und sie glaubte sicher auch, daß ich nur deshalb, weil mir jemand in Europa gestorben war, zurück in die Heimat wollte, und daß ich mich seit jenem Trauerfall in Mexiko verlassen fühlte.

Mit einem einzigen Wort – ich hätte nur Orla zu nennen brauchen und meine Liebe zu der Ermordeten erwähnen müssen – wäre eine Kette von Mißverständnissen vermieden worden.

Aber es war teils eine zu große Lust am geheimen Besitz meiner Abenteuer, die mich schweigen ließ, teils fand ich aus allen Schrecken auch nicht mal mehr den Anfang jener Verwicklungen, die so wild und plötzlich mich in Leidenschaften und Unglück verstrickt hatten. Ich hätte nicht gewußt, wie sollte ich mein Herz schildern, wie sollte ich eindringlich einer Frau meine Blutwallungen und meine Inbrunst für Orla beschreiben. Lust am süßen persönlichen Geheimnis, Scham vor der Darstellung meiner Herzenserlebnisse und Angst, meine eben heilenden Schreckensnarben wieder aufreißen zu müssen, zwangen mich zu fortgesetztem Schweigen. Und ich ließ die junge Frau in dem Glauben, daß ich drüben in Europa und nicht hier in Mexiko eine Geliebte verloren hätte.

Am nächsten Morgen gingen wir beide an Land und wanderten durch die weiten ländlichen Straßen der kleinen mexikanischen Flußstadt, die einstöckige Häuser mit so niederen Erdgeschoßfenstern hatte, daß man durch die Fenster in die Zimmer sehen konnte.

Seit wir uns beide in der Nacht beim Mondschein auf dem Deck wiedergefunden hatten, war eine übertriebene Lebhaftigkeit in mir und auch in der blonden Frau, die ich früher nicht an ihr und nicht an mir gekannt hatte.

Wir redeten fortwährend wie rasselnde Uhrwerke, doch schien es mir, als vermiede sie es, von ihrem Mann zu sprechen; sie hatte nur kurz den Krankheitsverlauf berichtet. Der junge Astronom hatte vom Sonnenstich eine Gehirnentzündung bekommen und war am dritten Tag an Gehirnlähmung gestorben. Sie erzählte viel von dem Garten von Cuautla und von den Pyramiden von San Juan, so sie sich sehr gefürchtet hatten; aber sie sprach beinahe mehr mit der Stimme einer befreiten und aufatmenden Frau als mit der Stimme einer leidenden Witwe.

Jetzt in den Straßen von Tampiko kaufte sie am Marktplatz einige indianische Stickereien und eine große Ananas, die sie mir zu tragen gab und die sie nachher auf dem Schiff essen wollte. Sie lachte ein wenig, und ihr Haar glänzte jetzt am Tag wieder grell messinggelb. Sie fuhr fort zu lachen, so daß ich, der ihr nichts von meinen Abenteuern mit Orla und nichts von den Erlebnissen des Unabhängigkeitstages erzählt hatte, es schon beinah zu lustig und zu vergnügt fand, wie wir beide hier scheinbar so sorglos gingen und zu schnell unsere Gräber vergaßen.

Da kamen wir beim Rückweg zum Schiff in Tampiko in einer engen Straße an einem offenen Fenster vorbei, und wie wir beide unwillkürlich mit einem Blick das Zimmer im Erdgeschoß streiften, sahen wir uns beide blaß an.

Drinnen stand ein Sarg. Links und rechts brennende hohe Kerzen um den geschlossenen schwarz lackierten Sarg.

Die junge Frau schwieg mitten im Lachen, das sie ab und zu übertrieben lebhaft hervorstieß wie eine, die nicht hört, daß sie lacht. Und nun geschah das Schreckliche, daß sie wieder lachte und immer wieder lachte und dann um meinen Arm bat, weil sie vor Lachen stolperte, und weil sie nicht lachen wollte, doch immer wieder lachen mußte. Dann auf Deck angekommen, suchte ich ihre Aufmerksamkeit von dem furchtbaren Lachen abzubringen. Ich zeigte auf eine Schar grüner kleiner Papageien, die vom Ufer in die Schiffsrahen geflogen waren und dort eifrig schwätzten und von einem Schwarm weißer Schmetterlinge umflattert wurden.

»Ich weiß, Sie wollen mich vom Lachen abbringen,« sagte sie, »ich danke Ihnen; aber versuchen Sie es nicht! Lassen Sie mich in meine Kabine gehen: dieses Lachen verwandelt sich, sobald ich allein bin, in Weinen.« Und das Taschentuch vor den Mund haltend, ging sie von mir, immer noch stoßweise ein Lachen lachend, von dem man hörte, daß es sich in einen Schauer von Tränen und Schluchzen verwandeln wollte.

Es war, als ob zwei Welten in dieser Frau im die Oberhand kämpften: die Gegenwartswelt, die lachen wollte, und die Schmerzen des Vergangenen, die nicht weichen wollten und ihr Recht und ihren Platz, den sie im Herzen einnahmen, nicht freigeben wollten.

Am Nachmittag gingen wir wieder an Land. Sie sprach noch lebhafter und hatte entzündete Augenlider und gerötete Nasenflügel, als ob sie viel in die Kissen ihres Bettes geweint und geschluchzt hätte. Wir kamen beim Uferspaziergang in ein buschiges Unterholz, wo sie stehenblieb und einen kleinen Kolibri bemerkte, der wie ein vibrierender kleiner Rubin in den wilden Zitronenbüschen schwirrte.

»Glauben Sie, daß die Tiere auch Seelenleiden kennen?« fragte sie mich plötzlich. »Dieses kleine, göttlich schöne Geschöpf sieht aus wie ein Funken wirbelnder Seligkeit. Dies Tier kennt keine Qualen.«

Ich fühlte, wie sie der Gedanke erlöste, daß es Dinge geben sollte, Wesen, die nur selig sein sollten, und daß sie bei ihrem Anblick wieder zurück zum glücklichen Leben finden wollte. Ich konnte ihr den Gedanken nicht zerstören, wollte nicht einwenden, daß Menschen und Tiere, daß überhaupt alles Dasein zeitweilig von der Möglichkeit des Nichtseins gequält werden mußte. Ich lächelte nur und sagte: »Der Farbe nach sollte man es nicht für möglich halten, daß der kleine schwirrende Rubin dort irgendein Leid kennt oder fühlt. Er sieht wirklich sehr selig aus, wie er jetzt da zwischen den Blättern um die Zitronenblüten schwirrt und Honig nascht.«

»Aber er ist doch nicht immer selig! Nein, Sie sollten mich nicht für so kindisch halten; ich fühle alles, was Sie mir verschweigen, Sie verschweigen mir unendlich viel, weil Sie mich schonen wollen.«

Ich sah sie erstaunt an und glaubte einen Augenblick, sie wisse alles, was mir in Mexiko mit Orla begegnete war.

Sie aber sagte rasch: »Ich weiß es, daß die Tiere ein Herz haben so gut wie die Menschen. Es gibt überhaupt nichts, das aus dem großen Weltall, aus dem fühlenden Weltallkörper und aus der fühlenden Weltallseele geboren ist, das nicht fühlen und empfinden kann.«

Ich war wieder erstaunt.

»Woher wissen Sie das alles? Sie sprechen Gedanken aus, die ich heimlich für mich denke, aber nicht sage, weil die Menschen nicht reif sind, sie nachzufühlen.«

»Ich bin es nicht, die jetzt zu Ihnen geredet hat,« sagte sie dann schlicht, »das hat mein toter Mann abends, wenn er von den Sternen und den Fernrohren zu mir kam, immer wieder gesagt: die ganze Materie fühlt sich untereinander, und jedes Ding, das lebt und das wir sehen und benennen, sieht auch und nennt sich auch. Im Leben, meinte er, fühle jedes Ding, daß es lebt, und fühlt alle andern Dinge leben. Und leben ist lieben und leiden.«

»Ja, Leben ist entweder Freude oder Schmerz, es wechselt in allen Dingen immer Freude und Schmerz ab. Eine einheitliche Seligkeit gibt es nicht, und das wäre auch kein Leben für Fleisch und Blut«, erwiderte ich ihr.

»Also jetzt erst sagen Sie mir die Wahrheit, wo ich Sie anklagte, daß Sie mich schonen wollten – bitte –«, sie blieb stehen, sah mich leicht von der Seite an und sagte leiser: »Bitte, sagen Sie mir in allem immer die Wahrheit. Sie sollen mich nicht zuviel schonen. Wir reisen eine lange Reise über den Atlant miteinander; und um alle Mißverständnisse zu vermeiden, sollten wir uns in allem immer die Wahrheit geradeheraus sagen.«

»Oh«, rief sie plötzlich und blieb stehen.

In einem Acker neben uns, der morastig vom Flußwasser durchsetzt war und schwarz glänzte, lag ein braunes Pferd und schien verendet zu sein. Ein Haufe Raben hatte an dem Kadaver bereits den Bauch aufgerissen und zerrten die Gedärme aus der Bauchhöhle.

Wir standen beide einen Augenblick vor dem schauerlichen Bilde still. Plötzlich warf das Pferd den Kopf empor und schlug zuckend mit einem Huf in die Luft. Dann streckte es sich wieder und versank halb in den schwarzen Morast. Die Raben blieben ruhig und ungestört auf seinem Bauch hocken.

»Oh«, rief die junge Frau entsetzt. Und nun begann sie wieder dieses entsetzliche Lachen zu lachen. Sie lachte aber nicht lange, sie nahm ihre Hände vor das Gesicht und weinte; und ich konnte nicht anders: ich mußte mein Taschentuch herausnehmen und mich schneuzen, um meine eigenen Tränen zu verscheuchen.

»O nein,« rief plötzlich die junge Frau verzweifelt, »wir können nicht mehr zusammen spazierengehen; ich bin zu erregt, zu erschüttert. Es bedarf nur eines kleinen Schreckens – gleich stürzt mein ganzes Herz, das sich zum Leben aufrafft, wieder zusammen. Ich darf Sie nicht wieder belästigen. Ich werde mich von jetzt an in meiner Kabine einschließen. Es ist besser so: ich bin noch nicht fähig, mich zu fassen. Verzeihen Sie mir, das war so dumm und so unnötig von mir, Sie zu bitten, mir immer die Wahrheit zu sagen. Es kann mir ja ganz gleich sein, ob Sie mich belügen, oder ob Sie mir die Wahrheit verschweigen; das geht ich ja im Grunde nichts an. Wir kennen uns ja kaum. Ich bin durch die Trauer um meinen Mann ganz und gar aus jeder Gesellschaftsfassung gebracht. Ich bin es noch gar nicht wieder gewohnt, so ganz allein mit mir zu sein; und rede ich dann mit einem Menschen, so macht ich, um mich für die Einsamkeit zu entschädigen, doppelt soviel Ansprüche – Ansprüche, auf die ich gar kein Recht habe.«

Nach diesem Gespräch schloß sich die junge Frau trotz meiner Gegenrede in ihre Kabine ein und kam am nächsten Tage nicht wieder zum Vorschein.

Am folgenden Tag ging ich allein an Land und schnitt im Buschwald einen Lianenzweig ab, den ich ihr durch den Steward ins Zimmer bringen ließ. Es wuchsen ein paar Orchideen mit Luftwurzeln an diesem Zweig, und ich freute mich, daß die Blumen der einsamen Eingeschlossenen Unterhaltung bringen würden.

Am Abend kam die junge Frau im Mondschein auf das Deck und setzte sich neben mich. »Sie haben mich mit Skorpionen aus meinem Zimmer und aus der Einsamkeit gejagt.«

Ich verstand sie nicht gleich.

Da kam auch schon der Steward und zeigte uns einen Wassereimer, in den er die Orchideenbündel eingetaucht hatte. Das Wasser wimmelte von kleinen Skorpionen. »Auch in meinem Zimmer liefen schon einige herum und trachteten mir nach dem Leben«, sagte die junge Frau lebensvoll erregt und lächelte mich dankbar an, weil ich sie indirekt von ihrer selbstgewählten Einsamkeit befreit hatte. –

Am gleichen Abend saßen wir auf den Deckstühlen schweigend nebeneinander, als hätte wir uns nichts Wichtiges mehr zu erzählen, und als könnten wir es uns wie zwei gute Freunde leisten, zu schweigen, ohne daß dieses Schweigen auf die Dauer beleidigend gewesen wäre.

Sie schien es sich aber vorgenommen zu haben, sich von jetzt an möglichst wenig für mich zu interessieren; denn als das Schiff am nächsten Tag nach dem Mississippi, nach New Orleans, quer über den Golf von Mexiko weiterfuhr, blieb sie meistens mit einem Buch beschäftigt oder schlafend hinter dem Hauptmast des Verdeckes auf dem Schiffsstuhl liegend, und wie mir schien, sollte dies sagen, daß sie allein bleiben wollte, denn sie sah kaum von ihrem Buch auf; oder wenn sie aufsah, zog sie sich gleich in ihre Kabine zurück und nickte mir nur leicht zu, sobald ich an ihrem Platz vorüberkam.

Ich hielt mich deshalb meistens auf der Kommandobrücke oben in der Steuerkabine des Kapitäns auf. Der Kapitän plauderte gern, und auch der wachhabende Offizier erzählte gern von seinen Schiffbrüchen auf früheren Reisen.

Als wir in den breiten lehmgelben Mississippi einfuhren, hatten die junge Frau und ich in den drei ganzen Reisetagen kaum ein paar höfliche Worte gewechselt und waren einander seit der Abfahrt von Tampiko fremder geworden.

Mir war, als müsse diese Entfremdung durch das kleinliche idyllische Landstädtchen Tampiko bewirkt worden sein, das einen kleinstädtischen Zug von Beschränktheit, Engherzigkeit und Peinlichkeit auf uns ausgeströmt hatte. Denn kaum näherten wir uns auf dem Riesenstrom Mississippi der großen Stadt New Orleans, so bemächtigte sich aller Menschen an Bord ein großzügiges Erwachen aus der idyllischen Stumpfheit, die von Tampiko her noch dem Schiff und allen an Bord anhaftete.

Die Schiffsleute hatten behaglich breite Erinnerungen an die großstädtischen Eindrücke von New Orleans auf ihren Lippen und priesen das herrliche Leben, das sie jetzt in der großen Mississippistadt mit Theatern, Frauen und Restaurationen erwartete.

Außerdem sollte auch endlich die gräßliche Ladung Kreosot, die das Schiff mit sich führte, ausgeladen werden, und vom Kapitän bis zum Steward freute sich jeder, diese chemisch stinkende Ladung loszuwerden, deren Ausdünstung sich in weißen Kristallen an allen Ventilatoren des Schiffes wie ein Reif niedergeschlagen hatte. »Der Geruch ist gesund«, hatte zwar immer der Kapitän behauptet, wenn man sich über diese Ausdünstung aus dem Laderaum beklagte, aber nun schmunzelte selbst er bei dem Gedanken, den »gesunden Geruch« bald auszuladen.

Bei der Landung an dem langen öden Uferkai des Mississippi. wo man nur Holzbarken, Kohlenhäuser und die Hütten der Negerarbeiter am Kai neben dem Schienenweg langer Güterzüge, die da am Ufer standen, sah, fragte ich die junge Frau, ob sie Lust habe, mit mir die Stadt zu besichtigen, die noch durch ein Arbeiterstadtviertel aus kleinen Holzhäusern vom Mississippi getrennt wurde.

Sie dankte und sagte, sie würde in ihrer Kabine bleiben. Ich dachte bei mir: Das wird eine recht trostlose und langweilige Heimreise werden, wenn sie immer darauf beharrt, allein zu bleiben. Ich ging mit dem Kapitän und den Offizieren zur Stadt, wo ich aber bald des Herumschlenderns zwischen den riesigen Großstadthäusern und Warenhäusern müde wurde, so daß ich mich gleich nach dem Abendessen um halb neun Uhr zurück aufs Schiff begab.

Am Ufer des Mississippi angekommen, setzte mich plötzlich der Mond in Erstaunen, aus dem ein großes Stück am Rand der Scheibe weggebrochen zu sein schien. »Mondfinsternis,« sagte ich zu mir, »eine beginnende Mondfinsternis.« Als ich vor dem finstern Schiffskörper am Ufer angekommen war und auf dem schmalen Brückenbrett von der Ufermauer auf das Deck ging, rief die junge Frau oben am Geländer meinen Namen.

Wie wohl mir das tat, daß eine bekannte Stimme mich rief, hier am leeren Mississippi. »Haben Sie schon die Mondfinsternis gesehen?« fragte die Stimme oben vom Schiff herunter. »Kommen Sie schnell, ich habe Sie die ganze Zeit hergewünscht, um Ihnen die Mondfinsternis zu zeigen.«

Sie kam mir frisch und verwandelt entgegen und deutete mit dem Zeigefinger nach dem Mond, ihre andere Hand schob sie zutraulich unter meinen Arm und zog mich an das Schiffsgeländer nach der Flußseite, wo oben in der Nacht, von vorbeifliegenden Wolken hell und dunkel umdampft und umraucht, der Mond ab und zu erschien und immer noch von einem Schatten angebrochen war, wie ein weißer Teller, von dem ein Stück abgeschlagen ist.

Die junge Frau schien sehr beglückt, daß ich ohne den Kapitän und ohne die Offiziere zu ihr zurückkam; und als ich sie fragte, wie sie sich die Zeit vertrieben habe, klagte sie sehr.

Zuerst seien die Wäscherinnen aufs Schiff gekommen, Mulattinnen, Bekannte von ein paar Steuermännern, die hätten gleich das Klavier im Salon geöffnet und heftige Negertänze gespielt. Dann hätte der Hund des Kapitäns oben an Backbord gestanden und bis zum Abend sein eigenes Echo angebellt, das von einer Wand eines Kohlenlagerhauses zurückbellte, bis er heiser wurde. Der Hund hätte immer das letzte Wort haben wollen, aber das hätte die Wand nicht erlaubt, sie habe immer noch ein Schlußwort auf das letzte Geknurre des Hundes gehabt, bis der Hund nach Stunden ganz tiefsinnig und gekränkt fortgeschlichen sei.

Die junge Frau war dann, ermüdet vom Klaviergeklimper und Hundegebell, an Land gegangen und an den kleinen Vorgärten der Holzbaracken entlang promeniert. Aber der Weg sei dort mit alten Austernschalen gepflastert, die einen Pestilenzgeruch verbreiteten, und auch der Anblick von alten Negerweibern, die neugierig aus den Hütten gekommen wären, mit einem schwarzen Kind auf dem Arm und einer kurzen Tabakspfeife zwischen den dicken Lippen, hätte die blonde Frau wieder auf das Schiff zurückgetrieben. Und nun habe sie eben angefangen, sich zu fürchten. Darum sei sie auf dem Verdeck auf und ab gegangen und hätte sich gewünscht, daß ich doch zurückkommen möchte.

Die Erzählende verbesserte sich aber schnell und sagte noch: »Und natürlich vor allem wegen der Mondfinsternis wünschte ich, daß Sie aus der Stadt an den Fluß kommen sollten, um diese zu sehen.«

Ich mußte aber im geheimen lächeln, weil zuerst doch nicht die Mondfinsternis, sondern die Einsamkeit die junge Frau mich auf das Schiff hatte zurückwünschen lassen.

Wir gingen auf und ab, und ich bat, daß sie ihre Hand auf meinem Arm lassen solle, damit sie nicht im Halbdunkel auf dem Verdeck über die unebenen Dielen stolpere und stürze.

So ging sie denn an meinem Arm bis zum Backbord, wo wir immer umschwenkten und bis zum Hauptmast marschierten. Wir gingen schnell, weil es hier am Mississippi in der Novembernacht nicht so warm war wie im Golf von Mexiko.

Und bei diesem Auf- und Abwandern begann sie, ohne daß ich sie befragt hätte, mir offen die ganze Leidensgeschichte ihrer Reise nach Mexiko zu erzählen.

Sie war mit ihrem Manne nicht etwa bloß, um für ein paar Monate einen Ausflug nach Mexiko zu machen, von Europa gekommen, sie hatten beide alle Brücken hinter sich abgebrochen und waren auf gut Glück und europamüde über den Atlant gezogen. Nicht nur hatte der Astronom, der ein großer Schwärmer vor dem Herrn war, in Mexiko seiner Sternwarte leben wollen, von der er träumte – er hatte außerdem die seltsamsten Einfälle, er wollte das Beste, was Europa und Asien an Büchern, an Götzen, an Kunst und Musik hervorgebracht hatten, wenigstens in Erinnerungen mit hinüber in das Land der Sonne mitnehmen, um dort nicht ohne Tradition zu sein.

Das alles in Reproduktionen oder in Büchern mitzubringen und mitzuschleppen, war natürlich unmöglich gewesen. Darum hatte er sich so eine Art Kulturextrakt zusammengestellt und nahm das mit, was von der alten Kultur ihn persönlich am stärksten angeregt hatte.

Er hatte sich einen großen Gipsabguß von der Venus von Milo aus dem Louvremuseum verschafft, ebenso eine Statue des ägyptischen Sonnengottes Osiris, die Statue eines indischen Buddha, auf einer Riesenlotosblume sitzend. Dieses waren die Bildwerke. Dann füllte er Kisten und Mappen mit Kunstblättern von Dürer, Rembrandt, Leonardo da Vinci und Michelangelo, Mappen mit Stößen von Meisterreproduktionen aus allen Museen Europas, und Kisten mit Abgüssen von den Friesen des Parthenons in Athen. An Büchern packte er die Edda und das Nibelungenlied ein, die Bibel, den Homer, den Koran und die indischen Weden. Er hatte seiner Frau eine große Harfe in Paris gekauft und eine ausgezeichnete Violine; aber sie wollte nur Volksmelodien und Zigeunerweisen spielen und sonst nur jene Apollohymne, die man eben erst ausgegraben hatte; außerdem hatte er Musikstücke von den Javanern und aus China und Japan und von den Arabern und von den Südseeinseln aus den Reisewerken berühmter Forschungsreisenden gesammelt.

Mit dieser Fracht an Weltkulturextrakt, versehen außerdem mit Angeln, Jagdgewehren, Fischnetzen und Fernrohren, waren die beiden jungen Eheleute nach Mexiko abgereist.

»Das war ja, als ob sie in Europa die Sintflut erwartet hätten und den ganzen Bedarf an himmlischen Gütern, wie weiland Noah die Tiere in einer Arche, vor dem Untergang hätten erretten wollen«, konnte ich mich nicht enthalten, scherzend und staunend zu bemerken.

»Oh, spotten Sie nicht,« seufzte die junge Frau, »Sie wissen nicht, wie ernst diese Auswanderung meinem armen Manne war, und – er hat ja nun auch seine unerreichbaren Träume mit seinem Leben bezahlen müssen. Er war so überzeugt, daß er für mich und sich das Beste wollte, als er, gleich nach der Hochzeit in England, die Auswanderung in das Sonnenland Mexiko, wie er sagte, vorschlug und ausführte; er war europamüde.«

»Und warum haben Sie sich nicht dagegen aufgelehnt, warum haben Sie ihn nicht einfach verlacht und darauf bestanden, in Europa zu bleiben?« fragte ich eifrig und mich ereifernd.

»Haben Sie nie geliebt?« fragte sie mich vorwurfsvoll.

Ich schwieg und fühlte: ich wurde blaß vor Trauer, wenn ich an Orla erinnert wurde.

»Gut«, fuhr sie fort und sah mein Schweigen als eine Bejahung auf ihre Frage an. »Wenn man liebt und geliebt wird, sieht man die Welt nicht mehr so nüchtern, wie man sie in einsamen ungeliebten Zeiten betrachtet.

Das wissen alle, die die Liebe erlebt haben. – Nie mehr hätte ich nach meiner Hochzeit bezweifeln können, daß sich schöne Träume ebensogut verwirklichen lassen könnten wie die Hochzeit selbst. Denn die wirkliche Liebe erleben, und nicht bloß von Liebe träumen, das übertrifft doch bei weitem alles Geträumte, alle Erwartungen, alle Vorstellungen unendlich! – Warum sollte ein Leben in Mexiko nicht ebensogut möglich, eben so schön und herrlich sein, da doch die Liebe täglich alles zwischen meinem Mann und mir möglich und herrlich machte. Daß es auch für die Liebe Unmöglichkeiten gibt – um das zu wissen, waren wir zu glücklich miteinander, und alles war uns bis vor der Reise über den Atlant herrlich und nach Wunsch geglückt.

Wir sahen Mexiko nicht einmal für so sehr wichtig für unser Glück an. Es sollte nur eine Steigerung unserer verliebten Einsamkeit bedeuten; wir wollten egoistisch ungestört, weltfern, ohne Zeugen unendlich glücklich sein – umgeben von allem, was die Welt Großes, Harmonisches und großes Unsterbliches geschaffen hat. Darum nahmen wir alle die Kunstwerke, Bücher und Noten mit uns, um, getragen vom Höchsten, nicht aus der Höhe der Liebe ins banale Leben zu fallen.«

»Ja, das banale Leben,« sagte ich traurig, »es ist der einzige Rahmen, in dem das Fleisch und das Blut leben und gedeihen und sich glücklich zu fühlen vermögen. Wir sind keine Astralkörper, die aus Licht im Licht leben können. Wir genießen mit dem banalen Leib und seinen banalen Bedürfnissen das höchste Glück, wenn wir das banale Leben nehmen, wie es ist, und es höchstens ein ganz klein wenig und von Generation zu Generation nur ganz sanft, ganz langsam zu Höheren hinlenken. Alle gewalttätige Vergeistigung des banalen Lebens bekommt uns nicht. Wir sind aus dem banalen Leben banal geboren und müssen dieses banale Leben als unser starkes Fundament zu schätzen und zu respektieren verstehen. Alle heftigen Stürmer gegen die Banalität haben sich die Köpfe zerbrochen, und das banale Leben blieb und behielt ewig recht. Das banale Leben lebte schon zur Zeit des Gottes Osiris, zur Zeit des Buddha und zur Zeit der Venus von Milo auch. Umgeben vom Banalen, entsteht und lebt sich das Höchste natürlich.«

So dozierte ich und ereiferte mich und schämte mich zugleich, daß ich mich hatte fortreißen lassen, zu einer Frau so ausgiebig über das banale Leben in Beziehung zum Höchsten zu sprechen, zu ihr, die gerade um den Preis, nicht banal zu leben, ihr Leben und das Leben ihres Mannes eingesetzt hatte.

Ich schwieg und sah zum Mond auf, der jetzt wieder als vollkommen runde Tellerscheibe oben am Himmel hing und breit auf den uferlosen gelben nächtlichen Mississippistrom herabglänzte.

Die junge Frau stand neben mir und hatte meinen Arm losgelassen. Sie zog den weißen Seidenschal fröstelnd enger um ihre Schultern. Es schien, als fröre sie nicht so sehr von der Kühle der Mondnacht, als von dem Alleinsein, an das sie noch nicht wieder gewöhnt war.

»Haben Sie nicht gefunden,« sagte sie sehr ernst, »daß im fernen Land einen die Elemente am besten trösten können, die Urelemente: Feuer, Wasser, Luft und Erde?«

Ich verstand sie nicht gleich.

»Sehen Sie das Wasser da unten: es glänzt im Mond so selbstverständlich, wie das Wasser des Flusses glänzt in meiner Heimat in Europa. Sehen Sie dann das Licht, die kleine Flamme aus der Negerbaracke da drüben, neben dem Kohlenlagerhaus – das helle Fenster in der Nacht sieht auch hier am Mississippi vertraut aus, wie das Fenster in einem Haus, dahinter jemand krank liegt oder im Bett liest oder Briefe schreibt, ganz so wie zu Hause bei Nacht ein Fenster in meiner Heimatstadt; und die Nachtluft, die jetzt von den Prärien drüben jenseits des Mississippi herüberweht – sie weht nicht anders, als die Luft zu Hause ins offene Fenster meines Mädchenzimmers; und – neulich, als ich meinen Mann auf dem Friedhof von Mexiko in die Erde versenkte und ihm eine Schaufel Erde auf den Sarg warf und die Erdbrocken poltern und aufschlagen hörte und der Erdgeruch aus dem Grab strömte, da tröstete mich nichts als der Erdgeruch allein – der roch wie unser Garten zu Hause, wenn im Frühling der Gärtner unterm Fenster schaufelte und wir Mädchen es nicht erwarten konnten, bis wir Sommerkleider und weiße Pfingsthüte bekämen und uns damit in alle Hoffnungen des Sommers einkleiden dürften –, sehen Sie, so kindisch sind Frauen, daß sie sich am Primitivsten trösten müssen. Gute Nacht.« Sie verließ mich und brach so schnell ab, daß ich fast erschrak und glaubte, es habe sie ein Unwohlsein befallen. Aber ich fühlte an dem Ton, mit dem sie gute Nacht gesagt hatte, daß sie doch nicht von den vier Urelementen getröstet war, daß ihr das größte Element, die Liebe, fehlte; daß sie floh, weil sie nicht in Tränen ausbrechen und nicht zeigen wollte, wie hart ihr die Trauer und die Einsamkeit ankamen – und wie wenig »Luft und Erde, Feuer und Wasser« einen Menschen trösten können, der das Liebste verloren hat.

Seltsam sanft und anheimelnd waren diese letzten Worte von ihr gewesen: »Die Urelemente könnten uns in dem fremden Land nach der Heimat versetzen und uns trösten.« Oft schien es mir, daß der, welcher reist, bei allem unterwegs nach der Heimat fragt und fragen muß und im Grunde immer zu Hause ist. Erst zu Hause angekommen, erkennt man die Reise und die Fremde. Wie werde ich wohl von Europa aus meine mexikanischen Erinnerungen anschauen? Werden sie mir noch krasser, noch dämonischer erscheinen? –

Das Schiff war zwei Tage später schon bei Florida am Ausgang des Golfs von Mexiko und sollte jetzt an der Ostküste von Nordamerika entlang und dann in der Höhe von Philadelphia auf der großen atlantischen Weltverkehrsstraße den Atlant gen Osten kreuzen – auf einer Fahrlinie, wo man täglich am Horizont Dampfer und Segelschiffe auftauchen und bei Tag und Nacht vorüberziehen sieht, so daß man sich wie auf einer großen Heerstraße fühlt wie mitten im Weltverkehr zweier großer Kontinente.

Aber noch eine Woche würde es dauern, bis wir in diese Weltverkehrsstraße einbögen; bis dahin waren wir täglich allein auf dem Meer und begegneten nur äußerst selten einem Schiff.

Bisher war das Wetter schön gewesen; und am Abend, als wir um das Kap von Florida fuhren, strahlte der Himmel wie ein Riesenprisma, das man siebenfach geschliffen am westlichen Horizont ins Meer tauchte, und das siebenfarbig leuchtete.

Aber der Kapitän runzelte die Stirn. »Weniger Farben am Himmel würden weniger Stürme bedeuten«, sagte er.

»Also erwarten wir sieben Stürme?« fragte ich.

»Vielleicht siebenmal sieben!« lachte der Schiffsingenieur, der neben mir stand. Der Kapitän sagte nichts.

Am Abend, als die junge Frau und ich allein im Speisesaal bei der Hängelampe saßen und einen kleinen handgroßen Alligator, den ich in New Orleans gekauft hatte, auf dem langen Tisch spazierenlaufen ließen und uns amüsierten, das junge Tier im Nacken zu kitzeln, bis es behaglich grunzte, da sah der Steward herein und sagte, der Kapitän ließe uns mitteilen: wenn wir ein Feuerwerk sehen wollten, sollten wir auf Deck kommen.

Wir gingen hinauf und sahen oben um die Mastspitze eine weiße elektrische Feuerkugel schweben wie eine weiße Feuerblase. »Elmsfeuer!« rief der Kapitän von der Kommandobrücke. Wir passierten die Grenze der Tropenzone, und durch den Temperaturaustausch entstand das Naturphänomen. Mir aber erschien das weiße Licht so, als habe sich der weiße leuchtende Astralleib eines gestorbenen Menschen dort um den Mast verdichtet, als nehme jetzt die Tote Abschied, von der ich solange nicht mehr gesprochen hatte, als wollte Orla sich mir noch einmal zeigen und mich an sich erinnern. Das Licht wehte wie ein weißer Schleier aus der Mastspitze und sprühte.

Aber ich sprach auch jetzt noch nicht von Orla zu der jungen Frau, trotzdem mich das geisterhafte blauweiße Licht dazu aufforderte.

Sie hielt plötzlich meinen Arm fest.

»Hören Sie?« sagte sie und horchte.

Es donnerte in der Ferne, und der Himmel am Horizont war als eine schwarze Masse mit der schwarzen Meermasse ineinandergesunken.

»Donner auf dem Meer im Winter! Es klingt, als käme Mexiko mit Erdbeben und donnernden Kratern hinter uns hergeschwommen«, sagte sie, und bei dem furchtsamen Klang ihrer Stimme mußte ich daran denken, wie sie sich jetzt nachts in der Kabine beim Donner und bei den siebenmal sieben Stürmen, die von den Schiffsleuten erwartet wurden, fürchten würde.

Ich konnte ihr zu all dem bevorstehenden Schrecken nicht auch noch die Trauergeschichte von Orla erzählen; sie würde ganz vom Leben verschüchtert werden, wenn sie hörte, welcher Schändlichkeiten Menschen fähig sein können. Sie würde nicht mehr ruhen und nicht einschlafen und immer an die neunzehn Polizisten und an den schändlichen Polizeipräsidenten denken müssen.

»Sie sind so still,« sagte sie plötzlich, »Sie haben mir noch gar nichts von Ihrem Leben in Mexiko erzählt.« Sie sah mich fest an.

Da gingen wir in den Speisesaal hinunter, und ich erzählte ihr alles, was ich von Orla wußte: von ihrem Tod, von den Drohbriefen, von dem Unabhängigkeitstag. – Nur daß ich sie geliebt hatte, und daß ich nach ihrer Ermordung todkrank gewesen war – das verschwieg ich.

Als ich zu Ende gesprochen hatte, sagte die junge Frau: »Ich wußte das alles aus den Zeitungen. Ich habe aber immer in Tampiko erwartet, daß Sie es mir erzählen möchten. Ich erwartete eigentlich, noch mehr von Ihnen darüber zu hören als aus den Zeitungen.

Ich schwieg.

»Oh, Sie sollen nicht sprechen, wenn Sie nicht sprechen wollen«, sagte sie und stand auf und gab mir nicht die Hand wie sonst, wenn sie sich abends zurückzog und gute Nacht wünschte. Sie ging. Und draußen grollte der Donner, als hätte sie, wie sie durch den langen weißen Schiffsspeisesaal zwischen den bronzenen Säulen hinaufschritt, eine Schleppe von Donner an ihrem Gewand. Wie hinter einem Kometen her ein Feuer durch die Nacht des Weltraums fegt, so ging sie und hatte den Donner um sich, als grollten ihre Schritte beleidigt, als grollte das ganze Schiff und das Meer bis in die Ferne mit ihr, weil ich meine Geliebte vor ihr verleugnen wollte – so wie Petrus seinen Herrn nachts am Feuer verleugnet hatte.

Und während dieser ganzen Nacht, immer wenn ich aufwachte, grollte es, und das Schiff begann gegen Morgen zu rollen und sich auf die Seite zu legen, und tausend Dinge auf Deck krachten mit einem Male, und die Taue klatschten und pfiffen wie Signalpfeifen, denn es hatte sich der Vorbote der siebenmal sieben Stürme aufgemacht und hatte das Schiff eingeholt und ließ es sich wie ein lebendiges Geschöpf krümmen und dem Wasserfeld zu entfliehen trachten; aber die Wellen stiegen an den Wänden hoch und drückten das Schiff tief in den Wasserleib, so daß sein Holz stöhnte und in allen Fugen und mit allen Planken aufkreischte wie ein ängstliches Tier, das einer erwürgen will.

Und nun begannen die Tage eines wahnwitzigen neuen Schreckens. Das Meer hatte sich in eine Gebirgswelt aus Wasserbergen und Wasserhöhlen verwandelt. Riesigen Gebirgsketten ähnlich wälzte sich das Meer und war zu einer mächtigen schiefen Ebene geworden. Die Wellen erstiegen eine die andere, als wollte sich das Meer von der Erde trennen; und es wurde zur Höhe gerissen, hinauf in den Luftraum gezerrt, als wolle der Sturm die Wellen wie ein Wassergekröse aus den meilentiefen Schlünden herausreißen.

Das Schiff ritt nicht mehr wie sonst auf dem Scheitel des Meeres, es wurde von den Wellen fortgeschleift, es stand plötzlich gleichsam hoch in der Luft, über die Höhle zwischen zwei Meerbergen fliegend, so daß man die Schiffsschraube außerhalb des Wassers für Minuten nicht mehr arbeiten hörte. Oft horchten selbst der Kapitän oder der Ingenieur während der Mahlzeiten auf, wenn das Surren der Schraube verstummte und die Schiffsmaschine todstill zu stehen schien.

Ist die Schraube gebrochen? Sind wir in dem wahnsinnig gewordenen Element ohne Kraft, dem Wahnsinn des tobsüchtig gewordenen Meeres preisgegeben, ohne Widerstand? So las man von allen Gesichtern der Schiffsleute die schweigende Frage, wenn das Schiff, vom Sturm aus dem Wasser gehoben, ohne Schwere durch die Luft flog wie ein Riesenheupferd, das einen Riesensprung über eine breite Meereshöhlung macht.

Das springende Schiff und die Rotten der Riesenwellen in der endlosen, tage- und wochenweiten atlantischen Einsamkeit wurden ihrer Jagd während sechs Wochen nicht müde. Zwei Dampfkessel waren unserem Schiff leck und unbrauchbar geworden. Die kostbaren Kohlen, die auf dem Meer ihr Gewicht in Gold wert sind, gingen zur Neige. Der Orkan begann jeden Nachmittag um fünf Uhr und tobte bis zum nächsten Morgen um neun Uhr, dann setzte der Sturm aus; aber das Meer kam wie eine weiße Gletscherwelt, eisgrün und weiß beschaumt und granitgrau und marmorschwarz, gleich langen Marmorbrüchen im Mittagsnebel gegangen, und der Atlant glich eher den Gebirgsketten einer Schweizer Landschaft als einem flachen Wasser.

Es war, als arbeite der dröhnende Sturmhimmel wie eine gewaltige Saugpumpe, und die Wolken sögen das Wasser in Pyramiden hinauf in den Himmel; ein betäubender dreifacher Lärm umgab uns stündlich: der Lärm des Wassers, das wie die Kanonade eines Schwergeschützfeuers das Schiff bombardierte; der Lärm des Sturmgeheuls: der Sturm, der den Himmel in ein einziges trompetendes riesiges Muschelhorn verwandelt hatte, brüllte und schmetterte Höllenfanfaren, krachende Töne, explodierende Donnergelächter; die Töne des Sturmes gaben dann dem Eisen, dem Holz, dem Glas, den Korridoren, den Kabinen und allen Gegenständen des Schiffes ein Stimmengewirr, das knatterte, kreischte, klatschte, rasselte, johlte, wimmerte, hatte Seufzer und Angstrufe, hatte markerschütternde gellende Rufe, Schüsse und Kampfgeschrei. Es schienen Geisterherden aus allen Winkeln durch das Schiff zu rasen, und sie sprangen hinaus in die Höhlen des Wassers und auf die Wassergebirge und johlten im Hohlraum des Nebelhimmels und kamen aus allen Windrichtungen wieder herunter, um den Atlant von neuem zu überfallen. Da waren Schlachten in der Luft, Triumphzüge, Bacchanale und hunderttausend Mordtaten und das Todesröcheln von Hunderttausenden auf einmal.

Da saßen Geisterhorden auf dem Deck, die den Mast bogen, daß er hin und her schnellte, da waren Horden von Unsichtbaren, die an den Deckbrettern und am Schiffsboden Tag und Nacht sägten; ihre Sägen knirschten auf und ab, bald im Chor, bald vereinzelt quietschend, und man sah im Geist deutlich die Riesensägen, die eisernen Riesenfeilen und hörte Schlag auf Schlag die Äxte und Hämmer, die den Schiffskasten von allen Seiten in Atome verwandeln wollten.

Über einen Tisch hinüber verstand keiner mehr des anderen Stimme, wenn man sich nicht Mühe gab und mit Anstrengung durch diesen infernalischen Lärm hindurchschrie.

Die junge Frau lag schon eine Woche lang auf dem Wandsofa, das durch die ganze Länge des marmornen Speisesaales lief. Sie lag in Reisedecken eingewickelt und hatte einen dichten blauen Schleier um ihren Kopf gewickelt. Denn sie hatte ihre Frisur wahrscheinlich seit einer Woche nicht mehr ordnen können. Wenn ich einmal in den Spiegel meiner Kabine schauen wollte, tanzte mein Gesicht drinnen von mir davon. So wurde ich in der Kabine umhergeschleudert, daß kein Spiegel das Gesicht einfangen konnte. Die Kleider an den Kleiderhaken standen immer wagrecht in mein Zimmer herein, und an das Bett mußte ich mich nachts anbinden. Man hatte Beulen am Kopf und an allen Gliedern von den Stößen, die das stolpernde Schiff und die Hammerschläge der Wellen einander gaben.

Die Betten, die Kleider, die Dielen des Speisesaals, die Wände der Korridore und die Schiffstreppen troffen von Salzwassergüssen, die unversehens Türen aufstießen, Oberlichtgläser zerbrachen und ins Schiffsinnere stürzten.

Wir lebten jeden Nachmittag von fünf Uhr an bis zum nächsten Morgen um neun Uhr jede Sekunde in jener Todesgefahr, die einer nur auf dem Schlachtfeld wieder kennenlernt; jede nächste Welle konnte das Schiff zerschellen.

Längst hatte man die roten Teppiche aus dem Saal von den Dielen gerollt, da das Salzwasser sie steif wie Glatteis machte. Denn der mangelnden Kohlen wegen war auch die Dampfheizung abgestellt, und wir saßen tagsüber in dem eiskalten, seewasserdurchtränkten weißen Marmorsaal in nassen eisigen Kleidern.

Nachmittags um fünf Uhr, ehe der Tag in Dämmerung bläulich zu dunkeln begann, sah ich im Osten durch die runden tellergroßen Fenster des Speisesaales am blaugrau vermummten Horizont weiße rollende Lawinen erscheinen. Es war, als stünden dort Festungsgeschütze hinter dem Nebel aufgestellt, die, statt mit Eisen, mit riesigen weißschäumenden Wasserkugeln schössen; diese vergrößerten sich schnell zu turmhohen Lawinen und waren im nächsten Augenblick schon über das Schiff hingerast, wandernde Wassermauern, die sich auf dem Schiffsdeck überschlugen, und die das Schiff im Einstürzen mit einem Regen von Steinen zu bewerfen schienen. Polternd dröhnte die Decke des Speisesaals nach jeder Meeressalve, als würden Frachten von wandernden, beweglichen Steinmauern ans Schiff geschoben und stürzten mit allen Steinen auf dem Deck zusammen; wir erwarteten in jeder Sekunde den Einsturz der Saaldecke.

Bald kam der Kapitän, der uns zuerst täglich tröstete, nicht mehr zu den Mahlzeiten. Auch die Offiziere und die Ingenieure hatten genug auf der Kommandobrücke und bei den Reparaturen der Dampfkessel zu tun. Wir waren immer allein. Bald gab es auch keine warme Suppe mehr, da sie sofort aus dem Suppentopf oder aus den Tellern in die Luft, an die Decke, an die Wände und Fenster floß, wenn der servierende Steward mit Lebensgefahr den oft von einer Welle senkrecht aufgerichteten Fußboden des Speisesaals erklimmen wollte und fortgeschleudert wurde. Meinen letzten Teller Suppe auf dem Atlant aß ich, indem ich den Teller wie eine Wand vor mein Gesicht hielt und die Suppe senkrecht vor mir stehen sah, denn alle Begriffe von aufrecht, wagrecht, schief verschwanden in dem chaotischen Geschleuder des Schiffes, das bald auf einer Seite lag wie ein Fisch auf einer Platte, bald aufrecht auf dem Kiel rutschte wie eine Ente, die taucht und den Steiß aus dem Wasser streckt; bald wieder stand das Schiff mit dem Backbord im Wasser und den Kiel wie einen Mast in die Luft gehoben, als wolle es sich wie ein gebäumtes Pferd nach rückwärts überschlagen.

Was Stille war, wußte niemand mehr. Die Ohren schmerzten, als wären sie brüllende Trichter von Grammophonen, in denen ein Höllenspektakel tobte.

Mitten in einer Nacht – es war die schlimmste – rief mich der Steward und sagte hastig:

»Stehen Sie, bitte, auf, der jungen Frau nebenan kann jeden Augenblick das Schlimmste zustoßen, sie hat wieder einen Herzkrampf wie am Tage, da sie in Vera Cruz an Bord kam.«

Ich lag wie immer angekleidet auf dem Bett, denn es war unmöglich, bei diesem Weltuntergangswetter an Auskleiden zu denken. Der Kapitän hatte gestern das bedenklichste Gesicht gemacht. Er sagte, seit er den Atlant befahre, habe noch nie ein derartiger Orkan zwischen Europa und Amerika gerast. Er sagte, wir sollten uns nicht auskleiden, man müsse aufs Schlimmste gefaßt sein. Man hatte die Rettungsboote mit Nahrungsmitteln und frischem Wasser versehen, und alles war klar, um das Schiff zu verlassen, sobald es ein Unglück geben sollte.

»Wir sind seit acht Tagen nicht mehr auf der allgemeinen Schiffsroute. Ich habe, um Zeit und Kohlen zu sparen, den Kurz quer direkt über den Atlant eingeschlagen. Wir können hier niemals einem Dampfer begegnen, also auf keine Hilfe oder Rettung hoffen. Wir sind hier in der Zone von vielen alten Wracks, die im Umkreis von einigen Seemeilen seit Jahren herumtrieben. Wenn ein solches Wrack nachts im Sturm von einer Sturzwelle auf unser Schiff geschleudert wird, dann sind wir verloren. Deshalb müssen wir, solange wir im Bereich dieser Wracks sind, Tag und Nacht angekleidet bleiben, um uns retten zu können.

Das hatte der Kapitän mir allein oben in seiner Kabine auf der Kommandobrücke anvertraut.

Er zeigte mir die Karte auf dem Tisch, wo mit Nadeln unser täglicher Kurs bis Havre abgesteckt war.

Passierte etwas an der Schraube oder versagten die letzten beiden Dampfkessel, dann trieben wir in einem wildfremden Gebiet des Atlant umher – einem Gebiet, so groß wie viele Königreiche, in dem niemals ein Schiff kreuzte.

Dies alles schoß mir durch den Sinn, als der Steward mich jetzt mitten in der Nacht zu der Dame rief.

Ich kam in das kleine Toilettenzimmer, das man zu durchschreiten hatte, um in die Schlafkabine der jungen Frau einzutreten.

Die Kranke lag in einem weißen Schlafmantel auf dem Bett; der Mantel war nach japanischer Art einfach auf der Brust übereinandergeschlagen.

»Ich bin es«, sagte ich ziemlich laut.

Eine elektrische Lampe am Kopfende des Bettes beschien das Gesicht der Liegenden.

Sie schlug die Augen auf.

Ich blieb am Fußende des Bettes stehen und hielt mich mit beiden Händen an einer der Messingsäulen fest.

Sie nickte mir zu, und ihre Lippen sprachen etwas, was ich bei dem Klirren einer Eisenkette, die über der Kabine draußen auf dem Verdeck straff gespannt hin und her rasselte, nicht verstand.

Ich hatte dem Steward gesagt, er müsse aus dem Schiffskeller Champagner holen, um der Kranken das Herz zu beleben.

Die junge Frau richtete sich auf und deutete lächelnd auf ihr Herz. Ich nickte ihr zu. Aber es war des Lärmes wegen unmöglich, ein vernehmliches Wort zu sprechen. Die Worte wurden vom Lärm in der Luft getötet und kamen nicht weit.

Wie ich noch unschlüssig dastand und nicht wußte, was ich tun sollte, erscholl ein Klirren, als ob eine ganze Küche zerschmissen würde, die Tür sprang von selbst auf, und herein aus dem Korridor rollten: eins, zwei, drei, vier, sechs, zehn weiße Teller, die alle wie rollende Diskusscheiben in die Zimmerecke liefen und sich dort mit gellendem Geklirr in einen rasselnden Scherbenhaufen verwandelten.

Draußen im Korridor und im Speisesaal klirrten gleichfalls Dutzende von Teller, die waren in Stößen aus einer aufgegangenen Büfettür herausgesprungen und waren nach allen Richtungen in Reihen durch den Saal, den Korridor und in die Kabinen gelaufen, wo sie unter betäubendem Gerassel zerschellten.

Die junge Frau sah mich einen Augenblick an, dann begann sie wieder das entsetzliche Gelächter zu lachen, das ich zum erstenmal in Tampiko von ihr gehört hatte. Ich ging sofort zu ihr. Ich nahm ihre Hände und schrie sie herrisch durch den Lärm an: »Sie dürfen nicht so lachen, hören Sie, gleich hören Sie auf so zu lachen, Sie ruinieren sich mit diesem Nervengelächter, ich befehle Ihnen, hören Sie auf und lachen Sie nicht mehr so!«

Ich schrie ihr dies, mit dem Mund dicht vor ihren Augen, in das Gesicht.

Sie zuckte noch einmal, zweimal; dann hörte sie zu lachen auf und sah mich stumm an, als ob sie sich besinnen müßte, wer es war, der ihr befahl. Darauf legte sie sich ganz still in die Kissen zurück. Dann kam der Steward mit dem Champagner. Ich ließ die Hände der Kranken los, nahm ein Glas, hielt es der Liegenden an den Mund, stützte mit der andern Hand ihren Kopf und winkte dem Steward mit den Augen, fortzugehen.

Das Trinken war ihr schwierig bei dem Schleudern des Schiffes, aber es gelang.

Ich hörte, wie der Steward im Eßsaal die Tellerscherben beiseiteschob, und bei diesem Geräusch sah mich die schöne Frau an. Nach einer Weile gab ich der Kranken ein zweites und ein drittes Glas Champagner zu trinken.

»Wir werden niemals wieder nach Europa kommen«, flüsterte die Liegende; sie hatte mich mit den Händen an den Schultern zu sich herabgezogen und sagte mir das nah ins Ohr, wobei mein Ohr von ihren Lippen berührt wurde.

Diese Berührung ging mir seltsam elektrisch durch den ganzen Körper. Diese Lippen erregten in mir ein Gruseln, als berühre mich Orla wieder, als wäre ich wieder in Mexiko in meinem Gartenzimmer an der Glorieta, wo wir uns im Mondschein zum erstenmal küßten.

Orla und ich.

Und nun überfiel mich in dem Höllenlärm eine wollüstige Sehnsucht, mit Orla vereinigt zu sein.

Vor acht Tagen hatte mich der Kapitän vormittags auf Deck gerufen und auf das schäumende Meer gezeigt. In dem weißen Gischt sah ich damals eine Herde kurzer roter Holzbalken schwimmen; das Meer wimmelte, so weit ich sehen konnte, von roten Hölzern.

»Ist ein Schiff untergegangen?« hatte ich da den Kapitän erschrocken gefragt.

»Ja, ein Frachtdampfer heute nacht, er hatte eine ganze Ladung Mahagoniholz; wahrscheinlich war es ein brasilianischer Dampfer, nach New York bestimmt. Da sehen Sie noch die Mahagonibretter schwimmen. Es ist gut, daß jetzt am Tag kein Sturm ist; wenn wir Sturm hätten, dann könnte es sein, daß mir diese Balken mein ganzes Schiff zerschlügen. Bis es Abend wird und der Sturm wieder losgeht, sind wir hoffentlich aus dem Bereich der schwimmenden Hölzer.«

Daran dachte ich jetzt, als ich auf dem Bettrand bei der schwachen Kranken saß und sie ganz still und gehorsam weder lachte noch weinte, sondern still lag, wie ich ihr befohlen hatte. Wo nahm ich nur den Mut her, ihr zu befehlen? Was scherte sie mich? Sie konnte mir Orla nicht wiedergeben – mein mutiges Mädchen, das nie schwach gewesen war, nie und vor nichts gezittert hatte.

War Orla jetzt bei allen den Geistern, die da auf das Schiff stürmten? Wollte sie mich zu einer hitzigen Brautnacht auffordern? Wenn das Schiff jetzt sinken würde, ich würde die Arme ausbreiten und Orla im Meertod erwarten. Ich wollte nicht erschrecken, ich wollte den Tod süß, als ein herrliches Wiedersehen mit Orla, genießen. Das ganze Meer würde wie schäumender Champagner um uns tanzen, das Schiff wäre wie nur ein tanzender Champagnerpfropfen, der auf den Wellen auf und ab flog. Der Sturm knallte Schüsse; das waren Champagnersalven – oh, keinen Augenblick würde ich zögern, in dem Gischt draußen dem Tod sehnsüchtig entgegenzuspringen, wenn jetzt der Kapitän käme und sagte, das Schiff gehe unter.

Und ich stand auf und ließ die Hand der schlafenden schwachen blonden Frau los. Vorsichtig leise brauchte man nicht zu gehen. Der Lärm verschlang jedes Geräusch. Ich schnallte nur den Riemen des Bettes über der Brust der Schlafenden fest, damit sie nicht hinausstürze aus dem Bett, wenn das Schiff sich zur Seite wälzte.

Sie läge jetzt sicher von den drei Glas Champagner leicht betäubt und träumte von ihrem verstorbenen schwärmerischen Mann, dachte ich mir. Ich wußte, der Steward hatte in dem Speisesaal auf dem Büfett noch einige Flaschen Champagner kaltgestellt.

Ich ging hinaus, tastete mich durch den dunkeln Saal, dessen weiße Marmorwände, beleuchtet vom phosphoreszierenden Schaum der Sturmwellen, bläulich schimmerten. Ich holte mir eine Flasche und wollte den Pfropfen nicht knallen lassen; ich dachte, ich könnte die Schlafende stören; als mir aber der Pfropfen dennoch aus den Fingern glitt und knallend aus der Flasche sprang, hörte ich selbst kaum den Laut, mit so ungeheuerlichem Gebrüll prügelten sich Schiff und Meerwellen und Sturmgiganten rund um mich, und der weiße Schaum flog draußen an den zwanzig finstern Fensterkreisen des Saales hell hinauf und hinunter, und ich mußte, um trinken zu können, immer ein Intervall zwischen zwei Wellendonnern und zwei vernichtenden Explosionen, die das Schiff halb umstülpten, abwarten.

Haha! Ich lachte vor mich hin. Nun war ich bald einer, der den Sturm auswendig kannte. Ich hatte mich in das Bombardement eingelebt; es hatte einen Takt, einen Rhythmus, und ich wußte genau, welche Geräusche, welche Bewegungen, welche Donnerstärke zu jedem neuen Takt der Höllenmaschine draußen gehörte. Ich trank Champagner für mich allein, auf dem langen Sofa ausgestreckt, um geben vom rasselnden Geklirr der Tellerhaufen, die durch den ganzen Speisesaal auf der Diele wie ein Haufe altes Eisen hin und her fuhren und knirschten.

Furchtbar drückend war die eingesperrte Luft im Schiff, gleichsam zusammengepreßt von den Wellen draußen; man fühlte den Druck des Wassers, als wäre man mit dem Schädel in einen Schraubstock eingeklemmt. Ich stand auf und versuchte die Tür oben auf der Saaltreppe zu öffnen; der Steward hatte abgeschlossen. Aber als ich den Riegel aufdrückte, warf mich ein breiter Wasserstrom von der Tür in den Saal zurück und übergoß mich mit eisiger Salzlake. Die Tür schloß sich knallend von selbst wieder, und ich setzte mich auf das Tischende, um nicht mit den Beinen durchs Wasser waten zu müssen.

»Orla! Wie lange muß ich auf dich warten? Komm schnell, komm, laß uns über das Meer tanzen, im Hochzeitstanz über ein Champagnermeer!« So sang ich ganz laut durch das Getöse, wissend, daß niemand im Lärm meine Stimme hören oder verstehen konnte. Dieses Schiff war mein Hochzeitsschiff. Auf diesem Schiff gab es nur mich allein, nur mich, der sich freiwillig mit dem Tod verheiraten wollte. Ja, mit dem Tod sich verheiraten, nicht vermählen, richtige deutliche Sprache paßte nur allein in diesen Höllenspektakel, bei diesem Ritt meines Schiffes ins Jenseits schwand alles Pathos. Nüchtern, herrlich nüchtern sah ich dem Tod entgegen; er wies mir den einzigen Ort, wo mich das Beste erwartete: sie, Orla, die ich jüngst noch im Arm gehalten hatte, erwartete mich. Und wieder rief ich laut: »Große Atlantseele, ich bete nicht zu dir: verschone mich, ich bete: töte mich und mache mich selig, selig mit meiner toten Geliebten!«

Der Sturm sang und schrie Gelächter von draußen durch Fenster und Türen zu mir herein. Und ich sang und lachte; und als ich mich umsah, hatte ich während des Singens schon die dritte Champagnerflasche zur Vorfeier meiner Totenhochzeit geleert.

Der Tod klopfte zwar draußen an die Türen, aber er zögerte und ermüdete mich durch sein Ausbleiben.

Der Lärm blieb gleichmäßig tobsüchtig, so daß ich mich, als ich still und müde wurde, noch von dem eigenen Lärm, den ich beim Trinken gemacht hatte, umgeben glaubte.

Wie ich eben vom Tisch springen wollte, fühlte ich, daß mich jemand an der Schulter berührte. Etwas ganz Weiches, Zartes streichelte mein Ohr.

Ich lag mit aufgestemmten Ellenbogen auf der Tischplatte ausgestreckt, ich wäre beinahe bei der Berührung erschrocken. Es war die Schiffskatze, die im Dunkeln mit ihren drei Jungen, die sie neulich während der Fahrt im Golf von Mexiko geboren hatte, auf der langen Tischplatte jetzt zu mir heranspazierte. Sie saß wahrscheinlich auch am liebsten auf dem Tisch, weil ihr der Fußboden zu überschwemmt war. Sie begann zu schnurren, und ihre drei Kätzchen schnurrten wie die Alte und umstrichen mich und waren lebensjung und sanft und lebenswarm, mit zartem, warmem Blut in den elastischen, schmächtigen, kleinen Körpern.

»Leben kommt, junges Leben, das den Todsucher anschnurrt, und das gestreichelt sein will!« sagte ich zu mir. Und ich liebkoste die ganze Katzenfamilie und wurde wiederum von ihr liebkost.

Warum war ich vorhin beinahe brutal zu der einsamen jungen Frau gewesen und hatte sie angeschrien, als ob ich ein Recht über ihr Leben und ihren Tod hätte?

Ich konnte doch die Katzen streicheln und wurde von ihnen wieder gestreichelt – warum hatte ich nicht die arme zarte Frau, als sie das Lachen, das furchtbar nervöse Lachen überfiel, ebenso gestreichelt und sie beruhigt mit Sanftheit und Geduld und Zartheit.

Sind wir nicht alle jeder ein Atom in der großen Weltseele, ein einziges zusammengehöriges Leben? So wie die Katzenfamilie, die sich jetzt auf meinem Schoß zusammengekauert hat, und die beruhigt schnurrt und einschläft – so hätte ich die kranke Frau wie mein eigenes Stück Leben in den Arm nehmen und hätte sie lieben und beruhigen sollen.

Nein, das wäre nicht gegangen, räsonierte mein körperliches Ich gegen mein geistiges Ich. Du hast vorhin noch deinen Körper mit Orla zu einem Körper vereinigen wollen; der Körper ist kein Geist, der sich blindlings zuneigt. Der Körper sträubt sich heute noch, einer Fremden gut zu sein, er trauert noch um Orla. Das Blut in ihm ist nicht rosigrot wie das Blut eines jungen Verliebten, das Blut ist tiefschwarz von Verzweiflung des Verlustes, vom Nachdenken und Trauern und von dem unendlichen Leid, das der Tod deinem Blut zugefügt hat.

Warte noch, der Geist fliegt dem Blut voraus, aber das Blut folgt nicht fliegend, Blut ist ein Teil der Erde, es braucht wie die Erde Tage und Nächte, bis es sich vorwärts bewegt; der Geist, die Weltseele, ist zeitlos, das Blut aber ist schwerrollend, irdisch und braucht Zeit, es ist wie der Bodensatz der Weltseele, es haftet, wo es einmal haftet, länger als der Geist, und du mußt dein Blut nicht verleugnen.

Dein Blut hat die Frau vorhin angeherrscht, es fürchtete sich, als ihre Lippen dein Ohr berührten und deine Seele elektrisiert aus deinem Körper in den Körper jener Frau hinüberglitt. Dein Blut jagte dich aus dem Zimmer, es stieß dich fort, es wollte lieber für Orla sterben; es ist jetzt noch sterbenszart und eher dem Tod als dem Leben zugetan, da es von viel Todesschrecken durchfärbt wurde. Nie kann man Menschen so schnell wie Tiere streicheln; mit den Tieren verbindet uns nur der Instinkt der Weltseele, mit den Menschen aber der Instinkt der Seele und der des Blutes.

Eine tiefe Harmonie zog nach diesen Gedanken in mein Inneres ein. Es war, als hörte ich nun den Sturm nicht mehr als einen chaotischen Lärm; der Orkan offenbarte sich mir als eine Harmonie, wie eine Hymne auf die Weltseele, die leidet und trauert und rast, und die auch im Rasen noch Göttlichkeit und Urweltharmonie verkündet – so wunderbar vertieft posaunte nun das Sturmgeheul, das aufbrausende Getürm der Sturzwellen, das Gedonner der Wellengebirge und selbst die Disharmonie der klirrenden Scherben im Schiff, der sägenden Töne an den Schiffsplanken, das Geächze und Geklage der Wände, der Ritzen und Dielen –, alles Geklapper, Geklirr und Gestöhn, das mich umgab, wurde in mir fast zu einer Stille. Ich hörte es nicht mehr. Wenn ich bedachte, daß ich hier als ein Todessehnsüchtiger saß und mit dem Menschenblut in meinem Leibe den Tod bewillkommte und mit der Seele nur ein wenig lebenssehnsüchtig noch an der Seele der Welt hing – da wurde selbst der Orkan zur Stille.

Kaum wie ein Goldhaar jener Frau da drinnen in der Kabine, mit so dünnen, so zarten Banden hielt mich noch die Weltseele fest am Leben; mein ganzes Blut aber rauschte mit dem Orkan draußen in einer harmonischen Todessymphonie. Ich erwartete die Sturzwellen, wenn sie durch die Decke hereinbrechen würden, nicht anders als eine Steigerung der Lust dieser Todesmusik, die mich umgab.

Ich träumte halb, halb wachte ich und streichelte die Katzenbrut und lag auf dem Tisch und sah das glitzernde Salzwasser mit den weißen, glitzernden Tellerscherben am Fußboden immer heller werden. Es wurde Tag draußen; zwischen den Schaumungeheuern kam die Bleibläue des Morgens durch die runden Scheibenluken in den Marmorsaal herein.

Dann krähten die Hähne mitten durch die Sturmwirbel, mitten im Gewasche und Geröchel von Wasser und Sturmluft krähten aus der Schiffsküche ein paar eingesperrte Hähne.

Dieser Morgenlaut, dieser Heimatruf war wohlig und irdisch beruhigend; ich sah im Geist die Hütten von Pouldu am Atlant in der Bretagne, wo ich zuletzt die Hähne von Europa hatte krähen hören. Die dicken Strohdächer des bretonischen Dorfes hinter den Rotdornhecken, bei den Reihen großer verrenkter Baumriesen, und daneben im gelben Rapsfeld sah ich in Gedanken eine riesige finstere Windmühle, die sich wie ein ungeheures Insekt mit hohen Beinen am Atlant entlang durch die Luft zu bewegen schien. Ah, der Karbonbleistift, den ich in der Tasche trug! Ich nahm ihn heraus und drehte ihn zwischen den Fingern. Die junge Mutter, die tote Österreicherin, kam zu mir in den sturmumheulten Marmorsaal des Schiffes, sie setzte sich neben mich auf einen der Drehsessel, von denen je zehn längs den zwei langen Tischen hüben und drüben an den Boden geschraubt waren. Jetzt bei Tag sah ich, daß, wenn das Schiff sich hob, sich alle vierzig Drehsessel nach links drehten, und wenn das Schiff mit dem Kiel in die Tiefe schoß, drehten sich alle vierzig Sessel nach rechts um ihre Drehachse. Nur ein Sessel rührte sich nicht. Auf ihm sitzt jetzt die Österreicherin, dachte ich, und nickte jenem Stuhl zu.

»Ich werde es nicht vergessen, arme, junge Mutter,« sagte ich zu dem Stuhl, »ich habe dir, wenn ich nach Europa komme, einen Kranz auf dein Grab zu legen. Droben im Montparnassefriedhof von Paris ruhst du. Und mein erster Gang soll zu deinem Grabe sein. Ich sehe dich, wann ich will, mit dem Mond durch die grauen Dünen von Pouldu gehen. Du hättest mich jetzt bei meiner Rückkunft erwarten sollen; warum griffst du zur Pistole, ohne dich mir erst anzuvertrauen? Du hattest doch keinen Geliebten im Totenreich drüben, der dich in das Grab holte. Wenn ich jetzt im Sturm sterbe, dann –«

Ein anderer Stuhl der Reihe blieb jetzt stehen und drehte sich nicht mehr nach rechts und nicht nach links – aber der erste, zu dem ich gesprochen hatte, der drehte sich, als wäre er wieder frei.

Orla ist eingetreten und hat sich auf den andern Stuhl gesetzt, und die Österreicherin ist aufgestanden und auf den Montparnassefriedhof zurückgegangen, sagte ich zu mir.

»Orla, die Nacht ist vorüber, und du hast mich nicht abgeholt. Bist du müde vom Orkan, vom Brauttanz – wollen wir zusammen über die Ebene von Mexiko reiten? Hast du auch dein Pferd im Stall vergessen und es stehenlassen und bist fortgereist, wie ich von ›Stella‹ fortgereist bin?

O sieh, die Finger der Schaumwellen, die an den Schieben draußen hinfahren und das Schiff erwürgen wollen mit allem, was darin ist! So hat dich jener Schuft zwischen seine Finger genommen und dich erwürgt.« – Plötzlich blitzte eine Erkenntnis durch mein Gehirn! »Warst du vielleicht auch eine junge Mutter wie die Österreicherin, weil du just hereingekommen bist und dich auf den Stuhl neben sie gesetzt hast, Orla? – Dein Mörder war dein Verführer gewesen! Suchtest du den Tod von seiner Hand – wolltest du deshalb nicht zu mir nach Europa kommen –, weil – weil du dich schon Mutter werden fühltest...? Orla? –«

»Oh!« Ich stöhnte und weinte in meine Hände, und als ich aufsah, standen alle Stühle still – auf allen Stühlen saßen Tote um mich, Ermordete, Hingerichtete und Selbstmörder.

Das Meer donnerte an die Saaltür, das Schiff flog aus dem Meer – einen Augenblick stand die ewig surrende Schiffsschraube, von deren Gang stets alle Wände zitterten, still. – Es war, als setzte der Herzschlag des Schiffes aus... War die Schiffsschraube gebrochen, standen wir entwaffnet und fielen als Wrack in die Abgründe des Atlant...?

Nein. Nichts war geschehen. Der Takt der surrenden Schraube setzte wieder ein. Die Wände vibrierten wieder wie vorher, und alle vierzig Drehstühle warfen sich eine halbe Minute lang nach links und dann wieder eine halbe Minute nach rechts herum.

Die Sturmstöße kamen vereinzelter; ich sah auf meine Uhr – es war acht Uhr morgens; und draußen klopfte der Koch an die Saaltür und rief nach dem Steward.

Ich sprang auf, und mir sprangen die Katzen davon, grau und flüchtig und lautlos, gleich meinen lebensmüden Nachtgedanken.

*

Etwas hatte sich in dieser Nacht in mir verändert. Ich fühlte mich zwar immer noch stolz darüber, daß ich glücklich sterben könnte, sobald das Schiff dem Untergang nah käme – daß ich nicht mit der Wimper vor dem Tode zu zucken brauchte –, daß ich die Todeskraft nicht mit der Lebenslust, sondern mit der Liebeslust in dieser Nacht besiegt hatte. Der Tod gab mich dem Zustand preis, dem Orla jetzt angehörte, er brachte mich also nur der Geliebten näher und konnte mich nicht von ihr entfernen. Entfernen von meiner Geliebten konnte mich nur die Zukunft, das kommende Leben.

Aber die Morgengedanken, der Einfall im hohläugigen Morgen, daß Orla eigentlich nicht mir gehört hatte, daß sie vielleicht sogar Mutter gewesen war, daß sie von den Händen, von denselben Händen, die sie umarmt hatten, erwürgt worden war – das flößte mir einen unbestimmten Schauder vor der Erinnerung an die Ermordete ein. Ich sah sie plötzlich nicht mehr so anschmiegsam mir gehörend wie vorher. Ich stellte mir ihren Liebeskampf und ihren Todeskampf vor und schauderte vor den grimmigen Bildern, die mir Orla entstellten.

Nie hatte ich vorher darüber nachgedacht, daß Orla jetzt im Tod wieder mit ihrem Mörder vereint war. Ich war im Leben, aber sie und er in einem mir fremden Element, im Element des Todes.

Warum hat mich nicht jene wahnsinnigste aller Sturmnächte verschlungen, mich zu ihr gebracht...?!

Hielt die Tote schon einen Toten im Arm, und konnte sie mich Lebenden nicht mehr bei sich brauchen? Ich zweifelte plötzlich an Orlas Liebe. Hatte sie mich wirklich so stark geliebt, wie ich es mir ausmalte?!

Sie war Mexikanerin und ich ein Deutscher, sie aus dem Kontinent Amerika, ich ein Europäer – trennte uns nicht von Jugend an ein Atlant, der sich nicht überbrücken ließ? Ich zweifelte jetzt, ob wir jemals glücklich geworden wären. Oh, ich hatte gute Zeit zum Grübeln, noch viele Sturmtage fanden mich in Betrachtung und viele Nächte auf dem Tisch im Saal ausgestreckt, und die Katzen kamen, und der Mondbrocken, der weißgesichtige, tanzte mit dem Schaum der Wellenpyramiden draußen, tanzte zwischen den Spiralen der rasenden Wolkenflüge, die im Orkan wie ein zweites stürmisches Meer am Himmel stürmten und den Mond und das Schiff und den Atlant mit sich fortzureißen schienen.

In diesem Gerenne aller Dinge, in diesem rasenden Fortwandeln, wo selbst der Luftraum über dem Kopf davonzueilen schien, und nicht bloß das Meer unter dem Schiff und nicht bloß die Zeit mit Tag und Nacht, in diesem ungeheuerlichen Vorbeistürmen aller Erlebnisse stürmten auch meine Empfindungen wie Wanderwellen in den Weltraum.

Täglich lag die stille blonde Frau im Saal auf der Sofabank in ihre Reisedecke eingewickelt, den blauen Schleier um den Kopf, durch den das Goldreich ihres Haares verborgen wie Gold auf dem Grund eines blauen Wassers blitzte. Täglich lag sie regungslos da vom Morgen bis zum Abend; nur ich und der Steward reichten ihr ein wenig Essen, oder ich saß bei ihr und faßte jetzt ab und zu ihre Hand und fühlte nach ihrem Puls, der immer schwächer und unfühlbarer wurde.

Der Champagner, den ich ihr hie und da reichte, wirkte nicht mehr belebend, sie wies ihn zurück und lag in einem Schwächezustand, welcher einem letzten Herbsttag glich, der sich schon zum Hergeben des letzten Blattes an den Bäumen, des letzten Halmes auf dem Rasen und zum Abtöten der letzten Asternknospe im Garten entschlossen hatte.

Der Steward und ich führten die Kranke am Spätnachmittag meistens in ihre Kabine und holten sie jeden Tag gegen Mittag von dort ab und legten sie behutsam in Kissen und Decken auf das Wandsofa im Speisesaal. Da aber alle Decken seewassernaß waren und der sechswöchige betäubende Sturmlärm, das Rollen und Stoßen des Schiffes und die höllische Kanonade der Wellen nicht aufhörten, machten wir uns alle darauf gefaßt, daß wir eines Morgens die junge Frau kalt und tot im Bett ihrer Kabine finden würden; und mit einem Grauen im Herzen betrat ich täglich die Kabine der Kranken, und aufatmend freute ich mich, wenn ihre Augen mich groß und offen ansahen und sie die Lippen bewegte, um mich zu begrüßen. Wenn ich auch nie in dem Sturm ihre Stimme, seit Wochen schon nicht mehr, gehört hatte – so war doch schon ihre Lippenbewegung für mich wie ein langes glückliches Gespräch.

Eines Mittags kam der Kapitän polternd in den Speisesaal und sagte, daß wir heute wieder Heizung haben würden, die Kessel seien repariert; und daß wir, wenn der Südwest fortgesetzt so heftig andauern würde wie heute, in drei Tagen die Leuchtfeuer der Lizardeilande von England sehen und dann am Morgen darauf in Havre, also in Europa, landen würden.

Der Kapitän sprach englisch, ich übersetzte die frohe Botschaft rasch der Holländerin; diese wendete den Kopf und sah sich um und nickte dem Kapitän zu. Der war ganz stolz, daß die Ingenieure endlich wieder die beiden Dampfkessel instand gesetzt hatten, und als am Nachmittag die wohltuende Wärme wieder in den Marmorsaal einzog, da war es, als ob mitten durch den Sturm eine unsichtbare Sonne zu uns hereinscheine. Endlich fühlte man wieder daß die Welt nicht bloß aus nassem Wasser, nasser Luft und nassem Nebel bestand – hatte man doch nicht mehr gewußt, daß man auch wieder in einem warmen Zimmer leben würde.

Die blonde Frau richtete sich allmählich auf; sie lächelte; sie verlangte Essen. Wir aßen zusammen und lachten uns zu, denn zu sprechen war wegen des Wellendonners und wegen des Windgeschreies noch immer unmöglich.

Am dritten Abend merkten wir, daß der Fußboden des Speisesaales nicht mehr wie ein Berg erklettert werden mußte, wenn man zum andern Saalende gelangen wollte. Das Schiff stellte sich nicht mehr senkrecht auf und kippte nicht senkrecht in die Tiefe; man sah sich auch wieder, wenn man in den Spiegel schaute, Gesicht und Spiegel flogen nicht mehr voneinander fort.

»Morgen früh sind wir in Europa«, verkündete dann der Kapitän eines Morgens.

Die junge Frau war schon aufgestanden und erschien zum erstenmal wieder gehend und sich an den Möbeln vorwärts tastend; ihr dichtes goldgelbes Haar war geflochten, und wenn es auch noch immer mit dem Schleier umwickelt war, sah man doch, daß sie sich Mühe gegeben hatte, ihr Haar zu ordnen.

Alle schüttelten ihr die Hände. Die Schiffsoffiziere kamen zur Mittagszeit, der Kapitän lachte und glänzte mit seinem blauroten Gesicht unter der goldgestickten Kapitänsmütze; er war sehr gerührt, daß die junge Frau am Leben geblieben war, so gerührt, daß er ihr die Hände küßte, als sie ihm die Hand reichte.

Am Nachmittag war ich beim Kapitän oben auf der Kommandobrücke und hörte seine Klagen. Er meinte, daß er, als Vater von fünf Kindern, immerhin auf Rücksicht hoffe. Die Reeder in Dublin würden ihm den Schiffsdienst nicht aufsagen, denn das Schiff wäre ja doch heil geblieben, wenn es auch dreimal soviel Zeit gebraucht hätte, als vorgeschrieben war. Aber wer hätte auch wissen können, daß die Dampfkessel leck würden, wer hätte einen solchen Orkan von vier Wochen voraussehen können! Aufgeregt ging der arme geängstigte und abgearbeitete Kommandant heftig in seiner Brückenkabine auf und ab und rief dazwischen durchs Sprachrohr Befehle zu den Maschinisten in den Heizraum hinunter.

Ich tröstete ihn und sagte, wir beide Passagiere würden an die Reeder nach Dublin schreiben, daß wir den unermüdlichen Kommandanten als unsern Lebensretter betrachteten, und ich versicherte ihm, daß es doch die Hauptsache wäre, daß er Schiff und Menschen doch noch heil heimbringe. Denn wenn unser Schiff auch bereits auf der Verlustliste verzeichnet stand, und wenn es jetzt auch drei Wochen zu spät kam, nachdem es schon zu den Toten des Atlant in allen Schiffslisten der Europahäfen aufgezählt stand, wie der Kapitän sagte, dann waren die Reeder in Dublin natürlich gar nicht ärgerlich, wenn das Schiff endlich doch noch, wenn auch mit dreifacher Reisezeitverspätung, heim in den Hafen einlief.

Immer noch tobte der Sturm um uns, wenn auch nicht mehr so wirbelnd und kreiselnd wie vorher; aber das schäumende Meer glich immer noch einer Alpenkette, die einem entgegenschwamm und sich fortgesetzt mit ihren Gletschergestalten verwandelte.

Wie seltsam wird es mir sein, wenn ich nicht mehr den Sturm durchschreiten muß und nicht mehr diesen schiefen, gebirgigen und marmorierten Fußboden des Meeres vor meinen Augen haben werde, dachte ich.

Ich sah mich im Geist von der Schiffsbrücke ans Land steigen, mich hinknien und vor allen Leuten den ersten Pflasterstein Europas, auf den ich trat, küssen. Es würde keine Ankunft, es würde eine Auferstehung aus einem vielfachen Sterben sein, wenn ich wieder Europa unter meinen Füßen fühlen dürfte.

An diesem Abend dachte niemand daran, zu Bett zu gehen; um ein Uhr in der Nacht, hatte uns der Kapitän verkündet, würden wir, wenn der steife Südwest standhielte, die Leuchtfeuer der Lizardinseln sehen können. Bei der angezündeten Hängelampe im Marmorsaal saßen die junge Frau und ich wieder traulich zusammen, wie zwei, die es immer gut gehabt hätten – so fröhlich glänzten unsere Augen einander an. Denn wenn das Grauen und die Schwächezustände überwunden sind, löst sich die Zunge leicht, und das Vergessen stellt sich schnell ein; Menschen, die Unglück miteinander ertragen und das Sterben miteinander vor Augen gehabt haben, die bleiben nach den Schreckensstunden einander immer verwandt.

Als es nach zwölf Uhr war, zogen wir unsere Mäntel an und wickelten uns in Schals und warteten auf den Kapitän, der uns rufen wollte, wenn die Leuchtfeuer erschienen.

Eingewickelt und ähnelnd einer dicken, unförmigen Tonne, so setzte sich die jetzt ganz frische und belebte junge Frau plötzlich an das schaukelnde Klavier und begann zu spielen.

Die Apollohymne!

Diese einfache, wunderbare Harmonie, dieser wandelnde Takt griechischer Tänzerinnen, die um Apollos Altar wandeln, indessen das Altarfeuer senkrecht ins Himmelblau nach Vereinigung mit der blauen Weltseele strebt, mit der Weltseele des Dichtergottes Apollo.

Nur wenige sanfte, feierliche Takte, rhythmisches Wiederholen und festliches Ausklingen in den blauen Himmel der Weltharmonie – das ist die Hymne.

Ich saß zwischen den vierzig Drehstühlen auf einem der ewig sich bewegenden und kreiselnden Stuhlkobolde und genoß die griechische Musik, ohne zu fühlen, daß ich noch auf dem Meere war. Die Nebelluft wurde zu Sonne, das Sturmwasser schwieg und wurde zu Wiesen und zu grünem Rasen, der alte Klavierkasten war der Altar Apollos, und die in unförmige Mäntel gewickelte Gestalt sah ich nicht, ich sah nur ihre zehn weißen, gelenkigen Finger, die sich dort wie zehn junge, schlankbeinige griechische Tänzerinnen wiegten und am Altar hinwanderten.

Ich wollte aufstehen und jene Finger von den Tasten nehmen und an meine Lippen führen.

Aber als ich aufstand und mich an einem der beweglichen Drehstühle stützte, da glitt ich auf dem Fußboden aus und fiel in ganzer Länge auf den Boden.

Es war zufällig der Stuhl, auf dem ich neulich die tote Mexikanerin in Gedanken hatte sitzen sehen, und ich sagte mir: die Tote ließ mich hinstürzen, die Tote will nicht, daß du sie verleugnest.

Bei meinem Sturz und meinem Gepolter sah sich die Spielende um, aber zugleich trat der Kapitän zu der Saaltür ein und rief uns. Dann ein paar Minuten später arbeiteten wir uns im Dunkel der immer noch tosenden Nacht zwischen gespannten Seilen über das Deck, und der Kapitän hielt die junge Frau fest und half ihr vorwärts durch den Sturm, der hohe Welle über das Deck warf. Wir mußten uns fest an den Seilen halten, um nicht von einem Wasserberg plötzlich über Bord geworfen zu werden.

»Es ist ein heftiger Sturm im Kanal heute nacht«, sagte der Kapitän.

Aber mir schien es auf einmal, als ich in der Ferne die Lichtpunkte der Leuchtfeuer sah und dann wieder das Meer betrachtete, als ob sich das Meer im Mondschein nur glitzernd bewege, als ob es glatte See sei. »Glatt wie der Wasserspiegel des Genfer Sees«, sagte ich zum Kapitän, als wir von der hohen Kommandobrücke hinuntersahen. »Wo sind denn die Gebirgszüge, wo ist die Atlantische Schweiz geblieben?«

»Ja, wir sind schon im Kanalwasser,« lachte der Kommandant, »und Sie sind seit Wochen die Atlantwellen gewöhnt; darum kommt Ihnen der Sturm im Kanal wie glatte See vor. Jetzt sind Sie sturmgetauft, nach diesen vier Wochen, für alle Zeiten,« lachte er, »jetzt werden Sie nie mehr wieder etwas Schlimmeres an Stürmen auf dem Atlant erleben können.«

Dann gab der Kapitän der jungen Frau eine Rakete in die Hand, er hatte die Zündschnur drinnen in seiner Kabine schon angezündet, und die weiße Rakete sollte als Signal in die Luft leuchten, mit dem Licht sollten die englischen oder französischen Lotsen gerufen werden.

Die junge Frau hielt den Arm hoch, die Rakete zischte, und der turmhohe weiße Magnesiumstrahl beleuchtete uns alle einen Augenblick, bis er dann im Weltraum erlosch.

Während das Licht der Rakete uns alle beschien, begegneten mir die Augen der jungen Frau. Sie hatte Tränen im Blick. Warum weinte sie? Sie hatte die Apollohymne gespielt und dabei an ihren toten Mann gedacht. Sie sah Europa und kehrte allein und als Witwe zurück; dorthin, von wo beide so schwärmerisch abgereist waren, glücklich und von Liebe und Zukunftshoffnungen umgeben – dorthin kam sie allein wieder. Ich hatte sie einmal küssen wollen damals nach dem Brande der Hochbahn in New York, als ich sie halb ohnmächtig im Automobil vom Broadway zum Hafen fuhr. Daran mußte ich jetzt denken. Morgen sollten wir uns für immer voneinander trennen, jeder von uns sollte morgen seinen Weg in Europa gehen, nach Richtungen, die weit auseinander lagen.

Einen Abend auf der Hinreise nach Mexiko, kurz vor Habana – hatte ich damals nicht den Wunsch gehabt, ein Raubmensch zu sein und diese Frau ihrem Mann zu rauben? Da war der junge Astronom zu mir gekommen und hatte Bekanntschaft mit mir geschlossen, und ich hatte alle verbrecherischen Liebeswünsche aufgegeben und die junge blonde Frau bis zur Landung in Vera Cruz nur im stillen angebetet, wie man ein geweihtes goldenes Heiligenbild betrachtet.

Die Meerluft, die Erlösung aus vielen Todesnächten, der Anblick des ersten europäischen Lichtes von den Leuchttürmen machten alle Sinne zu Giganten. Warum legten wir zwei einsamen Menschen hier auf der Brücke nicht die Arme umeinander, wir zwei Überlebenden, wir, auf die noch ein Leben voll täglicher Kraft und Arbeit dort an der europäischen Küste von morgen an wieder wartete? –

Es dröhnte ein dumpfer Schuß in der Ferne. Der Kapitän gab mir das Fernrohr und deutete nach Süden, wo die senkrechten Felsenklippen der französischen Küste wie eine graue Nebelmauer, vom Mond silbern berändert, dastanden. Die Küstenhöhen zogen sich am ganzen Südhorizont entlang gleich der langen Häuserreihe einer Gasse, auf deren Dächer der Mond schien.

Wieder erdröhnte ein dumpfer Schuß.

»Notschüsse!« sagte der Kapitän.

»Ich sehe bei der Küste im Mondnebel den dunkeln Rumpf eines Dampfers«, rief ich erschrocken.

»Es ist einer der schlimmsten Kanalstürme heute nacht«, sagte der Kapitän ernst.

»Wenn der Dampfer aufgerannt ist, dann ist er verloren«, meinte der Kapitän, und er nickte mir, vom Mond weiß beschienen, wie ein Totenkopf ernst zu.

Die junge Frau – ich sah mich um –, sie war die Treppe von der Brücke allein hinuntergestiegen und ging dort aus ihrem Mantel halb ausgewickelt: der Sturm riß ihr den Mantel halb von den Schultern.

»Um Gottes willen! Halten Sie die Dame fest!« rief der Kapitän, als er sah, daß diese zwischen den Seilen des unteren Verdeckes schritt und sich nicht anhielt. »Wir sind erst am Eingang des Kanals,« sagte der Kapitän rasch zu mir, »und es kommen oft noch große Ozeanwellen hinter uns her. Vorhin, ehe Sie kamen, wäre der Koch beinah vom Deck fortgewaschen worden. Es ist besser, Sie eilen der jungen Frau nach und sagen es ihr. Sehen Sie, wie sie stillsteht und das Meer betrachtet. Sie ist dort keinen Augenblick lebenssicher.«

Ich war mit ein paar Sprüngen unten auf dem Verdeck – da sah ich vor mir aus der Meerestiefe einen bis zum Mond emporblähenden Wasserberg steigen, der schoß wie eine ungeheure graue Stahlwalze heran, war im Nu haushoch über Bord, über dem Schiff, ging über die Mastspitzen hoch in die Luft; vor mir verschwand alles, und mich selbst preßte ein ungeheurer Luftdruck an ein Rettungsboot.

Und wußte blitzschnell, das Wasser würde wie eine riesige Lawine über das ganze Schiff fegen. Ich rief: »Hanna!« – Ich rief: »Eine Ozeanwelle!« Und dann hielt ich in der mich umgebenden Finsternis und in der Eiskälte des Sturzwassers plötzlich die junge Frau in den Armen. Sie war geflüchtet und vom Wasserdruck zu mir geschleudert worden. Ich hielt sie unter dem Geprassel und Gedonner, die das ganze Schiff durchdröhnten, fest wie mit Eisenfäusten an mich gepreßt, indessen ich eine Schulter an das Rettungsboot stemmte und mich mit den Zähnen an einem Tau festbiß, um nicht von dem Boot fortzugleiten und über Bord geschwemmt zu werden.

Dann kamen der Kapitän und Leute, sie rissen uns unter die Treppe der Brücke, denn der ersten Sturzwelle folgte eine zweite. – Später, als wir in dem weißen Marmorsaal wieder in Sicherheit waren, sahen wir uns um, als wären wir beide von den Toten auferstanden. Der Saal, der uns so vertraut und voll von wochenlangen Schrecken war, empfing uns wie unser gemeinsames Haus so heimisch, und die brennende Hängelampe über dem Tisch, die vierzig kreiselnden Drehstühle – alles, was wir hier ausgestanden hatten, war verblaßt gegen diese letzten Sekunden eines wirklichen Kampfes mit dem Untergang.

»Jetzt wären wir bei den Fischen«, sagte die junge Frau und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

Das Klavier, auf dem sie vorhin die Apollohymne gespielt hatte, stand noch offen und zeigte die weißen Tasten.

Ich nahm ihre Hände, die zehn Tänzerinnen, die ich vorhin hatte küssen wollen – aber sie entzog mir ihre Finger.

»Glauben Sie mir, seit Sie mich neulich nacht anschrien, daß ich nicht mehr lachen dürfe, fürchte ich mich vor Ihnen; es ist jetzt jemand in mir, ich bin nicht mehr mit meiner Trauer allein; ich bin verfolgt von diesem Ton, dieser Stimme, die mir Gehorsam befohlen hat, und – ich kann Ihnen nicht einmal dafür danken, daß Sie mich vor der Ozeanwelle retteten...«

Sie schwieg.

Ich sah wieder die Frau vor mir, die ich damals als Raubmensch ihrem Gatten hatte wegnehmen wollen. Ich sah sie plötzlich wieder ganz so, wie ich sie schon längst vergessen hatte. Ihr Haar glänzte wie das Messing der Hängelampe, und ich hatte Lust, mein Gesicht in diesen weichen Haarwellen zu vergraben, die wie eine Fülle von goldgelben Blumen das Haupt der jungen Frau schmückten. Ich bewunderte die schöne Frau, die im weißen marmornen Saal wie ein herrliches Schmuckstück leuchtete. Wo war sie so lange gewesen? Wo war ich gewesen, daß ich sie jetzt erst wiedersah?

Ich hatte vorhin die ersten Lichter von Europa wiedergesehen, und es war, als scheine das Leuchtturmlicht nun auch durch die Schiffswände. »Europa!« sang es rund um mich her. »Europa!« sangen die knarrenden Schiffswände. »Europa!« sang der Regen draußen und der Wasserschaum an den Kabinenfenstern; das Schiff war wie ein riesiges Harmonium geworden, ich fühlte mich getragen von dem feierlichen Akkordklang: »Europa.« Wie eine Verheißung tönte es durch diese Nacht, durch mein Blut und durch meine Zukunft: »Europa!«

Sie, die Europäerin, erkannte ich jetzt wieder, nachdem der Atlant und Mexiko und Amerika mir das Blut im eignen Leibe entfremdet hatten. Dieses Land über dem Wasser drüben voll von Alpträumen, von Götzenbildern, von Raubmenschen; dieses Land, wo man Mißgeburten verehrte und mich, den Europäer, stündlich wie einen Eindringling, wie einen Todfeind, wie einen vom Erdboden gehaßten, von der mexikanischen Erde und vom mexikanischen Himmel Verfluchten verfolgt und gefoltert hatte – und sie, die ich eben aus dem heimtückischen Überfall der letzten Ozeanwelle gerettet hatte, sie, die wie ich vom fremden Kontinent da drüben beraubt, verfolgt, gefoltert worden war – sie war mir nun nicht bloß die Blutsverwandte aller Leiden, sie war auch wieder Europäerin wie ich Europäer, Mitglied eines großen, gesitteten, kulturreichen und geordneten Weltteils geworden, seit das Licht der europäischen Leuchttürme in unsere Augen gefallen war, seit wir die europäische Küste im Mond gesehen hatten, und seit sie das Raketenzeichen in die Luft geschickt hatte.

Ich stand auf und mußte die bleiche weiße Frau umarmen. Ich küßte sie auf den Mund. Und ich sagte, den Mund wieder dicht vor ihren Augen: »Hanna – wir dürfen nicht auseinander gehen – –«

Sie lag mit dem Kopf an meiner Schulter. Einen Augenblick lag sie still, und ich durfte ihr Haar, ihre Wange, ihre Lippen küssen und streicheln, durfte diese Frau einatmen wie einen einzigen Atemzug. Mit geschlossenen Augen küßte ich mich bis in ihr Herz.

Sie faßte meinen Kopf, preßte mich fest, fest an ihre Brust, sie küßte mich wieder, wieder und wieder. Dann murmelte sie: »Oh, dies ist Liebe! Gott im Himmel, verzeih mir, wenn ich eine Sünde begehe und diesen Mann küsse. Es konnte ja nicht anders sein. Ich wußte es in allen Zeiten, seit ich ihn zum erstenmal sah – o Gott, verzeih mir, daß ich das wußte –, daß wir uns einmal küssen würden und liebhaben – das wußte mein Blut; meine Gedanken sagten es nicht, aber mein Blut wurde süß, wenn ich dich ansah, Rennewart.«

Mußten wir beide deshalb Europa verlassen, um uns zu finden, und mußten du und ich wieder einsam in diesem Schiff nach Europa zurückkehren, um uns zu finden? – Dann kann der Himmel, der das eingerichtet hat, diese Küsse jetzt nicht sündig finden, diese Küsse, die du mir noch im Trauerkleid gibst, dachte ich bei mir und vergrub mein Gesicht in ihr Haar. Und weiter dachte ich: Keiner von uns wußte, ehe wir Europa verließen, daß wir beide zusammengehören. Als ich dich deinem Mann rauben wollte, da stellte sich dein Mann unbewußt zwischen uns, machte uns zu Freunden und entwaffnete mich durch diese Freundschaft.

Aber jetzt küßten wir uns schweigend, wie Menschen, die sich nie mehr wieder verlassen wollen.

»Aber in Mexiko, da liebtest du eine andere – die dir starb –«, sagte Hanna leise und vorwurfsvoll – »ich habe es in den Zeitungen gelesen.«

»Ja, ich liebte, wie das Blut liebt, das nicht einsam sein will. Aber dich liebe ich nicht wie eine Seltenheit, nicht wie eine fremde Festlichkeit, dich liebe ich, wie ich den Erdboden liebe, der mich geboren hat, dauernd, einfach und irdisch, ohne Abenteuersucht; uns hat derselbe Erdteil geboren, und wir gehören zusammen; uns hat nie ein Atlant getrennt.«

Und ich genoß es, in Worten das auszusagen, was mich immer in Mexiko bedrückt hatte, wenn ich dort eine Fremde lieben wollte. Meine Sinne liebten dort, aber nicht meine ganze Person; ich war in der Liebe zu Orla immer ein gedemütigter Fremder gewesen, der von ihr geliebt wurde, aber einer, der ihrem Wesen nicht angeboren war, nicht von der gleichen Rasse, nicht auf demselben Kontinent geboren.

Nie war ich mir dessen so bewußt wie jetzt, wo ich die goldblonden Haare dieser Frau streicheln durfte – meine Hände fühlten sich nicht mehr leer und gierig, sondern waren zu Hause bei diesem seidenen Blond, bei dieser weißen und rosigen Haut, die wir der Meeresschaum in der Morgenröte glänzte, die jetzt an den Fenstern sanft die Schaumwellen färbte, als wären sie Rosenbüsche.

Während wir uns im Speisesaal stundenlang geküßt, geliebkost, befragt und geschwiegen hatten, um uns liebevoll zu belauschen und unsere Liebe bewältigen zu können, war es sanfter rosiger Nebelmorgen geworden. Ein fliegender Vogel, der in der Morgenröte nach Osten flog – war das Schiff.

Wir lehnten Kopf an Kopf an einem der runden Fenster, knieten auf dem Wandsofa, hielten uns umfaßt und sahen in die sich rosenrot enthüllende Morgenwelt. Auf den nächsten hohen Felsenufern waren Häuser, Vororte von Havre, kleine europäische Häuser; europäische Menschen wohnten dort unter den Dächern. Hanna fragte: »Wozu ist nun das alles gewesen, daß wir von Europa fort mußten?«

»Mutter Europa hat uns erst fortlaufen lassen, damit wir wissen, daß wir eine Mutter Europa haben. Vielleicht hätten wir uns in Europa nie entdeckt.«

»Ich war so europamüde,« sagte sie, »aber nun will ich es nicht mehr sein – solange du es nicht bist –«, setzte sie lächelnd und mit schöner weiblicher Vorsicht hinzu. –

Dann verabredeten wir, daß wir uns noch für ein paar Tage trennen müßten, danach wollten wir uns in Paris, wo Hanna ihren Musiklehrer aufsuchen wollte, wiedersehen. Ich würde nur für drei Tage nach Berlin und nach Bayern reisen und dann zu ihr kommen, um das Leben dann für uns so einzurichten, wie wir es am besten finden würden.

Wir gingen an Deck und stellten uns dem gar nicht erstaunten Kapitän als Verlobte vor. Und als er fragte, ob uns die Ozeanwelle einander in die Arme geworfen habe oder die Ankunft in Europa, sagte Hanna: »Die Ozeanwelle.« Ich aber entgegnete entschieden: »Es war der Anblick von Europa, der mir wieder die richtigen Augen gegeben hat, um Hanna zu sehen.«

Darüber stritten wir lächelnd. Und Hanna sagte: »Die Ozeanwelle aber hat dir die Arme zu den Augen gegeben, um mich zu umarmen und zu halten.«

»Aber«, widersprach ich, »Europa hat mir zu den Augen und Armen auch noch das richtige Herz gegeben.«

An diesem Morgen, als das Schiff gegen neun Uhr am Kai von Havre anlegte, war der Hafen von der nächtlichen Sturmflut bis in die Straßen hinein überschwemmt, und wir wurden mit Kähnen über das Pflaster gerudert.

Man begrüßte uns erstaunt; die Agenten des Schiffsbureaus, die mit im Kahn waren, waren verwundert, daß das verloren geglaubte Schiff sich gerade in der schlimmsten Sturmnacht durch den Kanal heimgefunden hatte. Man berichtete uns, daß ein großer Dampfer mit vielen hundert Passagieren ganz in unserer Nähe untergegangen war.

Der Sturm hatte ihn auf die Klippen geworfen, er gab Notschüsse ab, aber es war wegen der Brandung unmöglich, an das Schiff zu kommen, es ging mit allen Seelen unter.

»Und uns ist der Kanal glatt wie ein Teich erschienen gegen die Orkanwochen auf dem Atlant«, sagte ich zu dem Agenten.

»Nun sind Sie wohl froh, bald wieder Pflaster unter den Füßen zu haben?« fragte der Agent lachend.

»Ja, und besonders froh, daß es europäisches Pflaster ist«, sagten wir, Hanna und ich, wie aus einem Munde.

Die vielen hellen, das Meerlicht und den klaren Winterhimmel widerspiegelnden Fenster der Stadt Havre glänzten uns entgegen.

Es war, als tanzten alle Häuser vor uns, wenn ihre Scheiben vor Licht zuckten und sich bewegten, als drängten sich uns die Reihen der Häuser aus der Stadt entgegen.

Über dem stummen Entzücken, Europa mit jedem Schritt zu fühlen, »Mutter Europa«, vergaß ich für Augenblicke fast Hanna an meiner Seite. Während wir aus der überschwemmten Hafenstraße auf Bretterplanken zu einer trockenen Straße schritten, sprach ich nur immer von dem Glück, wieder auf der europäischen Erde und nicht mehr auf dem Atlant zu sein. Ich hatte gar nicht beachtet, daß Hanna allmählich still, fast herausfordernd still geworden war. Sie hatte immer noch ihr graues Reisekleid an, das sie auf dem Schiffe getragen; es fiel mir auf, daß sie ihre Toilette für Havre nicht gewechselt hatte. Auch ihre Handschuhe schienen mir abgenützt, und als sie das Kleid hob, sah ich, daß ihre Schuhe vom Salzwasser der Seereise Flecken bekommen hatten. Doch daß die arme Frau vielleicht kaum zwei Kleider, daß sie keine Handschuhe und keine Schuhe mehr hatte, kam mir nicht in den Sinn. Auf dem Schiff, in dem von allen Sturmgiganten umheulten hölzernen großen Sarg, der uns wie durch tausend Begräbnisse über den Atlant getragen, sich in tausend Wellengräber gesenkt und tausendmal Auferstehung gespielt hatte, bis er endlich wieder endgültige Ankunft im realen Leben mit uns feierte – dort auf dem Schiff hatte keiner sich um die Toilette des andern kümmern können; jeder sah so gut aus, wie er aussah. Aber nun schwieg das Meer, das großzügige, und das kleinliche Straßenpflaster trat wieder in seine Rechte ein, und die kleinen Schaufenster, an denen wir vorüberschritten, um zu einem Wagenhalteplatz zu gelangen, spiegelten unsere Kleider mehr zurück, als der große Spiegel des Atlant es getan hatte. Trotzdem dachte ich nicht, daß bei uns die Kleiderfrage die erste sein müßte, die wir so viel Gefühl reden lassen konnten, so viel hellauf brennende Leidenschaften zu bewältigen hatten.

Aber Frauen fühlen vorsichtiger und bewanderter als Männer in der Rücksicht auf Kleidung, und so kam es, daß ich mitten im Rausch über die Heimkehr in den Heimatkontinent eine Scheu empfand, mit irgendeinem Blick Hanna vielleicht zu beleidigen, indem ich zufällig auf ihre Handschuhe oder auf ihre abgenützten Stiefel sähe. Ich nahm mir deshalb vor, meine Augen in der Gewalt zu behalten und Hanna nicht mit Blicken zu stören, die ihr ungemütlich sein könnten.

Aber der Mensch sollte den Menschen, für den er Liebe und Leidenschaft hegt, immer mit seinen Vorsätzen und Gedanken bekannt machen, denn niemand ist empfindlicher als Verliebte; wenn sie noch neu in ihrer Liebe sind und aufeinander hinhorchen, kommt es vor, daß sie sich Rätsel aufgeben dadurch, wenn sie schweigend Vorsätze fassen.

Als ich mit Hanna in einen Wagen steigen wollte, um zum Bahnhof von Havre zu fahren, wohin unser Gepäck beordert war, und von wo wir eine gute Strecke zusammen reisen sollten, bemerkte ich plötzlich, daß ich den Rubinring, den mir Orla gegeben hatte, nicht mehr am Finger trug. Ich wußte, ich hatte ihn in meiner Kabine auf den Tisch gelegt.

»Laß den Ring sein«, sagte mein Herz. »Aber nein,« meinte mein Verstand, »du wirst doch schnell zurückgehen und den Ring vom Schiff holen.«Und ich bat Hanna, voraus zum Bahnhof zu fahren, ich würde in zehn Minuten nachkommen, ich hätte auf dem Schiff einen Ring liegenlassen. Ich wollte nicht, daß er gestohlen würde, und wollte deshalb selbst umkehren und ihn holen.

»Ist es ein kostbarer, wertvoller Ring?« fragte Hanna bestürzt. »Vielleicht hat ihn dir die Ozeanwelle vom Finger gerissen.«

»Von Orla ein Rubinring«, sagte ich lächelnd. Im gleichen Augenblick zogen die Pferde den Wagen schon an, und ich konnte Hannas Gesicht nicht mehr sehen, denn sie saß im Wagenfond, während ich noch draußen am Trottoirrand stand. Ich winkte dem Kutscher, er solle Hanna zum Bahnhof fahren, und ahnte dabei nicht, daß ich sie nie mehr sehen sollte.

Als ich mit dem Rubinring am Finger eine halbe Stunde später zum Bahnhof kam, sagte mir der Schiffsagent, der meine Koffer dorthin gebracht hatte, die Dame sei soeben mit dem Pariser Schnellzug abgereist. Sie habe im Restaurant während der ganzen Wartezeit einen Brief geschrieben. Und der Agent übergab mir ein mit Bleistift beschriebenes blaues Kuvert.

»Liebster, wir sind nicht mehr zu zweien, seit wir landeten. Dich begrüßt die Heimat, und mich begrüßt die Heimat.

Ich muß dir außerdem sagen, daß mich die Heimat nicht so lachend begrüßt wie Dich: sie kommt mit dem Schrecken der Armut zu mir. Das Geld, das wir besaßen, wurde beim Herumziehen in Mexiko und für meines Mannes Einkäufe und Krankheit ausgegeben. Wir sollten zum Bau der Sternwarte und zum Weiterleben Geld von einem Verwandten bekommen, aber mit dem Tod meines Mannes fiel diese Unterstützung fort, und ich will mich auch nicht an Verwandte wenden. Ich mag aber auch nicht, daß Du Dich im Augenblick eines stürmischen Geständnisses an eine arme Frau gebunden haben sollst. Die Ozeanwelle hat uns einander in die Arme geführt, und keine macht auf der Welt reißt mein Herz von Deinem; auch wenn ich nicht bei Dir bin, gehöre ich nur Dir.

Wenn ich mir in Paris mit Musikstunden etwas Geld verdient habe und Dich auch äußerlich würdig empfangen kann, werde ich Dir gleich schreiben. Bis dahin suche mich nicht auf, suche nicht nach meiner Adresse; ich schreibe Dir in Deine Vaterstadt, wohin Du jetzt zu Besuch reisest, wie Du mir sagtest.

Glaube mir, daß ich jetzt nicht gern eine Tote für Dich bin, aber es wäre unwürdig, wollte ich anders handeln, als es mir die Liebe zu Dir vorschreibt.«

»O wie töricht«, rief mein Blut, als ich den Brief gelesen hatte. »Die Welt ist eine Raubwelt, und man muß sich die Liebe in ihr rauben, und nicht die Liebe einrichten und würdig einrichten wollen, wenn sie sich nicht würdig darbieten will. Man liebt sich doch, weil man einander sein Blut und seinen Leib anbietet, und nicht, weil man die Kleider des andern anbeten will. O Hanna, warum haben wir uns nicht heute nacht Fleisch und Blut gegeben, warum habe wir gewartet, bis uns Europa empfing und bis das Straßenpflaster uns trennte? Eine Ozeanwelle hat uns aneinandergedrückt – die Liebe ist ein Ozean, der auch über das Pflaster fluten sollte, dort, wo kein Atlant hinreicht. Die Liebe will großzügig genossen sein, jeder Tag der Liebe, jede Stunde muß fähig sein, das Blut in Ozeanwellen aufrauschen zu lassen, so daß Armut, Alltag und Pflaster davon überschwemmt werden. Oh, warum war ich kein Raubmensch, Hanna!«

»Wir werden uns nie wiedersehen!« klagte mein Blut in allen den nächsten Tagen, während ich nach Paris eilte und Hanna suchte, sie tagelang suchte und nicht wiederfinden konnte.

Einen Menschen in Paris zu finden, das ist nicht so einfach wie in Berlin, wo jeder binnen vierundzwanzig Stunden angemeldet ist. Ich setzte alle Detektivbureaus, die sich darboten, in Bewegung und kam endlich zu dem Resultat, daß Hanna gar nicht in Paris ausgestiegen war; entweder war sie nach Rotterdam gereist oder nach Deutschland. Von der Mutter Seite war sie Deutsche, von des Vaters Seite Holländerin, und einige Verwandte von ihr lebten in Rotterdam, einige in Deutschland am Bodensee. Alles dies konnte ich ermitteln. Auch hatte sie verwandtschaftliche Beziehungen in London und in Petersburg. So viel wurde mir klar: wenn Hanna nicht selbst an mich schriebe, könnte ich sie nicht mehr finden.

Meine Freunde, die mich am Bahnhof Saint-Lazare in Paris abholten, sagten, daß ich auf dem Meer durch das Schreien in dem Sturm eine so mächtige Stimme bekommen hätte, daß sich alle Leute in den Straßen nach mir umwendeten, wenn ich spräche. Ich glaube aber: es war der Schreck und die jagende Angst, Hanna für immer verloren zu haben, die meine Stimme so laut machte, daß alle Bekannten sich wunderten.

Nach dem vergeblichen Suchen in Paris mußte ich eine notwendige Reise nach Berlin unternehmen; dort wurde ich bis in den Frühling hinein aufgehalten, aber als herrliche lange Maiabende kamen, packte mich eines Abends eine unruhige Sehnsucht, nochmals nach Paris zu reisen und Hannas Spur zu suchen. Es wurde mir dann noch eben vor der Abreise berichtet: eine Dame, wie ich sie beschrieben hätte, eine Dame mit auffällig gelbem Haar, sei Gesanglehrerin in einer altadeligen französischen Familie, aber sie lebte dort unter einem angenommenen Namen und sehr zurückgezogen.

Als ich am Nordbahnhof in Paris ankam, war es ein heller Maiabend; wunderbar blendend milchweiß war der Abendhimmel, und die Straßen liefen alle Blau in die Dämmerungsbläue hinein, als münde jede Straße unter dem weißseidenen Abendhimmel in einen blauen Wald. Da ich Paris so schön sah, geheimnisvoll beleuchtet von dem blauweißen Maiabend, glaubte ich sicher, daß ich Hanna heute abend noch finden würde. Ich sah das schöne Abendlicht als eine gute Vorbedeutung an.

Spät an diesem Abend, nachdem ich mich im Hotel umgekleidet hatte, schlenderte ich mit dem unerläßlichen Zylinder auf dem Kopf die Rue Royale entlang zu den großen Boulevards, wo bereits vor dem Grand Café und dem Café de la Paix die elektrischen Lampen brannten und die Strohhüte der Damen wie erotische Blumensträuße unter den rotundweißgestreiften Leinendächern der Caféterrassen leuchteten. Die Wangen der vielen gepuderten und geschminkten Gesichter und die Lippen, die farbroten, und Augenwimpern, die dunkelbemalten, lachten künstlich, alle Damen glänzten wie neue Pfingstpuppenköpfe neben den glänzenden schwarzen Zylinderhüten der Herren. Das Gewühl der Wagen, die zu den Theatern fuhren, eilte mit vielen Reihen von Gesichtern an den Gesichtern der Kaffeehäuser und an den Gesichtern und Gestalten der tausend Abendspaziergänger vorüber.

Ich saß an einem Marmortisch bei einem Glas Grenadine und hörte einem Gespräch zu, das hinter meinem Rücken geführt wurde. Man erzählte von einem großen Unglück, von einem Brand. Von Hunderten von Leichen. Ich bin doch nicht mehr in Mexiko, dachte ich und rief einen Zeitungsausrufer und kaufte ein paar Abendblätter. Da las ich von einem Basarbrand, der, während ich hier im Café saß, immer noch wüten sollte. Ein großer Teil der französischen Aristokratie war unter den Opfern des Wohltätigkeitsbasars aufgezählt – unter der Liste der Schwerverwundeten finde ich, als Musiklehrerin in einer Herzogsfamilie eingetragen – Hannas Namen! – – –

Noch am selben Abend stand ich in der Charité an Hannas Bett; sie lag mit Binden umschnürt. Ich sah kaum ihre zwei Augen. Aus den weißen Binden sahen mich diese zwei Augenkreise bis zum nächsten Morgen unaufhörlich groß an. Ich konnte nicht sehen, ob sie lächelte, ich konnte nicht sehen, ob ihre Lippen sich bewegten, denn ihr Gesicht war vollständig in die weißen Binden und Bandagen eingewickelt, ebenso ihr Körper und ihre Glieder.

Ähnlich hatte wir uns wochenlang auf dem Atlant angesehen, wenn sie, in den blauen Schleier gewickelt und in die Reisedecken eingehüllt, auf dem Schiffssofa lag und sich nicht rühren konnte vor Sturm und Herzschwäche, und wenn ich ihr manchmal Essen oder zu trinken reichte.

Ich sah jetzt von ihr nur zwei Pupillen in den stahlblauen Iriskreisen und die silberigen weißen Augäpfel – kein Laut wurde zwischen uns gewechselt, keine Hand wurde gerührt, keine Geste gemacht, nur unsere Augen sahen einander totenstill stundenlang an. Da auch die Ohren verbunden waren, konnte sie meine Stimme nicht hören. – Am Morgen schauten mich diese blauen Iriskreise noch an, aber – sie sahen mich nicht mehr. –

Am gleichen Vormittag noch besuchte ich den Herzog von D., in dessen Haus Hanna gelebt hatte. Obwohl ich aus den Zeitungen wußte, daß auch die Herzogin von D. zugleich mit Hanna bei dem Basarbrand ein Opfer jener Katastrophe geworden und ihr Mann also in tiefer Trauer versetzt war, mußte ich doch den Herzog sprechen, um mir von Hanna berichten zu lassen.

Ich nahm an, daß der Herzog einem von der gleichen Trauer betroffenen wie ich es war, eine Unterredung nicht verweigern würde; ich kannte den Herzog auch schon flüchtig, ich hatte ihn einmal in England bei der französischen Exkaiserin Eugenie ein paar Augenblicke gesprochen.

Er empfing mich auch sofort, und wir saßen mehrere Stunden in Hannas Zimmer, wohin er mich führte. Der Herzog, der ein Mann Ende der Fünfziger war, erzählte mir dort in dem mit blauen Veilchentapeten und blauweißen Seidenstoffen ausgestatteten Frauengemach von der Toten, von der Zuneigung, die er und seine Frau für das Violinspiel und für die schöne Stimme Hannas gefaßt hätten.

»Aber sie wollte nicht länger als drei Monate bei uns bleiben; sie war als musikalische Gesellschafterin bei uns, und es war eigentümlich, wie sparsam und beinahe etwas geizig diese Künstlerin mit dem Gehalt umging, das sie sich ausbedungen hatte. Wir dachten öfters, es müsse eine besondere Bewandtnis damit haben. Und wenn Sie mir jetzt sagen, daß sie zu stolz war, um von Ihnen Geld anzunehmen, und daß sie sich selbständig aus eigenen Mitteln kleiden wollte, um dann würdig zu Ihnen zu kommen, so verstehe ich, daß der Dame vermeintlicher Geiz und ihre Lust am Verdienen in der Aussicht gipfelten, Ihnen dann nach drei Monaten würdig entgegentreten zu können, sobald sie sich Geld zu einer Ausstattung erspart hätte. Wir glaubten oft, die Melancholie der Dame gälte ihrem in Mexiko verstorbenen Mann, und ahnten nicht, daß sie sich nach einem Mann, den sie liebte, sehnte. Nur einmal dachte ich, es sei möglich, daß sie heimlich eine tiefe Neigung verberge. Sie sang mit Vorliebe ein altes deutsches Volkslied, das der »Totenmarkt« heißt, und in dem Lied ist von todesmüden Leuten die Rede, die sich dem Tod anbieten: einem Greis, einem sterbenden Krieger und einem sehnsüchtigen Mädchen. Den Vers dieses Mädchens, das sich auf dem Totenmarkt anbietet, sang Hanna so wundervoll, daß meine Frau sie bat, diesen Vers in einen unserer Phonographen hineinzusingen.«

Ich bat, das Lied hören zu dürfen.

Der Herzog ließ von einem Diener einen kleinen Phonographen bringen. Aus der Walzenschatulle entnahm er eine kleine Walze, die er selbst behutsam in den Apparat einfügte.

Und der Trichter des kleinen Phonographen begann plötzlich mit Hannas Stimme den Vers des deutschen Volksliedes zu singen:

»Tod eile dich!
Die Sonne steht am Fenster dort, bald kalt, bald heiß,
Doch von mir ging die Nacht nicht fort, die Nacht nicht wich.
Ist auch der Tag wie Silber weiß, wie Silber weiß –
Seit ich den Liebsten ließ, wer tröstet mich?
Tod, eile dich! –«

Meine Augen wurden undurchsichtig, ich sah nichts mehr vor Tränen, die mir das Zimmer dunkel machten.

Der Herzog saß in seinem schwarzen Traueranzug vor mir und wendete sein Gesicht ab und weinte in seine Hände. Auch ich konnte nicht länger gegen das Weinen ankämpfen.

Da saßen wir Männer und weinten noch lange, nachdem der kleine Phonograph verstummt war.

»Mein Lieber,« sagte der Herzog, »diesen Phonographen will ich Ihnen geben, wenn er Sie etwas trösten kann.«

»Nur ihre Augen habe ich gestern abend wiedergesehen, und heute nur ihre Stimme wiedergehört«, klagte ich. Ich konnte vor Schluchzen nicht weitersprechen – und als ich von meinem Taschentuch aufsah, erschrak ich beinahe vor den vielen schwarzen Menschen, die das Zimmer füllten.

Wir waren nur zwei Trauernde, aber mehr als fünfzig Trauernde sahen mir aus den Spiegelwänden des Boudoirs entgegen, und alle fünfzig bewegten sich mit uns, waren schwarz gekleidet, hatten rote verweinte Augen und weiße Taschentücher in der Hand, und alle fünfzig führten die weißen Taschentücher an die Augen, wie wir beide Einsamen es taten. Vervielfacht boten die Spiegel um uns die Trauer dar. »Das ist wie ein schwarzer Markt von Trauernden«, dachte ich, und ich mußte bei den Spiegelbildern mich daran erinnern, daß viel mehr noch als fünfzig heute in Paris so saßen wie wir und weinten – Tausende weinten heute in Paris; Hunderttausende weinten täglich auf der Erde über immer neue Tote, die sich täglich auf dem Totenmarkt anboten.

Der Herzog begleitete mich dann zur Treppe, und wir kamen durch den Saal, wo der silberne geschlossene Sarg mit den verbrannten Überresten der Herzogin zwischen langen Leuchterreihen stand. Die Diener ordneten Blumenkränze, und Handwerker schlugen die Wände des Saales mit schwarzem Stoff aus und hatten die Spiegel und Lüster mit Flor verhängt. Die Füße der Arbeiter traten leise auf, aber im ganzen Haus hämmerten die dumpfen Hammerschläge der Tapezierer. Und als ich mich verabschiedet hatte und das Haus verließ, mußte ich zwischen Leitern und Handwerkern meinen Weg suchen; auch im Treppenhaus arbeiteten die Dekorateure an dem Trauerschmuck; über Berge schwarzer Laken, mit Silbertressen bestickt, mußte ich fortklettern, und unter dem Tor fuhren eben große Wagen der Gärtnereien vor, die Orangenbäume und Palmen abluden; wieder andere Dekorateure standen auf Leitern draußen auf der Straße und schmückten das Tor von außen mit einem schwarzen und silbergestickten Baldachin und mit schwarzen und weißen Straußenfedern. Überall beschäftigt der Totenmarkt das Leben, dachte ich. Ich hatte vor Schreck und Trauer noch an keine Blumengabe für Hannas Sarg gedacht, und ich ließ mich jetzt zu den großen Boulevards fahren. Dort hinter den Riesenglasscheiben der großen Blumengeschäfte war heute in außergewöhnlicher Reichtum an Kränzen und Inschriften. Auf breiten Bandschleifen sprachen gestickte Buchstaben viele Namen, Trauer, Verehrung und Todesgedanken aus.

Ich trat in ein Blumengeschäft. Eine der Verkäuferinnen fragte mich, in welcher Farbe ich den Kranz wünsche. »Weiß und blau«, sagte ich. »Die Mode ist in diesem Jahr gelb und lila«, entgegnete sie höflich. »Weiß und blau«, sagte ich beharrlich und dachte dabei an den blauweißen Maiabend, in dem ich gestern in Paris angekommen war, und an Hannas weiß eingehülltes Gesicht, von dem ich nur die beiden blauen Iriskreise ihrer Augen hatte wiedererkennen können, und verlangte einen Kranz aus weißen Maiglocken und blauen Waldglockenblumen.

»Und welche Inschrift soll das Band haben?« fragte die Verkäuferin weiter und legte mir zwei gelbe Bänder vor, auf dem einen stand lila geschrieben: »Des Lebens Blume ist der Tod.« Auf dem andern stand: »Des Lebens Blume ist die Liebe.«

Ich aber hörte in meinen Ohren immer noch die Stimme Hannas aus dem kleinen Phonographen singen und sagte: »Lassen Sie auf ein weißes Band mit blauer Seide sticken: ›Tod, eile dich.‹« Die Dame sah mich beinah erschrocken an. »Wenn das auch nicht Mode ist, so wünsche ich doch, daß das auf dem Band stehen soll: ›Tod, eile dich‹«, sagte ich wieder beharrlich.

»Das haben wir allerdings nicht vorrätig,« meinte die Geschäftsdame, »das führe wir gar nicht, und es wird nie verlangt. Das müßten wir erst anfertigen lassen.«

Wie seltsam, dachte ich, als ich den Laden verließ und draußen an dem Schaufenster vorbeikam, wo die meisten Konfektionsgeschäfte eben ihre Auslagen umänderten und Trauerstoffe in schwarzen Massen ausbreiteten, da ganz Paris durch den Basarbrand in Trauer versetzt war – wie seltsam, daß mitten im Leben täglich ein Totenmarkt besteht. Die Erkenntnis, daß neben dem Liebesmarkt des Lebens auch der Totenmarkt täglich Moden und Erfindungen darbietet und Marktstände errichtet, wurde mir nie so bewußt wie an diesem Tag.

Der Totenmarkt der Stadt Mexiko fiel mir wieder ein, wo die Kinder an kleinen Grabdenkmälern von Schokolade knusperten, und wo man Totenköpfe aus Marzipan als Näscherei und Totenskelette als Hampelmänner und Särge und Leichenzüge als Spielzeug vor meinen Augen am ersten November verkauft hatte.

»Oh,« sagte ich zu meinem Herzen, »du trägst auch einen Totenmarkt in dir; drei Frauen, die dir nahe kamen, sind im Tod gleichsam zu Waren vor deinen Angeboten geworden. Von der ersten trägst du einen Karbonbleistift in der Tasche, von der zweiten einen Rubinring am Finger, und von der dritten blieb dir noch die Stimme für dein Ohr auf der Walze eines Phonographen.«

Als ich auf der Straße weiterging, wurden immer wieder neue Totenkränze an mir vorübergetragen. Und mitten durch den Strom der Lebensfülle, der in den bunten mächtigen Straßen der Weltstadt wogte, schien sich ein dunkler Totenpfad zu schlängeln; es begegneten mir viele Damen, in dichte Trauerschleier gehüllt, Schleier, die von schwarzen Hüten über schwarze Gestalten schwarz bis auf das Pflaster herabreichten; man trug Kränze und große Palmenzweige mit bestickten breiten Seidenschleifen und Seidenbändern an mir vorbei; und auf dem Fahrdamm sah man, mehr als sonst, prunkvolle Leichenkarossen heranfahren; mit großen schwarz und weißen Federbüschen und mit schwarzen, silberbetreßten Decken waren Wagen und Pferde verhangen, und die leeren Leichenwagen fuhren in scharfem Trab durch die Menge der Automobile und Equipagen, um die Toten aus den Palästen abzuholen, da die meisten Opfer des Basarbrandes der französischen Aristokratie angehört hatten.

Die Inschrift auf einem Kranz: »Des Todes Blume ist die Erinnerung« ging mir so zu Herzen, daß ich meine Selbstbeherrschung verlor und mich kaum noch aufrecht halten konnte. Ich trat in die Tür des nächsten Hauses, denn ich fühlte, daß ich in ein Restaurant eintreten müsse, um mich einen Augenblick vom Anblick der Totenwaren zu erholen, da meine Knie zitterten. Aber ich sah mich hinter der Glastür plötzlich vor der Kasse eines Kinematographentheaters. – O ja, dachte ich, in dem dunklen Raum des Theaters hier sieht es keiner, wenn dir die Tränen aus den Augen stürzen, und hier kannst du dich in der Finsternis vom grellen Leben draußen einen Augenblick erholen, ohne ganz allein zu sein.

Ich saß dann im Hintergrund des Theaters auf einem Klappstuhl, und es behagte mir, daß das Theater fast leer war und im dunklen Raum kaum ein paar Köpfe vor den hellen beweglichen Lichtbildern zu sehen waren. Die Bilder dort, die eben das allbekannte Effektbild zeigten, daß eine ganze Herde Menschen hinter einem herrannte, der irgend etwas verbrochen hatte, und dessen Verfolger sich, je mehr Leute der Fliehende umstieß, an jeder Straßenecke mehrten, bis sie den Verfolgten endlich eingeholt hatten und ihn verprügelten – diese Bilder sah ich an, als ob sie in einem jenseitigen Leben vorkämen: als hätte ich mich hier in dem dunklen Raum in mein eigenes dunkles Grab gelegt und sähe nur noch von fern das Leben als halbhelle Erinnerung, als ein spukhaftes Blendwerk.

Dann wechselten plötzlich die Bilder.

»Der Basarbrand. Die Brandkatastrophe von Paris,« sagte die Schrift, die auf der Bühnenwand erschien, »photographiert während des Brandes bei der Beleuchtung des elektrischen Scheinwerfers der Feuerwehren von Paris.«

Ich fuhr auf meinem dunkeln Sitz zusammen. Nein, ich wollte das nicht sehen; das anzuschauen, das war unmöglich für mein erschüttertes Herz. Ich schloß die Augen. Aber als ich sie wieder öffnete, stand eine neue Inschrift an der Wand: »Fliehende, die brennend aus dem Feuerherd auf die Straße springen, um sich zu retten.«

Ich behielt die Augen offen und starrte erschrocken auf die Lichtbilder, die jetzt erschienen.

Männer, mit den Spazierstöcken in die Luft schlagend, über gestürzte Frauen hinwegspringend; Kinder, von Feuerwehrmännern aus dem brennenden, qualmenden Bretterausgang des Basars herausgezerrt. Da – Hanna – sie zieht eine brennende Dame nach sich, die Herzogin von L.; Feuerwehrmänner umfassen die Herzogin, die sie in Tücher wickeln, indessen Hannas Haar als eine Rauchsäule vor meinen Augen emporweht. Sie schlägt nach den Flammen, die an den Falten ihres Kleides wimmeln, und die sie nicht ersticken kann...

Mein Hals wird wieder so trocken wie damals, als mir der Gesandte in Mexiko die Zeitung zu lesen gab, worin ich Orlas Ermordung angezeigt fand.

Aber außer der Trockenheit im Halse und außer meinem stockenden Herzschlag fühlte ich nichts Schlimmeres an mir. Ich saß und starrte nur – und sah Hannas Erscheinung an.

Stundenlang saß ich im dunkeln Theater und wartete auf die Wiederkehr des Brandbildes. Acht Tage ging ich täglich, mittags und abends, in alle Kinematographentheater von Paris. Die Sucht, Hanna zu sehen, von Hanna Abschied zu nehmen, trieb mich jeden Tag von neuem in die dunkeln, grabdunkeln Theater, wo ich heimlich weinen und mein Taschentuch vor das Gesicht halten und meinen Tränen freien Lauf lassen konnte, und dann ging ich in mein Zimmer, das ich mir in einem Privathaus gemietet hatte. Es war kein eigentliches Zimmer, es war ein leeres Maleratelier, darin stand nur ein langer Strohstuhl zum Liegen und ein Tisch, darauf hatte ich den kleinen Phonographen stehen, den mir der Herzog abgesandt hatte.

Das Atelier lag in einem leeren Hinterhaus, und dort konnte ich lange Maiennächte hindurch den kleinen Phonographen das Lied singen lassen – von Hanna:

– »Tod, eile dich!
Die Sonne steht am Fenster dort, bald kalt, bald heiß,
Doch um mich ging die Nacht nicht fort, die Nacht nicht wich.
Ist auch der Tag wie Silber weiß, wie Silber weiß,
Seit ich den Liebsten ließ, wer tröstet mich?
Tod, eile dich!« –

So erlebte ich Grausameres, als jemals erlebt wurde. Die Geliebte zu hören, ohne ihr antworten zu können; die Geliebte zu sehen, ohne sie umarmen zu können; die Geliebte verbrennen zu sehen, ohne ihr helfen zu können! – Täglich wieder ein totes Leben aufwachen zu sehen in Rede und Bild, ohne diesem Leben einen Körper geben zu können – das war eine Hölle voll Himmel und ein Himmel voll Höllen. Als das Theaterprogramm des Kinematographen wechselte, kaufte ich mir den Film der Brandkatastrophe.

Ich wollte in mir selbst in dem kleinen Atelier vorführen.

Ich weiß nicht, ob ich nicht allmählich irrsinnig geworden wäre vor diesem täglichen lebenden Spiegelbild und von dem Geisterlied einer Toten. Das Schicksal half mir indessen, indem es mir den Phonographen und den Film nahm. Eines Tages, als ich wieder das Zimmer aufschließen wollte, um die Nacht hindurch den Phonographen singen zu lassen, fand ich das Schloß erbrochen – der Phonograph, der Film, der Liegestuhl und der Tisch waren aus dem leeren Haus gestohlen. Ich erhielt trotz aller Mühen nichts wieder zurück. So wurde ich gewaltsam aus dieser furchtbaren Geisterwelt erlöst.

Raubmenschen haben mir eine Geliebte in Mexiko geraubt, Raubmenschen haben mir eine geliebte Geisterwelt in Europa geraubt.

Jene Raubmenschen verfluche ich mein Leben lang, diese muß ich mein Leben lang segnen.

Der Raubmensch, der der jungen Österreicherin die Ehre nahm, und der Raubmensch, der Orla tötete, und der Raubmensch, der mir Hannas Stimme und Hannas Bild stahl, sie alle drei sind im Grunde eine und dieselbe Seele in drei verschiedenen Verkörperungen; sie sind die Seele aller Vernichtung, die bald Böses, bald Gutes ausrichtet, die Seele des Todes, die aber im Grunde in nichts verschieden ist von der Seele des Lebens. Dieses zu erfassen wird nur dem möglich sein, den jemals beides – höchstes Leben und grausamste Vernichtung – abgründig erschüttert.


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