Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Den Atlantischen Ozean sah ich zum erstenmal von dem kleinen Bretagnedorf Pouldu.
Ich fuhr von einer unbedeutenden französischen Bahnstation in einem Einspänner auf einer kreideweißen Landstraße nach dem Dorf; es war im Mai. Grüner Roggen und braune gedüngte baumlose Felder lagen am Straßenrand; ich reckte den Hals im Wagen von Minute zu Minute länger und suchte unterm wolkenleeren Himmel im Westen den Atlantischen Ozean.
Die Räder knatterten auf der beschotterten Straße. Platte Felder, wilde Hecken und Gedorn und ein paar kreiselnde Windmühlen waren stundenlang am Weg, aber kein Ozean.
Ich wurde ungeduldig; als hätte mir jemand Geld und Hoffnungen gestohlen, so fühlte ich eine öde Enttäuschung in mein Blut einziehen, öde wie die kalkweiße endlose Landstraße.
»Wo ist das Meer?« hatte ich den Kutscher öfters gefragt. Der hörte mich nicht; die Wagenräder rasselten; und der Wagen knatterte in allen Fugen.
Im Westen mußte das Meer sein, der Atlant, den ich so sehr ersehnte, der große Wassergott Okeanos.
Hinter den Feldern im Westen stieg allmählich eine Helle in den Himmelsraum – die wurde heller als der Tag auf der Landstraße, und die Erdstreifen voll grünem Roggen und Dung schienen sich zu verdunkeln; das Grün des Roggens wurde schwefelgrüner, wie von einem Gewitterstrahl beleuchtet, der Tag aber, der weißer als die Sonne aus der Erdtiefe in der Ferne hinter dem verdunkelten Feldrand heraufschien, strahlte in den Himmel und beleuchtete einige Wolken von unten heller, als es die Sonne von oben tat. Die Erdrinde, voll von Feldern und Hecken, schien zwischen zwei Sonnen wie eine dunkle Kruste gelagert. Eine Sonne der Tiefe schien gegen die Sonne der Höhe einen Lichtkampf aufzunehmen.
Noch flogen im Westen wenig Singvögel aus den Hecken, und eine unheimliche großartige Stille lag dort in den Feldern. Diese Stille schien wie ein luftleerer Riesenraum das Land voll Roggen verschlucken zu wollen.
Die Riesenstille des Atlant und das Blendlicht des Atlant, das in den Wolken spiegelte, Stille und Blendlicht kamen mir vom Wasserkörper des Gottes Okeanos zuerst entgegen, beide ungeheuerlich wie große ungeheuerliche Gesten eines unsichtbaren Giganten.
Dann zackte sich das Erdreich in der Ferne; zwischen einer Bodensenkung in den Feldern schien von einem Felsvorsprung zu einem andern ein dünnes Seil gespannt zu sein, und auf dem Seil balancierte eine riesige weißfeurige Spinne. Sie hing mit weißen erregten Füßen an dem Seil, und dieses schien leicht zu schwanken. »Der Atlant«, sagte der Kutscher und wendete sich auf dem Bock nach mir um und deutete mit seiner Zigarre auf das Seil und auf die Riesenspinne.
Dann verschwand das Ganze, und ich begriff: ich hatte für einen Augenblick die Meerlinie als ein Seil und die Wasserspiegelung als eine weiße Spinne und den Atlant gleich einem Gespenst auftauchen und verschwinden sehen.
Dann bekam ich nach einer Weile eine lange ferne Mauer im Westen zu sehen, eine graue, gläserne Mauer.
»Der Atlant«, sagte wieder der Kutscher, als ich fragte.
Die Straße ging an einer großen Windmühle vorüber, an eidottergelben blühenden Rapsfeldern, die so nüchtern gelb waren, daß ich meinen nüchternen Reisemagen noch hohler und nüchterner fühlte; ein paar riesige Bäume standen wie schiefgewehte Schilfhalme schräg auf dem horizontalen dunkeln Acker, als beuge eine unsichtbare Hand die großen Bäume. Und auch hier fühlte ich an den schiefen Stämmen die Kraft des Atlant, vor dessen Sturmlungen diese Bäume sich ihr Leben lang nicht aufzurichten trauten. Auch wenn der glänzende Gott Okeanos mit glattem Wasserkörper in der Sonne schlief, blieben die Bäume in langen Reihen wie in einer ewigen Flucht, vor der Sturmmacht des Gottes entsetzt, mit fliehender Astbewegung und schief gebeugten Kronen und Stämmen, gleich einem Haufen fortstürzender Riesen. Und es malten sich die Gebärden der gequälten Bäume schreckerregend auch in der Windstille, wie umgeben von unsichtbaren Sturmungeheuern, wie umklammert von den toten Grimassen verschollener wilder Ozeannächte; als hätten erhenkte Riesen, deren Leiber von den schiefen Bäumen später abgeschnitten worden wären, die Bäume im Todeskampf verdreht und zur Erde gebogen.
Die große Windmühle, an der ich zuletzt, ehe ich die ersten Häuser von Pouldu erreichte, vorüberkam, ging ihren Geistergang langsam in der Spätnachmittagluft, langsam, wie ein Rieseninsekt, das sich überschlug, sich aufrichtete und wieder überschlug. Und gerade unter den kreiselnden Armen der in die Luft fechtenden Mühlenfigur hielt der Kutscher einen Augenblick meinen Wagen an. Er rief ein paar Worte über eine Dornenhecke, dahinter die unglücklichen verstürmten schrägen Baumungeheuer dunkel vor dem Ozeanlichte standen. Das Ozeanlicht, das, weiß am dunkeln Feldrand, wie aus einer Versenkung herauf an die Bäume, an die Wolken, und von unten an die Blätter der Rotdornhecken schien, beleuchtete eine Frauengestalt. Die wurde von dem Licht in die Länge gezogen, von dem unheimlichen Licht, das aus den Ackerfurchen aufzustrahlen schien wie das lange Licht eines Scheinwerfers, der aus irgendeiner Erdspalte von unten in den Himmel strahlt.
Die langgezogene weibliche Gestalt rief dem Kutscher eine Antwort zurück. Ihr langer Schatten kam zuerst in meinen offenen Wagen über das Feld zu mir her. Als die Frauengestalt noch weit entfernt im Feld heranlief, eilte ihr Schatten schon, gleich einem der schräggestellten ungeheuern Bäume, weit übers Feld voraus.
Eine junge Dame stand dann nach einer Weile atemlos am Wagen, trat auf das Trittbrett und saß dann neben mir. Der Wagen fuhr mit uns beiden weiter, ohne daß die Dame mich begrüßt hätte; kaum daß sie mit dem Gesicht dem Kutscher zugenickt hatte, ehe sie eingestiegen war.
Ich rückte ebenso weit von ihr weg, wie sie von mir. Sie lehnte in der einen Wagenecke, ich in der andern. Die Räder rasselten wieder ohrenbetäubend, und der Wagen hopste über die Steine.
Ich überlegte indessen, wie das möglich sei, daß eine Dame in Frankreich einen grauen deutschen Lodenmantel tragen könne. Natürlich mußte dies eine deutsche Dame sein; wahrscheinlich eine Malerin aus der Künstlergesellschaft, die sich aus ganz Europa jahraus, jahrein in Pouldu, Concarnot und andern bretonischen Küstendörfern zusammenfindet. Am ersten Bauernhof des Dorfes Pouldu, das efeubewachsen in einer Bodensenkung, tiefer als die Roggenfelder, lag, sollte der Kutscher halten und für die Dame einen Brief, den sie aus dem Lodenmantel zog, in den Dorfbriefkasten werfen. Ich bot mich an, den Brief dem Kutscher auf den Bock zu reichen, wurde aber von zwei mißtrauischen jungen Mädchenaugen leicht dankend abgewiesen und zog mich wieder in meine Wagenecke zurück.
Zwischen Efeumauern der grün eingewickelten Bauerngehöfte, an kleinem Gartengemäuer vorüber, daran sich grunzende Schweine rieben, vorbei an wütend kläffenden Hofhunden, bog der Wagen talabwärts, an einem Acker voll blühender Obstbäume entlang, und hielt vor dem letzten, einzelnstehenden Dorfhaus, dem einzigen Gasthaus von Pouldu.
Ich stieg aus und wollte der Dame im Lodenmantel beim Aussteigen helfen, aber sie sprang auf der andern Wagenseite ohne Hilfe ab und lief in das Haus, wie eine, die hier bekannt und zu Hause ist.
Das weiß getünchte, einstöckige einsame Gasthaus, an der vom Staub ebenfalls weiß getünchten Landstraße, schien mit seinen sechs menschenleeren Fenstern und seiner totenstillen Haustür wie in einem Winkel am Ende der Welt zu liegen.
Ah, dachte ich, die Stille des Atlant und der weiße Widerschein des Giganten, der immer noch unsichtbar bleibt, wohnen auch hinter den sechs Fenstern des Gasthofes und sitzen kalkhell an der Landstraße. Und das kleine Gasthaus, das so weiß leuchtete wie vorhin die weiße Spinne an dem Seil, und das keinen Laut von sich gab, gefiel mir gut und lockte mich anheimelnd. Vorhin, als – wie der Anfang eines Romanes – das mystische Mädchen im Lodenmantel in meinen Wagen gestiegen war, hatte ich meine Sehnsucht nach dem Atlant für Augenblicke vergessen; jetzt kam, gleich einer zurückgewichenen Flutwelle, die Sehnsucht, den Atlant zu schauen, groß und mächtig wieder; ich wollte mir gar keine Zeit nehmen, in das Gasthaus zu gehen, und ließ nur mein Gepäck hineintragen.
Unter der Haustür waren zwei Dienstboten erschienen, in Bretonentracht, schwarz gekleidet wie Nonnen, mit weißen, platten, engansitzenden Häubchen auf dem Kopf. Unter den weißen Leinwandkapseln der Hauben verschwanden Haar und Ohren, und jedes Dienstbotengesicht saß eingerahmt wie in einem weißen Joch. Das schwarze Samtmieder reichte den Mädchen wie ein Panzer bis an den Hals. Schwarze Ärmel und schwarze Röcke mit schwarzen, breiten Samtstreifen am Rand verfinsterten die Tracht und die Gesichter, die jung sein sollten; diese Gesichter hatten einen blutleeren Schein, als strahlten sie nur kahle Nüchternheit und kahle Haussorgen aus.
Ich fragte die beiden einfältigen schwarzen Gestalten nach dem Wege zum Meer.
Die beiden Schwarzen standen oben auf den drei Treppenstufen der Haustür und begannen bei meiner Frage mit ihren Armen, wie zwei kleine Windmühlen, vor dem weißen gekalkten Haus umherzufuchteln. Die eine deutete eifrig nach Westen und Norden, die andere nach Osten und Süden, als wäre das große Meer überall, als wäre es, wie der Himmel, sogar über dem Hausdach, dicht vor uns und dicht hinter allen Dingen. Ich genierte mich, daß beide Frauen das Meer in den Taschen zu haben schienen, und daß sie taten, als schwämmen Haus, Landstraße, Dorf und Hecken mitten im Atlant, indessen ich das ersehnte Wasserungeheuer doch durchaus noch nirgends entdecken konnte. Wenn ich auf die Düne wolle, müsse ich mich über einen kleinen Fluß, quer über der Straße am Ende eines Steinfeldes übersetzen lassen, drüben seien dann Düne und Meer; wolle ich aber an das Felsenufer auf die Klippenküste, so müsse ich den Dorfweg zurück- und zu den alten grotesken Baumstämmen gehen, dann stünde ich hoch über dem Meer auf einer senkrechten Felswand. Soviel begriff ich endlich, als die fuchtelnden Arme der Mägde sich senkten und nur die Worte allein übrigblieben, so daß die Wege ans Meer sich klärten: der Atlant war hier wie ein Gott überall.
Eine der schwarzen Frauen schrie einen Mann herbei; der setzte mich im Kahn über den schmalen Fluß, dessen Wasser flach wie ein breiter Kiesbach zwischen den Dünen stand.
Ich sollte drüben immer am Fluß im Sand entlanggehen, dann käme ich zum Meer.
Ich watete in dem weißgelben Sande; der war wie ein beweglicher Gummi und hob und senkte sich unter meinen Füßen, so daß ich glaubte, niemals von der Stelle zu kommen. Meine Sehnsucht nach dem Atlant wurde wieder ungeduldig, aber der Sand unter meinen Sohlen war noch ungeduldiger als alle Sehnsucht und erstickte meine Eile und war, als wollte er mich wie ein Brei einsaugen. Ich wurde in den Knien müde und wollte mich setzen; da kam ein erstickender Bromgeruch zu mir, der Dunst von faulendem Tang, der urgründige Atem des Meeres. Ein schauerlicher Geruch von Fäulnis und Verwesung verbreitete sich, als käme mit ihm der Schauder aller, die jemals ertrunken sind, über den Lebenden.
Ich hörte das ziehende Waschen und regelmäßige Arbeiten langer Strandwellen. Mir war, als käme ich in die Nähe eines riesigen Uhrwerkes, in dem Räder, Spiralfedern und Hebel arbeiteten, Zahnräder rastlos kreiselten, rastlos sich um Achsen drehten und schnurrten, hasteten, schwirrten. Dann kam ich über die letzten Sandhügel. Da war eben die Sonne im Nebel untergegangen, und vor mir lag ein weites Wasser bis an den fernsten Erdrand wie ein bewegliches Schieferfeld, dunkel, von beweglichen langen, weißen Adern durchzogen, aufblitzenden weißen Adern, die draußen weiße Sprünge rissen und einander verfolgten.
Der Atlant war das nicht; das vor mir war ein einfacher Meeresanblick, wie ich ihn oft erlebt habe – so dachte ich. Der Atlant muß mehr sein, nicht bloß ein Wasserfeld, das zuckt und kriecht und rauscht; der Atlant muß mehr sein.
Ist das seine ganze Arbeit? dachte ich verächtlich und betrachtete den braunen Tangrand, der sich auf Meilen an den grauen Sandhügeln hinzog. Und ich betrachtete die immer wiederkehrenden langen Glasscheiben der an den Tang sich heranschiebenden flachen Ebbewellen und hörte auf das Zerbrechen der Wasserscheiben, die wie knirschender Glassand wurden und weißen Schaum ausschütteten; und ich sah jeder Welle zu, die bis an die Sandhügel in das Land hinein Schaum blies, und ich fand nichts Riesenhaftes an dieser Arbeit.
Ich fühlte mich betrogen. Salzluft, Tang, Sand, Dünenwellen und graues Meer bis an den Horizont hatte ich schon oft gesehen. Wo blieb mein Atlant, den ich ersehnte? Enttäuscht kehrte ich im grauen monotonen Abendlicht dem Wasserfelde den Rücken und sah nach Osten in die Sandwelt. Die grauen mannshohen Sandhügel lagen lichtlos, von Abenddämmerung verschleiert, und die Sandwellen waren geheimnisvoll menschenleer und baumleer, wie ein Land, das nie eine Menschenstimme gehört hätte, und das nicht wüßte, was Wachstum und Vergänglichkeit sind. Ewig unvergänglich, grau und zeitlos lag die Sandwelt wie ein Geisterland sanft und lautlos in der Totenstille.
Ich ärgerte mich jetzt nicht mehr, wenn mir der Sandboden unter den Füßen kreiselte und meine Schritte von dem dichten, weichen, samtenen Sand gleichsam zum Niederlegen eingeladen wurden. Ich ging auf dem welligen grauen und beweglichen Samt und hörte eine Lerche am Himmel fiedeln; sie hatte sich aus den Dünen gehoben und jubilierte in den Abend.
Dann wurde plötzlich aus dem Sand heraus laut gelacht. Eine Flötenmelodie begleitete mit kindlichem Getute die Lerche am Himmel; in einer Sandgrube entdeckte ich fünf Bauernkinder, Knaben und Mädchen, die im Kreise zusammengekauert saßen und kicherten und sich wälzten und den kitzelten, der vergebens ernstlich die Flöte spielen wollte.
Ich störte das Kindertreiben kaum mit einem neugierigen Blick.
Aber alle Kinder duckten sich mit einemmal und schrien: »Sie kommt, pst, pst, sie ist es, sie kommt!«
Ich sehe nichts und denke, die Kinder spielen ein Versteckspiel, und ich stapfe vorüber.
Ich wandere weiter durch den beweglichen unruhigen Sand, der mich nicht aufrecht gehen läßt, mich bei jedem Schritt umstoßen möchte. Wie ich von dem unsicheren Boden aufsehe, kommt mir lautlos eine Gestalt entgegen: die junge Dame im Lodenmantel. Sie geht barfuß und trägt ihre Stiefel in der Hand. Ihr Mantel ist offen; ich sehe ihr hellblaues Sommerkleid. Kaum erblickt sie mich, da wickelt sie den Mantel um sich und wendet sich ohne Gruß in die einsamen Sandhügel nach der Seite hin.
Sie scheint barfuß den beweglichen Sand besser beherrschen zu können als ich; sie wankt bei keinem Schritt. Ihr Gesicht leuchtet weiß wie Papier in der Abenddämmerung. Sie trägt das weiße Gesicht etwas hochmütig feierlich, wie ein Priester, der am Altar dem Volk die blendend weiße Oblate einer Hostie zeigt.
Hinter dem Mädchen, aus den Dünen, steigt der Vollmond, wie ein zweites weißes Gesicht, das dort begraben gewesen, das sich aufrichtete und dem Mädchen folgte.
Ich weiß nicht, warum ich plötzlich die Dünenhügel traurig wie Gräberreihen eines Kirchhofs fand. Das Mädchen, als es vorhin neben mir im Wagen gesessen, hatte mir den Eindruck von Lebensfülle, Kraft und Sicherheit gegeben. Ihr Kopf war von dunklem Haar gekrönt. Ihre Lippen waren von jungem, üppigem Blut belebt. Schultern und Büste rund und geschmeidig, als trügen sie gut ein hochpochendes Herz. Nur ihren blaugrauen Augen war ein fliehender Blick eigen. Der war manchmal gequält wie die Haltung der zur Seite gebogenen Bäume an der Küste des Atlant.
Jetzt in der abendstillen Düne, wo die Dämmerung den üppigen Körper des Mädchens grau verflüchtigt zeigte, war es mir, als hätten ihre scheu ausweichenden Augen von ihrem ganzen Körper Besitz genommen, als strebe sie einsamen Selbstgesprächen nach und handle dem Willen ihres üppigen Blutes zuwider und verbreite rings um sich endlose Traurigkeiten.
Ich hörte dann hinter den Sandhaufen wieder die Kinderflöte spielen und wünschte der scheuen jungen Dame, daß sie wenigstens gut Freund mit den Kindern wäre. Dann vergaß ich sie über meinen eigenen Gedanken, kam zum Fluß und zum Kahn zurück, ließ mich zum Gasthaus übersetzen und fand im Eßzimmer meinen Teller und mein Besteck neben die einer englischen Malerin aus London gelegt. Mir gegenüber saßen zwei junge amerikanische Maler, von denen der eine in braunem Manchestersamt, der andere in grauem Manchestersamt gekleidet war. Es wurde lärmend gegessen, lärmend gelacht und gewitzelt, und mit der gleichen lärmenden Energie wurde über Sportballspiele, Baden und Angeln, über Ölfarbenmanieren, Modelle und Kunstausstellungen verhandelt – über alle Themen gleichmäßig heftig, als wäre die Kunst ein Sport und der Sport eine Kunst.
Neben der englischen Malerin war ein Stuhl am Eßtisch freigeblieben und ein Gedeck unbenützt, und als die Maler und ich unsere Servietten fortlegten und wir vom Tisch aufstanden, sagte einer der Herren: »Die Österreicherin ist nicht zu Tisch gekommen!«
Die Engländerin lachte und meinte: »Die Österreicherin ist ein kurioses Mädchen. Sie geht immer noch abends im Mondschein auf der Düne spazieren und kann nie zur rechten Zeit zu Tisch kommen.«
»Sie scheint keinen Hunger zu haben,« sagte ich, »denn ich begegnete ihr eben; sie muß sich eben erst zur Düne haben übersetzen lassen.«
»Sie ist ein kurioses Mädchen«, wiederholte die Londonerin und forderte die beiden Amerikaner und mich zum Ballspiel auf.
In Ermangelung eines Tennisplatzes war ein Ballspiel eigener Art von den Amerikanern erfunden worden, das auf der Landstraße bei zwei Scheunen neben dem Gasthaus gespielt wurde. Der geworfene Ball mußte von einer Scheunenwand zur andern Scheunenwand klatschen, und die Wucht des Werfens an die Wand war die Hauptsache dieses wenig geistreichen Ballspieles. Sich vor Faulheit zu schützen, sich Bewegung zu machen vor und nach den Mahlzeiten, war der energische Zweck dieses Spieles. Rassen, die nicht das Phantasiespiel des Nachdenkens und des Sichversenkens in die schweigende Welt und in sich selbst als Lebenskunst gelernt haben, dachte ich, fürchten sich vor der Einsamkeit mit ihrem Ich wie vor einem Gespenst.
Ich spielte mit den Ausländern ihr heftiges Ballspiel und wunderte mich über den Aufwand an Energie und Eifer, der ihnen fast die Arme und Beine vom Leibe riß, wenn sie zum Ballwurf ausholten. Manchmal sehnte ich mich aber von den wahnsinnigen amerikanischen und englischen Gliedmaßen und dem wuchtig aufklatschenden Ball fort, über den kleinen Fluß hinüber auf die sandgraue, wellige Düne, wo der Mond einem Mädchen nachging und Kinder Sandnester gruben und Flöte bliesen und das Abendschweigen alle Gedanken heiligte.
Trotzdem fesselten die schreienden, tobenden Amerikaner und die sich männlich energisch gebärdende Londonerin meine Augen und Ohren wie ein Schauspiel, das durch Lärm alle Sinne hypnotisiert; denn die Menschenstimmen schallten zwischen den Scheunenwänden auf der abendlichen Landstraße doppelt laut; es war, als jage eine Meute Hunde mit Gekläff eine Katze.
Mitten in diesem Lärm hörte ich nach einer Weile, wie über mir im ersten Stock des Gasthauses ein Fenster klirrend geschlossen wurde; und als die Amerikaner sahen, daß ich zu jenem Fenster hinaufschaute, sagten sie wie aus einem Mund:
»Ah, die Österreicherin ist von ihrem Mondspaziergang nach Hause gekommen.«
Ich weiß dann nicht, warum ich mich beinah schämte, weiter unter den lärmenden Ballspielern zu bleiben und als ein Lärmer unter den sechs Fenstern auf der Landstraße zu toben.
Auch die Ausländer ließen plötzlich vom Spiel mit der jähen, abbrechenden Art, die nur Engländern und Amerikanern eigen ist. Dann sagten sich die Ballspieler »gute Nacht«.
Eine Weile später stand ich oben an meinem Zimmerfenster, und unten lag die grau eingesponnene Landstraße. Der Mond stieg langsam auf die Scheunendächer, und ich wünschte mir, daß die Österreicherin neben mir im Nachbarzimmer schnarchen oder husten oder seufzen möchte, damit ich nach dem bestialischen ausländischen Geschrei wieder etwas primitiv Menschliches meinen Ohren zur Beruhigung geben könnte. Aber kein Laut drang aus dem Nebenzimmer, und meine kalkweißen Zimmerwände sahen mich in der Mondbläue endlos leer an wie Sanddünen.
Doch nicht lange danach, als ich meinen Kopf auf das Bettkissen legte und mein Blut sich vom Ballspiel beruhigt hatte, begann ein fremdartiges Geräusch, wie ein fernes Bienensummen, wie ein surrendes Uhrwerk im Kopfkissen.
Ich richtete mich auf, aber das Geräusch war dann nicht mehr zu spüren. Es war leer und still im Zimmer.
Ich drehte mein Kopfkissen mehrmals um und dachte, die Leinwand sei zu kalt und verursache mir Ohrensausen. Immer, wenn ich mich hinlegte, summte das Kissen, und wenn ich mich aufrichtete, war es still im Zimmer. Da kam ich auf den Einfall, mein Ohr an die gekalkte Wand zu legen. Auch die Wand summte. Ich stand auf und legte mein Ohr an den Spiegel, an den Schrank, auf die Tischplatte. Alle Dinge im Zimmer hatte eine Stimme bekommen, als hörte ich ihre Selbstgespräche, sobald mein Ohr sie berührte. Alles Holz, alles Glas, alle Wände und die Leinwand und die Bettfedern in den Kissen, alle sprachen, wenn ich ihnen mit dem Ohr nahe kam, als wäre in allen toten Dingen ein Blutkreislauf. – Dann verstand ich plötzlich mit einem wohligen Schauer dieses Geheimnis. Es war, fernher geleitet, die Stimme des Atlant. Die war durch die Erde in alle Erddinge gedrungen; der Atlant telephonierte mir durch die Erdleitung in mein Ohr. Der Atlant, den meine Augen heute noch nicht als Riesen hatten entdecken können, streckte sich mit Stimme und Bewegung riesig durch die Erddecke unter dem Hause fort und wiegte das Blut in meinem Leib und das Ohr auf dem Kopfkissen. Nun wußte ich: der Atlant war so mächtig, daß auch die Augen ihn nicht gleich zum erstenmal, wenn sie vor ihn traten, erfassen konnten; es brauchte Tage und Nächte, bis einem sein ungeheurer Anblick bewußt wurde.
Man stand vor dem Atlant wie vor einem Gott. Man war dicht bei ihm und sah ihn nicht; er kam erst stückweise an, drang ruckweise zur Erkenntnis. Erst teilte er sich den Ohren und dem Blut mit, ehe er sich den Augen hingab. Der Atlant ist wie die Seele eines scheuen Mädchens, ist wie Liebe unfaßbar, auch wenn man Wand an Wand mit ihm wohnt.
Ich begann, von der Stimme des Atlant umsummt, einzuschlafen und hörte halb im Schlaf, wie im Nebenzimmer ein Fenster geöffnet wurde.
Sie sucht wie ich den Atlant, dachte ich einschlafend und sah das blasse Mädchen im Geist, mondweiß wie mein Kopfkissen, und sah sie halb im Traum drüben in ihrem Zimmer am Fenster stehen und das Scheunendach über der mondhellen Landstraße betrachten. Sie sucht wie ich den Atlant. Sie hat seine Stimme auf ihrem Kopfkissen gehört, und sie ist jetzt aufgestanden und sucht wie ich den Atlant.
Sie sucht wie du den Atlant, wiederholte mein summendes Kopfkissen während der ganzen Nacht und summte den Satz durch meinen Schlaf bis zum Morgen. –
Der nächste Morgen rollte wie eine gelbe Goldkugel durch das Fenster, und allen Wänden und allen Dingen schienen gelbe luftige Kanarienvogelfedern zu wachsen. Es war, als könnten die Wände wie Kanarienvögel zwitschern, so froh, gelb glänzend und schallend hub der Tag an.
An diesem Morgen, als ich den Atlant wieder suchte, ging ich nicht über den kleinen Fluß zur Düne hinüber. Ich ging diesseits über den Kies und über Muschelboden am Flußufer entlang, vorbei an einer gewaltigen uralten schwarzblättrigen Eiche und dann auf einem Felsenpfad in die Klippenwelt hinauf. Die war wie aus rotem und braunem Kupfer geschmiedet, als läge hier eine Welt zu Schlacken zerschmolzen, brandfarben dicht bei einer riesigen blauen Flamme; dieses blaue Feuer schien an den brandbraunen Felsen mit Schmelzglut zu lecken. Jene gasblaue Feuerwelt war der morgendliche Atlant. Feuerblau wie eine geschlängelte Flammenzunge lief der Fluß drunten zwischen der goldsandigen, gelben flachen Düne in das Land. Dieses war im Hintergrund mit blühenden, weiß und rosig getupften Obstbäumen umstellt, und das weiße Gasthaus mit seinen sechs Fenstern glänzte an der weißen Landstraße, und dahinter im tiefsten Land lag ein graublauer Waldsaum, Wald hinter Wald.
Alles, was der Mensch sich landschaftlich Schönes wünschen konnte, war hier versammelt: grüne Roggenfelder auf dem Klippenplateau, lauschige Dorfhäuser, sonnenhelle Dünen, finster abstürzende, von Stürmen geschwärzte Klippenmauern. Und hinter den fernen Dorfhäusern blühten in weißem und rosigem Schaum die Obstbäume und sahen wie Scharen tanzender Mädchen aus, Mädchen in rosigen Ballkleidern auf grünen Feldern. Ach, käme doch einer der Bäume im blühenden Kleid als Mädchen verwandelt zu mir! dachte ich und sah mich einsam in der atlantischen Morgenwelt vor der feuerblauen Meeresflamme stehen und fühlte mein Herz trotzig wie eine Welschnuß und hart und wünschte blühende Frauenwärme herbei, allmächtige Liebeswärme, die vom Himmel auf mich wie der Morgen fallen sollte, und die mich blenden sollte wie der allmächtige, unendliche, rauschende, feuerblaue Wasserriese, der dicht bei der goldgelben Düne turmtief unter der Klippenwand lag.
Ich sah von der Klippe oben das weiße und blaue Mosaik der flachen Meereswellen, das sich verschob und ans gelbe Sandland antrieb, das Kommen und Gehen der Dünenbrandung; aber ich konnte das Schäumen der einzelnen Wellen hier oben nicht hören. Ich stand nur mitten in einem unendlichen Stimmenrauschen, das wie ein unterirdisches Getöse aus dem Atlant aufstieg, und das im Himmel widerschallte und vom Land zurückhallte, so daß ich nicht wußte, woher die Stimme kam. Es konnte auch das Sonnenlicht, das runde, am blauen Morgenhimmel sein, das wie ein Riesengong im Weltraum dröhnte. Oder war es die Sehnsucht in meinem Herzen, die an meine Einsamkeit wie an eine Trommel donnernd anschlug. Oder ging irgendwo um mich herum, mitten vor dem blaufeurigen Morgenmeer, vor dem morgengoldigen Dünensand, oder oben auf den Roggenfeldern, auf den grünspangrünen Wiesen, ein Mensch, dessen Schritte vor Traurigkeit auf der Erde und im Himmel widerhallten, und dessen Herz wilder verbrannt war von Leidenschaft als die zerbeulten rostroten und rauchschwarzen Klippenknochen. Diese Morgenwelt schien götterglänzend und irrsinnig zugleich, von blauem, ewigem, mörderischem Feuer und steinernen irdischen Grimassen angefüllt.
Ich ging über das wurzelbraune, alte, verdorrte Heidekraut der Klippenrippen und fand nach einer Weile im Sonnenschein die lange sonnenweiße Mauer einer Meerbeobachtungsstation. In der Ferne, tiefer im Land, standen die Reihen der verrenkten Riesenbäume aufgestellt, die ich gestern nachmittag vom Wagen aus bestaunt hatte, und ich entdeckte auf der Wiese einen großen Malerschirm, wie eine weiße Zeltkuppel am Rand eines grünen Roggenfeldes aufgespannt.
Unter dem weißen Schirm konnte entweder einer der Amerikaner oder die Londonerin oder die Österreicherin sitzen. Der Schirm stand schief; ich sah die Füße einer Staffelei und die Ecke einer Rahmenleinwand silberiggrau in der Sonne blitzen.
Ich bückte mich und pflückte ein paar feuerblaue Kornblumen aus dem grünen Roggen. Die sahen aus, als habe der Atlant draußen blaue Tropfen in die Klippenfelder gespritzt, und die Blumen waren so ernst, fast schwarzblau, als ich sie vom grünen Feld trennte und in der Hand trug, als wären sie die Blicke einer tiefen Traurigkeit, die an den Feldern hier vorübergeschritten sei.
Ab und zu Kornblumen pflückend oder einen von der Salzluft des Meeres halbtauben Schmetterling oder Käfer von einer grünen Roggenähre abstreifend, kam ich dem großen weißen Malerschirm immer näher.
Da fuhr ein Windstoß vom Meer auf. Der Schirm bog sich zur Seite und schwankte, als ob er fortfliegen wolle. Ich trat hin und sah, daß der Feldstuhl unter dem Schirm leer, daß die Malleinwand unbenützt und ein Kasten mit Farben und Bleistiften bei dem Windstoß vom Malstuhl gefallen war. Der Kasten war aufgegangen; einige Tuben und Pinsel und Bleistifte lagen am Boden verstreut. Ich sammelte die Dinge, legte sie in den Kasten und schloß den Deckel. Dann ging ich weiter und wunderte mich.
Aber ich konnte nicht sehr weit gehen. Ich mußte mich nach fünfzig Schritten auf einen Klippenstein setzen und den Malerschirm, die Staffelei und den Stuhl bewachen, als hätte ich die Pflicht, diese Dinge mit meinem Müßiggang vor dem frischen arbeitenden Wind, vor dem arbeitenden blaufeurigen Meeresspiegel und vor Himmel und Sonne zu beschützen.
Ich saß, bis es Mittag wurde und die Sonne senkrecht auf meine Knie brannte. Dann trollte ich mich, von Luft und Licht und Warten und Müßiggang erschöpft und unerquickt und verfolgt von Heeren verliebter Wahnvorstellungen, zurück über die Felder, den Fluß entlang zum Gasthof. Ich kam zu spät zu Tisch. Alle Gedecke waren abgeräumt, alle andern hatten Brot, Fleisch und Wein genossen. Auch der Platz der Österreicherin lag voll Brotkrumen, und Weinflecken auf dem Tischtuch zeigten, daß die junge Dame dagewesen war, indessen ich wie ein totes Ding im Feld über Heidekraut und Klippensteinen bei schlummernden Eidechsen über feuerblauen Wünschen gebrütet hatte, unwirklicher als dumpfe Hitzewolken, die am Himmelsrand liegen.
In den Nachmittagsstunden besuchte ich einen berühmten französischen Maler, der als seltsamer Kauz und Sonderling abseits von der Pariser Malerwelt in Pouldu in einem versteckten Bauernhause wohnt, wo er Bauernmädchen als Madonnen malt und alte Fischer und junge Matrosen als Heilige. Seine Bilder sind meistens nicht größer als der Deckel einer Zigarrenkiste und auf Holz gemalt.
Bei diesem Maler traf ich die junge Österreicherin auf der Treppe. Sie ging auf der schmalen Holzstiege an mir vorbei und grüßte mich zum erstenmal. Ihre Augen schienen ganz vertraut und natürlich geworden und hatten die Weltfluchtunruhe verloren. Auf der dämmerigen Leiterstiege des Bauernhauses, in dem der berühmte Maler V. sich eingenistet hatte, schien sie gut bekannt, denn sie machte mir Platz wie eine, die im Hause zu Hause wäre und mich als einen Gast bei sich betrachtete. Diese flüchtige Begegnung machte uns plötzlich zu guten Bekannten. Und am nächsten Morgen, als wir uns zufällig auf der morgengelben Sanddüne im blauen Ozeanlicht trafen und auch ich barfuß und mit den Stiefeln in der Hand ging, grüßten wir uns wieder und besprachen eingehend den feinen Sand unter den Füßen, und wie notwendig es sei, ohne Stiefel zu gehen. Die junge Dame war im Gesicht wunderbar rosig und weiß zugleich, wie ein Ei, das man vor die Sonne hält. Auch ihre nackten Füße gingen unterm regengrauen Lodenmantel weiß im Sande, leuchtender fast als die weißen Kalkmuscheln, die auf den gelben Sandkristallen blitzend offen lagen.
Dieses junge Mädchen war im Morgen wie ein Stück vom Morgen selbst, so frisch, lebenverheißend, anmutig und stark, und ihr junger Leib erschien mir wie ein Krug, der am Brunnen überfließt, und der wartet, daß ihn jemand heimhole.
Sie setzte sich auf einen Sandhügel, und ich saß einige Schritte vor ihr; wir hörten die Wellen hundert Meter von uns poltern, horchten auf dieses Anrennen und Verzischen des Meeres, das sich anhörte, als ob kaltes Wasser auf eine heiße Herdplatte ruckweise ausgegossen würde und ruckweise aufzischte, aufbrauste, stürbe und verdampfte.
Wir saßen still vor dem Gedröhne des Atlant, vor der Ehrlichkeit eines ungeheuern Elementes, das sich einseitig hartnäckig behauptete. In der Nähe des Mädchens, zu zweien, schien mir das Meer kaum wie eine Handvoll Wasser, denn des Mädchens Blut und mein Blut war ein größeres Meer, ein Atlant von Blut, der durchs Weltall zog, und der noch über die Sonne hinaus hoch in dem kupfervitriolblauen Morgenäther vor meinen Augen wogte.
Wir sprachen ein wenig von Gemälden, von dem Maler, den ich gestern besucht hatte, von seinen Madonnen und Heiligen. Und immer zischte in der Nähe die dunkle dampfende Riesenherdplatte des Atlant um unsere Worte wie eine Riesenleidenschaft. Die Morgensonne heizte den flüchtigen, mehligen Dünensand, auf dem wir saßen, und der unter der Hand, die ihn berührte, leicht beweglich fortrieselte wie der Sand einer Sanduhr. Aber unsere Worte waren so unnütz wie die Sandhaufen, wie die nie endenden, verzischenden, meilenlangen Wellengänge des Atlant vor uns; wir blieben beide nicht mit Worten und nicht mit unseren Gedanken aneinander haften. Mir schien: was wir sprachen, sagte jeder von uns zu sich. Es war, als löschte der geschlechtslose ungeheure Wassergott, vor dessen meilengroßem Angesicht wir hier auf der Düne saßen, alle Geschlechtsunterschiede im Blute aus und ließe unirdisch die Seelen zueinander reden, unsinnlich, ohne Erhitzung, ohne Annäherung; gleichmäßig wie der Pulstakt des Wellenschlages, einförmig ohne Erregung wie die Öde des Dünensandes, in der jedes Sandkorn billionenmal dasselbe Gesicht zeigt, wie die Billionen mal Billionen Wassertropfen des Atlant stets das gleiche Gesicht zeigen.
Vor diesem Riesenmeer, das tagelang gewandert war und dicht bei uns seine Wasserwalzen landete, vor der ungeheuerlichen Geduld, mit der dieses Meer Millionen Jahre schon rauschte und echote und sich an den Sand wälzte, erlosch das Ichbewußtsein des Weibes und des Mannes. Und mit Schrecken, halb in Trauer und halb in Resignation, ließ ich vom Meer, vom Atlant, meine Augen hypnotisieren, so daß sie bald das junge Weib nicht mehr ansahen, so daß sie wie Fischaugen ausdruckslos wurden, so daß sie hinausschwammen in die unsinnliche Ferne des Meerhorizontes, als wäre ich ein Badender, der von der Strömung widerstandslos in den Atlant gezogen würde, und dem das Ufer verschwände, und dem die Landlinie dünn wie ein Faden würde, den er kaum noch sähe.
Unser gegenseitiges Interesse riß in diesem Augenblick ab. Ich sagte, daß ich mein Skizzenbuch im Hotel holen wolle, und daß ich heute morgen gerne zeichnen würde, aber vergessen hätte, Bleistifte einzukaufen. Sie sagte, daß sie jetzt Briefe schreiben müsse; sie habe Bleistifte bei sich. Und sie empfahl mir eindringlich eine neue Art Kohlenbleistift, Graphitkarbon, und schenkte mir ein Exemplar dieser neuen Bleistiftsorte. Dann trennten wir uns. Sie ging in die Dünen, ich am Fluß entlang zurück zum Gasthof.
Ich fühlte: sie und ich, wir waren von diesem Augenblick füreinander zu guten Bekannten herabgesunken. Das fesselnde leidenschaftliche Betrachten, mit dem wir uns einander genähert und uns gesucht hatten, war vom Atlant verschlungen worden. Sie war für diesen Morgen Briefschreiberin, ich Zeichner geworden. Und wir würden dies jetzt immer bleiben, fortgesetzt bleiben. Sooft wir uns träfen, würde sie daran denken, Briefe schreiben zu müssen, indes ich dann vom Zeichnen reden würde, und wir würden uns beide nur dann einigen können, wenn wir vom Graphitkarbonstift sprächen.
Ich drehte das Geschenk der jungen Dame in meiner Hand hin und her.
Halb schien mir der Bleistift wie ein Clown, der mit schlechtem Witz auf die Düne gekommen wäre, um sich über mich lustig zu machen, über mich und über alle Sehnsucht. Halb erschien mir der Stift wie die junge Dame selbst, die hinter den Sanddünen, barfuß weiterwandernd, verschwunden war. Mir war, als habe sich der junge, lebensvolle Mädchenkörper in einen hageren Bleistift aus Zedernholz und Graphitkarbon verwandelt. Und nie mehr könnte ich dies ändern und nie mehr den Bleistift in ein Mädchen zurückverwandeln – das fühlte ich mit Sicherheit, mit Deutlichkeit, so sicher und deutlich, wie ich jetzt wußte, daß der Atlant alltäglich und unverschiebbar hier Millionen Jahre schon die Menschen verzaubert hatte.
Der Atlant war an allem schuld. Der alte Zauberer – hatte der nicht stets Menschen verhexen können? Menschen werden Bestien, wenn der Atlant will, hatte mir gestern die Londonerin erzählt. Vor dreißig Jahren, wenn die großen Weinkauffahrteischiffe, von Bordeaux kommend, um nach England zu wandern, hier vor Pouldu vorüberzogen, hatten die Leute nachts einer Kuh eine Laterne unter den Bauch gebunden und diese auf dem Felsenplateau entlang getrieben, so daß die Schiffe sich im Kurs irrten und auf die Klippen auffuhren. Und wenn morgens von den gestrandeten Wracks die Leichen und die Weinfässer herbeischwammen, hatten die Leute nicht erst die Fässer von der Düne heimgerollt, sondern gleich neben den Leichen den Fässern den Boden durchgeschlagen und kopfüber die Fässer ausgesoffen. Am Abend hatte dann die ganze Dorfbevölkerung, Männer, Weiber und Kinder, in Rotweinpfützen und im Rausche schwimmend, auf den Dünen steif und starr betrunken gelegen.
Heute hatte mir der Zauberer Atlant ein junges Mädchen in einen Bleistift verwandelt. Aber ich wußte nicht, daß er mich selbst am nächsten Tag in ein Käuzchen verwandeln würde, in eine Eule, die nicht ins Licht sehen kann, die nur abends lebendig wird.
Als ich ins Gasthaus zum Mittagessen kam, erschien niemand beim Essen.
Die Londonerin und der eine Amerikaner waren, weil es morgen Sonntag war, nach Concarneau zum Besuch anderer Künstler gefahren. Beim Gasthof im Baumgarten hing heute an einem Seil ein nasser, frischgewaschener grauer Manchesteranzug. Und die Kellnerin sagte, der andere Amerikaner würde nicht zu Tisch kommen, da sein einziger Anzug gewaschen worden sei und am Seil in der Sonne trocknen müsse; der Herr liege deshalb zu Bett und warte auf seinen Anzug und müsse im Bett essen.
Ich saß also allein bei Tisch. Die Österreicherin kam auch nicht. Vielleicht hatte sie den berühmten Maler wieder besucht, der am Dorfende in einem Bauernhof wohnte, oder sie war auf der Düne geblieben, die sie so liebte. Ich fragte die Kellnerin, was es am Sonntag im Lande Festliches gebe, und sie erzählte mir, daß im Wald in ländliches Vogelfest stattfinden würde. Aus vielen Ortschaften brächten morgen die Bauern gefangene junge Amseln, Meisen, junge Raben und Eulen in Käfigen auf einen Waldplatz. Die Vögel würden dort verkauft, damit man sie dann fliegen lassen könne. – Dies Vogelfest war ein alter Bretonenbrauch; ich beschloß, am nächsten Mittag vom Atlant fort in den Wald zu fahren.
Am nächsten Nachmittag, als ich in den Wagen stieg, ließ ich durch das Dienstmädchen im Zimmer der Österreicherin anfragen, ob die junge Dame Lust hätte, mit mir zum Waldfest zu fahren.
Sie erschien am Fenster und sagte, sie habe noch rasch einen Brief zu beenden; aber wenn ich warten könnte, würde sie mitkommen.
Sie kam dann, und ich glaubte, da es schönes Wetter war, würde sie heute ohne Lodenmantel im hellen Kleid erscheinen. Aber sie war wie immer im Lodenmantel und schien sich um meinetwillen keine Mühe wegen ihrer Kleidung machen zu wollen. Ich dachte: vielleicht hat sie, wie der Amerikaner, nur ein Kleid und will es durch den Lodenmantel schonen.
»Es ist so staubig hier auf den Landstraßen«, sagte sie, als sie am Wagen erschien. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, daß ich immer im Mantel bin, aber ich lege ihn nicht gern ab.« Und sie wurde leicht rot, wie von den roten Polstern des Wagens beschienen.
Ich sagte ihr, ich hätte den Lodenmantel gern, weil er mich an meine bayerische Heimat erinnere.
Dann fuhren wir; und unterwegs am Dorfende stieg sie einen Augenblick aus und warf ihren Brief in den Kasten.
Es war, als habe sie mit diesem Brief eine Last von sich abgeworfen. Sie atmete auf und war gesprächig, wurde munter und aufmerksam für alle Dinge am Wege. Sie winkte mit dem Taschentuch zu den Fenstern des berühmten Malers hinauf, als wir an seinem grün eingehegten Bauernhaus vorbeifuhren. Sie erzählte mir von Landpartien in Österreich und von Münchener Malschulen und lebte besonders fröhlich auf, als wir in den frischen, grün bewimpelten Maienwald unter Buchen und Eichen kamen und an lauschigen Waldplätzen vorbeifuhren.
Bald glaubte sie unter den Bauerngesichtern, die wir überholten, und die alle zum Vogelfest wanderten, bekannte Gesichter aus Deutschland zu erkennen, und manchmal lachte sie und meinte eine ihrer kleinen Schwestern unter den Bauernkindern zu sehen. Des Waldes grüne Säle, die sich aneinanderreihten, wurden ihr zu einem deutschen Familienhaus. Und als wir ganz tief zu den grünen Gewölben des Waldinnern hinkamen und die Erinnerung an den Atlant weit zurückblieb und die lauschige Waldenge voll Farnkraut, voll Maiglockenblätter, voll blauer Waldglockenblumen den Blick an die nächste Nähe fesselte und nicht ins Unbegrenzte hinausschleuderte, wie der Atlant es täglich tat, da wurde des Mädchens Stimme immer inniger. Ihre Gedanken wurden zu warmen Blicken, mit denen sie alles teilnehmend und bewundernd betrachtete; und es schien, als wolle sie ein paar Augenblicke später im Wagen den grauen Lodenmantel, der ihr von den Schultern rutschte, ablegen und ganz uneingewickelt ohne Mantel und ohne Überlegung der Waldwelt gehören.
Da hielt der Wagen. Unter fernen Büschen sah man viele Schultern, Köpfe und Beine von schwarz gekleidetem Bauernvolk, und auf der Waldstraße vor uns reihte sich, mit Laubwerk geschmückt, Wagen an Wagen, die aus umliegenden Bezirksstädten die Honoratioren hergefahren hatten. Viel Pferdegestampf und Kutscherstimmen und dazwischen Mädchengelächter und das Gezwitscher von hunderten eingesperrter Waldvögel drängte sich aus dem Waldinnern und auf der Waldstraße zu einem sonntäglichen Festgeräusch zusammen. Der ganze Wald schien zu wandern und sich zu drehen, denn viele Schatten von Menschen bewegten sich hinter den sonnenhellen Buchenzweigen und hinter den grauen Buchenstämmen. Und besonders wurde das Gezwitscher und Gekrächze und Gepiepse von tausend Vogelstimmen immer lauter, als wir an die Waldlichtung kamen, wo gleich kleinen Holzgitterwänden tausend einfache Rohrkäfige übereinandergestellt waren, darinnen das Gehüpf und Gezeter von grauen und schwarzen kleinen Vögeln eine ungeduldige Unruhe hervorbrachte, als wäre der Wald hier an dieser Stelle, im Kreise dieser Rohrkäfigmauer, irrsinnig, geschwätzig und todesängstlich geworden. Die Füße der flatternden scheuen Vögel, ihre Schnäbel und ihr Gefieder schlugen an die Rohrgitter der kleinen engen Käfige, und es war eine Qual, die Fluchtversuche zu sehen, das verzweifelte Rütteln an den Rohrstäben, daran die Schnäbel sich blutig hackten und die Flügel sich die Federn zerschlugen. Viele kleine Vögel saßen völlig erschöpft da, zerzaust, eingeschüchtert, den Kopf in einer Ecke des Käfigs versteckt und im Angstfieber unausgesetzt zitternd; und ihre Augen, die kleinen schwarzen Stecknadelköpfe, waren von der Lichthaut bläulich verschlossen, als hätte sie sich aus Scheu vor den Menschenungeheuern freiwillig in die Nacht des Nichts begeben und erwarteten hungernd und vor Schreck gelähmt den Tod. Es roch nach Vogelfedern und Vogelmist, und das Gezeter der aufgescheuchten gefangenen Vögel nahm kein Ende.
Die junge Dame an meiner Seite zog ihren Lodenmantel enger um ihre Schultern; sie wurde plötzlich vor all den wilden kleinen Gefangenen totenstill. Sie sagte lange Zeit kein Wort. Sie ging nur ernst von Käfig zu Käfig und schien als Malerin die Stellungen der ängstlich zusammengekauerten Vögel zu beobachten und schien keinen Sinn für das Leid der Tiere zu haben.
Als ich endlich vorschlug, ich wollte ein paar Vögel kaufen und sie fliegen lassen, sagte sie ruhig: »Kaufen ja, aber nicht fliegen lassen. Wozu sollen die Vögel frei sein! Solange die Tiere leben, sind sie sowenig frei wie wir Menschen. Man müßte die Vögel alle töten – das wäre Freiheit! Die einzige wahre Freiheit ist der Tod. Finden Sie das nicht auch?«
Ich schaute verwundert die plötzlich bläulichen Lippen der Dame an und das von den Buchenblättern grün beschienene Gesicht. Und ich dachte nicht nach über das, was sie gesagt hatte; ich mußte nur denken: Die Dame sieht so totenbleich und grasgrün im Gesicht aus, als wäre der Wald ein grünes Aquariumwasser, auf dessen Grunde sie und ich hier gehen. – Und die Buchenstämme erschienen mir wie große Schlauchstengel von ungeheuren Meerblumen. Ich mußte an den Atlant und an viele Ertrunkene denken und an Wracks, die auf dem Meeresgrund lagen, und daran, daß ich heute im Hof des Gasthauses in Pouldu in der Hofecke, wo geschichtetes Brennholz lag, viele Schiffstüren und Schiffsplanken, auf denen Nummern und Namen standen, betrachtete hatte – Reste gestrandeter Dampfer. Es war kaum zwei Stunden her, daß ich das im Gasthof gesehen hatte, und ich war über die Wrackreste gar nicht erstaunt gewesen. Jetzt erst, zwei Stunden später, kam der Schreck über den Anblick des Strandgutes in mein Bewußtsein. Mitten im Wald, im Grünen und im Waldgeruch und Waldgeblüh mußte ich an die Schrecken des Atlants denken, an die Ungeheuerlichkeiten der Todesängste von strandenden Menschen, die das Meer nachts in den Stürmen scheu, irrsinnig und gelähmt, halb hoffend, halb verzweifelt, in den Gittern seiner Wellen gefangen hält – das Meer, das mit den Todesgeängstigten spielt wie der Mensch mit den gefangenen und zu Tode verzweifelten kleinen Vögeln.
»Überall hier ist der Atlant. Sogar in den Wäldern rollt er hinter einem her mit seinen Erinnerungen«, sagte ich zu der jungen Dame. »Ich bin müde von dem Riesen; ich liebe diese Gegend nicht; ich sehne mich nach dem Innern des Landes, wo der Atlant nicht nachkommen kann, der unheimliche Quäler und der ungebändigte Barbar.«
»Ich verstehe Sie nicht,« sagte die junge Dame, »wie kann ein Mann so mitleidig mit den Tieren und den Menschen sein; Männer sind doch eigentlich niemals mitleidig. Sie sind der erste Mann, von dem ich höre, daß er den Atlant nicht mag. Es ist seltsam: wenn ich aufrichtig bin, so mag ich den Atlant auch nicht. Ich fühle mich drinnen in den Ländern, hinter Wäldern, Äckern und Gärten wohler. Aber daß ein Mann dasselbe fühlt, hätte ich nicht gedacht. Ich dachte, Sie müßten, als einer aus dem starken, tyrannischen Geschlecht, den Kampf mit Riesen aufnehmen und herausfordern.«
Ich kaufte, ohne daran zu denken, was ich kaufte, einen kleinen, groben, plump aussehenden Vogel; der war von der Größe einer Wachtel und hatte einen Schnabel wie ein Falke. Und ich überlegte dabei, warum die junge Dame das Meer aufgesucht hätte, wenn sie Gärten mehr liebte als den Atlant.
»Ich fühle mich dem Leben gegenüber nicht wohl als Tyrann«, antwortete ich ihr, indem ich noch überlegte. »Tyrannen sind Unglück- und Unheilstifter, glaube ich; die Tyrannen haben sich überlebt. Die Männer unserer Zeit genießen nicht mehr gern ihren Eigenwillen des Eigenwillens halber. Das taten die Männer der alten Zeiten. Der heutige Mann erkennt den Weltallwillen als seinen Willen an. Und wenn die Frau dasselbe tut, so finden sich Mann und Frau ohne Tyrannei in gutem Einvernehmen zusammen.«
Die junge Dame wurde plötzlich bleich wie das fahle Wintergras, das vom Vorjahr noch stellenweise welk um die bleichgrünen Maiglockenblätter am Waldboden hing. Sie verlangte zum Wagen zurück. Sie sprach nichts mehr. Wir setzten uns wieder in den Wagen, und ich betrachtete den kleinen Vogel, den ich im Käfig auf meinen Knien hielt. Der Vogel hatte die Augen fest geschlossen, und sein Kopf war ein Wust von grauen Federn. Man sah nicht einmal die Augendeckel; es war, als ob der junge Vogel ein runder Wollknäuel wäre. Er saß tot, zusammengekauert wie eine Kugel und teilnahmslos in einem Winkel des winzigen Rohrkäfigs.
Die Festmusik spielte jetzt einen altmodischen Bretonentanz, und wie schwarze Kreisel drehten sich die nonnenhaft düster gekleideten Bauernpaare auf dem Waldplatz; es war, als tanze man zu einem Begräbnis. Wie eine Schar rotbäckiger Nonnen standen die zuschauenden Bauernmädchen unter den Waldbäumen und verdüsterten mit ihren schwarzen Klostertrachten das Sonnenlicht am Waldboden; und mit ihren weißen Krankenwärterinnenhauben gingen sie neben den schwarz gekleideten Burschen her wie Heiligenköpfe auf mittelalterlichen Holzschnitten. Ich fühlte, wie das Meer hier Frauen und Männer um Jahrhunderte zurückhielt, und wie das Meersalz die Gedanken zäh, eigensinnig und starrköpfig machte, den Frauen und den Männern im Land keine Freiheit gab, sondern ihnen eine ewige tyrannische Grenze setzte. Es war, als stünde der Atlant gleich einer unübersteigbaren Mauer vor den Stirnen hier am Land und machte alle Menschen zeitlebens zu Gefangenen, die in einem Gefängnishof in täglichem Kreisgang gehen, und die allmählich die Welt da draußen aus ihrem Bewußtsein verlieren und beim Anblick der ewig hohen Mauer verdüstert und verblödet werden.
Dann trabte das Pferd mit uns fort, und die Wagenräder rollten von dem Waldfest weg, das keinem Fest, sondern einer Folterkammer glich, in der die besten Geister der Luft, die kleinen Vögel des Himmels, tausend Ängste ausstanden. Wir fuhren nach Westen durch den Wald hinaus, und der Schein des Meeres kam uns schon tief im Wald glänzend unter den Bäumen entgegen, als führen wir auf eine lichterzuckende Kristallwelt zu, als bauten sich draußen durchsichtige Gebirge von Gläsern und Prismen auf. Auf viele Meilen sichtbar, schossen aus dem Atlant hohe Lichtbündel. Als der Wagen aus dem Wald auf die Landstraße rollte, wurde unser Pferd am Wagen winziger als eine braune Ameise, verkleinert von den hochgeschwungenen, blendenden Riesenfackeln, die der Atlant hoch in den Äther schleuderte. Es war, als sei das ganze Meer zu einer weißen explodierenden Sonne geworden, deren gezackte Korona mit weißglühenden Strahlenhörnern auf Meilen hinaus in die Himmelshöhe stieß. Das Licht hatte die Wassermauer verschlungen. Es schien, als wäre am Rande der Erde eine feurige Jenseitswelt gelandet, die eine Steigerung alles irdischen Lebens mit sich brächte. Und der Enthusiasmus, der allem Licht eigen ist, kam unserem Wagen vom Meer her entgegen wie ein großer Riesengott, der die Herzen aufregte mit grundloser Tätigkeit. Kein Mißtrauen, keine alten Vorurteile hielten stand vor dem blendenden Enthusiasmus des zu Feuer gewordenen abendlichen Ozeans. Und auch dem Pferd am Wagen, so schien es mir, waren unter der Weißglut des Lichtes die Hufe weggeschmolzen, und es wollte sich wieder wild und ungebändigt fühlen wie einst seine Ahnen auf den Steppen.
Berückt und hypnotisiert vom Meereslicht und erschreckt von den Sprüngen des Wagenpferdes, fragte mich die junge Dame, ob wir nicht aussteigen und, statt auf der Landstraße zu fahren, den Wiesenweg durch die Roggenfelder gehen wollten. Mir war es sehr recht. Ich ging gern dem lockenden Riesenfeuer des Atlant entgegen. Geblendet wie von großen zuckenden Scheinwerfern, gingen wir dann nebeneinander mit gesenktem Kopf und gesenkten Blicken auf einem engen Felsweg zwischen Rotdornhecken und kamen zu den grotesken, alten schiefgestellten Baumungeheuern. Bald aber war es uns nicht mehr möglich, an den riesigen Blendspiegel des Meeres auf diesem Wege näher heranzugehen.
Es war, als sollten uns die Augen getötet werden von den langen Lichtnadeln, die auch noch durch die Rotdornhecken schossen.
So setzten wir uns auf eine Rasenböschung in der Nähe der wunderlichen Bäume, von denen jeder aussah, als hätte er vielgestaltige Abenteuer erlebt.
Wir wußten erst nicht, was wir reden sollten, denn die Lichtmassen hatten unsere Gedanken nach allen Richtungen auseinandergesprengt.
»Ach, wenn die Welt doch nicht so schön wäre!« sagte plötzlich unvermittelt der rote junge Mund des Mädchens. Und ihre beiden Hände fuhren streichelnd über die kleinen weißen Sternblumen und über die blauen Glockenblumen im Grase.
Als sie das sagte, war eben mit einem Ruck der letzte Schein der Sonne im Meer hinter uns untergegangen. Die grüne Welt stand im Schatten, und der Abend floß gleichsam in dunkeln, feuchten Flecken aus den Hecken über das Roggenfeld vor uns. Vom Tag war nur noch eine Wolke von Wärme übrig. Die war wie ein lüsterner Geist, der umging und sich einen Leib suchte, in den er hineinfahren wollte. Und der Taudunst, der plötzlich aus den Rotdornhecken kam, roch gleich einem alkoholischen Getränk, als gärten jetzt die Wurzeln in der Humuserde stärker als die Blüten in der Luft.
Unwillkürlich dämpfte ich meine Stimme, weil alles im Abend so unterirdisch wurde, und weil es war, als müßten auch die Menschen mit den Farben im Erddunkel versinken.
»Würden Sie sich vor dem Sterben fürchten?« fragte plötzlich noch unvermittelter die junge Dame. »O nein,« sagte sie weiter, »ich weiß: euch Männern ist alles so einfach. Leben und Sterben ist euch wie Zeitunglesen und Geldausgeben.«
Sie lachte gereizt, und ihr Gesicht wurde abenteuerlich. Sie hatte die eine Schulter hochgezogen und den Kopf darauf gelegt, als lehnte sie sich an einen fremden Menschen.
Für ein paar Sekunden blieb ihre Haltung etwas verwildert und grotesk wie die verrenkten Bäume vor uns am Heckenweg. Ein paar Haarsträhnen hatten sich beim Fahren im Wagen hinter ihrem Ohr gelöst und hingen auf ihren Rücken herab, ohne daß sie es wußte.
»Mit wem sprechen Sie?« fragte ich teilnehmend. »Sie sprechen im Geist mit jemand, der nicht anwesend ist.«
Sie biß sich plötzlich auf die Lippen und antwortete nicht, nach einer Weile schüttelte sie heftig den Kopf, als habe sich ihr jemand aus den dunkeln Hecken unsichtbar genähert, und sie müsse ihn abweisen.
Bei dem Kopfschütteln glitt eine ihrer Schildpatthaarnadeln auf ihre Schulter und fiel ins Gras. Mit unheimlicher Ruhe wendete sie den Kopf nach der hingefallenen Nadel. Sie betrachtete die Nadel, ohne die Hand zu rühren, und ihr Mund wurde verächtlich, und sie sah auf die Nadel herab, als wollte sie sagen: Ich trotze jetzt auch aller Unordnung. Ich habe alles verloren, ich habe nichts mehr zu verlieren.
Ich erschrak beinahe vor der Aufrichtigkeit dieses Mädchens, das hier im Abend mit sich selbst Abrechnung zu halten schien. Sie starrte immer noch auf die Haarnadel im Gras wie in einen Abgrund. Sie war in einem jener unheimlichen Seelenzustände, darin die kleinsten Dinge sich in Gespenster zu verwandeln scheinen und die Seele dem Irrsinn nahe ist. Jetzt seufzte sie ein paarmal, und plötzlich griffen ihre beiden Hände in das Gras und rissen Grasbüschel aus, als ob diese kleinen schmalen Hände die große Erde schütteln wollten. Und es wurde mir klar: dieses Mädchen neben mir war das Opfer einer gigantischen Verzweiflung. Ich versuchte ihre eine Hand zu fassen und sie zu streicheln. Die Hand war wie die Kralle eines kleinen Vogels, war plötzlich wie vom Schrecken abgemagert und fühlte sich knöcherner an, als ich es mir vorgestellt hatte.
»Sprechen Sie sich aus! Sie haben ein großes Leid. Reden Sie sich das Herz frei!« bat ich sie.
»Ich kann nicht, ich kann nicht!« rief sie. Und sie entzog mir die Hand und vergrub das Gesicht in ihre beiden Hände. Und dann sagte sie dumpf: »Mir kann keine Aussprache mehr helfen.«
Und das Mädchen sprach aus der Dämmerung zu mir mit der Stimme eines reifen Weibes, das auf ein ausgelebtes Leben zurückschaut. Eine Weile war es dann still. Der Ozean rollte und hämmerte in der Ferne, als wäre ein lautarbeitendes Eisenwerk in der Nähe, wo Stahlhämmer dröhnten; und das klang vernichtend und donnernd, als ob da am Untergang der Erde geschmiedet würde und am Untergang alles Fleisches.
»Jetzt ist es genug«, sagte sie plötzlich mit einem raschen Entschluß. Und ich sah, wie ihre dunkle Silhouette nach der Nadel im dunkeln Gras griff. Sie steckte ihr Haar zurecht, erhob sich, zog den Lodenmantel enger um die Schultern und mit wiedergewonnener Würde sagte sie: »Der Atlant macht irrsinnig; es ist, als ob er einem Tiefen einreden wollte, die die Alltagswelt gar nicht hat. Vorhin war er wie ein Feuerfest und prahlte mit Herrlichkeit und war nur ein Blendwerk; jetzt ist der Atlant ein Schatten geworden. Hören Sie nur! Er tobt wie eine Hölle, die einer im Herzen getragen und von sich geworfen hat.«
Jetzt sprach in der Dunkelheit nicht mehr ein Mädchen, keine reife Frau, kein Mensch mehr zu mir. Es war ein Atom des alles durchdringenden Weltgeistes, das hier neben dem Atlant eine Stimme bekommen hatte, ein Wesen, das wie der Geist einer Toten aus dem Abenddunkel redete.
»Wie kann ein junges Mädchen, das jung, schön und gesund ist, die Welt und die Zukunft so argwöhnisch betrachten«, sagte ich und versuchte ein wenig zu scherzen. Ich war aufgestanden und sah mich neben ihr, die zu einem Schatten geworden war, und die mir bei den zu Schatten gewordenen Hecken und Baumstämmen wie ein Stück der Feldbäume oder der schwarzen Hecke vorkam. Als wäre sie im Felde gewachsen und lebte wie ein schwarzer Ast Tag und Nacht unter freiem Himmel, so frei hatte sie sich von allen irdischen Grenzen fortgeredet. Mir schien, ihre Traurigkeit wäre schwarz übers Land geflossen und ihr Leid hätte eine Nacht vor meine Augen und über das Roggenfeld und über den Himmel gelegt. Und in ihr grenzenloses Leid hinein glänzten nur ganz von ferne die Sternbilder der Fixsterne.
Ich wollte meinen Arm um sie legen, so wie das Dunkel alle Gegenstände zu Geschwistern macht und Arm in Arm mit Bäumen, Menschen und Feldern geht. Aber ich fand sie im Dunkeln nicht. Ich tastete an eine Baumrinde und stach mir einen Dorn der Hecke unter den Nagel meines Zeigefingers. Der blitzartige Schmerz, der mich durchzuckte, als die Hecke nach mir gestochen hatte, machte mich plötzlich nüchtern und vertrieb den Scherz, mit dem ich das Unglück des Mädchens von mir hatte fernhalten wollen.
Ich fühlte, daß ein so großes Leid, wie es diese Frau trug, erregend und erschütternd war gleich der Liebe, die sie einem Mann hätte bieten können. Und ich wollte meine ganze Zuneigung diesem Schmerz widmen und mit dem Mädchen der Traurigkeit huldigen, wie ich vorher gern ihrer Jugend und Schönheit gehuldigt hätte.
Ich enthielt mich jeder oberflächlichen Bemerkung und ging an ihrer Seite. Unsere Schritte waren lautlos im abendnassen Gras und im mehligen Wegsand, und manchmal streifte ein Ast voll Blätter unsere Wangen, und die Blätter waren naß, als weinten die Sterne über diesem Mädchen in das Gras und in die Heckenblätter, weil das Mädchen selbst nicht weinte.
Während ich einem tiefhängenden Ast auswich, streifte mein Gesicht in der Dunkelheit ihr Ohr; und nach dieser Berührung verhüllte sich meine Besinnung wieder. Ich begann zu zittern und sehnte mich, dieses jugendliche traurige Geschöpf an mich zu ziehen und ihm und mir den Schmerzbrand, den seine Seele verbreitete, mit Küssen zu ersticken. Es wäre dann alles so einfach gewesen, dachte ich mir. Fühlt sie sich verlassen, ist sie einsam und sehnen wir uns beide nach Liebe, nach dem feuerhellen Atlant der Liebe, wie er uns heute aus dem Wagen in die Felder gelockt hat, dann sollten wir jetzt nicht in der verfinsterten Nachtwelt gehen und uns an Trauer und Dornen stechen. Wir sollten uns die lichterhelle Liebe erschaffen, sollten uns einander in die Arme nehmen und unsere jungen Glieder Feuer fangen lassen am entzündeten und verliebten Blut.
Dann würde die Nacht von einem Horizont zum andern aufbrennen und uns verbrennen mit Glut und Genuß, und aus Leid würde Seligkeit wachsen, Lebensfreude, die mit donnernden Füßen ankommen würde, wie jetzt der nahe, laut aufstampfende Atlant.
Die unreifen Roggenähren rochen nach kräftigem Erdsaft, die Rotdornheckenblüten dunsteten wie Wein, der verschüttet am Wege strömte; und aus Bauerngehöften, die irgendwo in Efeu eingewickelt hinter fernen Hecken lagen, kam der warme Geruch von Tieren und Herdfeuern. Wie der inbrünstige Atem alles Irdischen strich er durch die kühlen Blätter der Hecke, an der wir entlang gingen.
Da wimmerte nicht weit von uns aus einem Bauerngehöft hinter einer Hecke eine winzige Kinderstimme. Die winselte wie ein kleines gequältes Kätzchen und näselte wie ein jammernder dünnstimmiger Greis und war nicht zu beruhigen. Und man hörte am Laut, daß das Kind gewiegt und geschaukelt wurde, und daß es wahrscheinlich im Arm einer Mutter lag und vielleicht die Brust haben wollte, aber fassungslos quäkte und alle Lebensnot in seine Stimme legte.
»Ein Kind«, sagte das junge Mädchen neben mir, und ich fühlte im Dunkel, daß es stehenblieb und horchte.
»Oh, ich bin so froh, daß Sie wieder reden«, entfuhr es mir. »Ich bin wie erlöst von Ihrer Stimme, als ob es wieder hell würde«, sagte ich aufrichtig.
»Ja, ich bin auch erlöst,« sagte sie, »ich habe meine Traurigkeit überwunden. Die Kinderstimme ist mir wie liebliche Musik. Alle Verzweiflung schweigt, wenn ich bedenke, daß ich bald Mutter werde – ehe das Jahr vergeht.« Sie sprach wie zu sich selbst, als hätte sie sich den Satz nachts im Dunkeln an ihrem Schlafzimmerfenster, wenn der Atlant donnerte, hundertmal wiederholt. Und sie hörte den Satz jetzt kaum, als sie ihn zu mir sagte.
Aber ich wurde wie verwandelt von dieser Aufklärung. Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete. Ich glaube, ich sagte, daß ich das ganz selbstverständlich fände, daß sie ein Kind erwarte.
Dann bot ich ihr meinen Arm an, um die junge Mutter im Dunkeln zu stützen, damit sie nicht stolpere und sich und ihre Leibesfrucht verletze. Eine Madonnenheiligkeit umgab plötzlich dies junge Weib an meiner Seite. – Sie legte ihre Hand in meinen Arm und ließ sich führen, als ob ich der Vater ihres Kindes wäre.
Der Mond ging wie eine Lampenglocke aus Milchglas über dem Schornstein eines niederen Bauerngehöftes auf und beleuchtete jede Strohspitze des mit trockenem Dünengras bedeckten Daches. Feierlichkeit und Friede strahlten von dem Mond dort oben am strohgepolsterten Hausdach auf uns herab. Es war, als stiege das Gestirn behäbig, gütig und sanft, wie der verkörperte freundliche Familiensinn, aus dem Schornstein der Bauernhütte. Dickbackig sah mich der Nachtkamerad an, wie das gutgenährte Gesicht eines Wickelkindes in weißen Kissen.
»Ich brauche Sie wohl nicht zu bitten, daß Sie mein Geheimnis keinem verraten. Ich bin, um mit meinem Geheimnis allein zu sein, von Paris an den Atlant gereist. Hier lebe ich in selbstgewählter Verbannung. Aber bitte, vergessen Sie es, wenn Sie noch länger hier bleiben und wenn wir uns morgen wieder sprechen. Vergessen Sie es, wie ich heute erst irrsinnig verzweifelt war und dann irrsinnig aufrichtig wurde.«
Sie reichte mir die kleine, kühle Knochenhand, die mich wieder durch ihre Fleischlosigkeit erstaunte, die immer so rund und voll aussah und sich doch wie die Hand einer Gestorbenen wächsern und knöchern anfaßte. Dann trennten wir uns im Hausgang des Gasthofes. Sie ging in ihr Zimmer, und ich suchte mein Zimmer auf. Und als ich die Tür schloß, war mir, als schließe ich einen Donner von Ereignissen hinaus, eine Reihenfolge von gewitterwolkigen Augenblicken, die ich in den Ohren noch wie ein Dröhnen fühlte; als wäre ich an diesem Nachmittag über den ganzen Atlant hin und zurück und kreuz und quer zwischen lautsprechenden Brandungen gereist.
Mein mondhelles Zimmer umgab mich so licht, als ob es mit dem Phosphor aller schwülen Gedanken angefüllt wäre, als leuchte von der Decke und von den kalkweißen leeren Wänden blauglimmendes nächtliches Meerleuchten. Ich setzte mich auf einen Stuhl mitten im Mondschein und ließ das Zimmer wie ein Schiff schaukeln; und mein Kopf schwamm mir wie eine Nuß auf und ab auf den Ereignissen des Nachmittags und des Abends. Ein raschelndes Geräusch am runden Tische in der Zimmermitte weckte meine abwesenden Augen. Ich erkannte die Umrisse des kleinen Vogelkäfigs, den ich dem Kutscher anvertraut hatte, als das junge Mädchen und ich auf der Heimfahrt vom Waldfest draußen vor Pouldu den Wagen verlassen hatten. Die kleine junge Eule war wach geworden und sehnte sich nun in der Nacht nach Freiheit.
Manche Menschen werden wie die Eulen nur im Dunkeln wach und aufrichtig, sagte ich zu mir und zündete ein Streichholz an und beleuchtete den Vogelbauer. Mit mächtigen schwarzen Kugelaugen sah sich der dicke Eulenkopf nach mir um. Die Eule spitzte ihre Federohren wie eine Katze und sah mich an und sperrte hungrig den Schnabel auf. Ich nahm rohes Fleisch, das man mir auf einen Teller neben den Käfig gestellt hatte, und fütterte dann, als das Streichholz erlosch, im Mondschein die Eule wie ein Kind.
Mutter, hat sie gesagt, wird sie, ehe das Jahr vergeht. Mutter, überlegte ich. Und warum hatte sie das Gras ausgerissen und verzweifelt den Erdboden mit ihren schmalen Händen geschüttelt? Ein Mann, an den sie täglich Briefe schreibt, die sie draußen in dem Briefkasten am Dorfende in den Kasten wirft, kann nicht schuld an ihrer Verzweiflung sein. Denn dann würde sie nicht täglich schreiben, wenn er sie verlassen hätte. Wahrscheinlich ist die Furcht vor den Eltern, vor den Anstandsgesetzen, vor der Heimat der Grund dieser Verzweiflung; die Furcht vor Nahrungssorgen vielleicht auch. Diese kleine Eule hier im Käfig müßte jetzt ja auch verhungern, weil man sie von ihrer Mutter aus dem Nest genommen hat. Sie kann sich kein Fressen suchen. Wenn ich sie jetzt im Mond fliegen lasse, muß sie verhungern und wird von den Katzen auf dem Scheunendach geholt.
Das arme Mädchen mußte sich freiwillig hier an den Atlant in die Verbannung geben, mußte fliehen vor den grausamen Vorurteilen widernatürlicher Gesellschaftsgesetze! Wer darf einem Menschenherzen, wenn es liebt, ein Gesetz zur Hemmung der Liebe entgegensetzen? Wer darf so frevelnd sein, den Göttern der Liebe Geduld zu predigen – Geduld, bis Heiratsscheine, Verlobungsanzeigen und Standesamtbewilligung, Aussteuer, Möbel und Wohnung angeschafft sind. Darf die Liebe nicht aufblühen über Nacht wie Roggen und Rotdornhecken im Mai? Darf die Liebe nicht eines Abends über zwei Menschen kommen wie ein Sonnenuntergangsfeuer über den Atlant? Wie die Wärmewolke, die im Abenddunkel alle Wollust vom Tag in die Nacht hinüberträgt? Muß ich da erst Kreisregierungsstempel, Stempelmarken und Zeugenunterschriften abwarten? Aller Triumph der Gottheit Liebe wird gebrochen, wenn die Liebe nicht heimlich, göttlich überraschend und nicht selig unerwartet zwei Menschen hinter Maienhecken und im Abendtau überraschen darf. Ahnt die Menschheit nicht, daß sie die besten Menschen aus ihrer Gesellschaft verstößt, wenn sie impulsive, göttlich feurige Menschen zu kühlen Lebensrechnern umwandeln will? Wenn die Menschheit die Impulse nicht als Naturwillen und Gotteswillen betrachtet, wird aus dem freien, herrlichen Menschengeschlecht ein unfreies, berechnendes Ameisenhaufengeschlecht erwachsen, Ameisen – denen die Regelung der Ameiseneierschutzfrage höher steht als die freie impulsive Zuchtwahlfrage der liebesheiligen Augenblicke. –
Ich zündete ein Streichholz an: da saß die kleine Eule satt und zufrieden im Käfig auf meinem Schoß. Ich hatte sie ebenso gut gefüttert und hütete sie vielleicht noch besser als ihr Eulenvater und ihre Eulenmutter, die sie nicht genügend vor den Nesträubern geschützt hatten. Ohne Vater und Mutter könnte man zur Not weiterleben und aufwachsen; ob man auch ohne die Liebe der Geliebten satt und zufrieden leben kann – das wissen wenige kurz und bündig zu beantworten. Das muß sich jeder selbst und nur für sich beantworten; und keiner darf Richter sein über seine impulsiven Nachbarn.
Als ich den Eulenkäfig auf den Tisch stellte und endlich eine Kerze anzündete, da fand ich einen Brief und ein Telegramm auf dem Tisch, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Der Brief war eine längst ersehnte Antwort und das Telegramm gleichfalls: ich sollte als Abgesandter einer geographischen Gesellschaft eine Reise nach Mexiko antreten; mein Schiffsplatz auf einem Dampfer der Bremer Norddeutschen Lloydlinie war schon bestellt, ich durfte diesen Dampfer, der Southampton anlief, in den nächsten Tagen schon erwarten und mußte schleunigst zu diesem Zweck über St. Malo über den Kanal nach England reisen.
Also, der Atlant sollte mich aufnehmen! Wäre ich heute abend in ewigem Feuer aufgegangen, so hätte mich das ewige Wasser nicht forttragen dürfen, dachte ich. So aber würde es gut sein, auf die unendlichen Wassermeilen hinauszuziehen – besser, als hier am Ufer einer Begegnung nachzuhängen, die mich mehr erschütterte, mehr als es wahrscheinlich alle atlantischen Sturmnächte würden fertigbringen können. –
Am nächsten Tag hing ein wasserreicher Himmel draußen vor den Fenstern. Ich wanderte, ehe es zu regnen begann, noch einmal ans Meer; der Himmel hatte wie ein graues Löschpapier die Atlantgrenzlinie in sich aufgesogen, und nur die weißen Schaumränder unten an den Klippenrändern zeigten in ihrer Beleuchtung, daß der Nebelhimmel einen großen lebenden Meerkörper einhüllte, der an den Rändern der Ufer zuckte und sich unter dem Nebel kommend und gehend krampfte.
Dann schossen die Wasser vom Himmel, als wären Wasserfälle in den Wolken, die senkrecht über die Landschaft stürzten. Die Zimmer im Gasthof wurden dunkel, und der Sturzregen spülte an den Scheiben wie der Wellenschlag eines Meeres herab. –
Bei Tisch erschienen alle, selbst die Österreicherin aß nicht auf ihrem Zimmer. Sie saß beim Essen im Lodenmantel und mit dem Strandhut auf dem Kopf und fragte mich über den Bleistift aus, ob ich gut mit dem Karbonbleistift zeichnen könnte; und ihre Augen waren lebhaft erregt, wie das schallende Regenwasser, das draußen rund um das Haus tanzte und hallte.
Bei dem Wassergebraus mußten alle sich lebhafter zuschreien, und die Wolkendunkelheit im Zimmer gab den Menschen ein unerwartetes Zusammengehörigkeitsgefühl. Denn die Regenfinsternis, die immer dunkler vom Atlant her über die überschwemmte Landstraße heraufzog, war wie der Anfang einer drohenden Katastrophe aufregend und machte alle Zungen geschwätzig.
Man erzählte von Hochfluten, die so plötzlich hereingebrochen wären, daß in knapp einer Stunde das Wasser vom Meer her den Fluß ins Dorf getrieben hätte und im Gasthaus alle Zimmer unten hätten geräumt werden müssen. Und man zeigte sich im Eßzimmer die dunkeln Wasserflecken an den gekalkten Wänden, die angaben, wie hoch das Wasser beim letzten Unwetter gestiegen war – so hoch, daß die Seefische zu den Fenstern aus und ein geschwommen waren und sich in Eßtischhöhe im Zimmer getummelt hatten.
Ich erzählte darauf, daß ich am nächsten Morgen abreisen wollte: nach England, und dann über den Atlant nach New York und Mexiko. Und ich scherzte und meinte, der Atlant würde hoffentlich nicht vor meiner Abreise ins Haus hereinbrechen; ich wollte ihm ja gern schleunigst entgegenreisen, damit er nicht Lust bekäme, mich hier im Hause persönlich abzuholen.
Nun begann ein großes Hallo unter den amerikanischen Malern darüber, daß ich nach den Vereinigten Staaten reisen wollte. Und die Engländerin war erfreut, daß ich zuerst nach ihrer Inselheimat fahren würde. Die Österreicherin war eine Weile still. Dann sah sie satt und scheinbar zufrieden vom Essen und von ihrem Teller auf, und ich mußte an die verlassene kleine Eule denken, die auf meinem Zimmer stand. Wir sahen uns beide einen Augenblick durchdringend und abschiednehmend an.
Da fragte sie mich schon: »Und wenn Sie abreisen, darf ich Ihre kleine junge Eule in mein Zimmer nehmen und sie füttern?«
Sie hat mehr Mutterinstinkt als Liebesinstinkt, dachte ich beruhigt und gab ihr mit Freuden die verlassene Eule. –
Am nächsten Morgen, als noch alles schlief und auch der Regen ruhte, sollte ich in dem Wagen, der mich vor drei Tagen auf dem Windmühlenweg an den Atlant gebracht hatte, nach Pouldu fahren.
Als ich mein Zimmer in der Morgendämmerung verließ, fand ich außen an meiner Tür mit Kreide große Buchstaben angeschrieben, die sagten: »Lebewohl und glückliche Reise über den Atlant nach Mexiko!« Und die Engländerin und die Amerikaner hatten sich auf dem Türbrett großzügig unterschrieben.
Daß ich unter den langen weißen Kreidebuchstaben auf dem braunen Türbrett den Namen der Österreicherin nicht fand, stimmte mich etwas kopfhängerisch. Während in der alten dunkeln Bretagneküche unten im Haus ein Reisigfeuer pfauchte, das meinen Morgenkaffee kochen sollte, ging ich im weiß getünchten Korridor auf und ab und betrachtete mit Wehmut den europäischen Gasthof, den ich jetzt mit mexikanischen Hotels vertauschen mußte. Das ganze Haus war weiß getüncht und alle Treppen voll weißer Tünchflecken, da das Gasthaus sich für die Sommerzeit zum Empfang der Badegäste vorbereitete. Im Hof besah ich mir nochmals die aufgestapelten Planken, Türen und Türrahmen – Überreste untergegangener Dampfer, die, als Strandgut angeschwemmt, hier aufgespeichert lagen wie Brocken, die dem alles zerkauenden Meer aus dem Maul gefallen wären. Ich sah im Geist die Klippen draußen, das Felsenufer des Atlant, das wie ein Riesenkiefer aufgesperrt lag, und sah die Wellenfläche wie einen gähnenden glänzenden Schlund, der stündlich bereit lag, Weltteile und jeden Abend die Sonne zu verschlingen.
So verschlang mich jetzt das Leben draußen und trieb mich von der dreitägigen Begegnung am Atlant, von dem jungen Weib für immer fort. Und wir würden vielleicht kaum jemals eine Nachricht voneinander empfangen und weniger von den Schicksalen des andern erfahren, als man von untergegangenen Schiffen erfährt.
Ich stieg in meinen Wagen, der mit mir auf die Flußfähre fuhr, um überzusetzen, da ich diesmal eine andere Bahnstation als die, an der ich angekommen war, erreichen mußte, um mich nach St. Malo zu finden.
Die Morgendämmerung machte den sonst feuerblauen kleinen Fluß grau, und Wolken hingen einförmig wie dumpfe Matratzen am Himmel und sperrten die Welt ein; die lange Düne lag wie ein Haufen Spinnweben in den Morgendünsten.
Ich sah mich auf dem Fluß nochmals nach dem Gasthaus um, das stand wie ein weißer Dominostein mit seinen sechs schwarzen Fensteraugen an der Landstraße. An einem der Fenster aber winkte ein kleiner weißer Fleck. Es war eine Hand mit einem Taschentuch, die da winkte, aber das Gesicht konnte ich nicht erkennen; es war von der Zimmerdämmerung beschattet.
Ich winkte mit meinem Taschentuch zurück. Dann rollte der Wagen mit mir in den Wald. Fluß, Gasthaus und dahinter die Küstenplateaus verschwanden.
Gewöhnlich, simpel und unsagbar dürftig empfand ich Wald, Felder und das Innere des Landes, als ich mich von der Gewalt des atlantischen Riesen und von der Gewalt der anziehenden Begegnung getrennt sah.
Viele Monate später, als mich in Mexiko nur noch der Graphitkarbonstift an die junge Dame am Atlant erinnerte und mich eine Wasserflut von tausenden Seemeilen von Europa und der Küste der Bretagne trennte, erhielt ich eines Tages von der Londonerin einen kurzen Brief, worin sie mir mitteilte, daß die Österreicherin sich in Paris erschossen habe.
Ich hatte mich also getäuscht, dachte ich, als ich mich vom Schrecken dieser Nachricht etwas erholt hatte. Ich täuschte mich, als ich bei dem lebensvollen jungen Weibe mehr Mutterinstinkt als Liebesinstinkt voraussetzte. Denn die Londonerin schrieb, sie habe gehört, ein junger Pole, der in Paris der Geliebte der Österreicherin gewesen, habe die Dame aus Furcht vor dem Skandal verlassen, und sie selbst habe aus Sehnsucht nach dem Geliebten und aus Angst vor der Schande den Tod gesucht. Der Mutterinstinkt hatte sie nicht am Leben erhalten können, und sie hatte sich in sich selbst getäuscht, als sie an jenem Mondscheinabend bei dem Bauernhaus, in dem das Kind wimmerte, zu mir sagte: »Alle Verzweiflung schweigt, wenn ich bedenke, daß ich Mutter werde, ehe dies Jahr vergeht.«
Nun war sie eine Tote geworden, ehe das Jahr vergangen war; und ich hatte das Gefühl, als ob sie von der Küste fort, stehenden Fußes auf den Atlant hinausgewandert sei, ruhelos suchend nach der großen unvergänglichen Liebe, die unter allen Meeren der Welt das endloseste und tiefste sein soll – so wie sie gläubig am Atlant auf den Dünen es sich geträumt hatte, als die Kinderflöte im Sand mit der Lerche im Abend um die Wette musizierte und der Vollmond ihr nachging, der so weiß war wie ihr bleicher Anbeter jetzt – der Tod.