Max Dauthendey
Die acht Gesichter am Biwasee
Max Dauthendey

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Als der König die Königin am Morgen nicht fand, versuchten ihn die Weisen mit ihrer Weisheit zu trösten und sagten:

»Die Prophezeiung lautete, o König, du solltest ein Meerweib drei Tage und drei Nächte lieben, aber nicht eine vierte Nacht dazu.«

Doch der König war erschüttert von Trauer und wild und aufgebracht von Verzweiflung über die Torheit der Weisen, die ihn nicht einen König hatten sein lassen, sondern ihn zu einem Gott hatten machen wollen. Denn ihm war klar: Es hatte der Königin vor dem Tageslicht gegraut, das sie einsam machen sollte, weil die Weisen gesagt hatten, das Tagesherz des Königs gehöre nur der Weisheit und nicht der Liebe.

Eine furchtbare Wut überfiel den verlassenen Mann. Er riß mit seiner Faust die Segel von den Tauen und wollte mit der andern Faust den Mastbaum ausreißen, um alle Weisen damit zu erschlagen.

Diese aber, erschrocken, heuchelten Demut und riefen:

»O Herr, die Königin wird wiederkommen, wenn Ihr es befehlt, sobald der Mond heute abend aufsteigt. Ehe Ihr uns jetzt ungerecht umbringt, wartet wenigstens mit Eurem Urteil über uns bis zum Abend. Kommt die Königin nicht mit dem aufgehenden Mond, so könnt Ihr uns immer noch töten.«

Mit solchen Worten schläferten sie des Königs Wut ein, denn sein Schmerz war größer als sein Zorn. Und als er hörte, daß die Königin vielleicht am Abend wiederkommen könnte, glaubte er daran, wie jeder Liebende gern an Wunder glaubt. Und er hoffte, die Königin würde vielleicht als Fischweib am Abend wiederkommen und sich von ihm wieder in ein Menschenweib verwandeln lassen, wenn der Mond aufging.

In der Mittagshitze, als die Sonne aus dem Meer und aus dem Himmel zugleich brannte und der König auf einem Haufen Segeltuch am Bootsrand einschlief, schlichen sich die schlauen Weisen seines Landes an den Schlafenden heran und stießen den Haufen Segeltuch samt dem schlafenden König ins Meer. Denn alle hatten beratschlage, daß sie den wütenden König noch vor Abend töten müßten, um nicht selbst getötet zu werden.

Als die Sonne den König nicht mehr auf dem Deck sah, stieg sie früher als sonst von der Mastspitze herunter, und verwundert sahen die Weisen, daß der Tag schneller zu Ende war als je. In dieser Nacht warteten sie vergeblich auf den Mond. Es war kein Mondaufgang, und es schien eine endlose Nacht angebrochen zu sein; denn die Sonne ging auch nicht mehr auf zu der Zeit, da sie erwartet wurde.

Danach verwirrte sich die Weisheit in allen ihren Hirnen; die Weisen des Landes hatten die Liebe im Reich umgebracht, und mit der Liebe blieben Sonne und Mond aus dem Reich verschwunden. Denn die Liebe ist allmächtiger als die Weisheit. Alle, die im Boot waren, wurden wahnsinnig und stürzten sich ins Meer, dem toten König nach...

So erzählte »Hasenauge«. Und bei den letzten Worten deutete sie mit den Eßstäbchen, mit denen sie dich bei der Unterhaltung gefüttert hatte, hinaus auf den Biwasee. Umgeben von einem gelben Dunstkreis, als hätte er einen gelben Ährenkranz auf dem Kopf, stand der Vollmondgott draußen am Fenster und trat seinen Rundgang an.

Wenn du dann aus dem Teehaus heimgehst, kann es einem Neuling, der »Hasenauge« zum erstenmal erzählen hörte, vorkommen, daß er mit dem Mond in Streit gerät. Der Mond stellt sich quer über den Weg und fragt ihn:

»Nun, hat dir wirklich ›Hasenauge‹ während meines Aufgangs zwölf Geschichten erzählt?«

Zuerst sagst du ja. Du besinnst dich nicht, rechnest nicht nach und sagst: »Ja, zwölf.«

Der Mond lacht stolz über Ishiyama und freut sich.

Nach einer Weile rufst du den Mond, hinter einer Hausecke, an den Weg hervor und sagst:

»Es war nur eine Geschichte, aber es klang wie zwölf.«

Da lächelt der Mond noch stolzer und freut sich noch mehr über Ishiyama. Und wieder nach einer Weile, ehe du in dein Haus trittst, fragst du den Mond an der Türschwelle:

»Sag mal, wie kommt das, daß Fräulein ›Hasenauge‹ dreitausend Geschichten allein vom Mondaufgang über Ishiyama erzählen kann? Kommt es daher, daß du nirgends so schön wie am Biwasee aufgehst? Ich glaube, du bist Fräulein ›Hasenauges‹ Geliebter.«

Da rascheln alle Eschenbäume im Mond, und sie fragen dich: »Hat dir Fräulein ›Hasenauge‹ heute ihre dreitausend Geschichten erzählt?«

»Ja, ungefähr dreitausend«, antwortest du, ohne dich zu besinnen.

Und am nächsten Abend geht der Mond über dem Biwasee bei Ishiyama noch geschichtenreicher auf als sonst...

»Liebe und der aufgehende Mond machen das Haar wachsen. Darüber will ich dir gleich eine Geschichte erzählen«, sagte »Hasenauge« zu mir und reichte mir ein Schälchen frischen Tee und einen großen Brocken Pfefferminzzucker dazu und drückte mir eine kleine Prise frischen Tabak in die kleine, silberne Tabakspfeife...

Als einer der schönsten Tempel in Kioto gebaut werden sollte, erwiesen sich alle Stricke, die den bronzenen Dachfirst auf die Gerüste hinaufwinden sollten, als zu schwach. Darum entschlossen sich alle die Tausende von Frauen in Kioto, dem Tempel ein Opfer zu bringen und ihr Haar dicht am Kopf abschneiden zu lassen, damit daraus Stricke für den Tempelbau gedreht würden. Es wurde auch wirklich ein dreihundert Meter langer Haarstrick aus den geopferten Haaren gedreht, und dieser schwarze Strick, der die Dicke eines Männerarmes hat, wird noch heute in einer Lacktonne im Tempel von Kioto aufbewahrt.

Die Frau eines japanischen Adligen, die auch ihr Haar zum Tempelopfer abgeschnitten hatte und die in jener Zeit schwanger war und nahe vor der Stunde des Gebärens stand, erschrak so sehr, als sie sich im Handspiegel sah und ihr Kopf ihr kahlrasiert entgegenglänzte, daß sie sich der Tränen nicht erwehren konnte.

Die Tempelgötter nahmen die Schwachheit dieser Frau übel und straften sie an dem Kind, das sie gebar. Sie schenkten ihr ein kleines Mädchen, aber diesem wuchs nicht ein einziges Haar auf dem Kopf; und wie eine Elfenbeinkugel so glatt, weiß und haarlos blieb die Schädeldecke des Kindes.

Die Frauen von Kioto, denen allen daran gelegen war, daß ihr Haar bald wieder wüchse, und die wußten, daß der zunehmende Vollmond den Haarwuchs beschleunigt, taten sich zu Vollmondprozessionen zusammen und wallfahrteten in langen Zügen im Mondschein zu den verschiedenen Kiototempeln.

Jene adlige Dame nahm zu jenen Nachtprozessionen ihr kleines Mädchen mit in der Hoffnung, der Mond würde dem Kind Haare wachsen lassen. Aber die Prozessionen nützten nichts, und die Mutter war gezwungen, dem Kind Perücken machen zu lassen. Das Mädchen wurde damals von allen Leuten in Kioto »Mondköpfchen« genannt, weil es so kahl war wie der Vollmond.

Als »Mondköpfchen« verheiratet wurde, wußte der junge Mann, der sie zur Frau nahm, daß er eine kahlköpfige Frau heiratete. Aber es lag ihm nichts daran, denn er hatte »Mondköpfchen« immer in schöner, gutsitzender Perücke gesehen. Und er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wie eine kahlköpfige Frau ohne Perücke aussehen kann.

Die Hochzeitsnacht verlief, wie die meisten Hochzeitsnächte, für die beiden Neuvermählten mit geschlossenen Augen, und das Liebesglück ward nicht gestört.

Aber schon in der zweiten Nacht verschob der junge Ehemann erst zufällig, dann scherzend Mondköpfchens schwarze Perücke. Er spaßte und schob sie ihr bald auf das linke Ohr, bald auf das rechte, bald auf die Nase, bald auf den Nacken zurück, und er kollerte sich neben seiner jungen Frau vor Lachen. Immer, wenn die Frau ernst und liebend ihre Arme ausbreitete, juckte den Mann ein Kobold an den Fingern, so daß er der Perücke erst jedesmal einen kleinen Puff gab, ehe er seine Frau in die Arme schloß.

Dieses geschah in der zweiten Nacht. Aber in der dritten war es überhaupt nicht mehr zum Aushalten. Der junge Mann setzte sich selbst die Perücke auf, so daß die Frau böse wurde, nicht mehr im Zimmer bleiben wollte und sich auf den Altan setzte. Es war dunkel draußen, und er lief ihr mit einem Licht nach. Als er sie perückenlos mit hell leuchtendem Schädel am Altanrand sitzen sah, prustete er vor Lachen, kollerte ins Zimmer zurück und rief:

»Ich habe den Vollmond geheiratet.«

Bisher hatte »Mondköpfchen« ihren Namen immer harmlos hingenommen und sich nie darüber erschreckt. Aber nun brach sie in Weinen aus.

Am dritten Tage nach der Hochzeit ist es in Japan Sitte, daß die Frau ihre Eltern besucht. »Mondköpfchen« ließ sich am nächsten Morgen in einer Sänfte in ihr Vaterhaus tragen, weinte sich bei ihrem Vater und ihrer Mutter aus und wollte nicht mehr zu dem Mann zurückkehren, der mit ihrer Perücke spielte und statt der Liebe Gelächter über sie schüttete.

Aber Vater und Mutter überredeten »Mondköpfchen«, wieder zu ihrem Mann zurückzukehren, und versprachen, alles daranzusetzen, ein Mittel ausfindig zu machen, damit ihre Haare wüchsen. Sie sollte sich nur noch eine kurze Wartezeit auferlegen.

»Mondköpfchens« Eltern hatten diesen Rat nur aus Verzweiflung gegeben und mußten jetzt selbst weinen, als ihr Kind zu seinem Mann zurückgekehrt war; sie waren ratlos. Plötzlich sagte die alte Frau zu ihrem Mann:

»Ich weiß, womit ich die Götter jetzt versöhnen kann. Ich will mein Haar zum zweitenmal abschneiden und es den Tempelgöttern opfern. Die Götter sind gut und geben mir dann einen Rat für unser Kind.«

Die Frau tat so und trug ihr ergrautes abgeschnittenes Haar, zu einer kleinen Schnur geflochten, in den Tempel der tausendhändigen Kwannon und band dort die Haarschnur um das goldene Handgelenk der tausendfach segenspendenden Göttin.

Die Götter versöhnten sich danach mit ihr und gaben ihr in der Nacht einen Rat. Die Frau hörte im Traum eine Stimme, die sagte:

»Liebe und Vollmond lassen die Haare wachsen. Schicke dein Kind nach Ishiyama. Wenn es dort den Herbstmond aufgehen sieht, werden Liebe und Mond deinem Kind ein schönes Haar schenken.«

Die Mutter erzählte den Traum ihrer Tochter, und »Mondköpfchen« glaubte begeistert an die Weissagung. Und »Mondköpfchens« Mann, der immer noch lachte, sagte wenig rücksichtsvoll zu seiner jungen Frau:

»Reise nur nach dem Biwasee und laß dir dort Haare wachsen. Ich muß mich hier inzwischen von dem Nachtgelächter erholen.«

»Mondköpfchen« reiste an den Biwasee.

Im aufgehenden Mondschein sahen die Bewohner von Ishiyama die kahlköpfige junge Frau auf dem Balkon des Rasthauses sitzen, wo »Mondköpfchen« Wohnung genommen hatte. Die frommen Bewohner des Seeortes nannten sie nur die elfenbeinerne Heilige, weil ihr haarloser Kopf wie vergilbtes, altes Elfenbein in der Abenddämmerung leuchtete. Viele lenkten abends vom See her ihre Kähne am Rasthaus vorbei, um die bleiche stille Frau auf dem Altan unter den Sykomorenbäumen sitzen zu sehen, und jeder, der sie sah, dachte sich eine Geschichte über sie aus.


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