Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

»Sie heißt Helmi, was »Augen« bedeutet, und in der That, sie hat die glänzendsten von der Welt. Wenn sie sich auf mich richten, verwechsele ich sie mit zwei Sternen. Alles ringsum wird Nacht. Sie stammt aus dem Norden, aus Kopenhagen, und ich habe sie bereits seit mehr als einem Jahre nicht gesehen, denn ich bin durch Italien gezogen und habe mein grünes England begrüßt. Aber der Gedanke an sie verfolgte mich ohne Unterlaß. Ich spreche von ihr mit Robin und Clorinde. In Kiel habe ich am Weihnachtsabende ein Stelldichein mit meinem Nebenbuhler, dem Ritter Olof. Wenn ich mich seiner im Einzelkampfe erwehre, so wird die Schöne ohne Widerspruch mir gehören; wenn nicht, so wird der Abendwind, über mein Grab hinstreichend, die Geschichte unserer kurzen Liebe erzählen.« –

So sprach Readway mit schwermütiger Miene, indem er den glänzenden Hals seines Pferdes streichelte. Die drei Gefährten kamen durch düstere und einsame, zumeist unbebaute Ebenen, über die der scharfe Herbstwind stöhnte. Shakespeare und Fischart empfanden eine lebhafte Sympathie für diesen ritterlichen Dichter, der so einfach und offen, so vertrauensvoll und enthusiastisch war. Man fühlte, daß er großmütig bis zur Thorheit und zu allen Opfern der Freundschaft und Liebe bereit sein konnte. »In den verschiedenen Ländern Europas, durch die mich meine Laune zog, habe ich treue Kameraden zurückgelassen,« sagte er. »Das sind meine leuchtenden Marksteine. Wenn man die Worte Italien, Spanien, Deutschland, Schottland ausspricht, so sehe ich sofort edle, von freundschaftlicher Teilnahme erhellte Männergesichter vor mir aufsteigen, und zwar sehen sie gerade so aus, wie im Augenblicke, da ich sie verließ. Darum lege ich der Haltung bei der Trennung einen solchen Wert bei. Sie ist das Bild, das man mit sich fortträgt. Wenn ich mich umdrehe, um meine Dame das letztemal zu begrüßen, soll ihr keusches Profil sich bereits über mein Buch neigen, soll sie meinen Namen bereits mit dem Rhythmus meiner Verse vermischen.«

Philipp Readway war ein begeisterter Freund der Litteratur. Gleich bei den ersten Worten bemerkte Fischart, daß er eine ausgedehnte, erlesene Bildung besaß. Er konnte die schönsten Stellen der Griechen und Lateiner wie der Zeitgenossen auswendig und recitierte sie wunderbar mit schmeichelnder und warmer, etwas leiser Stimme. Die meisten seiner eigenen Gedichte hatte er zu Pferde verfaßt, während er die Welt durcheilte; sie strömten auch den Duft aller Straßen, aller Abenteuer, aller Wolken aus. Shakespeare hörte ihm eifrig zu, denn er kannte alle Feinheiten und Kniffe des Metiers bis auf den Grund, war in den geschliffensten Metaphern erfahren und in der Anwendung der Bei- und Zeitwörter gewandt. Readway behauptete, daß die Kunst nicht für die Menge gemacht sei, wie in den heroischen und reizenden Zeiten Griechenlands. Da geriet Fischart in Eifer. »Arbeiten wir denn für die Toten und durch die Toten? Jeder Mann unserer Zeit, ob er nun Gerber oder Kriegsmann sei, muß unsere Schriften verstehen und sich dafür interessieren.« Diese Diskussion führte sie auf den Ruhm, einen Gegenstand, der alle drei erzittern ließ. Die Hufe der Pferde klangen lauter, der Horizont erweiterte sich, ein letzter Sonnenstrahl fiel durch die dicken, regenschweren Wolken über die traurigen Felder Westfalens. »Man soll von mir sagen: Er war tapfer, verliebt und ein guter Verskünstler. Im großen Saale des Palastes, in der Dämmerung, soll die nachdenkliche Schloßfrau von mir träumen und mir das Antlitz ihres Ritters leihen. Ich halte vor allem auf die Legende, die sich um mich webt. Wenn man erzählt, daß ich im Einzelkampfe vierzig Gegner erlegt habe, so schlagen meine Knochen vor Freude zusammen. Ich würde einige Bitterkeit empfinden, wenn der beste Dichter des künftigen Jahrhundertes meine Quadriga mit Ekel in den dunkelsten Winkel seiner Bibliothek werfen würde; aber ich würde mich trösten, wenn die rote Farbe, die ich in die Mode gebracht habe, sich bei den langen Mänteln erhält. Auch die Aufzählung meiner Geliebten wäre mir etwas Angenehmes. Denn was das Leben eines Mannes verschönert, ist die Aureole einiger etwas tollen Handlungen. Jedesmal, wenn man eine Thorheit begeht, trägt man einen Stein zu seinem Monument herbei, und jede in der Trägheit verlorene Minute stellt ein Jahrhundert der Vergessenheit dar. – O die Vergessenheit! Dieser hundertfache Tod des Unbekannten! Diese Schlucht, die tiefer ist, als das Nichts! Das ist der einzige Feind, den ich nicht anzugreifen wage, und in meinen bösen Träumen habe ich vor seinem verstörten Antlitz gezittert.«

Diesem Ideale Readways stellte Fischart das seinige entgegen. »Mein liebster Wunsch ist folgender: Irgend einem der künftigen Päpste, dem, der von heftiger Theologie am meisten geschwollen ist, soll eines meiner Werke gebracht werden, – er öffnet es und fällt vor Wut tot nieder. – Ich habe übrigens noch einen edleren Wunsch. Möge unter den vielen irdischen Ungerechtigkeiten und Greuelthaten eine einzige, wenn auch kleine und schwache, durch meine Satire verhindert werden, und möge man rufen, wenn man von mir spricht: »Das hat er doch verhindert!« An dem Durchbruche der Finsternis, an der Auferstehung des Rechtes und des Erbarmens, wenn auch als niedriges Räderwerk teilgenommen zu haben, das ist's, wonach ich strebe. Ich will der Stahl sein, der den Henker tötet, das Feuer, das den Brand verjagt, mit einem Worte, der Haß, aus dem die Liebe hervorgeht.« –

Dann kam die Reihe an Shakespeare. »Man könnte das Leben den Kampf des Ruhmes und des Todes nennen,« sagte er. »Aber nur für die Dichter giebt es wahren Ruhm, denn die Krieger schreiben den ihrigen auf Fleisch, die Propheten auf Furcht und die Verbrecher auf Schmach; das aber sind drei Handschriften, wo sich alles verwischt und erneuert. Die Formen der Poesie hingegen sind unveränderlich, stolz und in Harmonie mit der Zeit. Wer Herr und König der menschlichen Gefühle ist, vor dem beugt sich ein jeder.«

Indem die drei Reisenden in dieser Weise ihre Charaktere und Wünsche voreinander enthüllten, fühlten sie ihre Zuneigung füreinander wachsen; die Ironie Fischarts verband sich mit der Phantasie der beiden Dichter. Der Einfluß Readway's auf den jungen Geist Shakespeares war sehr groß. Er bewunderte seine Schönheit, die vollkommene Leichtigkeit seiner Manier, die Uebereinstimmung seines Stiles und seines Schicksales. In Rot gekleidet, den Filzhut auf das Ohr gedrückt, den Degen an der Seite hatte der Verfasser der »Quadriga« alle Länder unerschrocken durchzogen, und er erzählte seine Reisen ohne Großsprecherei, mit einem außerordentlich feinen Sinn für das Malerische und Komische. Er hatte die Temperamente der verschiedenen Völker studiert und zog zur großen Verzweiflung Fischarts die Spanier wegen ihrer Abenteuerlust und ihrem prächtigen Wortschwall vor. Er war mit den besten Familien verwandt, ein Günstling der Königin Elisabeth, und nichts an den europäischen Höfen war ihm unbekannt. Seine Schwäche – in den Augen des Pamphletisten – war eine heimliche Verachtung des Volkes, obwohl er ein mitleidiges Herz besaß und die Verwüstung Norddeutschlands ihn bekümmerte. Aber die Leute aus dem Volke verletzten ihn durch ihre Derbheit, und oft geschah es, daß er bei einem maßlosen Worte Fischarts eine Grimasse schnitt. Dann rächte er sich durch irgend eine Prüderie und feierte die Wohlthaten des Euphuismus und der feinen Sitte, diese Schranken zwischen der Menge und den Auserwählten, diesen nützlichen Wall aus Krystall, durchsichtig für den Dichter, undurchsichtig für die Gewöhnlichen. Den Luxus liebte er in allen, auch den unbedeutendsten Dingen; er sprach verliebt von dem ciselierten Dolche, den er in Rom bekommen hatte, von den aus seltenem Leder bestehenden Zügeln Robins, von seinen in Schottland verfertigten Stiefeln, die »im Universum nicht ihresgleichen hatten.« Seine Laune machte seltsame Sprünge. Bald war er heiter bis zur Kinderei, jagte singend im Galopp durch das Land, improvisierte mit Shakespeare Gedichte, denen die geringste Episode zum Vorwande diente, verspottete Fischart, äffte seine satirischen Reden und seinen religiösen Haß nach; bald war er zerstreut und plötzlich traurig, starrte mit düsterer, nachdenklicher Miene schweigsam auf den Boden und stieß einen langen Seufzer aus, wenn man ihn aus seinem Traume riß. Dann pries er Friedhöfe, Thränen, Trauer und Schwermut, zählte mit Bedauern seine Geliebten auf, und der Name der letzten, seiner Helmi, machte ihn schwermütig. »Ich werde sie nicht wiedersehen. Einer von uns beiden muß verschwinden. Wenn ich von ihr spreche, schüttelt Robin den Kopf, als ob er die Nutzlosigkeit meiner Ergüsse beklagte.«

Das Gespräch über Liebe versetzte Fischart in sarkastische Stimmung. »Die Liebe,« sagte er »ist ein Karren, der vorüberfährt und einen mit Kot bewirft; der dann wieder vorüberfährt und einen zerschmettert. Ueber das Knirschen seiner Räder machen seine Opfer Verse.« Er schätzte die Kühnheit Readway's, seine Liebe zur Unabhängigkeit und zum Nomadenleben und seine Empfindsamkeit gegen Herausforderungen.

Die drei Freunde ritten langsam dahin. Sie ergötzten sich am Gespräch und saßen stundenlang in armseligen Herbergen, in denen sie ihre Mahlzeiten einnahmen, bei Tische. Sie nahmen immer Mundvorrat mit sich, denn sie näherten sich Gegenden, die vom Kriege verwüstet waren, wo man, wie Fischart sich ausdrückte, »das Zähneklappern der Hungersnot hörte.« Manchmal schliefen sie im Freien, in ihre Mäntel gewickelt, und hielten abwechselnd Wache. Shakespeare und Readway verfaßten Sonette, um sich zu erwärmen, und sagten sie beim Erwachen her. Aber die Kälte sollte bald diese zigeunerhaften Gewohnheiten unmöglich machen, die sowohl für die Menschen, wie für die Pferde gefährlich waren. Die letzteren hielten sich übrigens gut, obwohl Orkan und Vindex einfache, brave Tiere und viel weniger intelligent als Robin waren, der seinem Herrn zufolge »mehr wert war als einige Räte und Fürsten von Geblüt.«

Sie kamen über einförmige, von kleinen Sümpfen durchschnittene Ebenen. »Ich kann mir nicht erklären, wie die Erde all' das Blut aufsaugen konnte, das die religiösen und sozialen Fragen hier vergossen haben,« bemerkte Fischart. »Es ist erstaunlich, was für Gründe und Gegengründe mit Säbelhieben erwogen wurden. Ueberall, wo eine Straße ist, kann man sicher sein, daß die Dummheit und die Grausamkeit auf ihr gezogen sind.«

In den nächsten Tagen trafen sie überall auf Scharen plündernder Soldaten. Allerorten herrschte Trauer und Not. In dieser traurigen, feuchten Gegend, in dieser Einsamkeit und bei der Hungersnot, die auch die Reisenden oft Mangel leiden ließ, entwickelte sich ein Zustand der Gereiztheit, der die geringsten Worte verletzend erscheinen ließ und den Stimmen einen falschen Klang verlieh. –

Fischart und Readway schmollten miteinander, denn der erstere verwünschte den Krieg, und der letztere verfocht seine Nützlichkeit. So gelangten sie an ein klägliches, von seinen Einwohnern verlassenes Dorf, aus dem das Gequiek eines vergessenen Schweines erscholl. Die Thüren waren eingeschlagen, die Fenster zerbrochen, und durch diese gewaltsamen Oeffnungen erblickte man die leeren Zimmer, die Spuren des Schreckens und der Flucht, armselige Möbelstücke und Ueberreste von Kleidern. Die Dächer der angezündeten Hütten rauchten noch. Lange schwarze Risse durchzogen die Mauern, und auf einigen Schwellen befanden sich rote Flecke. »Ja, bewundert nur die riesige Arbeit dieser Helden, die harmlose Wesen mißhandelten,« hohnlachte der Pamphletist. »Das frohe Klirren der Säbel, das Heulen mißhandelter Frauen und getöteter Kinder liefert Euch schöne Bilder, über die die empfindsamen Damen weinen werden. Ja, mein lieber Herr,« – fuhr er fort, da Readway die Achseln zuckte, – »bei meiner vorigen Reise durch Deutschland sah ich mit meinen eigenen Augen einen Bauer, der sich vor seinen Pflug gespannt hatte und einen ziemlich spröden Boden umackerte. Das war, ich schwöre es Euch, ein malerischer Anblick, obwohl es sich nur um einen armen Teufel handelte, der wenig dazu geschaffen war, einen echten Lyriker zu inspirieren. Aber seither erinnern mich Kriegsmusik, Trompeten, Pfeifen, Trommeln, Uniformen, prächtiges Geschirr, Waffenthaten, Angriffe, Festungen, der Lärm einer begeisterten Menge und alle, die an diesen Schändlichkeiten Gefallen finden und sie bewundern, an diesen einfachen Arbeiter zwischen dem niedrigen Himmel und der braunen Erde, und an die an sich so edle Arbeit, die ein Zeichen des Fluches wird. Ich erkläre es, das Hinschlachten und Niedermetzeln scheint mir weder schön, noch adelig, noch ruhmvoll; und müßte ich die Tapferkeit jenen schändlichen Regungen opfern, so würde ich gern zwischen friedlichen Feiglingen leben.«

Der Anblick eines verwüsteten Klosters verletzte Shakespeare bis in die Seele. Die Zieraten der Kapelle waren in winzige Stücke zerhackt, die Kruzifixe und Scheiben zertrümmert, die Armleuchter verbogen, der Hochaltar und eine Statue der Jungfrau mit Schmutz bedeckt. »An diesem Orte tritt man auf Seufzer,« sagte der Dichter schwermütig. »Wenn wir uns von der Dämmerung überraschen ließen, würden wir Gespenster umherirren sehen.«

»Da sind sie schon,« schrie Readway. – Am Ende eines engen Korridors führten einige Stufen in eine Gruft hinab. Dort herrschte gerade Licht genug, daß man die großen blutigen Leichen einiger Mönche unterscheiden konnte. In ihren zerrissenen Gewändern bewahrten sie die Stellungen und das wilde Durcheinander des Kampfes. Der Leichengeruch war erstickend, und die drei Freunde wichen zurück. – –

Als sie diesen Schreckensort verlassen hatten, schmähte Readway die Reformation. »Sie ist es, die uns solche Schändlichkeiten gebracht hat,« rief er. »Der Katholizismus war grausam, aber er verherrlichte die Schönheit, achtete die Kunst und die Künstler. In dem prächtigen Italien, in dem ich zauberhafte Monate verlebt habe, giebt es keinen Landstreicher, keinen Bauer, der nicht Sinn für Linie, Farbe und Form hätte, und die Päpste, die Ihr verflucht, sind Meister der Eleganz gewesen. Die Marmorfiguren, Bilder, Juwelen, Häuser, die geringsten Gegenstände beweisen verfeinerte Sinne, eine bis zur Raserei getriebene Liebe für die Antike. Tradition, Rhythmus und Regel, ohne die es nichts als Wirrwarr und Finsternis giebt, herrschen unumschränkt unter jenem blauen Himmel, so daß er davon tönt und man die Harmonien hört. Vor dem Giebel eines heidnischen Tempels verbrachte ich einst eine warme Nacht, die mir diese Begeisterung entschleierte. Die schlanken Harfen des Mondes spielten mir die längst verschollenen Lieder vor, mit denen man einst Bacchus begrüßte. Das kleine Gebäude, wie aus Silber und Schatten, tanzte auf den Flügeln der Stille, und mein Herz flog den Lauf der Jahrhunderte zurück. Diese Quelle aller Poesie wollten die Reformatoren verstopfen. Sie rühmen uns eine flache, mittelmäßige, strenge Welt, die aber so trivial, so häßlich ist, daß die Hölle ihr vorzuziehen wäre. Sie verfolgen unerbittlich den Luxus, bekämpfen die Liebe mehr als das Laster und träumen von einem mit Fluch bedeckten Ideal der Langeweile, so daß der Tod eine Befreiung wird. Die Gemälde ersetzen sie durch Evangelienbücher, die Goldschmiedekunst durch eisige Vorschriften und entfernen aus der Religion alles, was sie menschlich, was sie trotz der Scheiterhaufen und der Greuel der Unduldsamkeit annehmbar machte.«

»Ich werde nicht das Ende Eurer Rede abwarten, um meinerseits zu revoltieren,« fiel Fischart ein. »Ich liebe die Antike ebenso wie Ihr, und ihre leuchtende Anmut hat mich bis zu Thränen gerührt. Aber der Schmutz der Kardinäle, der Jesuiten und Päpste und der furchtbare katholische Despotismus hat mit der Pracht der Kunst nichts zu thun. Hierin liegt der Grundkampf der zwei entgegengesetzten Temperamente, – des nordischen, das Gerechtigkeit fordert, und des südlichen, das sich mit einem wollüstigen Schein begnügt. Wir Sachsen haben das Recht, der Welt unser Lied zu singen und unsere Art des Seins zu behaupten. Wir haben uns wütend auf die verfaulten Wälle Roms gestürzt, aber weniger aus Haß gegen den Mann in der weißen und die Männer in der roten Sutane, als infolge einer ethischen Notwendigkeit. Seid Ihr Dichter, Readway, Shakespeare? Dann preiset diesen Ritt des nordischen Geistes durch die sonnenbeschienenen Ruinen. Die Erde hat ein Kind erzeugt, das wir mühsam zur Welt bringen halfen. Wir bringen neue, nach anderen Genüssen schmachtende und von anderen Wünschen geschwellte Seelen herbei, und der kleine heidnische Tempel nimmt inmitten der Nebel eine seltsame Form an. Der dicke Luther wußte gar nicht, welche Bedeutung eigentlich seine Kühnheit hatte, und keiner seiner Jünger hatte eine Ahnung davon. Die Neuerer, die unklaren Gewalten nachgeben, geben ihnen immer falsche Namen. Ich aber habe, seit mir die ersten satirischen Zähne wuchsen, begriffen, daß es sich um eine Erschütterung des Gewissens handelt, daß durch die Risse und Spalten neue Regionen sichtbar wurden, und daß die wirklichen Ursachen der Bewegung tief liegen.«

»Das müssen sie wirklich,« sagte Shakespeare, »da ich in diesem Widerstreite die Geschichte meines Wesens lese. Die Liebe zu den Alten und vor allem zu Plutarch hat mir die antike Welt enthüllt. Meine drückendsten Träume waren jene Himmel, die Readway feiert, jene Helden mit den scharfgeschnittenen Silhouetten, bei denen jede Gebärde ihren Schatten wirft. Ich atmete den wunderbaren Duft der heißen Nächte Roms und Athens ein, mischte mich am Hafen und in den Straßen unter die Menge, verstand jene weiche singende Sprache, die von der unseren so verschieden ist. Trotzdem lag zwischen jenen Männern und mir ein Trennendes. Wenn in meinem Herzen durch die Macht der Worte entsprechende Leidenschaften erwachten, so waren sie unruhiger, weniger bestimmt und rätselhafter. Es schien mir, daß jene Gefühle des Südens, die die Poeten so wunderbar besingen, andere Wurzeln, andere Richtungen, andere Kurven haben, als die meinigen.«

»Was fehlt ihnen also?« fragte Readway.

»Die Angst, diese Tochter des Nordens, die die Reformation, Johannes Fischart, das ganze Geschlecht der Schneeländer belebt. Ihr kennt sie auch; denn sie ist es, die plötzlich Eure Blicke fieberhaft aufleuchten macht, Eure Finger vor der Mähne Robins herabhängen läßt, und während unserer Gespräche ein Gefühl der Unruhe in unsere gegenseitige Zuneigung bringt.«

Sie langten in dem dunkeln Saume eines Fichtenwaldes an. Ehe sie hineinritten, traten sie in eine Bauernhütte ein. Die drei Söhne des Hauses waren getötet worden; niemand war mehr übrig, als die wildäugige Tochter und das greise Elternpaar. »Sie haben mir alles genommen,« rief der Vater weinend; »meine starken, mutigen, arbeitsamen Knaben, mein schönes Haus, meine Erinnerungen. Drei Monate sind wir umhergeirrt, nur von Almosen lebend. Doch da oder dort bleibt uns jetzt nichts übrig, als den Tod zu erwarten. Aber wie lange er ausbleibt!« – Das Zimmer wurde von dem roten Scheine eines harzduftenden Feuers erhellt. Ein wütender Wind rüttelte an der Thür. Die Mutter saß zusammengekauert, mit verschränkten Händen da und stöhnte dumpf; keiner der Reisenden fand Worte, um diese Not zu lindern. Da erhob sich die Tochter, deren geschmeidige Gestalt durch ihre Lumpen schien. »Ihr seid Feiglinge! Ihr hättet Euch vereinigen, mit Heugabeln und Stöcken bewaffnen und die Mörder töten sollen, statt Euch wie Schweine abschlachten zu lassen! Ach, wenn die Weiber Eure Muskeln hätten! Ich werde Euch verlassen, und da einmal gestorben werden muß, auf der Richtstätte sterben, nachdem ich mit diesen Fingern hier so viele Räuber als möglich erwürgt habe.« Sie schmähte den Himmel und zeigte der verfallenen Decke die Faust: »Lügner sind es, die von Gott und seinem Erbarmen reden! Ist er es, der das Feuer an die Häuser der Armen legt und sie zwingt, ihre Nahrung im Kote zu suchen? Ist er es, der dem Soldaten befiehlt, zu plündern, zu morden, zu töten! Zu vieren haben mich die Elenden an Händen und Füßen gefaßt und vor den Alten geschändet! Und ich konnte mich nicht rächen! Ich schrie, und sie lachten, und trotz meiner Schmähworte haben sie mir das Leben gelassen!« Zitternd vor Schmach und Ekel, ließ sie sich wieder auf ihren Sitz niederfallen. – – –

*

Die drei Reiter ritten einen Waldweg entlang. Um die hohen und regelmäßigen, einem Heere von Säulen gleichenden Umrisse der Fichten schwebte ein zarter Nebel, dessen Spiralen, wie Readway sagte, gleich Weihrauch in einem Dome aufstiegen. Fischart erzählte seinen Freunden die Sage vom Ritter Stauffenberg, in den sich eine Fee verliebte. Sie erschien ihm mehrmals und stets in einem anderen Gewande, manchmal behangen mit großen Ketten aus kostbaren Edelsteinen, durch deren Zwischenräume ihre rosige Haut schimmerte, manchmal von durchsichtiger Gaze umflattert, oder von schwerem Goldbrokat verhüllt, der sein Muster auf der Haut zurückließ. Sie versagte sich ihm lange Zeit, um ihn noch mehr zu entflammen, und eines Tages, als er die Arme nach ihr ausstreckte, hieß sie ihn schwören, daß er sich bei Gefahr sofortigen Todes nie vermählen würde. Er verlor den Kopf und versprach alles.

»Mir scheint, ich habe etwas wie eine ferne Musik gehört,« fiel Shakespeare ein.

Readway hielt sein Pferd an. »In der That, Robin spitzt das Ohr. Zweifellos ist es die Fee, die sich seit dem Tode des Ungetreuen die Muße vertreibt. Denn nicht wahr, Fischart, der edle Ritter Stauffenberg war ungehorsam, und am Abend der verbotenen Hochzeit erschien als böses Omen über der prunkvollen Tafel ein Fuß.«

»Ihr kennt die Geschichte?« fragte Fischart, offenbar überrascht.

»Ich bin Poet, und es ist mein Beruf, die Sagen von überall aufzulesen – die Englands mit ihren Mooren und Seen, die Deutschlands von den Wäldern und Gießbächen, die Italiens, die sich auf der Schwelle der Paläste abspielen, und die heiter lächelnden Frankreichs. Außerdem ist meine Helmi von ihnen entzückt. Ich sehe sie vor mir, wie sie, die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in ihre kleinen Hände gestützt, mir zuhört und mit ihren großen, hellen Augen meine Worte in sich trinkt. Die Sage vom Stauffenberg habe ich ihr oft erzählt. Sie liebt sie wegen der Aehnlichkeit, die sie zwischen sich und der Fee sieht, und in dramatischen Momenten steht sie auf, nähert sich mir und schlingt stammelnd unter Küssen und Drohungen die schönen Arme um meinen Hals.«

»Ich möchte jede einzelne dieser alten Erzählungen kennen,« fügte Shakespeare hinzu. »Sie sind leicht geneigte Spiegel der irdischen Leidenschaften, in denen sich unsere Gesichter vergrößern und zu den Sternen erheben. Als sich das erste Lächeln, der erste Schmerz und der erste Haß beim Menschen zeigte, wunderte er sich derart darüber, daß er daraus sofort kleine Dramen machte und die Vögel, Bäume und Pflanzen darein vermischte. Seine neuen Gefühle hatten den Geschmack einer Frucht; er drückte ihren Saft über die Natur aus; diese gebrechlichen Gebilde dauerten fort, wie die Form des Brotes, des Hauses, der Segel, weil sie die Wirklichkeit und die Träume befriedigen. Noch immer müssen wir uns ihren Rhythmus aneignen, wenn wir rühren wollen. – Ah, diesmal täuscht mich mein Ohr nicht, ich habe den Klang einer Viole gehört!«

»Und da ist auch der Musiker. Das ist ja Orpheus,« rief Fischart, in Lachen ausbrechend.

Inmitten des Dickichtes stand, an einen Baum gelehnt, ein Mann mit einem langen, grauen Barte und spielte auf einem Instrumente, das ein Mittelding zwischen einer Lyra und einer Guitarre war. Er trug ein Gewand aus Gräsern und Tierhäuten. Seine Füße waren nackt. Die Zurufe der drei Reiter unterbrachen ihn. Er schritt mürrisch auf sie zu, und sie erblickten seinen starken Hals, seine hohe gerunzelte Stirn, seine glänzenden Augen und seine wie bei einem Jagdhunde an der Spitze gespaltene Nase.

»Ihr habt mein Auditorium in die Flucht gejagt,« brummte er. »Euresgleichen kann nichts als erschrecken.«

Seine Stimme war leise und klanglos. »Es ist schon lange her, daß Ihr mit jemand gesprochen habt, nicht wahr, Freund?« fragte Readway.

»Zehn Jahre. – Nennt mich nicht Freund, denn ich hasse meinesgleichen. Wenn ich mich stören ließ, so geschah es, um mich in meinem Widerwillen zu bestärken.«

»Man hat Euch Böses gethan, und das macht Euch ungerecht. Wir sind ehrliche Leute!«

»Wie die anderen; mit dem Degen an der Seite, Federn auf dem Hute, und im Herzen menschliche Gefühle, das heißt die Liebe zu Blutvergießen, Feigheit, Verrat, Gewalt. Puh! – Ihr fragt mich, ob man mich mißhandelt hat. Nicht mehr als meine Gefährten! Man hat mir die Meinigen getötet, mein Haus verbrannt, meine Töchter und mein Weib geschändet. Heute bin ich glücklich; ich lebe unter Tieren, schlafe im Freien, nähre mich von Wurzeln.«

Trotz einer gewissen zögernden Aussprache, war er sichtlich erfreut, seine Zunge gebrauchen zu können, und sein Instrument unter dem Arm haltend, beantwortete er die Fragen mit wunderlichen Bewegungen seiner ungeheuren, erdfarbigen Hände.

»Warum spielt Ihr Viole?«

»Weil ich die Musik, die Poesie liebe. Für die Stadtbewohner sind das freilich Dummheiten.«

»Halt, wir sind Poeten!«

»Verzeiht, ich habe das Recht offen zu sein. Wenn ich Euch dies hier hinhalten würde, wenn Ihr versuchtet, darauf zu spielen, so käme nur ein schreckliches oder lächerliches Geräusch hervor. Euch fehlt die Einsamkeit. Ihr betrachtet die Sterne nicht genau, ihr wißt nicht, was die Nacht ist, und steht wie zitternde Diebe vor der Natur. Zu mir sprechen sie, und wir verstehen uns. Ich erfinde in Muße die Melodien, die ich diesen Saiten entlocke. Sie klettern an den Baumstämmen empor, und das trockene Laub, das sie empfängt, giebt sie dem klagenden Winde weiter. Die Vögel setzen sich mir auf den Kopf und die Arme; die Eidechsen und Spinnen lassen sich im Kreise um meine Füße nieder. Ihr habt keine Ahnung, wie treu die Raben sind. Ehe ich ihnen meinen traurigen Leib zur Nahrung gebe, biete ich ihnen seelische Speise.«

Er schnitt eine Grimasse, die zweifellos ein Lächeln bedeuten sollte.

»Aber im Winter?« fiel Shakespeare ein.

»Baue ich mir eine Schneehütte und vermeide die Gesellschaft der Wölfe, die den Menschen allzusehr gleichen.«

»Es steht fest, durch seinen Kopf gehen andere Gedanken als durch die unseren,« murmelte Fischart.

»Das will ich meinen. – In diesem Augenblicke erinnert Ihr mich an mein Unglück und meine Launen in der Zeit, da ich gut gekleidet war. Denn auch ich besaß Pferde, einen roten Mantel und sprach in wohlgesetzten Worten. Aber bald werde ich alles vergessen haben. Ueber diese Straße« – er wies auf seine Stirn – »lasse ich die Wolken und die Sonnenstrahlen vorüberziehen. Ich fühle Frost, Hunger, Durst und die Stille. Das ist keine kleine Beschäftigung, und ich denke nur an die nächstfolgende Minute. Außer wenn ich auf meiner Violine zu den Bäumen spreche, giebt es zwischen mir und den armseligsten Asseln keinen Unterschied. Aber wie überlegen bin ich Euch auch!«

»Glaubt Ihr an Gott?«

»Gott ist hier, dort, vorn, hinten –« er drehte sich behend um sich selbst. »Er ist der große Atem der Dinge oder nichts, oder – es ist mir gleich. Ich habe nichts mit ihm zu thun. Verzeiht mir, mein Kopf ist schwach, und ich bin müde. Lebt wohl!« – Er kehrte mit seinem nachlässig stolzen Gange ins Dickicht zurück.

Die Begegnung mit diesem Menschenfeinde in der ungeheuren Einsamkeit der Wälder beschäftigte die Reisenden bis zum Abend, und sie sprachen von ihm, noch ehe sie einschliefen. Nur das Wiehern Robins, Orkans, oder Vindex', die in einiger Entfernung angebunden waren, der Schrei eines Raubvogels störten die friedliche Nacht. Obwohl es schon im Anfang des Winters war, war die Temperatur noch milde, und der rauhe Wind war verschwunden.

»Er hat recht, wenn er sagt, daß die Poesie sich mit unserer Lebensweise nicht verträgt,« seufzte Readway. »Ich habe alles gethan, um den sozialen Fesseln zu entgehen, habe in allen Ländern geliebt, alle Straßen durchzogen und tausend Abenteuer erlebt. Und doch, wenn ich meine Verse niederschreibe, fühle ich in meiner Phantasie einen Stillstand, eine Trockenheit. Gleich Figuranten kehren dieselben Ausdrücke in meinem Geiste wieder. Die Flüsse, Quellen, Wälder, Berge, die Feen, die sie bevölkern, die Helden und Sagen erscheinen mir zuerst wie unerschöpfliche Fundgruben. Mein Herz schwillt von ihnen, und ich hoffe, meine Begeisterung anderen mitteilen zu können. Aber ach! Das prächtige Eichenlaub verwandelt sich in Fichtennadeln. Das klingende, wundersame Wort, das mein Werk unsterblich machen würde, eilt nicht, gleich meinem treuen Robin auf meinen Ruf herbei, und um diesen kalten Stoff zu beleben, brauche ich Frauengestalten, das Profil Helmis, die Kurven ihres Nackens, den Bogen ihrer Lippen. Das kommt daher, weil wir der Natur nicht nahe genug leben. Wir haben unsere Wurzeln abgeschnitten, der Saft steigt nicht mehr in unsere Geister, die sich erschöpfen.« –

»Warum fehlt Euch der Zorn, Ihr armen Dichter,« sagte Fischart. »Mir sind diese Beklemmungen vollständig unbekannt. Der Haß steht hinter mir und reicht mir immer neue Waffen; scharfe Fangeisen, hochrot glühende Schwerter, flammende Stahlklingen.«

»Ich besitze Eure Erfahrung nicht, und bin ein Neuling in der Kunst, die uns von den Göttern kommt,« fügte Shakespeare hinzu. »Trotzdem bedauere auch ich die Richtung, die meine Sinne genommen haben. Wenn die Seeleute an den Ufern der Themse unter lautem Geschrei am Ufer landen und einander drängend ans Land springen, denke ich bei mir, daß der Eindruck dieser Bilder auf meine Augen edler und fruchtbarer wäre, wenn er frischer, jungfräulicher sein würde. Wie Ihr Eure schönen Geliebten, so besitze ich im Grunde meines Bewußtseins gewisse Gestalten, die ich mir selbst gezeichnet habe, und die mich leidenschaftlich begeistern. Ich rechne darauf, daß diese Reise mir neue schenken wird. Die glückliche Zeit, wo der Mensch beim Bilden der Welt sang, ist vorüber. Ja, wir haben unsere Frische verloren; ja, die lebendigen Wasser der Sage beleben kaum die Kraft unserer Muskeln.«

»Das erklärt, warum wir unsern Stil verfeinern,« fuhr Readway fort. »Wenn die Empfindung stark und rein wäre, würden wir über diese Ausflüchte lachen.«

Einige Stunden später bewachte William den Schlaf seiner beiden Freunde. Dieser gemeinsame Ritt durch die Ebenen und das Reich der Geister verursachte ihm eine außerordentliche Freude. Er fürchtete sich vor dem Weihnachtstage, an dem man sich von Fischart trennen sollte, und hoffte, Readway nach dem Zweikampfe mit dem Ritter Olof bis Kopenhagen begleiten zu können. »Wie es scheint, bewohnt die Seele des Nordens im Winter dieses Gestade. Ich stehe erst am Ausgangspunkte meines Wesens, in der Zeit, wo man seine Natur sucht. Ich werde sie dann vergessen müssen, und gleich dem einsamen Musiker für die Tiere des Waldes spielen. – Träume ich? – Oder ist der Wald verzaubert?« –

Einige Schritte von ihm entfernt galoppierte zwischen den schlanken Stämmen der Fichten, die großartige Alleen bildeten, eine schweigsame Jagd dahin: Hunde und Treiber, Damen in köstlichen Gewändern, stolze Herren und Pagen. Die weißen Pferde waren mit Gold gezäumt, das sanfte Mondlicht rieselte über die hellen Seiden- und Brokatkleider, die flatternden Mäntel, und trotz der Schnelligkeit waren die Gestalten so deutlich sichtbar, so schön und froh, daß dem Dichter die Thränen in die Augen traten. Diese Phantasmagorie währte nur kurze Zeit. Der stumme Zug durchflog rasch den Gesichtskreis, und verschwand zwischen dem schlanken Portal der Bäume im weißen Sternenstaub. Shakespeare hatte nicht die Zeit, seine Freunde zu wecken, und bewahrte sein Abenteuer für sich allein, denn die Illusion läßt sich nicht weiter geben.

*

»Das ist Oldenburg,« sagte Fischart, auf die Wälle deutend, die in dem rasch herabsinkenden Dämmerlicht verschwammen.

»Ich bin nicht böse, daß wir endlich an eine Stadt kommen.«

»Sie sieht ein wenig düster aus,« bemerkte Shakespeare. –

Es waren weder Schildwachen an den Thoren, noch Menschen in den Straßen zu sehen. Die Häuser lagen finster schweigsam und lichtlos da, obwohl die Nacht herabsank.

»Robin wittert eine Gefahr,« sagte Readway. »Er zittert und will nicht weiter – Aber was liegt da am Boden?«

Die schwere, dunkle Masse war ein Leichnam.

»Halt,« rief Fischart, »rührt ihn nicht an! Diese düstere Ruhe, durch die ein scharfes Ohr wirres Stöhnen vernehmen kann, – Der abscheuliche Geruch, der mich seit ein paar Minuten verfolgt – hier ist die Pest, – fliehen wir!«

Sie wollten weiter reiten, als sie den Ton eines Glöckchens vernahmen. Der Gestank nahm mit dem Lärm zu. Ein großer Wagen kam ihnen entgegen.

»Platz, Platz,« schrie von fern der Kutscher. Sie hatten kaum Zeit, beiseite zu weichen. Die Last mußte schwer sein, denn die Achsen knarrten. Diesmal mußten die Reisenden sich die Nase zuhalten, ein so übler Geruch verbreitete sich. Den Fuhrmann selbst sahen sie nicht, sprachen ihn aber aufs Geratewohl an.

»Was geht vor? Ist in Oldenburg die Pest?«

»Die Pest nicht, Ihr Herren, etwas anderes – kleine schwarze Beulen und Blutflüsse. Die Menschen krepieren zu Hunderten; ich führe einen ganzen Karren voll fort.« – Die Stimme klang laut und stark aus dem Dunkel. Das Gebimmel des Glöckchens dauerte fort.

»Wo führt Ihr sie hin?«

»In ein Loch neben den Wällen. Man braucht sich nicht die Mühe geben, sie einzugraben, sie vergiften die Raben.«

»Ihr habt keine Furcht?«

»Wovor? Das ist mein Gewerbe. Lebt wohl!«

»Noch ein Wort!«

»Gut, mein Pferd kennt den Weg.«

»Wann hat die Seuche begonnen?«

»Vor vierzehn Tagen. Zuerst starb einer, zwei, dann zehn, zwanzig, und dann gab es böse Zeichen am Himmel: ungeheure Dämonenwolken, die die Sonne verdunkelten. Man hat zwölf Zauberer verbrannt und den Teufel aus ihren Häusern und Tieren ausgetrieben. Nichts hat genützt. Ich habe von früh bis abend zu thun, und niemand wagt mir mehr zu helfen. Darum bleiben auch viele in den Zimmern zurück; und das ist neue Ansteckung. Niemand hat fliehen können, so rasch ist es gekommen. In den ersten acht Tagen legten sie die Leichen vor die Thür und hatten es sogar so eilig, daß ich Halblebendige fand, Füße und Beine, die sich noch bewegten. Jetzt kümmern sie sich nicht darum, und meine Gehilfen sind auch hinüber. Was einem das Herz zerreißt, das sind die Kleinen, die geboren werden und kaum ans Licht der Welt gelangt, – schnell hinein ins Loch, zusammen mit den Eltern! Ich sehe auch welche, die zusammen sterben, Arm in Arm. Ja, das ist eine Sache! Ich lege sie zusammen, wie es kommt, die Stolzesten mit den Hunden, die Reichsten mit den Bettlern, Feiglinge und Tapfere, meine Herren und meine Beleidiger. Alle stinken gleich! In der Kirche ist ein ganzer Haufen, und auf dem Friedhofe müssen wohl die früher Eingegrabenen erdrückt werden.«

»Ihr scheint trotzdem lustig zu sein.«

»Muß ich wohl. Auf zehntausend kommen nur mehr fünfhundert Lebendige. In einer Woche werde ich der König der Stadt sein, – Na, ich darf meine Fracht nicht vergessen. Guten Abend, Ihr Herren! Es kommt selten vor, daß ich mich aufhalte, um auf der Straße zu schwatzen.« –

Die drei Freunde ritten im Galopp davon, aber so rasch sie auch die unglückliche Stadt verließen, so lag es doch wie ein Alpdruck auf Shakespeare. Die undurchsichtigen Reihen der Häuser machten ihm den Eindruck von Särgen. Er meinte, daß er diesen entsetzlichen Geruch nie aus der Nase verlieren würde, und glaubte ein ungeheures Röcheln, ein Heer von Sterbenden mit schwarzen Beulen um sich zu vernehmen. Er stellte sich den Einbruch der Seuche, die Ueberraschung der ersten Fälle, den Ritt des Todes vor, der rascher war, als der Orkans oder Vindex', und dessen faulen Atem man spürte. Der Vater floh vor der Mutter, und die Mutter vor den Töchtern. Jede Autorität war verschwunden, jede Wohnung wurde ein Schreckensort. Nirgends ein lautes Geschrei; das Lallen der Kindheit vereinte sich mit dem Röcheln der letzten Minuten, und der Schrecken legte seinen eiligen Finger auf alle diese Komödianten. In diesem allgemeinen Zusammenbruche blieb nur eine Göttin am Leben, die Liebe. Sie ließ sich am elendesten Lager nieder und wandelte die Thränen der Verzweiflung in Thränen der Rührung, denn der Anblick des Todes kann sie nicht vernichten. –

Am nächsten Tage, um die Mittagsstunde, blieb das Pferd Fischarts plötzlich stehen. Ein Schauer überlief es, die Beine wurden von einem krampfhaften Zittern bewegt, und seine schmerzlich in die Höhe gezogenen Nüstern ließen die schaumbedeckten Zähne sehen.

»Was werden wir thun?« sagte Readway, indem er den öden Horizont, das mit einem feuchten Nebel bedeckte Land überschaute. Von Zeit zu Zeit wurde eine Gruppe verkrüppelter Bäume sichtbar, dann sog der immer dichter werdende Nebel auch diese Erscheinungen auf. »Ich werde Euch in den Sattel nehmen,« meinte Shakespeare. »Wenn er nur nicht die Oldenburg'sche Krankheit hat!«

Fischart versuchte vergeblich Vindex' Mut zu beleben. Das arme Tier brach zusammen und fiel zu Boden. Seine Flanken zitterten immer schneller, sein Blick wurde verglast, es stieß ein langes Wiehern aus, dem Orkan und Robin Antwort gaben.

»Er sagt dem Leben Lebewohl,« sprach der Pamphletist mit Thränen in den Augen. »Wir sollen dich also hier lassen, braver Kamerad, der mich seit Friesland treu getragen hat? Ich hatte mich an dich gewöhnt, obwohl deine Sprache mir unverständlich war, und du unsere Sorgen in keiner anderen Weise in Anspruch nahmst als durch deinen Hafer. – Das ist das Bild des Volkes, meine lieben Dichter! Es trägt den Fürsten, bis es zu Boden sinkt, und wird nicht einmal so gut genährt, wie dieses Wesen hier, das kein Fleisch braucht.«

»Ein böses Omen,« wiederholte Readway. »Wenn das Pferd unterwegs stirbt, giebt es sicher Unheil. Stände ich am Vorabende meines Zweikampfes, so wüßte ich, was es bedeutet. Olof könnte sich freuen, und meine schöne Helmi die Trauerkleider vorbereiten, die ihrem stolzen Antlitze so gut stehen.«

»Hihi, hihi,« kreischte ganz in der Nähe eine Stimme. »Das Gift wirkt, das Pferd fällt, und der Mensch weint!« Aus dem Nebel traten menschliche Umrisse hervor. Die Reiter hielten erstaunt inne. Wie und woher kam so plötzlich dieses alte, fleischlose, in graue Wolllumpen gekleidete Weib mit dem Raubvogelgesichte, dessen mattweißes Haar im Sturme flatterte?

Sie näherte sich dem Kadaver Vindex', bückte sich und versuchte mit ihren Fingern, an denen lange, schwarze Nägel saßen, sein Maul zu öffnen. Dann schüttelte sie den Kopf und sah die drei Gefährten nacheinander an. »Dem Roten, dem Braunen und dem Jüngsten einen Gruß von der Hexe, einen Gruß von Killekroff, der Hexe!«

Das Uebernatürliche regte Shakespeare und Readway auf.

»Wer bist du, Larve, Gespenst oder lebendes Wesen? Und was soll dein greuliches Thun?« fragte der erstere zornig.

»Es ist eine Landstreicherin, die Gespenst spielt,« rief Fischart ironisch. »Wenn der Nebel kommt, denkt sie: ich könnte ein Goldstück brauchen, denn das Gemüse gedeiht nicht auf diesem steinigen Boden. So verkleidet sie sich als Dämon und lauert dem leichtgläubigen Vorübergehenden auf.«

Die Alte streckte ihren Zeigefinger, der einem dürren Holzstäbchen glich, gegen ihn aus: »Du Wütender, aber Tapferer, du Frecher, aber Redlicher, ich grüße dich, denn du haßt den Papst und zerreißt ihn mit deinen bissigen Reden. Dein Pferd hat es mir eben gestanden!«

Sie lächelte teuflisch. – Nun geriet auch der Pamphletist in Erstaunen. »Ehrwürdige und weise Killekroff,« rief er, »ich benutze deine Anwesenheit, um dich über unsere Zukunft zu befragen. Bisher sah ich Hexen nur auf dem Scheiterhaufen, auf dem Marktplatze. Es wäre eine wirkliche Erleichterung, wenn Prophezeiungen möglich wären. Statt uns ungeschickt durch unser dunkles Schicksal zu tasten, wollen wir über den Weg unterrichtet sein. Thue das! Ersetze mir Vindex, und ich erkläre dich für eine Schwester des Bösen, und meine Freunde werden dich in Lobgedichten feiern.«

Die Augen Killekroff's flammten auf. »Erlaubst du mir, seinen Bauch zu befragen?« sagte sie und deutete auf das am Boden liegende Tier.

»Gewiß!« antwortete Fischart und beseitigte das Zögern Readway's und Shakespeares mit den Worten: »Die Gelegenheit ist einzig. Lassen wir dem Zufalle seinen Lauf und merken wir uns ihre Antworten.«

Die Hexe zog ein schartiges Messer unter ihren Lumpen hervor, kauerte sich zwischen die Beine des Pferdes und schnitt die Haut ihrer ganzen Länge nach auf. Dann erweiterte sie die Oeffnung, so daß die Eingeweide auf den Boden quollen. Die beiden Dichter wichen angewidert zurück, aber die Neugierde behielt die Oberhand, so daß sie die Augen nicht schlossen. Orkan und Robin, die einige Schritte entfernt unbeweglich standen, stießen ein krampfhaftes Gewieher aus. Mittlerweile wurde Killekroff immer aufgeregter, wühlte mit vollen Händen in dem warmen, blutigen Bauche und tauchte ihre knochigen, bis an die Ellbogen roten Arme immer wieder hinein. Dann stimmte sie eine wunderliche Klage an, von der Fischart, trotz gespannter Aufmerksamkeit nichts verstand; Reihenfolgen von Silben kehrten immer wieder, dazwischen Schluchzen, rauhes Gebell. Ihr Rücken wurde von raschen, nervösen Bewegungen geschüttelt, und ihre nackten Füße zogen sich wie zwei feuchte, staubige Kugeln zusammen. Endlich hielt sie inne und begann, ihre kauernde Stellung beibehaltend, die Sätze durch tiefe Seufzer skandierend, mit ganz verschiedener, klangloser und fester Stimme zu prophezeien. Der Nebel schien der Rauch des Dreifußes zu sein. »Ich sehe ein Schneefeld und grausame Spuren. Er weiß es, er, der eine blonde Dame liebt. Oh! Oh! Oh! Ich sehe hingemähte Hoffnungen, ich sehe keimende Hoffnungen in demselben Lande, wo es so viele grüne Bäume gibt. Ich sehe Kämpfe, Gemetzel und höre Kriegstrompeten klingen. Die Zukunft gehört dem Jüngsten, wenn alle seine Gedanken sich erfüllen; die Zukunft gehört nicht dem Aeltesten, wenn alle seine Gedanken sich erfüllen; das wahre Glück gehört dem Mittleren.«

Die Alte schwieg wie erschöpft. Shakespeare trat in fieberhafter Erregung auf sie zu. »Werde ich Ruhm erringen?« rief er. Aber seine Frage erhielt keine Antwort.

»Immer die alte Geschichte, unbestimmte Prophezeiungen, dunkle Orakel,« brummte Fischart. »Es ist gut, Killekroff, ich danke dir; du bist eine weise Wahrsagerin. Hier ist dein Lohn.«

Die Hexe sprang in die Höhe, packte mit ihren krummen Fingern das Goldstück und brach dann in Lachen aus. »Sieh hin, der Teufel hat uns zugehört.«

Orkan und Robin gegenüber zeigte sich im Nebel ein kleines stämmiges Wesen. Es hatte einen breiten Körper und seine im spitzen Winkel auseinanderstehenden Beine endeten in zwei Hufen. Das Gesicht war undeutlich und zwei kurze Hörner ragten über dem dreieckigen Kopfe empor.

»Ah, endlich finde ich dich,« schrie Fischart und stürzte auf die Erscheinung zu. Aber sie nahm sofort eine andere Gestalt an, und der ganz verstörte Shakespeare sah, wie sie sich durch die Verdoppelung der Füße und Verwandlung der Hörner in Ohren in ein einfaches Pferd verwandelte. Der Pamphletist kehrte zurück, seinen Gefangenen fröhlich an der Mähne hinter sich herziehend. »Du hast Wort gehalten, Killekroff. – – Killekroff!« –

Die Hexe war verschwunden, ohne daß Shakespeare und Readway es bemerkt hatten; nur der besudelte Kadaver Vindex' blieb als einzige Spur dieser phantastischen Scene zurück. –

»Wunderbar!« murmelte Readway.

»Was liegt daran! Die Hölle ist mit uns; sie hat mir ein anderes Roß geschickt; ich werde es Killekroff taufen. – Sei feurig und rasch, wie die Flamme, die du beherrschst, mein schrecklicher Gefangener!« Dann sprang Fischart, nachdem er das bösartige Tier mit dem Geschirre Vindex' aufgezäumt hatte, auf und rief, stolz seinen Degen ziehend: »Heute trotze ich der ganzen Welt, den Spaniern, den Jesuiten und dem Papste. Wie hartnäckig auch ihre Anstrengungen sein mögen, wie wild ihr Haß auch sein mag, über den, der den König der Teufel bestiegen hat, werden sie nicht triumphieren können.«

*

»Ich versichere Euch, sie hat mir den Tod vorausgesagt; ihre brennenden Blicke richteten sich auf mich,« sprach Readway. »Das Schneefeld, – die blonde Dame – Mut! – So werde ich in das Grab, in das mir alle folgen werden, das doppelte Bedauern um meine schöne Helmi und meine Dichtung, jenen »Blick- und Sternenregen« tragen, den ich ihr so gerne widmen wollte.«

»Seid Ihr toll?« antwortete Fischart, den die Bitterkeit Readway's betrübte. »Das war eine alte Närrin, sonst nichts. Oh Dichter, Dichter! Ich habe nicht gezögert, den braven Killekroff zu besteigen, und seht, Orkan und Robin sind schon seine Freunde. Seid sicher, sie würden den Teufel gewittert haben.«

»Genießen wir die wenigen Tage, die wir noch zusammen verbringen können, und lassen wir uns durch eine grundlose Trauer nicht niederschlagen!« sprach Shakespeare mit ernster und zärtlicher Stimme. »Ihr, Readway, werdet für den Ruhm leben; Ihr werdet Euren Namen auf den Lippen der Menschen sehen und über Eure Angst lächeln. Wäre ich ein Plutarch, so würde ich Eure Biographie mit folgenden Worten beginnen: Von seiner frühesten Jugend an wurde dieser Dichter von der Furcht vor dem Tode gestachelt. Daher rührt die Fieberhaftigkeit, die sich in seinen Versen bemerkbar macht. Aus Furcht, sie nicht vollenden zu können, trieb er sie zur Vollkommenheit.« –

Zum erstenmale, seit sie Deutschland betreten hatten, wurde die Landschaft lebhafter. Sie ritten über eine von zahlreichen Grotten und Schluchten erfüllte Gegend; auf dem Gipfel steiler, bemooster Felsen streckten einsame Eichen oder Tannen ihre breiten Zweige in den Himmel. Zwischen diesen zerrissenen Blöcken floß eine Menge kleiner Gießbäche. Manche führten Baumstämme mit sich, andere hatten das Gestein derartig zerfressen, daß die Wurzeln entblößt dalagen und Riesenspinnen glichen. »Achtet auf Euren roten Mantel, Readway! Wenn Ihr ihn nicht umkehrt, wird er sein glänzendes Purpurrot verlieren,« sagte Fischart, auf eine ungeheure schwarze Wolke deutend, die über ihren Köpfen hing. »In dem ernsten Königreiche Westfalen giebt es keine malerischere Region. Hier würden die Zerstörer der Vorurteile und Götzenbilder Träumer werden. Um wieviel höher steht ein zerrissener, gespaltener Boden, als die ruhige Fläche, über die wir alle diese Zeit kamen!«

»Bei Euch Bewunderer des Rabelais, decken sich die verschiedenartigsten Neigungen,« antwortete Readway, dessen Schwermut verschwunden war. »Damit Ihr an die Kraft glaubt, müssen die Muskeln vorspringen, müssen die Berge Vulkane werden und die Kolosse mit greulichem Getöse zusammenbrechen. Ich ziehe den entzückenden, ironischen Philosophen Montaigne vor, dessen Energie sich versteckte, der die Ueberzeugungen mit einem Lächeln zerspaltete. Seine Landschaft ist eine fröhliche Wiese, auf der die Stiere weiden.«

»Ich kenne ihn nicht,« gestand Shakespeare.

»Ihr würdet ihn lieben. Er ist sein eigener Plutarch. Ohne Scheu und mit Sätzen, die in so dünne Scheiben geschnitten sind, daß sie durchsichtig bleiben, zerschneidet er sein Gewissen, bietet es uns dar, und wir finden, daß es mit dem unserigen übereinstimmt. Obwohl er in den feinsten Unterschieden erfahren ist, spielt er mit der Aehnlichkeit, und drängt das Weltall in einem Wesen zusammen.«

»Seine fortwährende Analyse ermüdet mich,« antwortete Fischart, Killekroff antreibend und seine Gefährten zurücklassend. Plötzlich malte sich Erstaunen auf seinem Gesichte. »Kommt schneller, kommt schneller!« rief er.

Das schmale Plateau, bei dem sie anlangten, endete in einem Abgrund, und die Reiter erblickten, als sie sich herabbeugten, eine Felsenschlucht, in der mehrere große Bäume Fuß gefaßt hatten. Darüber hing eine dunkle Wolke so nahe, daß man sie mit ausgestrecktem Arme berühren zu können glaubte. Auf dem Grunde floß ein stürmischer Bach. Rittlings auf dem hohen Zweige einer Tanne saß ein schwarz gekleideter junger Mann und beschäftigte sich damit, einen langen Strick zu befestigen, der in eine Schlinge auslief. Von unten sah ihm ein Hund zu, unruhig mit dem Schweife wedelnd.

»Was thut Ihr da?« schrie Fischart.

Der Jüngling hob den Kopf. Sie erblickten sein liebenswürdiges Gesicht mit hellen Augen, und infolge der Höhe in der er sich befand, drang seine Stimme deutlich zu ihnen herüber. »In einigen Minuten wird Eure Neugierde befriedigt sein. Ich will mich aufhängen.«

»Aufhängen?«

»Das wundert Euch!«

»Ein wenig. – Ueberlegt es Euch, das Leben ist so wechselreich. Geschieht es aus Liebe?«

»Wiederholt Eure Worte, ich habe sie schlecht verstanden!«

»Geschieht es aus Liebe?«

»Ja und nein, alles zusammen. Mein Entschluß ist fest und der Strick auch.« Er zog daran, um ihn zu prüfen.

»Hört erst mein Lied an!« rief Readway und stimmte nach einer stürmischen und prächtigen Melodie ein Loblied der irdischen Freuden an, das durch die Umstände seltsam gehoben wurde. Er feierte zuerst das Herz und die Schönheit des Weibes, dann treue Freundschaft, die Quelle des Heldentums, die Schlacht, den Wein und den Schlummer. Er rühmte das Wasser und seine Frische, das belebende Feuer, die nährende Erde und den Himmel, an dem die Sterne funkeln. Der Verzweifelte hörte, auf seinem Zweige sitzend, zu und ein schwaches Lächeln erhellte sein kluges Gesicht. – – Als der Dichter zu Ende war, klatschte er in die Hände.

»Habe ich Euch überzeugt?«

»Von dem Vergnügen, das Euch das Leben bereitet, gewiß. Ah, die Antike belebt Euch! Ihr habt meine letzten Augenblicke versüßt. Ich danke Euch.« –

Shakespeare geriet in schreckliche Angst. »Kommt mit uns,« flehte er. »Ihr werdet Euch trösten.«

»Zu spät!«

»Fürchtet Ihr Euch nicht vor der Hölle?«

»Ich hänge mich auf einem Zweige auf, der Kreuzesform hat, um in einem Sakrilegium zu sterben.«

Die schwarze Wolke platzte; schwere Regentropfen fielen herab.

»Ich werde naß,« rief der junge Mann lächelnd, und stieg vorsichtig herab. In der Mitte des Baumes angelangt, ergriff er den herabhängenden Strick, schlang den Knoten um seinen Hals und ließ sich mit ausgebreiteten Armen ins Leere hinabfallen. Die Beine und der Hals wurden steif, den Körper überlief ein Zucken, der oberste Zweig krachte. Aber der Strick hielt, und der Hund, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, begann ein düsteres Geheul auszustoßen. – – –

Die drei Freunde suchten Zuflucht in einer Grotte, während eine wahre Sintflut sich über das zitternde Laub und die glänzenden Felsen ergoß, die Gießbäche zu Kaskaden und Katarakten anschwellen ließ, und Kies, Steine, Felsenstücke heranführte.

»Es war schrecklich, aber was sollten wir thun?« wiederholte Fischart. »Er schien nicht wahnsinnig zu sein, und während Eures Liedes, Readway –«

»Ach mein Lied! Wie lächerlich war ich! Es wäre nur schön gewesen, wenn es gewirkt hätte.«

Ein lang gedehntes Heulen ertönte, den Lärm des Sturmes übertönend. Der Hund fuhr fort, seinen Herrn zu beklagen.

»Der Sturm geht jetzt über den Unglücklichen hin,« murmelte Shakespeare mit vor Bewegung erstickter Stimme. »Der Regen betastet mit seinen hundert warmen, feuchten Fingern diesen Körper, durch den das Blut brauste, in dem die Begierden zuviel Hindernisse fanden. Ich sehe das klägliche, nasse Bündel zwischen dem unerbittlichen Himmel und dem aufgerissenen Boden schweben. Nach und nach nützt sich der Strick ab, und der Leichnam fällt in den Bach, zerschellt an den Felsen; dann schleicht sich ein Wolf heran und macht den Raben dieses Manna streitig.«

»Der Selbstmord ist meiner Ansicht nach das einzige Geschenk, das Gott seinen Kreaturen gegeben hat,« erklärte Fischart. »Hört Ihr das unglückliche Tier? Es jammert noch immer. – Ich kannte einen Philosophen; er war noch jung und so wißbegierig, daß er seine Lehrer erschreckte. Die Arbeit, der Mangel an Religion und irgend eine geheimnisvolle Feder in seiner Natur hatten in ihm ein wunderbares Freiheitssehnen entwickelt. Er litt heftig unter den Gründen, die jeder seinen Bewegungen und Gedanken beilegt, und dieser Schmerz wurde so unerträglich, daß er beschloß, sich seiner zu entledigen, freiwillig zu sterben. Er schritt also inmitten einer großen Menge, – denn jeder wollte seinen Mut bewundern, – dem Meere zu und trat hoch erhobenen Hauptes in die Flut. Er schwamm gegen die Strömung. Noch lange sah man dieses stolze, störrische Haupt über die Wogen ragen; denn er wollte seine Kräfte in den unerschöpflichen Kräften des Weltalls erschöpfen und die Schwelle des Nichts durch das Thor der Energie überschreiten. Endlich verschwand er, und ich weiß sehr wohl, daß die Götter ihn aufgaben; aber indem sie ihn dem rohen Wasser auslieferten, mußten sie wohl diese Heldenseele bewundern.«

»Meine Geschichte ist nicht weniger rührend,« sagte Readway. »Einer meiner Freunde – er war schön, wie eine Sommernacht – wurde von seiner Geliebten betrogen. Als er das erfuhr, trank er Gift, richtete es aber so ein, daß er in den Armen der Ungetreuen starb. In seiner Todesnot fühlte er die Süßigkeit ihrer Lippen lebhafter denn je, und wenn sie in Blicken zu lesen verstand, so wird sie, denke ich, diese Blicke nie vergessen.«

Nun kam die Reihe an Shakespeare. »Einer unserer Nachbarn, ein fröhlicher Mann, hatte zwei Söhne von vier und sieben Jahren,« erzählte er. »Der ältere verbarg sich immer, um zu weinen, und wenn man nach dem Grunde seiner Thränen fragte, antwortete er, daß alles, was lebte, ihm zu unglücklich erscheine. Der Knabe besaß einen außerordentlichen Scharfsinn. Wenn ich mit ihm sprach, verlor ich den festen Boden unter mir, denn seine Reden schienen die eines trübseligen Weisen zu sein. Eines Tages ergriff er eine alte Pistole, legte sie an seine Brust und befahl dem Jüngeren, den Hahn abzudrücken. Der andere hielt es für ein Spiel, gehorchte und stieß einen schrecklichen Schrei aus, als er seinen Bruder mit durchbohrter, blutender Brust niederfallen sah.« –

Als sie die Grotte verließen, war der Abend gekommen. Im Hintergrunde der dunklen Schlucht, unter dem nun unsichtbaren Gehängten klagte der Hund noch immer. Langsam fielen Steine und Blätter herab.

*

In der größten Taverne Bremens befand sich eine zahlreiche Gesellschaft. Seit zehn Tagen hielten sich die drei Freunde in der Stadt auf; seit zehn Tagen hatte Johannes Fischart die Bekanntschaft mit mehreren alten Freunden erneuert, denen er Shakespeare und Readway als die Blüte und die Hoffnung der englischen Dichtkunst vorstellte. Es gab nichts als Bankette, lange, lärmende Orgien, schwerfällige, theologische Diskussionen über Texte, die ebenso kalt waren, wie der beißende Novemberwind, bis irgend ein Fluch, irgend ein Faustschlag, irgend ein durch die Ungeduld eines Widerspruchsvollen zerbrochenes Glas wieder Leben und Besinnung in die Streiter brachte.

William, dessen Kopf vom Trinken bereits schwer war, saß auf einer Bank zwischen Readway und einem Studenten mit einem breiten, blonden Gesichte und betrachtete die Gesellschaft: neben Johannes Fischart saß der schweigsame, rätselhafte Ritter von Riesensturm, der treue Anhänger der Reformation, »einer der tapfersten und loyalsten Herren Deutschlands,« wie der Pamphletist sich ausdrückte. Er hatte die Reisenden eingeladen, nach ihrer Abreise von Bremen einige Zeit auf seinem Schlosse zu verbringen, das sich auf der Straße nach Hamburg in einiger Entfernung von Rothenburg erhob. Die zarten, düsteren Augen glänzten in dem knochigen Gesichte, der aufgedrehte, graue, buschige Schnurrbart unter der gekrümmten Nase hob den Mund mit den schmalen Lippen, und wenn er lächelte, bemerkte man das Blitzen der weißen Zähne. Nicht weit von ihm saß der Prädikant Goetschen mit dem Sokratesprofil, und sein Lieblingsschüler, der Alcibiades genannt wurde. Sie schmähten die Unthaten eines gewissen Hardenberg, dessen Ketzereien früher Niedersachsen erschüttert hatten. Andere Theologen antworteten ihnen, und es kam fast zu Beleidigungen; heftige Anspielungen wurden getauscht, denn die Sitten waren nicht die besten, und die Trunkenheit veranlaßte zweideutige Stellungen, seltsame Blicke, verdächtige Bekenntnisse. Neben Weisen saßen Lebemänner und Narren. Ein eleganter junger Mann, der in nachlässiger Stellung auf einem niedrigen Sitze ausgestreckt lag, wurde wegen seiner Schönheit geneckt; lautes Gelächter mischte sich in lebhafte Repliken, in lateinische Reden. Der Nachbar Shakespeares erzählte ihm mit trunkener Stimme die Geschichte des Doktor Faust. Obwohl die Beredsamkeit des Erzählers seinem Eifer nicht gleichstand, erfaßte der Dichter mehrere Schönheiten, und der Wunsch, diese feurigen oder magischen Episoden zu dramatisieren, ergriff ihn. – »Wenn Karl V. diesen Gevatter des Teufels auffordert, Alexander von Makedonien zu beschwören, so würde ich für diese Unterredung wahrscheinlich die notwendigen Worte finden; das sind die Bilder der Vergangenheit, die die Liebe zum Ruhm in uns erregen, und mit Hilfe von Gespenstern stoßen die Helden einander dem Lichte zu.« Diese Betrachtungen und der Weindunst zerrissen die Sage derartig, daß William in der Folge sich ihrer nur mehr in Bruchstücken erinnern konnte.

Fischart war in seinem Fahrwasser, gestikulierte und lärmte. Er citierte Texte, widerlegte mit Feuer, und sein Sarkasmus beherrschte den Lärm. Von der Politik geriet das Gespräch auf die Litteratur und insbesondere das Plagiat. Einer der Theologen beklagte sich, daß man ihm seine Gedanken gestohlen habe.

»Das sind Schätze, die man nicht forttragen kann,« rief Readway. »Alles hängt von der Form ab. Der Geschmack desselben Fleisches wechselt mit den verschiedenen Köchen. Ich würde nicht zögern, einen bereits behandelten Gegenstand aufzunehmen, meiner Phantasie zu unterwerfen und ihn, falls meine Verse melodischer sind, kraft der Souveränität des Stils als den meinigen zu erklären.«

»Abscheulich!« brüllte Fischart. »Das ist das Raubrittertum mit der Lanze in der Faust. Sollte ich demnach jahrelang ein gutes Argument gesucht und meinen Gegner vor der Flamme meines Zornes auf dem Bratspieß meiner Logik gedroht haben, damit ein haariger Hund mir den duftenden Saft in letzter Stunde aufleckt? Der litterarische Diebstahl ist das größte Verbrechen.«

Shakespeare ergriff die Verteidigung Readway's. »Das Meer und sein Brausen, der Wind und der Orkan gehören aller Welt,« sagte er. »Aber mehr als das Meer und der Orkan gehören die Gedanken insgesamt der ganzen, ungeheuren Masse der Menschen. Wessen Geist schwach oder wirr ist, sieht in ihnen nur Sternschnuppen, und eines Abends durchzucken und verblüffen sie durch Zufall seine Seele. Aber die Dichter und Wahrsager klammern sich an die leuchtenden Phantome und flehen sie an, ihnen ihre Gestalten zu zeigen. Diese Gestalten sind nie gleich, ihre Schatten wechseln ewig. Es giebt kein einziges Bild, von dem man sagen könnte, daß es dem Gehirne eines einzigen entsprungen ist. Jeder, der denkt, steht mit den früheren und künftigen Generationen in ebenso enger Verbindung, als ob er sie umarmte, denn er tritt in einen geschlossenen Ring. Ist der, der sich fürchtet, der einzige, der Furcht empfindet, und wie könnte er seine Angst benennen, wenn andere sie nicht vor ihm empfunden hätten? Darum plündert sich jeder Dichter selbst, ehe er seine Zeitgenossen plündert. Der Satz, den er niederschreibt, ist nur ein Plagiat an den süßesten Geständnissen der Muse.«

In diesem Augenblicke ertönte auf der Straße der schreckliche Ruf: »Feuer! Feuer!«, begleitet von den Tritten vieler Menschen und einem hellen Scheine. Alle stürzten hinaus. Die Sturmglocke heulte. Es war bitter kalt, und der Rauch schoß auf dem feurig roten Hintergrunde noch bleicher in die Höhe. Durch diesen warmen Schein nahm die Architektur der Häuser ein außerordentliches Relief an, und Shakespeare bewunderte geblendet das elegante Spiel der Lichter des Holzes und Gesteines, der Balken, Giebel, Dächer und Portiken, die einer Laune der Glut, gleichsam einer geschüttelten Fackel, zu entspringen schienen. Die zahlreichen, dichtgedrängten Fensterscheiben spiegelten die Flamme wieder, schrille Schreie mischten sich in den Alarmruf der Glocke. Die Bewohner, eilig angekleidet oder im Hemde, flohen aus den Wohnungen, und mehrere, die sich mit Truhen beladen hatten, ließen sie in ihrer Angst fallen, so daß Gold, Juwelen, Spitzen umherflogen. Wenn man sich der Glut näherte, wurde die Luft scharf, erstickend, und das Leuchten nahm zu. Auf einem großen Platze vor dem Flusse stand ein großartiger Palast, der dem Brande zur Nahrung diente. Er besaß eine seltsame Form, denn seine verschiedenen Stockwerke traten nach unten eins hinter dem andern zurück, so daß sie sich in halber Höhe, dort, wo die Balken bereits in einem Funkenregen zusammenbrachen, erweiterten. Geschnitzte Figuren und Allegorieen schmückten den Giebel, sowie durchbrochene Eisengeländer. Schon klaffte ein Riß zwischen einem Silen und Winzern und durchschnitt weiterhin die Beine eines hinkenden Vulcans vor seiner Schmiede. Virtus und Prudentia zerplatzten, die schwerfällige Sapientia schmolz, und rings um den geschwärzten Marmor wurde das Metall der Rampen weißglühend. Von Zeit zu Zeit folgte auf ein schreckliches Krachen ein Lavastrom und fiel ein Stück Fries herab, der Allegorieen aus der Reformations- und Renaissancezeit, der Bibel und Mythologie, heidnische Götter und christliche Tugenden mit sich riß. Die Schiffe waren davon gesegelt, und das Wasser spiegelte die Feuersbrunst wieder, ohne sie zu löschen. Zwischen diesen beiden glänzenden Spiegeln übten die angstverzerrten Gesichter der Bürger eine noch tragischere Wirkung aus. Man schloß das Stadtviertel durch Ketten ab, die Häuser zunächst dem Palast wurden niedergerissen, so daß das Feuer nicht weiter greifen konnte. Ein Gerücht lief um, daß in dem Hause Unglückliche eingeschlossen seien, und man schrieb ihnen ein dumpfes Geheul zu. Dreimal stürzte der Ritter von Riesensturm auf das hohe, purpurrote und krachende Thor zu, und dreimal mußte er, von dem teuflischen Rauche nahezu erstickt, zurückweichen. Er rannte wie zum Sturm an und kehrte mit verbranntem Haar, scharlachroter Wange und schweißtriefender Stirne zurück. – Dicht neben William murmelte eine Stimme: »Wie schön ist der Mut!« – und man mußte Readway zurückhalten, der das tolle Wagnis ebenfalls versuchen wollte.

Fischart trat entzückt und bebend auf Shakespeare zu. »Seht Ihr die Kühnheit dieser Flammen? Gleich der Zeit verzehren sie alles – das Werk Italiens, die Körbe mit Weintrauben, die zarten Blätter und die üppigen Göttinnen – das Werk Deutschlands, die strenge Scholastik. – Tritt nicht die Kraft der Stadt, der Kunst und des Glaubens dank dem verwünschten Feuer deutlich und glorreich zu Tage?« Shakespeare schwieg. Er horchte auf das Fallen der Steine, das wechselnde Geräusch, das einförmige Läuten der Sturmglocke. Er betrachtete die ungeheuren, hochroten Flammen, die von Zeit zu Zeit von dunkeln Streifen durchzogen wurden, den glühenden Fluß und den Himmel, die seltsamen Umrisse der alten Nachbarhäuser. Der Hauch des Unheils ließ seine Seele erzittern.

Infolge [des Mangels an] Nahrung erlosch die Feuersbrunst. Wirbel von Ruß, Asche und braunem Rauch drangen aus den Ritzen der schwankenden, geschwärzten Mauern, durch die blind gewordenen Fenster hervor, aber der Himmel wurde dadurch nicht verdüstert. Die späte Dämmerung des Wintermorgens erhob ihr bleiches, eisiges Antlitz über den Trümmern, und über die noch roten Feuerbrände begann in tollen, weißen Flockenschwärmen der erste Schnee zu fallen.

Es war bereits eine Woche her, seit Fischart, Shakespeare und Readway in Hamburg in einer Wohnung lebten, die sich neben der des Gelehrten Ermanius, eines vertrauten Freundes des Pamphletisten, befand. William hatte für diesen unermüdlichen Gelehrten, für diesen kräftigen Greis mit dem viereckigen Gesichte, der nachdenklichen Stirne, den forschenden, blinzelnden Augen, dem fortwährend belehrend erhobenen Zeigefinger eine lebhafte Leidenschaft erfaßt, und statt die Stadt zu durchschweifen, wie er es in Amsterdam und Bremen gethan, verbrachte er seine Tage und Abende in der Arbeitsstube des Alchemisten. Diese Stube hatte etwas von der Hölle und einer Bibliothek, einer Menagerie, einem Misthaufen und einem Laboratorium an sich. Das sehr lange, aber schmale Gemach ward von zwei niedrigen Fenstern mit kleinen Scheiben erhellt und enthielt eine zahllose Menge staubiger Pergamente und zerrissener Manuskripte, aus denen, sobald sie geöffnet wurden, ganze Horden von Kakerlaken auseinander stoben, Zauberbücher, die mit seltsamen Figuren und symbolischen Siegeln geschmückt waren, Leinwandstreifen, auf denen sich die Ziffern und Zeichen der Kabbala hinzogen. Auf einem riesigen Ofen von wunderlicher Form standen Retorten, Mörser und Rezipienten aller Art; ein alter Schrank enthielt eine Armee winziger Phiolen, Fläschchen mit Gift, Balsam, Salzen, magische Substanzen, deren Etiketten nach geheimnisvollen Gesetzen beschrieben waren. Neben einer Wage stand ein Aquarium mit Fischen, eine Sammlung von Kräutern und Farnen. Ein Vogelkäfig hing über einem Korbe voll Algen, in dem schmutzige Krustentiere wimmelten. In der Stube befanden sich auch ein Werktisch, zwei Kompasse, eine Kiste voll glänzender Marterinstrumente, andere voll Mineralien und kostbaren Steinen, mehrere Violinen und Flöten von verschiedener Größe, Landkarten, Modelle von Häusern und Schiffen, eine vollständige Serie von Glaslinsen und krummen, konkaven, oder konvexen Spiegeln, die dieses Chaos reflektierten und seinen sonderbaren Eindruck noch erhöhten. In fünf Karren, die derart gebaut waren, daß ihre Bewohner mit hocherhobenem Kopfe vor einer kleinen Eßschale auf den Hinterbeinen stehen bleiben mußten, sprangen zwei junge Hunde, ein sehr mageres Känguruh und ein haariger Affe umher. Von der Decke herab hingen drei flache Kisten, in denen sich eine Ladung Reptilien befand. Was die Insekten betraf, so tummelten sie sich hinter den Wänden einer in Fächer geteilten Vitrine. Zu ihrem Heil waren die Arten der Spinnen von den Termiten und die Bienen von den Schaben und Flöhen getrennt. –

An dieses mittlere Studierzimmer reihte sich eine Anzahl von Höhlen, die Experimentalzwecken dienten; dort blieb der Gelehrte manchmal den ganzen Nachmittag, eine ganze Nacht eingeschlossen, von dort trat er mit hochgerötetem und freudigem Antlitze wieder heraus.

Aus dieser Anhäufung lebender oder verwesender Wesen, diesem Gewirre verschiedenartiger Stoffe stieg ein seltsamer, aus Alkohol, Zersetzungsgasen und Essenzen bestehender, betäubender Geruch auf. In dieser erstickenden Luft nun bewegten sich und arbeiteten, emsig und schweigend, die Frau des Ermanius, Gertrude, eine von ihrem berühmten Gatten terrorisierte, zarte Person mit einem Ameisengesichte; die sechzehnjährige Tochter Hilda, die, kühn und störrisch, ihrem Vater glich, und die zwei Söhne Wilhelm und Ernst, vierundzwanzigjährige Zwillinge, an Zügen und schüchterner Haltung ihrer Mutter gleich; und endlich, in Bewunderung und Bescheidenheit ersterbend, der Jünger Rüdberg, der wegen seiner runden Augen, krummen Nase und gewölbten Stirne »die Eule« genannt wurde. Dieses ganze Personal führte die Befehle des Meisters aus, reinigte die Käfige, gab den Tieren zu fressen, bereitete die Arbeiten vor, schnitt, klebte, sägte, schnitzelte von der Morgen- bis zur Abenddämmerung. Wenn die Nacht herabsank, und die Oeldochte angezündet wurden, nahm die Wohnung etwas Phantastisches an. Die Tiere stießen, teils mit der Regelmäßigkeit einer Uhr, teils in längeren Zwischenräumen ihre verschiedenartigen, düsteren und klagenden, oder kurzen und schrillen Schreie aus, so daß es wie Klappern, knirschende Räder und Schellen klang.

»Kommt, ich führe Euch in den Circus,« sagte Ermanius zu Shakespeare. Er zog ihn mit sich in die Verschläge und warf mit Hilfe einer starken Vergrößerung den aufregenden Kampf zweier Spinnen auf eine weiße Leinwand. Die Tiere beobachteten sich zuerst lange, indem sie als Zeichen der Unruhe einen Fuß bewegten, und man konnte ihre ungeheuren Köpfe, ihre haarigen Leiber und ihre Augen unterscheiden. Dann stürzten sie auf einander los, und so wie man Gänseblumen entblättert, zerrissen und zerpflückten sie sich gegenseitig die zum Gehen, zum Berühren und Ergreifen dienenden Fühler. Heroisch wandten sie alle nur möglichen Listen, alle Grausamkeit an, und der Tod ergriff sie entweder zusammen, oder die erschöpfte Ueberlebende schleppte sich in furchtbarem Todeskampfe dahin, während dicke Blasen aus ihrem zerquetschten Bauche hervortraten. – Dann brach Ermanius in ein düsteres Lachen aus. Er ersetzte die Kämpfer durch ein paar Blattläuse, durch kriegerische Ameisen, Flöhe und Asseln, kleine Ungeheuer voll Kämmen, Augen, Fühlern und Kiefern, die unter der Lupe sich hin und her bewegten. Manchmal ergriff er einen großen Hummer, und legte einen kleineren zwischen seine Scheeren. Der Riese drehte den Zwerg hin und her, als wollte er ihn streicheln, umarmte, drückte ihn ans Herz, und man hörte das feuchte Klatschen der Kiemen. Dann stieß er dem Kleinen plötzlich mit einer jähen Bewegung seine unbeugsamen Speere mitten in den Bauch und riß, die Scheeren als Hebel benutzend, das Opfer auseinander.

Diese grausamen Schauspiele entsetzten Shakespeare, enthüllten ihm aber die Grundbosheit dieser Welt, in der auch die geringsten Kreaturen nur von Vernichtung und Mord träumen. Er horchte auf die feierliche Stimme Ermanius' und seine atheistischen Reden, die Fischart verspottete, obwohl er sie bewunderte. »Kein Gott regelt diese Kämpfe; sie dienen nicht einmal dem Leben. Denn es suchen sich Arten zu zerstören, die keinerlei Besitz, keinerlei Wünsche oder Bedürfnisse gemeinsam haben. Was die Natur beherrscht, das ist die Liebe zur Vernichtung.« Er erhob seinen prophetischen Zeigefinger: »Demzufolge ist die Grausamkeit die Schwester der Neugierde oder Wißbegier, und wenn Eure Blicke Schrecken verbreiten, weiß ich, daß die Weisheit in Euer Gehirn dringt. Im gewöhnlichen Zustande stehen wir wie blind oder unfähig inmitten der Dinge. Für unsere Sinne giebt es Oberflächliches, Verschlossenes und Verborgenes, aber das Geheimnis muß mit Gewalt entschleiert werden; das Sichtbare und Unsichtbare muß gemartert werden. Der Schrei wird ein Geständnis, das fließende Blut eine Inschrift sein. In der letzten Gebärde liegt eine ganz andere Beichte, als die verfluchten Priester glauben.«

In der That bethätigte er seine Neugierde in überraschendster Weise und ging mit schwindelhafter Schnelligkeit von dem, was er seine Gedankenexperimente nannte, zu seinen Thatexperimenten über.

Die Begeisterung Williams schmeichelte ihm. Er interessierte sich auch für die Poesie, »wie für einen Zweig des allgemeinen Rhythmus.« »Ich selbst habe den Rhythmus unter all' seinen Formen, Masken und Kostümen verfolgt,« setzte er hinzu. »Die Kraft, die uns zur Erde zieht, hat einen Rhythmus.« Wenn er ein Argument entwickelte, wiederholte er gern die Worte. »Sie will die Wesen auf ihrer Oberfläche sich überkugeln und dahinwälzen lassen. Sie zerfällt daher in zwei Kräfte, von denen die eine anzieht, die andere abstößt. Wenn es sich um den Vierfüßler handelt, so wendet sich die abstoßende Kraft an die Vorderbeine, und die anziehende an die Hinterbeine. So richtet er sich nach und nach auf und daher kommt die gerade Haltung des Menschen. Der Affe, das Känguruh gehen ebenfalls diesen Weg und früher oder später werden sie am Ziele anlangen. Was den Vogel betrifft, so hat die abstoßende Kraft ihn fortgetragen und darum erfreut er sich des Fluges. Die Freiwerdung der Vorderglieder hat das Berührungs-, das Gestaltungsvermögen zur Folge. Die Nervenleiter geben dasselbe dem Gehirn weiter, wo es dem Seh-, Denk- und Hörvermögen begegnet; daraus resultiert die Sprache, die die Fische nicht besitzen, weil ihre Körper horizontal sind, die jedoch der aufrecht auf seinen Füßen stehende Papagei und eine unendliche Zahl von Vögeln besitzt, welche außerdem noch des Gesanges, der melodischesten Künste, fähig sind. Rüdberg, Gertrud, Ernst, Wilhelm, bringt mir meine Karren! – Betrachtet diese beiden Hunde, diesen Affen, dieses Känguruh. Ich will sie reden lehren, indem ich sie zwinge, auf ihren Hinterbeinen stehen zu bleiben. Sie lieben diese Stellung bereits; in fünf oder in zehn Jahren werden sie Silben aussprechen. Ich brauche weder einen guten noch einen bösen Gott, um die Ursache der Sprache zu erklären.«

Nach einer dieser langen Demonstrationen erging sich der Redner, um sich auszuruhen, in einer Reihe von Lästerungen und Schmähungen seines Jüngers und der Vorsehung, die Fischart in gute Laune versetzten, aber den für wissenschaftliche Theorien wenig empfänglichen Readway empörten. Beide verließen das Laboratorium, durch das die schmächtigen Schatten der Frau, der Söhne und Hildas sich hin und her bewegten. Eine seltsame Anziehungskraft hielt Shakespeare zurück; außerdem kamen ihm einige Gedanken des Greises höchst philosophisch vor. »Wenn Ihr Dramen schreibt, so bedenkt wohl, daß es ein allgemeines Gesetz giebt,« erklärte Ermanius ernsthaft. »In einem ewigen Gebilde muß jedes Bruchstück das Bild des Ganzen reproduzieren. So verhalten sich auch die Atome. Von diesem Prinzipe ausgehend, habe ich eine neue Geometrie, eine neue Alchemie und Astronomie entdeckt. Betrachtet diese Figur: Es ist ein großes A das aus lauter kleinen A's besteht. Es besitzt Eigenschaften, die die anderen Buchstaben nicht besitzen. Ich studiere sie gegenwärtig. Dasselbe ist der Fall bei einem Kreise, dessen Umfang aus Kreisen gebildet wird, und bei einem Vierecke, dessen Seiten aus Vierecken bestehen.« –

Der Gelehrte citierte Texte, die seit Jahrhunderten in Vergessenheit versunken waren, wunderliche sonst unbekannte Schriftstellerromane, »Schnecken, der Ohrschnecke angepaßt.« Er kannte alle Metamorphosen, denen die Pflanzen, Bäume, Felsen, Reptilien, Schmetterlinge unterworfen sind, stellte das Leben über die Bücher und hatte die Sitten aller Stämme und Gattungen, die verschiedenen Charaktere studiert, die ihren Ursprung im Blut, im Fett, in der Magerkeit und in der vorwiegend knochigen Beschaffenheit haben. Er hatte sich ein Alphabet der Leidenschaften gebildet, berechnete nach mathematischen Gesetzen ihren Konflikt und ihre Vereinigung, ihre Summierung und Auflösung. Er erfand neue Gefühle, denen er erstaunliche Namen beilegte. So bildete, ihm zufolge, die Schüchternheit, wenn sie sich der Unzucht und dem Hasse zugesellte, die Erminthe, ein Wort, über dessen Etymologie er Schweigen beobachtete. Auch rühmte er Shakespeare einen Helden, der durch eine Mischung von Eifersucht, Gewissensbissen und Angst bewegt wird. Was Gespenster, Geister, Erscheinungen, Phantome betraf, so äußerte er sich skeptisch über sie und behauptete, daß die Verwandlung eines Menschen in einen Esel sich täglich ohne Wunderthäter vollziehe. Er verschmähte das Suchen nach dem Steine der Weisen, sowie die gewöhnlichen Beschäftigungen der Alchemisten, die er anmaßliche Ignoranten schalt. Und plötzlich tauchte inmitten dieser Träume, dieser Hirngespinste, dieser sibyllinischen Improvisationen, dieses Aufschwunges zum Lichte, zur Grausamkeit, zur Gottlosigkeit und zum Sakrilegium, inmitten dieser erhabenen oder albernen Paradoxa, eine heitere Anschauung der Zukunft auf, ein wunderbares, vernünftiges und prophetisches Axiom, eines jener Worte, die nur ungewöhnlichen Seelen entstammen können. Dann falteten Frau, Kinder und Jünger mit verzückter Miene die Hände; William aber empfand in dieser überheizten Atmosphäre, die mit allerlei Tierstimmen, mit kriechenden, zischenden, krächzenden und gackernden Gestalten angefüllt war, einen wahren Schaffungstaumel und glaubte, der Bildung eines neuen Planeten beizuwohnen, dessen Urgrund und Bestimmung ein langhaariger Gott ihm enthüllte.

*

Eines Morgens nahm Fischart Shakespeare beiseite. – »Hört, Readway und ich beklagen uns darüber, daß Ihr uns vernachlässigt. Ihr seid nicht zu entschuldigen, denn die Trennung naht heran. Dieser Teufel von Ermanius zieht Euch an sich; es thut mir leid, Euch mit ihm bekannt gemacht zu haben. Sein Haß gegen die Theologen und die katholischen Priester unterhält mich, aber er ist ein alter Narr, und die Metaphysik wiegt nicht das Leben auf. – Kommt, ich will Euch etwas anderes zeigen, als seine Hummer und Kakerlaken.«

»Gewiß, ich schluckte meinen Zorn und meine Eifersucht schweigend hinunter,« fügte Readway hinzu. »Glaubt Ihr, daß ein verpestetes Laboratorium der richtige Aufenthaltsort für einen Poeten ist und daß ein Ausstopfer von Vögeln, ein Mörder von Goldfischen nicht den Strick oder den Stock verdient?«

Sie begaben sich in die Stadt, die ein Nebelnetz umfing. Zuerst kamen sie durch ein ärmliches Stadtviertel. Die hohen, hölzernen, dicht aneinander gedrängten Häuser schienen einander warm zu halten, denn es war sehr kalt, und das Wasser war gefroren. Längs der offenen, malerischen Balkons, um die der Nebel spann, spielten magere Kinder, und hingen Weiber Wäsche auf. Auf einer alten, flachen Barke setzten sie über einen engen Arm der Elbe. »Wenn das so weiter geht, wird sie bald schiffbar werden,« sagte der Fährmann, indem er auf die gelben, fast öligen Wasser deutete. Sie befanden sich jetzt in breiten, ganz anders gearteten Straßen. Massive Steinbauten traten an Stelle der Baracken. Shakespeare sehnte sich nach Amsterdam zurück. »Hamburg besitzt auch einen mächtigen Zauber,« antwortete Fischart, der ein großer Städteliebhaber war; »aber es bedarf längerer Zeit, um ihn zu empfinden. Wenn Ihr, statt an den verpesteten Homilien des Ermanius Gefallen zu finden, die Gemäuer vorhin betrachtet hättet, würdet Ihr diese Architektur aus Eichen- und Tannenholz mit ihren durchbrochenen Giebeln, ihrem Spitzenwerk aus Balken, Rampen, Geländern und äußern Treppen, die sich im Zickzack bis zum Giebel ziehen, bewundern. Der Nebel überzieht diese Labyrinthe wie ein feiner Rauch; er liebkost sie, entzieht sie unseren Blicken und giebt sie uns dann stückweise wieder, so daß man meinen könnte, einem Spiele der Wirklichkeit und des Traumes beizuwohnen.«

Shakespeare erinnerte sich plötzlich, daß er in seinem Quersacke einen Brief des Ritters John an einen Gastwirt in Hamburg habe. Ohne seinen Freunden etwas zu sagen, erkundigte er sich nach der Herberge »zu den drei Kronen.« Er fand dort den Zwerg, dessen Stirn, den Angaben des seltsamen Spaniers zufolge, eine ungeheure gelbe Warze trug, und kaum hatte er die geheimnisvollen Worte » semper olim« gesprochen, so hieß er ihn sehr freundlich niedersetzen. –

»Ihr kommt von Rotterdam?«

»Ich war dort im August!«

»Wie befand sich der Ritter?«

»Vortrefflich!«

»Gott sei gelobt! Kennt Ihr nicht die mit den Buchstaben A. B. C. bezeichnete Person, an die er Euch weist?«

»Nein, ich rechne darauf, daß Ihr mir über sie Auskunft gebet.«

Der Gnom näherte sich dem Dichter und flüsterte ihm ins Ohr: »Es ist ein gelehrter Weiser in Hamburg, der Ermanius genannt wird; jedermann wird Euch seine Wohnung zeigen. Er gilt für einen unverbesserlichen Atheisten. Das ist seine Rolle; in Wirklichkeit hängt er gleich mir den Jesuiten an, dient dem Orden in bewunderungswürdiger Weise, verkehrt mit den wütendsten Reformatoren, erkundigt sich nach ihren Plänen, gewinnt ihr Vertrauen und stattet dann seine Berichte ab. Ihr könnt Euch ihm ohne Hintergedanken anvertrauen. Die Empfehlung des Ritters John ist allmächtig.«

William zögerte nicht, dieses seltsame Abenteuer seinen Freunden zu erzählen. Die Ueberraschung des Pamphletisten war ungeheuer. »Die Kanaille, der Bandit« schrie er. »Er hat mich mit seinen Lästerungen und Tiraden gegen die Katholiken wirklich zum Narren gehalten! Wer hätte das gedacht! – Nun, er wird seine Lektion bekommen!«

»Mich wundert es nicht,« murmelte Readway. »Jeder Gelehrte trägt den Keim zu einem Schurken in sich. Die Natur rächt sich an ihren Schändern, während sie ihre sanften Geliebten, die Dichter, mit Tugenden überhäuft.« –

Der Brief an A. B. C., den sie entsiegelten, ließ keinen Zweifel mehr übrig. – In lateinischer Sprache geschrieben, begann er mit den Worten: »Mein vielgeliebter Bruder in Jesus Christus! Ich habe Eure wertvolle Auskunft erhalten« – und schloß mit folgenden: »Dies sind hiemit Eure Instruktionen. –«

Am nächsten Tage erschienen die drei Gefährten bei Ermanius. Der Ofen schnaubte, die Temperatur war erstickend. Der Gelehrte setzte eine kleine, mit einer glänzenden Flüssigkeit gefüllte Phiole der Hitze aus. Seine Frau, die Kinder und der Jünger Rüdberg zogen die Kiste mit den Reptilien an einer Winde in die Höhe. Einer der gefangenen Hunde bellte.

»Spioniert Ihr also noch immer?« rief Fischart heiter.

Der Greis drehte sich um. »Ich suche die Dichtigkeit einer neuen Flüssigkeit.«

»Ah, was für eine Flüssigkeit ist das? Jesuitenblut? In diesem Falle behaupte ich, daß es stinkt.«

Der Gelehrte machte eine instinktive Bewegung des Erstaunens. Dann zwang er sich, zu lachen.

»Elender Verräter!« sprach der Pamphletist rauh. »Danke es deinen weißen Haaren, daß dein Schädel ganz bleibt. So hast du also für deine verfluchten Kameraden die geringsten Worte Fischarts aufgefangen und meinen Scheiterhaufen vorbereitet? Aber er ist noch nicht angezündet, du Schweinemist! Und das kannst du ihnen auch sagen, wandelnder Schmutz, Leichenfett, Lump!«

Bei diesen Schmähworten, die der Pamphletist mit wütender Stimme brüllte, liefen Gertrude, Hilda, Wilhelm und Ernst herbei und flehten Shakespeare und Readway an, ihren Freund zurückzuhalten, ihrem Gatten und Vater nichts Böses geschehen zu lassen. Rüdberg begann, seinen Eulenkopf zwischen seinen ungeheuren, von den Säuren zerfressenen Händen verbergend, zu weinen, und man hörte sein Schluchzen.

Ermanius legte seine Phiole sorgsam nieder und verschränkte die Arme. »Ruhig, Weiber! Ruhig, Kleiner! Diese Herren werden mich nicht töten, und Euer Lärm ist demütigend. Ich bin also entdeckt!«

»Lump!«

»Offenbar ist mein Titel Jesuit nicht dazu angethan, Euch zu gefallen!«

»Pfaffengezücht!«

»Es ist auch klar, daß Eure Schimpfworte an meiner alten Haut wie Oel hinabgleiten. Ich bin Euch widerwärtig: das gestehen Eure Mienen offen. Gut, es sei; aber unter klugen Männern kann man aus allem Nutzen ziehen. Der Zufall hat Euch meine Schmach enthüllt. Laßt Euch meine Schmach erklären!«

Fischart war außer sich. »Das ist köstlich! Ich versichere Euch, edle Frau und Fräulein, ich werde seine verpestete Haut auch nicht von weitem anrühren. – Mach, du Edelstein, entwickle deine Argumente!«

»Aber beeilt Euch, denn ein Verräter muß sich kurz fassen,« fügte Readway hinzu.

»Ein so schöner Geist,« rief Shakespeare, die Arme zum Himmel erhebend.

»Gerade deswegen, junger Mann! Das hat mich eben ins Verderben gestürzt. Ich bin mir meines Verstandes bewußt. Ich mußte ihn, mich und diese hier ernähren. Die Jesuiten haben mich verführt; sie besitzen Gold, und ich war schwach. Im Grunde meines Herzens bin ich ein Atheist. Wenn ich lästere, bin ich aufrichtig; das scheint meiner Maske zu dienen und ist doch aufrichtig. Ich schminke mich als das, was ich bin; außerdem habe ich die Schmach studiert. Welch ein Zauber liegt in ihr! Durch die Vereinsamung, die Konzentration, die Unruhe unterstützt sie das Wissen und reizt die Energie wie eine Begierde. Während ich über meine Oefen gebückt stand, mitten unter den Experimenten gefangener Tiere, dachte ich an mein doppeltes Gesicht. Ich wußte, daß ich entdeckt werden würde, denn das geschieht immer. Ich hörte im Voraus die Zornausbrüche Fischarts, und so haben sie mich jetzt nicht überrascht. Ich betrachtete mich selbst mit Ekel, aber gerade dann ist man am hellsehendsten. Versteht Ihr mich? Kein einziger, moralischer Gedanke störte mich mehr in meinen geheimen Betrachtungen; getrennt von der Welt, wie auf einer Insel, inmitten einer geheimen Schmach lebend, bediente ich mich ihrer, um die Weltseele zu erforschen. Die Ehrerbietung meines Jüngers hob meinen Stolz, denn es ist schön, wenn ein Mensch sich vor einem Schandfleck demütigt. Ich schwöre es Euch, Ihr Herren, im Verrat liegt ein gewisser Wohlgeschmack!«

Diese Worte, und der Ton, der sie belebte, besänftigten Fischart. Seine Wut machte einem Streitbedürfnisse Platz, das der Grundzug seines Charakters war. »Um diese faulen Freuden zu kosten, bedurftest du nicht der Wirklichkeit. Der Dichter Shakespeare wird dir erklären, daß eine doppelte oder rein imaginäre Heuchelei dafür genügt.«

»Der Dichter Shakespeare besitzt eine seltsame Fähigkeit. Er paßt sich wie ein vollendeter Schauspieler den Gefühlen an, ohne ihnen zu erliegen. In diesem Augenblicke lese ich in seinen Augen, daß er sich mit meiner Schmach umkleidet. Ich aber muß mit meiner Persönlichkeit für meine Gefühle zahlen.«

»Würdest du aus Neugierde ein Verbrechen begehen?«

»Wenn diese Tiere sprechen könnten, würden sie an meiner Stelle antworten. Menschen werden wieder geschaffen, Johannes Fischart, aber die Natur kann man nicht jeden Tag zwingen, ihren Leib zu zeigen. Ich habe den Leib der Natur gesehen; aber sie zeigte sich mir nur, weil ich mich im Zustande der Schmach befand. Sie erscheint auch dem Mörder, während er den Dolch hebt oder das Gift eingießt; im Rausche seiner verbrecherischen Leidenschaft dringt er tiefer in sie ein, als der größte aller Dichter. Aber er verbraucht seine Kraft in Gewissensbissen. Hast du dich gefragt, warum die Wissenschaft Blut will, warum meinesgleichen unerbittliche Blicke besitzt? Mein Lieber, wir stehen außerhalb des lebendigen Gesetzes, wir sind die Diener des Todes. Ein angenehmes Leben fordert Unwissenheit. Man belehrt sich nur durch Blutvergießen, das sich oft verhüllt. Die Waffen, die in unserem Laboratorium, die Waffen, die durch unsere Bücher und Theorien geschmiedet werden, treten erst nach Jahrhunderten in Aktion.«

»Leb' wohl, Verräter! Wir verachten dich, aber du hast uns interessiert.«

»In meinen Augen giebt es kein höheres Lob. – Herr Shakespeare, ich bedauere es sehr, daß wir uns so plötzlich trennen müssen.«

»Ich bedauere es ebenfalls. Möge nicht auch Eure Schmach eine bloße Maske sein.«

Rüdberg hatte aufgehört, zu winseln; die Kinder und die Mutter waren wieder an die Arbeit gegangen. William, Fischart und Readway verließen den schändlichen Ort. –

*

Einige Tage später, am Vorabende des Weihnachtstages saßen alle drei, ein jeder auf seinem Bette, in einem Zimmer einer kleinen Herberge in der Nähe von Kiel. Dort sollte Readway sich am nächsten Tage mit seinem Nebenbuhler schlagen. Es war Abend und keinerlei Geräusch belebte den Ort.

»Ich öffne das Fenster,« sagte Shakespeare. »Wenn es auch kalt ist, werden wir doch leichter atmen.«

Der reine Nachthimmel glänzte vor Sternen. Ihr funkelnder Schein fiel auf die schneeige Fläche; man unterschied ein kleines Fichtenwäldchen, ein Stück Wiese, den Eingang des Dorfes; in der kalten Luft schwebte ein Geruch von Salz.

Readway stieß einen tiefen Seufzer aus. »Seit einem Jahre habe ich Olof herausgefordert, seit einem Jahre bereitet jede Stunde mein Schicksal vor. »Er soll leben!« ruft der Schiedsrichter und bezeichnet meinen Gegner mit einem schwarzen Kreuz; »er soll aufhören, Verse zu schmieden!« und das Kreuz erhebt sich unter meinem Namen – Nun, ich will mein Ohr diesen Omen verschließen. – Ihr habt also die Absicht, Shakespeare, bis nach Kopenhagen zu gehen?«

»Gewiß, und ich hoffe, Euch als Reisegefährten zu behalten.«

»Für den entgegengesetzten Fall – denn Olof ist tapfer und grausam, – übergebe ich Euch hier einen Brief für meine süße Dame Helmi von Fulkenstein. Ich bitte Euch, ihn ihr eigenhändig zu übergeben und das Auge abzuwenden, wenn eine Schwäche sie überkommt. Mein eifersüchtiger Schatten will dieses Schauspiel für sich allein haben.« –

Fischart hatte seine mürrische Miene angenommen, wie immer, wenn er besorgte, gerührt zu werden. »Was mich armen Pamphletisten betrifft, so werde ich auf jeden Fall meine zwei Poeten verlieren. Die Tage der Abenteuer werden rasch vorüber sein – der unversöhnliche Winter verscheucht den warmen Hauch der Freundschaft.«

»Werdet Ihr uns also vergessen?«

»Niemals! Ich werde Eure Stimme hören, Eure Gestalten vor mir sehen. Wir konnten so gut miteinander lachen!«

»Eure ersten Worte bei jener lärmenden Mahlzeit im Hause Doelens zogen mich an. Ich liebte Euch sofort. Dann verließen wir Amsterdam, durchzogen Friesland, und an den Ufern der Ems erschien ein roter Ritter.«

»Das war ich! Ehe ich noch Eure Namen kannte, bewunderte ich Eure Gesichter, von denen eine Flamme ausstrahlte.«

»O göttliche Kraft der Liebe,« murmelte Shakespeare. »Sie schlägt die geheimsten Wege ein und dringt in die rebellischesten Geister. Manchmal entscheidet eine richtige Bewegung, ein hochherziger Ausruf, ein Druck zur rechten Zeit über eine große Neigung. Wenn Readway während eines Gespräches meinen Arm ergreift, fahre ich zusammen und empfinde, wie teuer er mir ist. Niemand hat es so gut verstanden, meiner Eigenliebe zu schmeicheln, wie Ihr, Fischart, und zwar nicht durch derbe Komplimente, sondern weil Ihr einen jungen Mann als Euresgleichen behandeltet. Euer Ruhm umgiebt Euch, wie ein Glorienschein, ohne Euch zu berühren. Ach, wer diese männliche, diese zarte Liebe je durch stolze und schmeichelnde Verse veredeln könnte!«

Readway schritt ans Fenster. »Ja, alle diese Dinge und die Sterne, die ganze Schönheit der Erde! Glücklich, wer fühlt und seine Begeisterung ausdrücken kann; glücklich, wer beim Hinaustreten aus der brennenden Welt, sich in den frischen Wassern der Poesie badet! Herrliches Schweigen der Freundschaft, wenn wir Seite an Seite einherritten, wenn jeder Pfad eine Ueberraschung barg und unsere stummen Gedanken sich durch Blicke begegneten.«

*

Auf einer großen, von Fichten umgebenen und von weißem, frischgefallenem Schnee bedeckten Lichtung stieg Readway vom Pferde, begrüßte seinen Gegner, nahm den roten Mantel ab, den er zusammen mit seinem Federhut einem Diener übergab, und blieb dann, ganz in Schwarz gekleidet, ohne Panzer, barhäuptig, das zarte Antlitz vom Dezemberwinde gepeitscht, wartend stehen, bis der Ritter bereit war.

Dieser war groß, kräftig und trug ein dunkles Wams. Fischart und Shakespeare, die in einiger Entfernung standen, bemerkten seine rohen Züge, seine kalten Augen und seine starken Muskeln. Kein Freund war bei ihm. Unter den Bäumen hielt ein Diener seine feurige, braune Stute. –

Obwohl der Nachmittag noch nicht vorgeschritten war, fiel nur ein schwaches Licht von dem trüben, gelben Himmel, und als die Degen aus der Scheide fuhren, erhellte ihr Glänzen den Raum. Die frische Schneedecke war dünn, trotzdem hinderte sie die Kämpfenden. Sie schritten vorsichtig, mit festen Blicken und erhobenen Degen aufeinander zu. Der erste Zusammenstoß zeigte die Geschicklichkeit Readway's und die Kraft des Ritters, denn dieser glitt durch eine geschickte List des Dichters aus und verlor beinahe das bereits gewonnene Terrain. Der neue Angriff war umso hitziger; sie griffen einander Körper an Körper an. Man sah, wie sie sich um sich selbst drehten, nach vorwärts, rückwärts sprangen und dann plötzlich inne hielten. Olof war im Gesichte verwundet; das Blut sprang hervor, aber er deutete durch eine Gebärde an, daß die Sache wenig Bedeutung hätte, faßte Schnee in beide Hände und wusch die Wunde kräftig damit aus. Aus der Ferne gab ihm diese Schramme den Anschein, als lache er. Nun aber flammte ein wilder Zorn in ihm auf, und sobald er das Eisen seines Nebenbuhlers spürte, stürzte er mit einem Siegesgebrüll vorwärts. Der gerade, furchtbare Stoß traf Readway mitten in die Brust. Er ließ Clorinde fallen und sank in die Knie. Fischart und Shakespeare stürzten herbei. Sie hielten ihn anfangs bei den Armen empor, dann aber ließen sie ihn auf den geröteten Hermelin des Bodens gleiten.

»Das ist das Ende,« stöhnte er mit pfeifender Stimme – so jung – ich wußte es – das wahre Glück gehört dem Mittleren. – Ah, Killekroff! – Ein anderes Glück – lebt wohl, Kameraden – lebt wohl, mein künftiger Dichter – leb wohl, Leben, schönes Leben, und Ihr, meine Vielgeliebte, meine Hel –, für die – oh –«

Man brachte ihm zu trinken. Er öffnete einen Augenblick seine grauen, goldgesprenkelten Augen, in denen unendliche Schwermut lag. »William, vergeßt nicht meinen Brief. – Nehmt auch den Degen, Robin –«. Er stammelte noch ein paar unverständliche Silben, dann fühlte Fischart, der seinen Kopf hielt, daß derselbe kraftlos herabhing, und die herrliche Seele des Dichters schwang sich zu den bitteren Träumen der Ewigkeit auf. –

*

Sie begruben ihn noch am selben Abend auf dem kleinen Kirchhofe in Kiel, am Ufer des brausenden Meeres. Ganz in der Nähe ertönte das wüste Klagen eines betrunkenen Totengräbers, und in der Richtung des Dorfes, auf dem Schnee flimmerten die Weihnachtslichter, tönte der Jubel der Tänze und Lieder. Shakespeare stieß das Schwert Clorinde bis zu dem kreuzförmigen Knauf auf Readway's Grab in den Boden. Die Seele des Dichters war düster und verödet. Fischart berührte seine Schulter. »O, die Qualen der Freundschaft! Erbärmliche Stunde, wo der Elende, stolz auf den Mord dieses Helden, wieder zu Pferde steigt.« –

»Der grausame Raum wird sich mit seinen wechselnden Himmelsstrichen zwischen uns legen,« antwortete William. »Aber an diesem kaum entstandenen Grabe, neben ihm, den wir wegen seiner tapferen Anmut anbeteten, umarme ich Euch, Johannes Fischart, und wir wollen seinen Geist umarmen, damit dieser Augenblick unsterblich werde.«


 << zurück weiter >>