Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Max Dauthendey

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Von Ishiyama den Herbstmond aufgehen sehen

Unter den zehn Teehausmädchen im Teehaus von Ishiyama war »Hasenauge« eines der unscheinbarsten. Sie war nicht feurig, sie tanzte auch nicht sehr lebendig, sie schminkte sich unordentlich und trug die vier Schleppen ihrer vier Seidenkleider nicht in der richtigen Abstufung übereinander. Aber sie konnte Geschichten erzählen, kleine, winzige Geschichten, die nur fünf Minuten dauerten, aber fünf Tage zum Nachdenken gaben. Deshalb war sie in aller Unscheinbarkeit eine Kostbarkeit für das Teehaus in Ishiyama.

»Hasenauge« kannte dreitausend Geschichten allein über den aufgehenden Herbstmond, der, von Ishiyama gesehen, als eines der herrlichsten Schauspiele über dem Biwasee gilt. Ich will drei dieser nachdenklichen Geschichten hier wiedererzählen, die alle den Herbstmond von Ishiyama teils als Hauptperson, teils als Hintergrund haben.

Stellt euch vor, wir hätten eben in einem der kleinen Gemächer, im ersten Stock des Teehauses, auf den geglätteten Strohmatten des Fußbodens, auf dünnen, nur fingerdicken seidenen Kissen an der Diele Platz genommen. Die Schiebefenster zum See sind weit offen. Hinter dem roten Lackgeländer der kleinen Veranda liegt die Seeflut. Zu beiden Seiten der Fenster zischeln Wassereschen. Ihre Blätter sind in der Abenddämmerung lang und schmal und flirren wie Libellenschwärme vor dem perlmutterfarbigen Seeglanz.

Es liegen auch ein paar Hügellinien hinter den Bäumen, die sind am Abend wie grünliche Glasglocken. Der Himmel ist spinnwebgrau und scheint hinter einem Zipfel des Sees leicht zu brennen, wie wenn man ein Streichholzflämmchen an einen Schleier hält. Die Helle kommt vom aufgehenden Mond, den deine und viele Augen jetzt auf den Altanen der Häuser von Ishiyama erwarten.

Vor dir auf der Diele stehen offene Lackschachteln. In diesen sind gebackene Fische, Reis, Makronen, Wurzelgemüse und Geflügelstücke soeben heiß vor uns aufgetischt. Elfenbeinerne Eßstäbe liegen wie lange Damenhutnadeln daneben; und »Hasenauge«, welche dir Gesellschaft leisten soll, verpflichtet sich, dir eine ihrer Geschichten vom aufgehenden Mond zu erzählen, ehe das Essen kalt ist, ehe sich der Essensdampf verflüchtigt hat und ehe die große goldene Mondscheibe so hoch über den Seerand gestiegen ist, daß sie die Seelinie losläßt. Dabei sollst du dazwischen von den zwei Eßstäbchen, die sie ergreift, und aus der dünnen Porzellanschale, die sie mit Reis und anderen Speisen füllt, von »Hasenauge« selbst wie ein Kind immer mit ein paar Bissen gefüttert werden, und du bekommst aus einer Fingerhuttasse Tee und aus einer Fingerhuttasse Reisschnaps oder aus einem europäischen Glas japanisches Bier aus einer Flasche eingegossen, von bayerischen Brauern in Tokio gebraut. Vom Fenster kommt die Abendluft und der Fischgeruch des Sees herein, aber der parfümierte Puder von »Hasenauges« weißgetünchtem Gesicht ist stärker als der Seegeruch.

»Hasenauge« erzählt:

Der König hatte einst in Hakatate im Norden Japans einem Fischzug beigewohnt, bei dem man unter anderen großen Fischen auch ein Meerweib fing. Aber nicht eines jener guten Meerfräulein, die am Strand mit den Fröschen und Unken singen, sondern ein Tiefseeweib, das noch nie an der Wasseroberfläche gewesen war, das nie Land, nie Sonne, Mond und Wolken gesehen hatte.

Das gefangene Meerweib hatte einen mächtigen Goldfischschweif statt der Füße, ihr Haar war schwarz wie Schreibtusche und ihre Augen rot wie Kaninchenaugen. Es war dem König geweissagt worden, daß er drei Nächte ein Weib lieben müßte, das weder Sonne noch Mond gesehen hätte. Deshalb war er zum Fischzug mit seinen Leuten nach Hakatate ausgezogen, hatte besonders große Netze auswerfen lassen, um ein Meerweib der Tiefsee zu fangen. »Der König wird sein Reich verlieren, wenn er ein solches Weib nicht drei Tage lieben will«, lautete eine alte Prophezeiung.

Aber damit, daß man das Weib gefangen hatte, war nicht die größte Sorge vom König genommen. Jenes Weib, das ihn mit den roten Augen scheinbar blind ansah, das mit dem roten Schweif um sich schlug und ein paar Kähne des Königs zertrümmerte, jenes Weib, das nicht sprechen, nicht lachen und nicht seufzen konnte, drei Tage zu lieben – dies war eine so heroische Aufgabe, daß sich alle, die um den König waren, entsetzten.

Nur der König war ruhig, stellte sich am Ufer vor die Weisen seines Landes hin und fragte:

»Wie weit reicht meine Macht?«

»Deine Macht, o Herr, reicht über Himmel, Erde und Wasser.«

»Über alles, was darinnen ist?« fragte der König.

»Über alles Männliche, was im Himmel, auf der Erde und im Wasser ist«, sagten die Weisen. »Nur das Weibliche läßt sich nicht regieren.«

»Gut, dann soll der Mond, der dort aufgeht, untergehen«, rief der König. »Wenn ich allen gebieten kann, dann soll der Mond nie mehr in meinem Reich erscheinen, ehe er mir geholfen hat, dieses Fischweib hier in ein Menschenweib zu verwandeln.«

Der König ließ das Fischweib binden und in sein Zelt legen, ließ Essen und Trinken in das Zelt stellen und ließ die Zeltvorhänge fest hinter sich zuschließen, so daß es finster im Zelt war wie in der Meerestiefe.

Die Weisen des Königs aber setzten sich mit des Königs Mannschaften rings um das Zelt draußen und waren sicher, daß der Mond nicht in dieser und in keiner Nacht mehr aufgehen werde. Aber der Mond kam wie immer und teilte sanfte Schatten und gelben Feuerschimmer über die Weisen und über das Zelt aus.

Der Mond kam auch in der zweiten Nacht und in der dritten Nacht. Am Anfang der vierten Nacht rief der König drinnen im Zelt, man solle die Zelttüren öffnen. Und der König trat heraus, und neben ihm an seiner Hand ging ein gesittetes schönes Weib. Das hatte Augen, so dunkel wie die mondleere Nacht, und hatte keinen Fischschweif, sondern zierliche Füße und war frisiert und in seidene Schleppenkleider gehüllt, wie es einer Königin geziemt.

Die Weisen waren erstaunt, daß der König ohne Hilfe des Mondes das Seeweib in ein Menschenweib verwandelt hatte. Denn während der Mond drei Nächte lang auf- und untergegangen war und sich nicht um den Befehl des Königs gekümmert hatte, hatten die Weisen drei Nächte lang für ihr Leben gezittert, weil sie des Königs Macht übertrieben hatten und in dem König den Glauben an eine Allmacht erweckt hatten, die er nicht besaß.

Jetzt aber waren die königlichen Weisen zufrieden, übertrieben des Königs Macht noch mehr und sagten zungenfertig: »O König, Eure Macht ist noch größer, als wir dachten. Ihr habt ohne Hilfe des Mondes das Meerweib in ein Menschenweib verwandelt.«

Der König antwortete ihnen nicht, führte das Weib zu seinem Boot und befahl, daß man die Segel lichte, um von Hakatate heim nach Süden zur Königsstadt zu ziehen und dort den Einzug der Königin zu feiern.

Auf dem roten Lackaltan des goldenen Bootshauses saß die neue Königin schweigend neben dem König, sie, die noch keine Sonne und keinen Mond hatte aufgehen sehen, sie, die von ihrem Menschenleben nur die Liebesumarmungen des Königs kannte, sie, die drei Nächte und drei Tage an des Königs Brust gelegen hatte und, von des Königs Wunsch und Sehnsucht durchdrungen, aus einem Meerweib in ein Menschenweib verwandelt worden war.

Ihre Haare hatten sich von selbst geflochten, um dem König zu gefallen; in der Finsternis hatten sich Kleider um sie gewebt, damit sie für den König geschmückt erscheine. Sie hatte sich aus ihrem Fischleib Füße gebildet, um dem König folgen zu können, denn das starke Herz des Königs hatte drei Nächte über ihr gelegen und hatte sechzigmal in der Minute das Wort »Liebe« zu ihr gesagt.

Von der Liebe jetzt verwandelt, sah die Königin noch nicht das schaukelnde Schiff und noch nicht des Königs Gefolge und noch nicht sich selbst. Sie ahnte noch nichts von ihrer Verwandlung und saß noch in liebestrunkenem Zustand unbewußt neben dem König.

Da tauchte, rot wie ein großer Berg aus rotem Lack, die Mondkugel aus der Meerestiefe und zog im Wasser einen feuerroten Widerglanz hinter sich her wie einen feuerroten Schweif.

Die Weisen des Königs, welche unter dem Altanrand des Bootshauses in der Bootstiefe saßen, hätten sich längst gern bei der Königin eingeschmeichelt, fanden aber noch keine passende Anrede. Jetzt warf sich einer der Weisen vor dem König nieder und rief:

»Seht, Herr, der Mond trägt die Farbe der Scham, weil er zu schwach war, Euch zu helfen.«

Nun hob die Königin die Augen, und der Mond warf seinen Schein wie eine Umarmung über sie. Und der König wurde fast eifersüchtig, daß jemand im Weltraum wagte, sein Weib anzurühren, das er sich selbst geschaffen hatte.

Aber ein anderer Weiser, der den ersten überbieten wollte, warf sich vor der Königin nieder und rief:

»Seht, der Mond, o Königin, hat, um Euch zu gefallen, den Fischleib angezogen, den Ihr abgelegt habt. Er hat Euren roten Schweif und Eure roten Augen angenommen, die der König in die Meerestiefe schickte.«

Da ging über der Königin Gesicht ein zuckender Schreck, sie sah an sich herab und wußte nicht, wer sie verwandelt hätte, und sie erkannte sich als Menschenweib und schauderte über ihre Verwandlung.

Der König wurde über die Rede des Weisen vor Zorn rot wie die Mondscheibe.

Da warf sich rasch ein dritter Weiser vor ihm nieder, ihn und die verwirrte Königin zu beschwichtigen:

»Nein, hoher Herr, hohe Herrin, das ist nicht der Mond, den Ihr dort aufgehen seht. Das ist des Königs Herz, das nicht in des Königs Brust, sondern in des Königs Reich wohnt, des Königs Nachtherz, das abends rot aus dem Meer steigt und das nur Euch gehört, o Königin. Aber der König hat auch ein Tagherz. Das werdet Ihr morgen früh sehen, o Königin. Das gehört uns, uns Weisen, denn es ist hell wie die Weisheit selbst und teilt Klarheit aus und nennt sich: die Sonne.«

Als dieser Weise so gesprochen hatte, daß ihn keiner mehr überbieten konnte, zog er sich selbstzufrieden mit den andern in die Bootstiefe zurück. Dort saßen sie in langer Reihe, jeder mit dem Kopf auf der Schulter des andern, und schliefen ein. Der König aber legte seine Brust an die Brust der Königin, und während das Schiff mit gespannten Segeln durch die Nacht strich, nach Süden, umarmte der König die Königin wie ein brünstiger Adler.

Das Meer aber zischte und raschelte, als wären die Wellen bis an den Weltrand des Königs Flügel und als schlügen sie laut an den Himmel, während der König die Königin umschlungen hielt.

Gegen Morgen wurde das Meer still. Der König schlummerte ein, und seine Arme ließen im Schlaf die Königin los. Diese richtete sich auf, als eben der Mond gelblich-grau vom Himmelsbogen herabstieg und im Meer verschwinden wollte. Da des Königs Augen geschlossen waren und er schlief, erkannte ihn die Königin nicht mehr, denn sie hatte nie einen schlafenden Menschen gesehen. Weil auch die Weisen unten im Schiff sich nicht rührten und die Bootswachen lautlos unter dem Mast kauerten, glaubte sich die Königin ganz allein und verlassen. Und sie sprach zum Mond, der schon zur Hälfte im Meer versunken war und den sie für des Königs Herz hielt:

»O Nachtherz, das mir gehört, ich will nicht des Königs zweites Herz erwarten, das den andern gehört. Ich will bei dir bleiben und mit dir gehen, wohin du gehst.«

Die Königin stand auf, trat an den Bootsrand und ließ sich ins Meer fallen und verschwand in der Flut.


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