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Shakespeare und Fischart drehten sich zum letztenmale um. In der von den goldenen Bändern der Kanäle durchzogenen Ebene stand Scorel ganz allein. Ein Sonnenstrahl zitterte über seinem blonden Barte, und mit eindrucksvoller Handbewegung auf den rötlichen Horizont deutend, rief er mit seiner spröden Stimme: »Wie schön, wie rührend! Lebt wohl, Ihr Freunde, die Ihr im Lichte entschwindet!«
»Dieser Mann wurde aus Freude und Kraft geformt,« sprach der Dichter zu seinem Gefährten. »So wie Ihr die Liebe zur Menschheit, hat er die Liebe zur Natur empfangen, und wie es sich ziemt, scheiden wir im Glanze der Herbstsonne von ihm.«
»Er ist ein edler Geist,« antwortete Fischart, der sich seiner Empfindsamkeit schämte und sie verbergen wollte. »Es thut mir leid, daß dieses alte Schwein Doelen gerade im Augenblicke unserer Abreise besoffen war. Auch er wird für mich eine der malerischesten Gestalten des schwarzroten Amsterdam bleiben.«
Sie schritten in schnellen regelmäßigen Schritten vorwärts. William trug außer seinem Quersacke einen Degen, zu dessen Ankauf der Pamphletist ihn bewogen hatte. In die eben empfangenen Eindrücke mischten sich nun bei jedem Schritte neue: Eine flügellose Mühle, die einem verstümmelten Vogel glich, die düsteren Umrisse eines seine Herde bewachenden Schäfers, marschierende und singende Soldaten, Mauern, deren Steine aus den Fugen gegangen waren, so daß die Sonne durch sie schien, und die daher Feuerstrahlen zu speien schienen. Fischart lächelte, indem er auf sie deutete. »Einst hätte ich bei all' dem irgend einen moralischen Vergleich gesucht, denn ich liebte es, den Menschen durch solche Uebertragung mit seiner Umgebung in innigere Beziehung zu setzen. Leider verwickelt man sich dabei, und die Gedanken werden weniger klar.«
»Ihr lästert, mein lieber Satiriker. Nichts kommt der Kraft der Bilder gleich. Sie erhitzen das kalte Gehirn und beleben es, bis auch das Herz bewegt wird. O, ich beschwöre fortwährend Bilder herauf! Mögen sie meine künftigen Dramen erhellen und so mit Licht bedecken, wie die Sonne diese Mauern!« –
»Ihr habt Euch noch immer nicht frei gemacht.«
»Ich wollte es. Die Welt ist ein seltsames Gewebe, bei dem Leben und Tod für jede Masche zusammenwirken – ein bewegliches Gewebe, in dem das Blut plötzlich stille steht und sich verhärtet. Ich, William Shakespeare, werde zeigen, daß in den Träumen eines Landstreichers mehr Königreiche enthalten sind, als unsere Erde fassen kann, daß die eifrige Betrachtung eines Sumpfes einer Seereise gleich kommt, und die einer Handbewegung einer neuen Existenz. – Der Herbst bricht über uns herein. Fühlt diesen frischen Luftzug, der die sterbenden Düfte des Sommers herführt, seht den leichten Nebel, der von den Feldern aufsteigt und ihr nahes Leichentuch vorbereitet, bemerkt, was ich den allgemeinen Rost der Gewässer, der Wiesen, der Sträucher nennen möchte, denn die funkelnde Schneide der heißen Jahreszeit überziehet sich jetzt mit einem feuchten Tau. Die kleinsten Tiere schließen sich bei der Kunde von diesem Ereignisse aneinander; die Vögel werden bald fortziehen und hören schon da unten gegen das Meer zu das Gekrächz der gefräßigen Raben. Weist uns dieses Schauspiel nicht hin auf unsere eigene Umwandlung? Ist es nicht das gedrängte Sinnbild unserer beständigen Hinfälligkeit von der trügerischen Wiege an, an der der verhüllte Tod die Stelle unserer Mutter eingenommen hat, und um uns einzuschläfern, das alte Lied von den Metamorphosen singt? – Das ist der Grund, Fischart, warum ich nackt und furchtlos in den Strudel der Bilder hinabsteige. Sie rauschen über mich hin und verschlingen mich. Aber mein Haupt steigt wieder empor, schüttelt die Wogen ab und strahlt vor Freude.«
»Ich war einst, wie Ihr. Das Feuer meiner zwanzig Jahre ließ mich die Bäume umarmen und wand Blumen in meine Träume. Später nahm mich die Schwermut und die traurige Resignation der Erfahrung ein. Heute erhitze ich mich am Zorn und werfe in die Glut das Holz der Ungerechtigkeit, Spanierpanzer, Jesuitenhüte, die Kruzifixe der Inquisition. Es giebt etwas Interessanteres als Bilder, selbst wenn sie erhaben sind – das sind die Kurven unserer Charaktere. Ich kannte Johann Fischart, einen Lyriker, aus dem das Schicksal einen Satiriker gemacht, ich kannte Priester, die Atheisten wurden, erkaltete Liebende, die dem Muschelwerk glichen, das die Flut nicht mehr bespült, Leidenschaftliche, die sich in Egoisten, Schüchterne, die sich in Hochmütige verwandelten.«
»Gewiß, das Leid ist ein guter Zimmermann; es nimmt unsere sensible Materie und formt aus ihr tausenderlei Gegenstände. Ein Hieb da, ein Hieb dort, – der Hobel wird angesetzt, und die Späne fliegen.«
»Mögen diese Veränderungen in Euren künftigen Dramen zu Tage treten. Aber das Theater ist eine rudimentäre Kunst, es zeigt nur die Katastrophe; die Vorbereitungen bleiben in der Koulisse zurück. Ich bin der Ansicht Rabelais': für das vertiefte Studium des Menschen ist, so scheint mir, der Roman vorzuziehen. Hier seid Ihr frei, des Schauspielers und Publikums ledig. Der Leser selbst stellt die Dekorationen auf, und Ihr sprecht ganz leise mit ihm allein. O, die Macht der geflüsterten Worte! Die Einbildungskraft des Lesers muß arbeiten, er muß einen Augenblick Eure Haut und Eure Gebärde borgen; er geht zu Euch, Ihr nicht zu ihm. Was auf der Bühne durch eine Handlung kund gethan ist, ist gerade damit auch zur Hälfte gestorben. Jedes Drama ist eine Aufhebung von Leichnamen. Habt Ihr bemerkt, daß jedes Wort in der Form einer Schmähung, jede Bewegung in der Form eines Streiches sich wieder gegen uns kehrt, daß jede Lüge, jeder Trug uns verfolgt und tötet? Die Gedanken, die von uns ausgehen, suchen einen Körper, um uns anzugreifen. Je höher und verfeinerter sie sind, desto länger und schwieriger ist dieses Suchen. Gar oft habe ich inmitten der verwüsteten deutschen Lande, beim Scheine der Brände, die Menschen, Tiere und Wälder verzehrten, an die Prophezeiungen Luthers gedacht. Wahrlich, dieser große Mann hat Feuer gespien, hat mit Blut geschrieben, mit der Axt gesprochen. Ich kenne nichts Heldischeres, als diese Stürme kriegerischer Gedanken, diese geistigen Iliaden. Solcher Art sind die Tragödien, die mir gefallen, die Bilder, die mich entflammen.«
Diese Gespräche wurden auf dem Schiffe fortgesetzt, das Shakespeare und Fischart von einem Ufer des Zuyder-Sees zum anderen trug. Sie hatten guten Wind, günstige Strömung, und ein feiner, leichter Regen bestreute das ölige graue Meer, so daß es, wie der Satiriker sagte, einer Fläche aus Butter und Staub glich. Dem Dichter fiel bei seinem Freunde eine seltsame Neigung zum Widerspruch auf. –
»Wart Ihr immer so?«
»Immer. – Als ich klein war, genügte es, mir den Weg zur Linken zu zeigen, um mich den zur Rechten einschlagen zu lassen. Die Gegenstände meiner eigenen Begeisterung werden für mich auf die Dauer solche des Hasses. Es giebt Tage, an denen ich gleichzeitig meinen Körper und meinen Geist umkehren möchte. – Und was ist Euer Lieblingslaster, Kind des stetigen England?«
»Der Wechsel. – Mein Ideal ist diese bewegliche Flut. Wenn ich mich forschend über meine Seele beuge, bricht der Sturm los und ich sehe, wie sie in Milliarden elementarer Seelen zerfällt. Wenn ich mich von ihr abwende, entsteht Ruhe, und mein Schiff schwimmt ruhig dahin. – Habt Ihr vielleicht zufällig, wenn Ihr im Augenblicke der Ebbe zwischen den Felsen saßet, Euer Ohr vor dem Toben des Meeres verschlossen, um nichts zu hören, als das Sickern des Wassers durch die Spalten, das Geplätscher, das Gemurmel längs des Strandes und Tanges? Wenn die Leidenschaft mich überkommt, so fesselt mich vor allem dieses Gemurmel, und ich bin in Ketten frei. Wenn ich erkalte, so höre ich im Gegenteil ferne Trompeten, die das Nahen herrlicher Gefühle verkünden.« –
Ein feines Lächeln zog über den Mund Fischarts. »Ich fürchte, die Länder, in die wir nun kommen, werden Euch plumpe Eindrücke bieten. Pah! Pah! Ihr werdet sie zu verfeinern verstehen.«
Auf der flachen und niedrigen, einem Streifen glänzenden Kotes gleichenden Küste Frieslands erhob sich ein unregelmäßiges Gemenge von Häusern und Hütten, das schwarz in den Nebel hineinragte. Die außerordentliche Feuchtigkeit der Luft ließ die Umrisse undeutlich erscheinen. Zwischen den toten Gewässern und dem glanzlosen Himmel schienen sie am Ende der Welt zu stehen. –
»Es preßt einem das Herz zusammen,« murmelte Shakespeare.
»Mein Freund, lassen wir uns nie durch die Landschaft beherrschen. Scorel hat leider auf Euch abgefärbt. Nur die Tiere zittern, wenn die Temperatur fällt und der Schnee seinen weißen Pelz herrichtet. Was mich betrifft, so liebe ich den gelblichen und nebelumzogenen Horizont dieses sumpfigen Zuyder-Sees.«
Sobald die Reisenden ans Land gestiegen waren, fragten sie nach zwei guten Pferden. »Das sind Gefährten, die in meinem düsteren Deutschland unentbehrlich sind,« erklärte Fischart. Er prüfte lange die Tiere, die ihm von listigen und betrügerischen Händlern vorgeführt wurden, wies mindestens zehn wegen Fehler zurück, die seine scharfen Augen herausfanden, und wählte zuletzt ein Paar schwarzer Pferde von stolzem Aussehen. Das seinige taufte er »Vindex«, das Williams hieß »Orkan«. Dann saßen die beiden Reiter auf und jagten, von dem Wunsche nach Schnelligkeit ergriffen, im Galopp durch das Land.
Sie kamen durch einförmige, grüne Ebenen, die ganz von Nebel durchfeuchtet waren. Von Zeit zu Zeit weideten fette Tiere, die schwerfällig die Köpfe wandten. In leichten, buntbemalten, hölzernen Wagen kamen Bauern und Bäuerinnen in reichen Kostümen vorüber; die Frauen trugen wahre goldene Helme, besaßen regelmäßige Gesichter und glichen Amazonen. Shakespeare beachtete ihre etwas stolze Anmut, ihr erstauntes Lächeln, die weiche Rundung ihres Nackens. Bei Pächtern kehrten sie ein. Diese zeigten ihnen mit Stolz ihre tadellos reinen Ställe, ihre glänzenden Kühe, ihre Schweine, »die fetter waren als Mönche«, wie Fischart sagte. Die Lobsprüche nahmen sie mit feierlichen und zufriedenen Mienen entgegen. William bewunderte ihre Sicherheit, ihre breiten Gestalten, gewölbten Stirnen, geraden Nasen und verglich sie mit jenen ernsthaften Römergestalten Plutarchs, die sämtlich die Gesetze und den Ackerbau liebten und ihre Landgüter wie Städte verwalteten. Als sie nach den Wiedertäufern fragten, antworteten sie, daß sie selbst diese Religion bekannten und dem Glauben der Propheten treu, Steuern und Kriegsdienste verweigerten. Diese Erklärung entzückte Johannes Fischart. Er forschte nach dem Ursprunge ihrer Bekehrung, that tausenderlei Fragen, und sie staunten über die theologischen Kenntnisse des Fremden. So erfuhr er, daß in einiger Entfernung die Dörfer der Erleuchteten begannen, und große Wunder nicht selten waren. Die Verfolgungen, weit davon entfernt, den Eifer zu dämpfen, hatten ihn noch mehr angefacht. Diese Bauern drückten sich mit Mäßigung und Adel aus. Ein seltsamer Gegensatz bestand zwischen ihren überlegten, ernsten Worten und der Maßlosigkeit ihrer Theorien. Sie erklärten, daß die Zeit der Unterdrückung des Kastengeistes gekommen sei, daß alle dasselbe Recht auf das gleiche Maß von Nahrung, Kleidung und Schutz hätten, daß der wahre Gott nur ein Symbol des Erbarmens und der Brüderlichkeit wäre.
»Ihr habt recht,« bestätigte Fischart. »Gott hat sich, wie es scheint, den Menschen einmal deutlich offenbart, aber seither hüllt er sich in Dunkel. Seine größten Feinde sind seine Priester; dann kommen die Kaiser, Könige und Fürsten, zuletzt die Reichen aller Art. Es gibt eine Hostie, die mehr verehrt wird, als alle anderen, an die ich leidenschaftlich glaube: Das ist der Arme, der Magere, die ewig sinnbildliche Kost des Fetten, die dieser auf den Knieen mit geschlossenen Augen und seligen Mienen verzehrt. Dieses Opfer nimmt durch alle Generationen, inmitten tiefster Ehrfurcht seinen Fortgang und muß wohl der Vorsehung gefallen, da sie es fortwährend geschehen läßt.«
Als die beiden Reisenden in Leuwarden einritten, bot die Stadt das Bild lebhafter Bewegung. Alles pilgerte zu einem alten Märtyrer, der predigte, die Hände auflegte und Wunden und Knochenbrüche heilte. Shakespeare und Fischart ließen »Orkan« und »Vindex« in der Herberge und folgten der Menge. Alle Klassen waren vertreten, denn die goldgestickten Mieder funkelten an dem trüben, regnerischen Tage neben abgenützten, wollenen Gewändern und kläglichen Lumpen, und Kopfbedeckungen aus poliertem Metall und Spitzen waren neben derben Filzmützen zu sehen. Durch die engen Gassen zog eine Prozession, und auf allen Gesichtern war deutlich die Hoffnung zu lesen. Eine rührende Sitte wollte, daß die Greise, Kinder und Kranken sich die Hände reichten. Sie schritten, Gebete murmelnd, einher, ermutigten einander, erzählten die Wunder und rühmten die wirksamen Tugenden des Mannes, der das Recht über Gesundheit und Leben vom Himmel empfangen hatte.
In der ihres Schmuckes beraubten alten katholischen Kirche – »ohne alle Kinkerlitzchen«, wie der Pamphletist sich schmunzelnd ausdrückte, – sprach ein alter Mann, dessen hohles Gesicht weiße Haare und ein weißer Bart einrahmten, unter schrecklichen Handbewegungen und mit meckernder Stimme zu dem Volke. Das war der Prophet. »Er ist dreihundert Jahre alt – er ist gekreuzigt worden – er hat die Hölle besucht,« murmelten die Zuhörer in Verzückung, und ihre erhabenen Gesichter leuchteten vor Bewunderung. William und sein Gefährte gelangten trotz des Gedränges bis unter die Kanzel und konnten den Mann nun deutlich betrachten. Er war von hoher Gestalt und so mager, daß sein graues Leinenhemd um ein Skelett zu flattern schien. Um den Hals hatte er einen Strick. »Die Zeit ist gekommen,« schrie er, »die Zeit ist gekommen! Der Erzengel hat in seine Posaune gestoßen, und die göttliche Wahrheit kommt auf Euch nieder. Tragt Eure Juwelen, Eure Reichtümer hinaus auf den Marktplatz: all das bringt Verderben und verursacht den Tod. Tragt Euren Stolz, Eure Gefräßigkeit, Euren Haß hinaus auf den Marktplatz: sie verpesten Euer Haus. Teilt das Brod, so wie es der Mensch der Menschen that, wie wir es in Münster thaten. Teilt Euch in den Wein und den Kuß. Es darf weder Weinen noch Leid geben. Die Erde muß ein Paradies sein. Sie trägt reiche Ernten, schattige Bäume, frohe Wesen. Jan Bocholt hatte einen Harem. Es ist nicht verboten, mehrere Frauen zu besitzen, aber alle müssen Frauen haben.«
»Was sind das für verteufelte Lehren?« sagte Fischart ganz leise. – Shakespeare hörte schon nicht mehr zu. Was ihn interessierte, das waren die Zuschauer, denn er ahnte, wie ihre Seelen zuckten, wie ihre Herzen nach Ueberzeugung hungerten. »Es giebt Menschen, denen das Weltgeheimnis nicht genügt, die es Formeln unterwerfen, die ihm eine menschliche Gestalt leihen wollen,« dachte er bei sich. »Wie kann man sich in dieses Beet des Glaubens pflanzen, dessen Blumen einen so berauschenden Duft zu haben scheinen? Ist das die einzige Metamorphose, die mir untersagt wäre? Ich bin stets von Gläubigen umgeben gewesen. Meine Mutter weinte, wenn sie von der Messe heimkehrte. Das Niederknieen ist wohl eine heilige Pflicht, denn man verbrennt diejenigen, die sich nicht dazu hergeben wollen. Aber wie viele verschiedene Arten giebt es, um seine Sünden und seine Thränen dem hohen Himmel darzubieten!«
Der Prophet, von der überreizten Aufmerksamkeit seiner Zuhörer getragen, setzte seine Rede fort. Er erzählte sein eigenes Leben, seine Kämpfe, seine Schmerzen, und diese Erzählung rührte den Poeten mehr, als alle seine Deklamationen. »Ich habe Luther gekannt. Das war ein satanischer Mensch, der Feuer spie. Zu jener Zeit vertraute ich ihm, und er empfing mich an seinem Tische. Ich bemerkte bald, daß dieser Antipapst ein eben solches Ungeheuer war, wie der Papst selber. Ich kannte Mathiessen und Bocholt. Ich war mit ihnen in Münster eingeschlossen. Da wurde ich Wiedertäufer und erkannte die wahre Weisheit. Für sie bin ich zum Märtyrer geworden. Seht her, seht meine Narben!« – Er hob rasch sein Hemd in die Höhe, und seine magere Brust und sein Rücken kamen zum Vorschein. Sie waren zerrissen, zerschnitten, von bleichen Linien durchzogen, die sich von der braunen Haut abhoben. Nun begann er seine einzelnen Martern zu schildern und fanatisierte die Versammlung derart, daß sie ihn mit wütendem Murren, oder freudigem Aufschreien unterbrach. »Sie haben mich über die Flammen gehalten, und ich fühlte, wie mein Fleisch platzte. Sie haben mir einen Faden durch die Zunge gezogen, und rissen sie hin und her. Sie haben mich mit Dornenzweigen, mit in Essig getauchten Riemen gegeißelt, aber ich erblickte über mir das göttliche Antlitz, das mich ermutigte. Ich sehe es auch jetzt – es lächelt mich an, es verspricht mir, alle zu retten, die sich ihm zuwenden werden.
Ja, tobt nur, meine Freunde, denn es ist ein wunderbar Ding, daß unser Herr, nachdem er von seinen Aposteln so viele Qualen erlitt, die Güte hat, durch ihre Hände zu heilen und durch ihre Stimme zu trösten. Schreit auf, denn Euer Geschrei wird bis in die Tiefe des Himmels gehört werden und die Ungerechtigkeit und die Greuel rächen. O Allmächtiger! Während du am Kreuze littest und das irdische Leben deinem Auge nur mehr ein blutiger Schein war, wußtest du da, daß man deine Lehre derartig entstellen würde, daß dein erhabenes Mitleid durch eine Wolke von Lästerungen und Schimpf den Augen der Gerechten verhüllt werden würde?«
Während ein Schauer der Begeisterung alle durchlief, schöpfte er unter tiefen Seufzern frischen Atem. »Ach, welch düstere Zukunft bedroht die vereinigten Brüder! Ich erblicke eine mit Leichnamen, Scheiterhaufen und Galgen bedeckte Ebene, der Boden spaltet sich, die Raben fliegen herbei, ich höre schreckliches Stöhnen, wilden Lärm und boshaftes Gelächter. Ach, der, welcher die Brüderlichkeit und die Gerechtigkeit zurückbringen könnte, ist in der Verbannung; seine Güter sind zerstreut, und er muß unter Thränen betteln gehen. Da sind die Leichname von zwölf Weisen. Ihre Wunden ziehen die Fliegen und Würmer herbei! Von Deutschland weht ein brennender Wind herüber. Fürchtet einen eisenbehelmten Kaiser, dessen Jahrestag ein Sonntag ist!«
Während dieser Prophezeiungen malte sich Schrecken auf allen Gesichtern, und als der Augenblick der Wunder herankam, fielen mehrere Frauen heulend und um sich schlagend zu Boden. Der Prophet stieg von seiner Kanzel herab. Man trieb ihm die Kranken zu, hielt ihm die Kinder auf ausgestreckten Armen entgegen, plagte, beschwor ihn, küßte sein Hemd, seinen Strick, seine nackten Füße. – Er berührte die Stummel, die erloschenen Augen, die Beulen, die faulenden Wunden, sagte eilig Bruchstücke von Gebeten her und machte seltsame Zeichen. Shakespeare und sein Gefährte hatten viele Mühe, dem Tumulte zu entschlüpfen.
Am selben Abend gab ihnen in einem kleinen, zierlichen Gasthause ein hervorragender Bürger von Leuwarden eingehende Auskunft über die Wiedertäufer.
»Wir sind ein Wald von Bäumen verschiedener Art, und die Religion eines jeden von uns ist der des Nachbars nicht ganz ähnlich, denn wir sind vor allem Anhänger der Freiheit. Uebrigens, wie sollte man sich auch inmitten so vieler Propheten erkennen? Die einen predigen Dürftigkeit, Fasten und Geißelungen. Ihr werdet sie auf den Straßen vorüberziehen sehen, die sie mit ihrem düstern Geheul erfüllen. Sie fressen Erde, Gemüse, die in schmutziges Wasser getaucht sind, Würmer, manchmal Kot. – Andere raten zu übermäßigem Luxus, Reichtum, Schwelgerei und zu Weibern. Einige giebt es, die die Zerstörung wollen. Das sind die Gefährlichsten; denn sie stehlen, morden und plündern. Wenn man ihnen willfahren würde, würden sie kein Gebäude auf dem Flecke lassen und uns zur Lebensweise wilder Tiere zurückführen. Manche wieder sind für völlige Unthätigkeit. Sie betrachten die Zeit und die Dinge, als zögen sie auf einer gemalten Leinwand vorüber, geben über nichts ihre Ansicht ab, sprechen nicht und essen gerade genug, um ein so armseliges Leben weiter zu führen. Außerdem halten sich die meisten für einen neuen Christus und hüllen in Nachahmung Jesu ihre Lehren in Parabeln. Sie behaupten, daß ihre Lehre die einzige sei, die die Menschen retten könne, daß alle sie ausüben müßten, daß die Güter dieser Welt genau geteilt werden und alles gemeinsam sein müßte. Wenn sie braun sind, so erklären sie, daß der Heiland braun war; haben sie platte Nasen, so hatte er eine platte Nase; sind sie bucklig, so hatte er einen Buckel; und viele bilden sich ein, daß sie eine neue Fleischwerdung Christi oder der alten Propheten seien. Sie sind sehr stolz und auf sich eingebildet, ahmen die Handbewegungen nach, die man auf alten Bildern sieht, und versuchen Wunder zu thun. Einer behauptete, Tote auferwecken zu können. Er tanzte und hopste an offenen Gräbern, rief den Leichnam an und zog Linien auf dem Boden; aber es war vergeblich. Tags über liefen ihm die Buben nach, und des Nachts heulten die Hunde rings um ihn. Ich versichere Euch, es war ein schrecklicher Anblick, wie dieser Kerl auf der Mauer eines Friedhofes stand und aus vollem Halse schrie: »Erhebe dich, erhebe dich! Das Gericht ist da!«
»Und alle haben Jünger?« fiel Fischart ein.
»Ja! Es giebt keine Thorheit, die nicht ihre Eiferer fände. Wer sich den Körper aufschlitzt, hat seinen Troß, und ebenso der, der das Feuer, das Wasser, die Wolken oder den Teufel anbetet.«
»Worin besteht also das Band dieser verschiedenen Ueberzeugungen, und woran erkennt Ihr Euch?«
»An der Nachtaufe. Im Sommer ist die Ceremonie nichts Ungewöhnliches. Aber im Winter werdet Ihr sehen, wie Erwachsene und Greise ins Eis tauchen, die, wenn der Glaube sie nicht aufrecht hielte, diese Probe schwerlich ertragen könnten. Man hält sie unter den Armen fest, während sie betend und zähneklappernd in das grünliche Loch steigen. Manchmal verlieren sie das Bewußtsein, und man hat nur noch Zeit, sie heraufzuziehen. In diesem Falle wird der Tod als eine Wohlthat des Himmels betrachtet, denn man tritt sündenlos vor Gott.« –
Das Erstaunen der Zuhörer stachelte die Geschwätzigkeit des Bürgers noch mehr an. »Wenn ich alle Wunderlichkeiten unserer Sekte aufzählen wollte, würde ich Euch bis morgen früh aufhalten. Wenn Ihr durch Dorkum, ein Dorf in der Nähe von Groningen, kommt, so besuchet Weslar, den Gewissenslöser. Er hatte das Unglück, seine eigene Mutter zu schänden, und geriet dadurch in eine ungeheure Verzweiflung, die sein Haar weiß färbte und ihn unkenntlich machte, andererseits aber ihm das seltene Vorrecht verlieh, die Gewissensbisse anderer zu beruhigen. Bei allen strittigen Fällen, allen Gewissenszweifeln, allen brennenden Gewissensbissen zieht man ihn zu Rate und findet bei ihm Erleichterung. In dieser Weise zieht die Vorsehung aus dem Sünder Nutzen.«
Fischart und Shakespeare hatten Gelegenheit, sich von der Wahrheit dieser Erzählungen zu überzeugen. Sie begegneten heulenden Propheten, die an einem schönen Spätherbstabend, gleich Hunden bellend, einherschritten und mit ihrem Lärm Vindex und Orkan erschreckten. Auf einem Stein, halb nackt und unbeweglich, bis zur Durchsichtigkeit abgemagert, erblickten sie einen mit Kot bedeckten Säulenheiligen. Die Leute aus den nahen Marktflecken brachten ihm einmal des Tages zu essen, und seine Excremente umgaben ihn.
In der Dämmerung, während die ungeheuren Wiesen in rosiger Pracht einschlummerten, kamen sie durch einen Trupp von Männern und Weibern, die, palmenförmige Zweige tragend und singend, mit verzückten Gesichtern einherschritten. Sie bildeten sich ein, im Paradiese unter den Engeln und Seligen zu sein, und bemerkten die zwei erstaunten Reiter ebensowenig, wie die höhnisch krächzenden Raben, die über ihren Köpfen dahinflogen. – »Es ist Zeit, daß wir diese Erleuchteten verlassen,« sagte Fischart zu Shakespeare. »Ihr Schwindel steckt mich an. – Wie würden meine Freunde staunen, wenn ich anfinge, die Zukunft zu weissagen und die Wunder des Purgatoriums und der Hölle zu erzählen!« –
»Wir werden keine Wiedertäufer werden, aber wahrscheinlich wird ihr Gebaren eine Spur auf unserer Seele zurücklassen,« antwortete der Dichter. »Die Religion benützt die Hilfsquellen der Charaktere: sie ist heftig bei den Heftigen, weise bei den Weisen, grausam bei den Grausamen und sanft bei den Sanften. Obwohl sie angeblich den Menschen über seine Sinne hinaushebt, bleibt sie tief menschlich, und Eure ganze Reformation rührt zweifellos von einem kritischen, geistigen Bedürfnisse her, dessen Neuheit Euch bewegt. Dagegen verändert das Dogma die geistige Richtung, und schon bemerkt man Abgründe zwischen Protestanten und Katholiken. Es ist erstaunlich, daß eine Veränderung des Denkens so in Blut und Muskeln übergeht! Sind es nicht wieder die Bilder, welche die Menschen so beherrschen, selbst wenn sie Bilderstürmer sind? Die geringsten Zellen unserer Haut sind für mich eben so viele tote Gedanken. Sie stellen Illusionen, einstige Ueberzeugungen, Träume dar. Alle unsere Gefühle gelangen durch diese Ruinen zu uns, und daraus erkläre ich mir auch ihren schwermütigen Nachgeschmack. Umgeben von Leichnamen, umrahmt von Grüften schreiten wir mit düsteren Augen und unruhigen Gebärden durch das Leben. Alle diese Märtyrer und diese Propheten würden uns noch mehr verdüstern, wenn unsere Herzen sich beherrschen ließen.«
»Ihr seid ein Heide modernen Stils.« –
»Ich glaube an die göttlichen Leidenschaften. Sowie sie uns erfassen, ist es mit den Gespenstern aus! Die Welt mit ihren Wäldern und Strömen, ihren Oceanen, ihren Städten, und der Mannigfaltigkeit ihrer Wesen zieht stürmisch durch uns; es scheint uns, wunderbarerweise, daß alles für uns geschaffen wurde. Ist es etwas Böses, den Mond anzubeten, der den Liebenden immer geneigt war, oder die Sonne, die die Helden erwärmt? Scheltet mich einen Egoisten. Nach Freude strebe ich ...«
»Indem Ihr vor dem Schmerz anderer, vor dem Unheil, vor Krieg, vor Hungersnot die Augen schließt?«
»Nun wahrlich, ich halte meine Augen weit offen, aber die Freude, von der ich spreche, steht höher als der Schmerz, als die Trauer, die Sorge und ist standhaft bis zum Opfer. Fischart, ich liebe das Ankämpfen nicht minder als ihr, aber der Kampf ist ohne die Freude nicht möglich. Euer satirischer Rausch ist etwas Freudiges. Ich möchte eine fröhliche Religion, aus der die Furcht vor den eingebildeten Flammen des Jenseits verbannt ist, die die Individuen nicht durch das Mitleid, durch übermäßige Kasteiungen faßt. Ich verachte die Erschöpften, die Blutlosen, alle, die sich überwältigen lassen. In übermäßiger Schmach und übermäßigem Leide liegt etwas Wildes, was den Dichter bewegt, sie anzuerkennen. Aber keinerlei Unterwerfung, welcher Art immer, vermag eine Quelle der Schönheit zu sein.«
Ein andermal ruhten sie in einem Pächterhaus aus, in dem ein Blinder Entsagung predigte. Die Leute kamen von fern her, um ihn zu hören. Er sprach beredt über die Vergänglichkeit irdischer Güter, die Pracht des künftigen Lebens, und wenn er sein erloschenes Gesicht, in dem die Lider eingesunken waren, mit einem seligen Ausdrucke erhob, hätte man glauben können, daß er seine Wunder sehe. Er pries die Lichter des Himmels, das Funkeln der Gesteine und die Menge der Sonnen, zwischen denen die Engel mit den strahlenden Flügeln spielten. Durch dieses Schwelgen in unwirklichen Farben linderte er sein Gebrechen, aber wenn er zu Ende war und sich allein glaubte, legte er den Kopf zwischen die Hände, und große Thränen flossen aus seinen blicklosen Augen.
»Das ist ein Dichter,« bemerkte Fischart ironisch. »Er täuscht sich mit Bildern; er strebt nach Freude; aber wenn die Parade zu Ende ist, kehrt er zu dem natürlichen Zustande eines armen Krüppels zurück, der in Verzweiflung und Niedergeschlagenheit besteht.«
»Seine Illusion ist nicht stark genug,« antwortete Shakespeare. »Der wahre Dichter hat zuviel leuchtende Welten in sich, als daß der Verlust einer einzigen ihn in Verzweiflung stürzen könnte. Jede heftige Erregung blendet uns, und so kommt es, daß man nach einer großen Liebe sich im Dunkeln verliert. Dann müssen wir eine hilfreiche Metamorphose heraufbeschwören, und vom Stolz oder Ehrgeiz geleitet, dem Dunkel entfliehen.«
Gleich nach der Ankunft in Dorkum erkundigten sich die beiden Gefährten nach Weslar, dem Gewissenslöser. Man wies sie in eine Art Hütte am äußersten Ende des Dorfes. Sie traten ein: in dem einzigen, schmalen, kahlen Gemache stand ein Mann mit einem trotz vorzeitiger Runzeln noch jungen Gesichte, seltsam beweglichen Augen, ergrauten Haaren und unterhielt sich mit leiser, einförmiger Stimme mit einigen Bauern und Bürgern beiderlei Geschlechtes, die es, während sie mit ihm sprachen, vermieden, ihn anzusehen. Mit einer einfachen, rauhen Tierhaut bekleidet, stand er mit nackten Füßen auf einem Teppich von dornigen Pflanzen, auf dem er nach jeder Fragestellung auf und nieder schwankte, indem er stöhnte: »Verzeiht dem Verfluchten! Verzeiht dem Blutschänder! Erbittet für ihn die himmlische Gnade!« ...
Vor ihm stand ein dicker Mann und erklärte mit geläufiger Zunge seinen Fall. Ueber den kräftigen Rücken lief ein Zittern. – »Ich habe an das Sakrament des Abendmahls geglaubt, und weiß jetzt, daß man mich betrogen hat. Aber manchmal falle ich noch in meinen einstigen Irrtum zurück. Dann fühle ich die teuflische Hitze und höre, wie die Dämonen mir zuschreien: »Du bist verdammt! Du gehörst uns!« Ich laufe aus meinem Hause und renne wie ein Narr durch das Land. Ihr Geheul verfolgt mich; sie lassen mir keine Ruhe.«
»Giebst du ihnen Namen?«
»Die beiden erbittertsten sind Selbaoth und Magdron.«
»Kehre friedlich nach Hause zurück und schreibe ihnen zwei Briefe, in denen du ihnen die Gründe darlegst, und sagst, daß ihr Geschrei nie einen Renegaten aus dir machen werde, nachdem die Wahrheit deinen Geist erleuchtet. – Bist du reich?«
»Ich besitze drei Häuser und mehrere Herden.«
»Ueberlasse die Hälfte deiner Güter den Armen. Die Dankbarkeit der Unglücklichen ist ein Schutz. – Geh und vergieb dem Verfluchten!« –
Nun kam die Reihe an eine schöne, junge Frau. Während ihrer Beichte schaute sie beharrlich auf den Boden, und ihre Verlegenheit verriet sich durch die nervösen Bewegungen ihrer mit Ringen beladenen Hände. »Ich betete meine Mutter an und glaubte, daß sie eines natürlichen Todes gestorben sei. Eine Reihe von Umständen ließ mich erkennen, daß mein Vater, der sehr heftiger Natur ist, sie während eines Streites getötet hat. Seither gebietet mir jemand, meinen Vater zu ermorden. Ich glaube, daß es meine teure Mutter ist, die zu mir spricht: »Nimm den Dolch und räche mich.« Ich nehme den Dolch und gehe, gehe, bis ich das Haus meines Vaters erblicke. Aber trotz meines Hasses liebe ich ihn doch. Wenn ich ankomme, erstarrt mein Blut; es ist mir unmöglich, einen Schritt weiter zu thun. Ich falle zu Boden und schluchze. Es ist mir, als wäre Feuer in meinen Gedanken. Wenn er zu uns kommt, hoffe ich, ihn zu vergiften. Im letzten Augenblicke stürze ich hin, um das Glas zu zerbrechen, in das ich das Verhängnisvolle goß. Fortwährend träume ich von meiner That. Ich halte ihn bei den Haaren und durchschneide ihm den Hals, aber das Blut fließt zu Boden und malt Worte des Fluches. Ich esse und trinke nicht und kann nicht schlafen. Wenn ich ihn ansehe, glaube ich, daß er mich durchschaut hat, und meine, einen stummen Vorwurf in seinen feuchten Augen zu sehen. Wenn du mich nicht heilst, werde ich diesen Qualen ein Ende machen.«
»Bist du verheiratet?«
»Gewiß, ich habe zwei Kinder, aber ihr Liebreiz rührt mich nicht mehr; ja, wenn ich vor meiner Thüre oder in meinem Zimmer sitze und über meiner Pflicht grüble, ist ihr Geplauder mir verhaßt.«
»Kann dein Gatte dich nicht trösten?«
»Er weiß von nichts. Meine Liebe hat sich von ihm zurückgezogen, weil meine Rache ihrer bedarf. Ich weiß nicht mehr, womit ich sie nähren kann, damit sie Kraft und Mut erhält. Alles widert mich an: die reine Luft, der Himmel, die Blumen, die Liebe. Der Anblick glücklicher Gesichter erfüllt mich mit Empörung – nicht weil ich sie hasse, sondern weil sie heuchlerische Larven sind, und weil ein jeder gleich mir ein unerfülltes Schicksal mit sich herumschleppt.« –
»Frau, bedenke, daß ich im Tiefsten meines Gewissens ein noch schrecklicheres Martyrium erleide als du.« –
»Ich weiß es. Heile mich, damit ich dich beklagen kann.«
»Hör mich an: Kein Verbrechen ist eine Pflicht; das sind nur Ratschläge des Teufels.«
»Ich sage dir: es ist meine Mutter, die zu mir spricht.«
»Der Teufel nimmt alle Stimmen an. Kein Verbrechen ist gut oder notwendig. Die Toten fordern nicht den Tod eines anderen, denn sie sind über das Grab, die Rache, den Haß hinaus. Die wahren Geister sind gleichgültig. Sie streifen fortwährend an uns vorüber, ohne uns zu berühren. Da du also die Gewißheit hast, daß dein Vater schuldig ist, so höre auf, mit ihm zu verkehren. Vergiß die Vergangenheit! Mache aus deiner Seele ein weißes Blatt und wende dich der Zukunft zu, die aus deinen kleinen Kindern besteht. Erzähle deinem Gatten nichts von deinem Leide, denn du würdest es noch steigern, sondern sei ihm eine Gattin. So wird dein Schmerz von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde abnehmen, und wirkliche Pflichten werden die Stelle einer wahnsinnigen Pflicht einnehmen. Geh und vergieb mir!«
Während der folgenden, weniger dramatischen, manchmal kindischen oder einfach verrückten Scenen – denn Weslar wurde über die nichtigsten und ernstesten Gegenstände befragt – dachte Shakespeare nur an jene Worte, deren bitterer Ton ihm im Gedächtnis geblieben war: »Ein jeder schleppt gleich mir ein unerfülltes Schicksal mit sich herum.« »Ja,« sprach er bei sich, »das ist die herzzerreißende Gewißheit der Seele unter so vielen spöttischen Zweifeln! Auf dem Grunde des Willens liegt das Bedenken, dieses unfaßbare Ungeheuer, dessen Geifer alle unsere Thaten überzieht. So erscheint uns jede Pflicht wie ein Baum mit mehreren Zweigen. Wie soll man da die wählen, an der die Früchte hängen? Selbst jene, die vom Glücke gezeichnet, mit unwiderstehlichen Schritten dem Ziele entgegenzuschreiten scheinen, werden durch die dunkle Gewalt des Bedenkens abgelenkt, verwandelt, gebrochen. Gleichwie bei dem bekannten Kinderspiel hält es uns beide Hände entgegen, um uns die richtige erraten zu lassen, und täuscht uns derart, daß jeder neue Versuch eine Niederlage bedeutet. Unser Feind benutzt nämlich unsere Irrtümer, um unseren Charakter zu berechnen, und bietet uns mehrmals das Falsche an, wenn wir hoffen, endlich das Wahre zu fassen. Unser Schicksal ist ein verwickeltes Alphabet, und die einzelnen Buchstaben verändern zwischen unseren zitternden Fingern Farbe und Form. Daher verzichten viele auf ihre Pflicht; sie wenden sich von einem unlösbaren Probleme ab. Sowie es Weslar rät, machen sie ein weißes Blatt aus ihrem Herzen und überlassen alles andere dem Zufall. Die Last des Nichterfüllten beugt den Rücken der Menschen. Mit dieser düsteren Bürde beladen, schreiten sie dem Grabe zu, und wenn das Hanswurstspiel zu Ende ist, kann niemand sich sagen, ob er das Programm genau erfüllt hat. –«
Sie verließen die Höhle Weslars, um den Klagen des Unglücklichen zu entgehen, und Fischart rief, als wären seine Gedanken denen Shakespeares gefolgt: »Wie beklage ich den, dessen Schande ein Heilmittel wird, und der den selbstsüchtigen, menschlichen Schmerz durch die Zurschaustellung seines eigenen noch größeren Uebels lindert! Ach, ich kenne das Bedenken! Es hat mich vom Glauben befreit. Schüchtern und schweigsam riß es mich von einem Dogma los und trieb mich in ein anderes. Von seinem feinen Stachel gespornt, ging ich durch und sah ein, daß der plötzliche Entschluß das beste Mittel ist, meinem Gegner zu entschlüpfen. Es giebt zahllose Bedenkliche. – Ich erkenne sie wie die Schüchternen oder Hochmütigen an einer gewissen zögernden Sprache, an einer fortwährenden Zurückhaltung, an dem schwankenden Blick. Es giebt welche, die bis in die Seele zerfressen sind und dann sterben. Eine große Reue ist mehr wert, als dieses rastlose Prickeln. Andere wieder schleppen ein verpfuschtes Leben im Angstschweiß dahin. Die letzten, zu denen ich gehöre, reagieren durch eine plötzliche Schwankung, durch die man übrigens Gefahr läuft, das Gewissen zu verrenken. Wieviel Verbrecher, Verräter, Apostaten erzeugt das Bedenken! Ich werde eine Broschüre darüber schreiben und sie dem gesamten Protestantismus widmen, der, kaum geboren, an diesem erniedrigenden Laster stirbt.«
In Groningen verbrachten sie eine halbe Woche, in der Fischart von unerträglicher Laune war. Er studierte an Ort und Stelle die Gütergemeinschaft und vollkommene Gleichheit, denn hier wurden die reinen Lehren der Wiedertäufer ins Praktische umgesetzt und ergaben glückliche Resultate. Der Pamphletist geriet in Zorn, daß man so einfache Wahrheiten verkennen könne. Keine Gesetze! Keine lächerlichen Regeln! Keine Regierung! Keine Autorität! Keine Ungerechtigkeiten! Es sah aus, als ob aus dieser Gesellschaft der Neid vollkommen geschwunden sei. Jeder arbeitete wenig und schien mit seinem Schicksale zufrieden zu sein. – Der Markt bot ein sehr merkwürdiges Schauspiel, denn die Tiere, die landwirtschaftlichen Geräte, Stoffe und sogar Juwelen befanden sich auf dem großen Platze der Stadt, und die Einwohner wählten sich ohne Lärm, ohne Gedränge oder Streit die ihnen passenden Gegenstände aus. Eine Polizei gab es nicht, und alle wachten über die Aufrechthaltung der Ordnung. »Wenn ich bedenke, daß der Priester aus dem Bedürfnisse zu lügen, die Soldaten aus dem Bedürfnisse zu töten, der Richter aus dem Bedürfnisse zu stehlen hervorgegangen ist,« brummte Fischart. »Das Schrecklichste aber ist, daß aus jedem dieser drei Misthaufen einige heroische Blumen gesproßt sind, die ihre Schändlichkeit fortsetzen: Der Märtyrer, der Held und der Schiedsrichter werden von unseren Sophisten als Beweis unserer moralischen Trefflichkeit angeführt. Ich aber fordere das Feuer für die Kirche, die Citadelle und das Prätorium.«
Am Morgen des achten Oktober, bei trübem und düsterem Wetter langten die Reisenden an den Ufern der Ems an, die die Niederlande von Westfalen scheidet. »Sei mir gegrüßt, mein altes Deutschland,« rief Johannes Fischart. »Wenn du mich auch an einer etwas rauhen Brust gewiegt hast, und dein Atem teuflisch nach Blutvergießen roch, so liebe ich dich doch. Ich liebe dich, weil du den Völkern das Signal der Befreiung warst. Der Wind der Kritik und Ungläubigkeit wehte durch deine Fichtenwälder, und auf deinen düsteren, eisigen Ebenen gerieten die Beine des Teufels ins Schwanken. Ich bringe dir einen Fremden, meinen Freund Shakespeare. Er hungert nach heftigen Erregungen. Zeige ihm deine geschwollenen Brüste, laß ihn deine rauhe Stimme hören. Versammle deine Bilder!«
Aus dem Strom, der sich wie ein breites stürmisches Band hinzog, stieg ein dichter Nebel auf, der das andere Ufer halb verhüllte. Die beiden Freunde, ihre Hände als Sprachrohr gebrauchend, riefen den Fährmann an, der gegen die Strömung kämpfte und nur mühsam seinen Kahn lenkte. – Sie hörten einen lauten Schrei; Orkan und Vindex wieherten. Ein Reiter erschien, nachdem er eine Art Vorsprung umritten hatte, am Ufer und kam ihnen entgegen. Aus der Ferne bemerkten sie seinen Apfelschimmel, seine elegante Haltung, seinen hochroten Mantel und seinen breiten, gleichfarbigen Hut mit den weißen Federn. In der Nähe sahen sie, daß es ein reichgekleideter und bewaffneter, großer und schlanker Herr mit einem regelmäßigen stolzen Gesichte, rotem Haar und Schnurrbart und grauen, goldgesprenkelten Augen war. Er grüßte ohne Ziererei und sprach mit musikalischer Stimme auf deutsch: »Der Fährmann hat keine Eile.« Dann wiederholte er den Satz auf englisch, als stelle er den anderen die Wahl der Sprache frei. –
Nach Verlauf einiger Sekunden war die Vorstellung erfolgt. Shakespeare und Fischart erfuhren, daß sie Sir Philipp Readway vor sich hatten, den durch seinen Euphuismus, seine Reiseabenteuer und seine Tapferkeit berühmten, ritterlichen Poeten, Verfasser der »Quadriga«, eines glänzenden Feenstückes und mehrerer bemerkenswerter Sonette. Sir Philipp Readway war seinerseits der europäische Name Johannes Fischarts nicht unbekannt, und die Begegnung mit einem Landsmanne entzückte ihn.
Der Fährmann stieß fluchend ans Ufer. Die drei Reiter saßen ab und stiegen, ihre Pferde am Zügel haltend, in den Kahn. Orkan und Vindex schlossen mit ihrem neuen Kameraden Bekanntschaft. »Er heißt Robin,« erklärte sein Herr, die seidene Mähne streichelnd. »Er ist mein bester Freund. Sowie ich ein Stück in Versen verfaßt habe, recitiere ich es ihm, und er sagt mir mit seinen Ohren und seiner schönen, frischen Schnauze seine Meinung. Er und Clorinde« – er schlug auf die Scheide seines Degens, – »werden mir, so hoffe ich, bis zum Tode treue Gesellschaft leisten.« Als er erfuhr, daß Fischart und Shakespeare nach Hamburg gingen, machte er eine Bewegung der Ueberraschung. »Ich habe dieselbe Absicht, denn ich habe für den Weihnachtsabend in Kiel eine Zusammenkunft verabredet, bei der ich nicht fehlen darf.« – Da die Männer sich gegenseitig gefielen, wurde abgemacht, zusammen zu reisen. Und so groß ist die Anziehungskraft der Geister, daß Readway, William und Fischart, kaum am anderen Ufer der Ems gelandet, bereits in eine ästhetische Diskussion vertieft waren, zu der die Hufe ihrer drei Pferde den Takt gaben. –