Alphonse Daudet
Numa Roumestan
Alphonse Daudet

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Neunzehntes Kapitel.

Hortense Le Quesnoi.

Durch eine jener plötzlichen, überraschenden Wendungen, wie sie in der parlamentarischen Komödie so häufig vorkommen, trug die Kammersitzung des 8. Januar, die bestimmt schien, das Glück Roumestans zu zertrümmern, demselben einen glänzenden Triumph ein. Als er die Tribüne bestieg, um die scharfe Satire Rougeots über die Verwaltung 129 der Oper, die Mißwirtschaft im Bereich der schönen Künste, die Nichtigkeit der von den Lohnschreibern des pfäffischen Ministeriums ausposaunten Reformen zu beantworten, hatte Numa kurz zuvor erfahren, daß seine Frau abgereist war und auf jeglichen Prozeß verzichte, und diese frohe Botschaft, von der niemand sonst etwas wußte, verlieh seiner Gegenrede das Gepräge einer stolzen Siegesgewißheit. Er trat selbstbewußt, ungezwungen, majestätisch auf, spielte auf Verleumdungen an, die man unter der Hand verbreite, und auf den Skandal, den man erwarte: »Es wird keinen Skandal geben, meine Herren! . . .«

Und der Ton, in dem er das sagte, rief auf den von Damentoiletten strotzenden Tribünen eine lebhafte Enttäuschung unter den neugierigen Schönen hervor, die, lüstern nach starken Aufregungen, nur gekommen waren, um zu schauen, wie der parlamentarische Löwenbändiger verschlungen werde. Die Interpellation Rougeot wurde mit Glanz abgefertigt, der Süden bezauberte den Norden, Gallien wurde nochmals erobert, und als Roumestan erschöpft, schweißgebadet und vollständig heiser die Tribüne verließ, hatte er die stolze Genugthuung, sich von seiner Partei, die kurz zuvor sich noch kalt, beinahe feindselig verhielt, und von seinen Kollegen im Ministerium, die ihn beschuldigten, er kompromittiere sie, umringt und mit Beifallsrufen und enthusiastischen Schmeicheleien überhäuft zu sehen. Und in der Trunkenheit des Erfolges trat ihm immer wieder die Verzichtleistung seiner Frau auf den Prozeß als Erlösung aus der größten Not vor die Seele.

Er fühlte sich erleichtert, guter Dinge und mitteilsam gestimmt, so daß ihm bei der Rückkehr nach Paris der Gedanke kam, nach der Rue de Londres zu gehen, – natürlich nur als Freund, um das arme Kind zu beruhigen, das wegen des Verlaufs der Interpellation ebenso unruhig war, wie er selbst, das ihre gegenseitige Verbannung so mutig ertrug und ihm in ihrer kindlichen, mit Reispuder getrockneten Handschrift liebe Briefchen schrieb, in denen sie Tag für Tag Bericht über ihr Leben erstattete und ihn zur Geduld und Vorsicht ermahnte: »Nein, nein, komm nicht, mein 130 armer Schatz . . . schreibe mir, denke an mich. . . . Ich werde stark sein.«

An diesem Abend war die Oper gerade geschlossen, und während der kurzen Fahrt vom Bahnhof nach der Rue de Londres dachte Numa, während er den kleinen Schlüssel in seiner Hand preßte, der ihn seit vierzehn Tagen mehr als einmal in Versuchung geführt hatte: »Wie glücklich wird sie sein!«

Nachdem er die Thür geöffnet und geräuschlos wieder geschlossen hatte, befand er sich plötzlich in der Dunkelheit; man hatte das Gas nicht angezündet. Diese Nachlässigkeit verlieh dem Hause einen Anstrich von Trauer und Verwitwung, wodurch er sich geschmeichelt fühlte. Da der Teppich der Treppe seinen raschen Schritt dämpfte, trat er, ohne daß etwas sein Kommen angekündigt hätte, in den Salon ein, der mit köstlich schillernden, dem künstlichen Goldhaar der Kleinen angepaßten japanischen Stoffen ausgeschlagen war.

»Wer ist da?« fragte vom Kanapee aus eine helle, ärgerliche Stimme.

»Ich – pardi!...«

Man vernahm einen Schrei, einen Sprung und in dem ungewissen Dämmerlicht richtete sich die Sängerin in weißschimmernden Unterröcken entsetzt vor ihm auf, während der schöne Lappara, regungslos und vernichtet, nicht einmal die Kraft fand, seine Toilette wieder in Ordnung zu bringen, und auf die Blumen des Teppichs starrte, um seinen Chef nicht ansehen zu müssen. Zu leugnen gab es nichts.

»Kanaillen!« röchelte Roumestan, halb erstickt von einem jener Wutausbrüche, wo die Bestie im Menschen ihre Stimme erhebt und ihn treibt, den Feind zu beißen und zu zerfleischen, statt ihn zu schlagen.

Hinweggetrieben durch die Furcht vor der Heftigkeit seines Zorns, befand er sich vor dem Zimmer, ohne zu wissen, wie er hinausgekommen war. An derselben Stelle, zu derselben Stunde hatte seine Frau einige Tage vorher, gleich ihm, diesen verräterischen Streich, diese beschimpfende, schmutzige Wunde empfangen, die für sie noch weit grausamer war, die sie noch weit weniger verdient hatte, als er; 131 aber daran dachte er keinen Augenblick, nur die Empörung über die selbst erlittene Beschimpfung erfüllte ihn. Nein, niemals hatte Gottes Sonne eine solche Schandthat gesehen! Dieser Lappara, den er liebte, wie einen Sohn, diese gemeine Dirne, um deren willen er sogar seine hohe Stellung aufs Spiel gesetzt hatte.

»Kanaillen! . . . Kanaillen!« schrie er nochmals ganz laut auf der einsamen Straße, unter einem feinen, durchdringenden Regen, der ihn besser beruhigte, als die schönsten Vernunftgründe.

»Té! Ich bin ja ganz durchnäßt. . . .«

Er eilte nach der Droschkenstation der Rue d'Amsterdam und in dem Gedränge, welches der Bahnhofsverkehr in dieser Gegend verursacht, stieß er an die steife, eingeschnürte Brust des Kriegsministers und Generals Marquis von Espaillon.

»Bravo, mein lieber Kollege. . . . Ich war nicht in der Sitzung, aber man hat mir gesagt, daß Sie Ihre Waffe verteufelt gut geführt und Ihre Gegner gründlich über den Haufen geworfen haben!«

Unter seinem Regenschirm, den er kerzengerade hielt, strahlten die Augen des Alten wunderbar hell, was samt dem aufwärts gedrehten Knebelbarte auf einen durch Frauengunst beglückten Abend hinwies.

»Bei Gott,« sagte er im Tone leichtfertiger Vertraulichkeit Numa ins Ohr, »Sie können sich wirklich rühmen, die Frauen zu kennen.«

Und da letzterer ihn anblickte, als ob er seinen Worten einen ironischen Sinn beilegte, fuhr er fort: »Nun ja, Sie erinnern sich doch unsres Gespräches über die Liebe. . . . Sie haben Recht gehabt: es ist nicht nötig, ein girrender Gelbschnabel zu sein, um den Schönen zu gefallen. . . . Ich habe gegenwärtig eine . . . und nie hat eine so rasch angebissen wie diese. . . . Blitz Stockschwernot . . . nicht einmal in meinem fünfundzwanzigsten Jahre, als ich die Kriegsschule verließ. . . .«

Roumestan, welcher die Hand auf den Wagenschlag seines Fiakers gestützt, dem verliebten Alten zuhörte, glaubte ihm zuzulächeln, schnitt aber in Wirklichkeit ein greuliches 132 Gesicht. Seine Theorieen über die Frauen waren in so auffallender Weise zu nichte geworden. . . . Der Ruhm, das Genie, geht mir doch! Darauf sehen sie nicht. . . . Er fühlte sich zerknirscht, angeekelt und hatte Lust zu weinen und zu schlafen, um nicht mehr an das Erlebte zu denken, und vor allem, um nicht mehr das blödsinnige Lächeln dieser Dirne zu sehen, wie sie mit entblößter Brust, noch bebend von der unterbrochenen Umarmung frech vor ihm stand.

Aber in der Erregung unsrer Tage folgen und überstürzen sich die Stunden wie die Wogen des Meeres. Statt der wohlthätigen Ruhe, die er bei seiner Nachhausekunft zu finden hoffte, erwartete ihn im Ministerium ein neuer Schicksalsschlag, ein Telegramm, das Méjean in seiner Abwesenheit geöffnet hatte und ihm in großer Erregung überreichte: Hortense stirbt. Sie will dich sehen. Komm geschwind.

Witwe Portal.

Sein ganzer furchtbarer Egoismus trat in dem verzweifelten Schrei zu Tage: »Da verliere ich eine mir wahrhaft ergebene Seele!« . . . Dann dachte er an seine Frau, die diesem Todeskampfe beiwohnte und durch Tante Portal das Telegramm unterzeichnen ließ. Ihr Groll war also noch nicht geschwunden, und würde wahrscheinlich nie schwinden. Und doch, wenn sie nur gewollt hätte, welch häusliches, anständiges und nahezu streng moralisches Leben hätte er jetzt an ihrer Seite geführt, nun er von seinen unbesonnenen Thorheiten geheilt war. Und des Bösen, das er ihr zugefügt, nicht mehr gedenkend, warf er ihr ihre Härte als Ungerechtigkeit vor. Er verbrachte die Nacht damit, die ersten Abzüge seiner Rede zu korrigieren und dazwischen wütende oder ironische, grollende und geißelnde Briefe an die schurkische Alice Bachellery aufzusetzen. Méjean wachte ebenfalls schmerzzerissen im Sekretariatszimmer, um in angestrengter Arbeit Vergessenheit zu suchen, und Numa, den diese Nachbarschaft zum Reden reizte, empfand förmliche Folterqualen, daß er ihm seine Enttäuschung nicht anvertrauen konnte. Aber er hätte dann auch gestehen müssen, daß er wieder dorthin gegangen war, und welch lächerliche Rolle er gespielt hatte.

133 Dennoch hielt er es nicht aus und am andern Morgen, als sein Kabinettschef ihn nach dem Bahnhof begleitete, gab er ihm unter anderm den Auftrag, Herrn von Lappara zu entlassen. »O, seien Sie ruhig, er erwartet das. . . . Ich habe ihn in flagranti bei einer That schwärzesten Undankes ertappt. . . . Wenn ich bedenke, wie gut ich gegen ihn gewesen bin, derart, daß ich ihn sogar dazu bestimmt hatte . . .« Er brach plötzlich ab. Hätte er dem armen Verliebten doch fast erzählt, daß er Hortenses Hand zweimal versprochen hatte. Ohne sich weiter auszulassen, erklärte er, daß er einen so abscheulich unmoralischen Menschen bei seiner Zurückkunft nicht mehr im Ministerium zu finden wünsche. . . . Uebrigens ekle ihn die Falschheit der Welt an. Ueberall begegne man nur dem Undank und dem Eigennutz. Man werde versucht, alles im Stiche zu lassen: Amt und Würden und Geschäfte; Paris zu verlassen, um auf einem einsamen Felsen im Meere Leuchtturmwächter zu werden.

»Sie haben schlecht geschlafen, mein werter Chef,« bemerkte Méjean ruhig.

»Nein, nein . . . es ist die reinste Wahrheit, Paris widert mich an.«

Er stand auf dem Abfahrtsperron und wandte sich mit einer Gebärde des Abscheus nach der großen Stadt um, nach welcher die Provinz alle ihre ehrgeizigen, lüsternen Elemente, all ihren gärenden Ueberfluß hinwälzt, um dieselbe hintendrein der Schlechtigkeit und Verdorbenheit zu beschuldigen.

Er unterbrach sich mit bitterem Lachen: »Sehen Sie, wie unablässig dieser da mich verfolgt?«

An der Ecke der Rue de Lyon auf einer großen, grauen, von häßlichen Dachlucken durchbrochenen Mauer kam ein kläglicher, von der ganzen Nässe des Winters und dem Schmutz eines von Armen bewohnten Hauses verwaschener Troubadour in der Höhe eines zweiten Stockwerkes zum Vorschein, ein gräulicher, blau, gelb und grüner Brei, aus welchem immer noch die dünkelhafte, siegesbewußte Haltung des Tambourinschlägers hervortrat. Die Anschlagzettel folgen rasch aufeinander in dem Pariser Reklamenwesen, so daß bald 134 der eine vom andern bedeckt wird. Wenn sie aber von so ungewöhnlichem Umfang sind, so ragt immer noch ein Stück hervor, und seit vierzehn Tagen begegnete der Minister an allen vier Ecken von Paris, wo er auch seine Blicke hinwenden mochte, einem Arme, einem Beine, einem Stücke von dem Barett oder von den Schnabelschuhen des Troubadours – Bruchstücken, die ihn verfolgten und bedrohten, wie in jener provençalischen Sage das zerhackte und zerstückelte Opfer aus all seinen zerstreuten Ueberresten noch sein Rachegeschrei hinter den Fersen des Mörders erhebt. Hier richtete sich das Opfer noch in Lebensgröße vor ihm auf, und die traurige Kleckserei, wie sie ihm hier an dem frostigen Morgen entgegentrat, verdammt, mit allem Unrat besudelt zu werden, ehe sie durch einen letzten Windstoß in Fetzen zerrissen und verweht wurde, faßte in treffender Weise das Geschick des unglücklichen Troubadours zusammen, der sich nun für immer in den niedrigsten Sphären von Paris umhertrieb, von dem er nicht mehr lassen konnte, wo er die Farandole der verkommenen Existenzen, Heimatlosen und Narren anführte, die dem Ruhm nachjagen, und derer am Ende das Spital, das Massengrab oder der Seziertisch wartet.

Durchschauert bis ins Mark von dieser Erscheinung und der kalten, durchwachten Nacht stieg Roumestan in den Waggon; der Frost schüttelte ihn bei dem traurigen Anblick der Vorstadt, die er vom Wagenfenster aus erblickte: die Eisenbahnbrücken über den regenrieselnden Straßen, die hohen Häuser, jene Kasernen des Elends mit den unzähligen, lumpenbehangenen Fenstern, die hagern, mürrischen, unsaubern, frühwachen Gestalten, die mit gekrümmtem Rücken, die Arme gegen die Brust gedrückt, um sie zu erwärmen oder zu verbergen, daherkamen, die Herbergen mit allen nur möglichen Schildern, der Wald von Fabrikschornsteinen, die ihre Rauchwolken in die Lüfte spieen; dann kamen die ersten schwarz gedüngten Obstgärten im Weichbild der Stadt, die Lehmdächer niedriger Hütten, geschlossene Villen inmitten kleiner entlaubter Gärten, deren Gebüsch so trocken war wie das seines Schmucks entkleidete Holz der Friese und 135 Laubengitter; weiterhin durchgeweichte Landstraßen, auf denen die durchnäßten Planen der Lastwagen vorüberzogen, und darüber ein rostfarbener Himmel und Rabenschwärme, die über die verödeten Felder flogen.

Er schloß die Augen vor diesem herzzerreißenden Anblick des nordischen Winters, den die Signalpfeifen der Eisenbahnzüge wie laute Hilferufe durchklangen, aber unter den geschlossenen Lidern waren seine Gedanken nicht freundlicher. Das Band, das ihn mit jener Dirne verknüpft hatte, schnürte ihm noch immer das Herz zusammen, wenn es auch im Loslösen begriffen war, und jetzt, wo er ihr so nahe war, dachte er daran, was er alles für sie gethan und was ihm der Unterhalt eines Bühnensterns seit sechs Monaten gekostet hatte. Alles ist falsch in diesem Theaterleben, vor allem der Erfolg, der nur so viel wert ist, wie dafür bezahlt wird. Claqueure, Freibillete, Diners, Empfangsabende, Reportergeschenke, die Bearbeitung der öffentlichen Meinung in allen möglichen Formen, jene prächtigen Bouquets, vor welchen die Künstlerin errötet und gerührt erscheint, während sie ihre Arme, ihren dekolletierten Busen und den Atlas ihres Kleides damit belastet; die Huldigungen während der Gastspieltouren, das Triumphgeleite nach dem Hotel, die Balkonserenaden, diese fortwährende Anwendung von Reizmitteln gegen die finstere Gleichgültigkeit des Publikums, alles das will bezahlt sein und zwar sehr teuer.

Sechs Monate hindurch hatte er offne Kasse für die Kleine gehabt und nie gefeilscht, wenn es sich um ihre Triumphe handelte. Er wohnte den Konferenzen mit dem Leiter der Claque, mit den Reklameschreibern der Zeitungen und mit der Blumenhändlerin bei, deren Bouquets von der Sängerin und ihrer Mutter hinter seinem Rücken dreimal durch neue Schleifen frisch in stand gesetzt wurden, denn diese Jüdinnen von Bordeaux waren schmutzig geizig und habsüchtig, so daß sie, um ihre Kleider zu schonen, oft tagelang mit alten Lumpen bedeckt, in Nachtjacken über Volantröcken, alte Ballschuhe an den Füßen, zu Hause blieben. In solchem Anzug traf Numa sie meistens und zwar in der Regel beim Kartenspiel, bei welchem sie sich mit 136 Schimpfwörtern regalierten, als gehörten sie zu einer Seiltänzerbande. Schon lange hatten sie mit ihm keine Umstände mehr gemacht. Er kannte alle Schliche und Grimassen der Diva. Er wußte, daß sie als Südländerin von Natur aus roh, affektiert und unsauber war, wußte, daß sie zehn Jahre mehr zählte, als ihr Bühnenalter, und daß sie, um ihr ewiges Lächeln zu einem bleibenden Liebreiz zu gestalten, jeden Abend vor dem Schlafengehen ihre Lippen in der Gegend der Mundwinkel künstlich aufstülpte und mit Coralin bedeckte . . . .

In Gedanken an alles dies schlief er zuletzt ein, aber wahrlich nicht mit Amorettenlächeln auf den Lippen, sondern im Gegenteil mit Ekel und Ueberdruß auf seinen abgespannten Zügen, während sein ganzer Körper von den Stößen und Schwankungen des mit vollem Dampfe dahinsausenden Eilzuges gerüttelt und geschüttelt wurde.

»Valeince! . . . Valeince!«

Er öffnete seine Augen, wie ein Kind, das von trauter Mutterstimme gerufen wird. Schon begann der Süden, der Himmel vertiefte sich in blaue Abgründe zwischen den vom Winde gejagten Wolken. Ein Sonnenstrahl drang wärmend durch das Wagenfenster, und zwischen den Pinien schimmerten schon die weißlichen Stämme dürftiger Olivenbäume. Das wirkte beruhigend auf den empfindlichen Organismus des Südländers und gab seinen Gedanken eine veränderte Richtung. Er bedauerte, so hart gegen Lappara gewesen zu sein. Die Zukunft dieses armen jungen Mannes so zu zerstören und eine ganze Familie trostlos zu machen, und weshalb? Wegen einer Lappalie allons! wie Bompard sagte. Es gab nur ein Mittel, dies wieder gut zu machen und diesem Abgang aus dem Ministerium den Anschein der Ungnade zu benehmen: das Kreuz der Ehrenlegion. Und bei dem Gedanken, daß Lapparas Name im Amtsblatt mit der Bemerkung: »in Anerkennung außerordentlicher Dienstleistungen« aufgeführt sein würde, brach der Minister in Lachen aus. Alles in allem genommen war es ja auch eine solche, daß er seinen Chef von einer erniedrigenden Verbindung befreit hatte.

137 Orange! . . . Montélimart und sein Mandelkuchen! . . . Die Stimmen, von lebhaften Gebärden unterstützt, schmetterten durch die Luft; die Büffettskellner, Zeitungsverkäufer, Bahnwärter stürzten mit funkelnden Augen vorüber. Das war ein ganz andres Volk, als dreißig Meilen weiter nördlich; und die Rhone, die breite, gleich dem Meere wellenschlagende Rhone funkelte im Sonnenschein, der die zinnengekrönten Wälle von Avignon vergoldete, und die Glocken dieser Stadt begrüßten den großen Mann der Provence mit ihrem hellen Klange. Numa setzte sich ans Büffett und ließ sich Weißbrot, eine Pastete und eine Flasche jenes zwischen dem Felsgestein gereiften Weines von der Nerte vorsetzen, der im stande ist, selbst einem Pariser den Dialekt der Cevennen zu verleihen.

Aber erst in Tarascon erfrischte und stärkte ihn die Heimatluft so recht eigentlich, als er die Hauptlinie verließ und in der kleinen patriarchalischen einspurigen Zweigbahn Platz nahm, die zwischen den Zweigen von Maulbeer- und Olivenbäumen und den gefiederten Büscheln des die Wagenthüren streifenden wilden Schilfes ins Herz der Provence eindringt. Man sang in allen Waggons und hielt jeden Augenblick an, um eine Heerde vorüberziehen zu lassen, um einen verspäteten Passagier oder ein Paket aufzunehmen, mit welchem irgend ein Gutsknecht nachgeeilt kam. Und das war ein Grüßen und Scherzen der Leute im Zuge mit den Pächterinnen in der Arleser Haube, die vor ihrer Thür standen oder ihre Wäsche auf dem Brunnenstein einseiften. In den Bahnhöfen großes Geschrei und Gedränge, ein ganzes Dorf war oft herbeigeströmt, um einem Rekruten oder einem Mädchen, das in die Stadt in Dienst ging, das Geleite zu geben.

»Té, vé, auf Wiedersehen, mein Schatz . . . bleib mir gut und treu!«

Man weint, man umarmt sich, ohne auf den Bettelmönch in seiner Kutte zu achten, der, an die Schranke gelehnt, sein Paternoster murmelt und, wütend darüber, daß er nichts bekommt, seinen Bettelsack wieder auf die Schultern wirft und weitergeht.

138 »Wieder ein ›Paternoster‹ futsch!«

Das Wort wird gehört, man trocknet sich die Thränen und alle Welt lacht, der Kuttenträger lauter als alle andern.

In die Kissen des Coupés zurückgelehnt, um den Huldigungen der Menge zu entgehen, ergötzte sich Roumestan an all dieser guten Laune, am Anblick dieser braunen, adlernasigen, von Leidenschaft und spöttischem Uebermut strahlenden Gesichter, dieser großen Burschen mit dem stutzerhaften Wesen, dieser Mädchen, bernsteinfarbig wie die länglichen Kerne der Muskatellertrauben, welche einst zu den verschrumpften, schwarzgebrannten Großmüttern werden sollten, die mit jeder ihrer krüppelhaften Bewegungen Grabesstaub zu verbreiten schienen. Und immerzu vorwärts! Et zou! Et allons! hieß es in dem allgemeinen Drängen und Treiben. Hier fand Numa sein Volk wieder, seine rührige, leicht erregbare Provence, den braunen Grillen gleichen Menschenschlag, der immer vor den Thüren weilt und immer singt.

Er selbst war ganz dessen Urbild, – schon war er geheilt von der Verzweiflung, die ihn am Morgen erfüllte, geheilt von seinem Ekel und seiner Liebe. Der erste Hauch des Mistrals hatte sie hinweggefegt, der jetzt im Rhonethal gewaltig tobte, den Zug beinahe in die Höhe hob oder doch seinen Lauf hemmte und alles vor sich her jagte, die Bäume in fluchtähnliche Stellung krümmte, die Berge gleichsam zurückweichen ließ und die Sonne plötzlich verfinsterte, während in der Ferne die Stadt Aps erschien, deren unstät beleuchtete Monumente sich um den alten Antoninturm zu scharen schienen, wie auf der Insel Camargue eine Herde Ochsen sich um den ältesten Stier drängt, um dem Sturm Trotz zu bieten.

Und unter den Klängen dieser großartigen Mistralfanfare hielt Numa seinen Einzug im Bahnhofe.

Von dem gleichen Zartgefühl, wie er selbst, geleitet, hatte die Familie seine Ankunft geheim gehalten, um die Kundgebungen der Gesangvereine, die feierlichen Aufzüge mit Fahnen und die Vorstellung der offiziellen Deputationen zu vermeiden. Nur Tante Portal erwartete ihn, gewichtig im Lehnstuhl des Stationsmeisters sitzend, mit einem Wärmer 139 unter den Füßen. Sobald sie ihren Neffen erblickte, nahm das rosige Gesicht der dicken Dame, das so heiter aussah, wenn sie ruhig war, einen verzweifelten Ausdruck an und blähte sich auf unter ihren weißen Löckchen. Sie streckte die Arme nach ihm aus und verfiel in Schluchzen und Wehklagen: »Aïe de nous, welches Unglück. . . . Eine so hübsche Kleine péchère! . . . Und so brav! . . . So sanft, . . .. daß man ihr das Herz aus dem Leibe gegeben hätte.«

»Mein Gott! . . . So wäre es denn schon zu Ende? . . .« dachte Roumestan, indem er sich der Veranlassung zu seiner Reise erinnerte.

Die Tante hielt plötzlich in ihren Wehklagen inne, um dem Diener, der den Fußwärmer vergaß, in kaltem und hartem Tone zu sagen: »Ménicle, den Fußschemel!«

Dann fing sie wieder an im Tone ungezügelten Schmerzes die einzelnen Tugenden des Fräulein Le Quesnoi zu preisen und bestürmte den Himmel und seine Engel mit Fragen, warum er nicht sie statt dieses Kindes zu sich genommen habe, und während dieser Schmerzensausbrüche schüttelte sie Numas Arm, auf den sie sich stützte, um ihrer alten Karrosse zuzutrippeln.

Unter den kahlen Bäumen der Avenue Berchère, im Gewirbel trockener Zweige und Baumrinden, welche der Mistral dem hohen Reisenden als harte Streu in den Weg geworfen, trabten die Pferde langsam dahin, und an der Kreuzung, wo die Lastträger auszuspannen pflegten, war Ménicle genötigt, mehrmals mit seiner Peitsche zu knallen, so sehr schienen die Tiere von der Gleichgültigkeit für den großen Mann überrascht zu sein. Roumestan dachte indes nur an die schreckliche Botschaft, die er empfangen, und indem er die beiden Hände der Tante, die bis dahin immer noch ihre Augen trocknete, in die seinigen nahm, fragte er sanft: »Wann geschah es?«

»Was denn?«

»Wann starb sie, die arme Kleine?«

Tante Portal sprang von ihren hohen Polsterkissen in die Höhe: »Gestorben! . . . Bou Diou! . . . Wer hat dir gesagt, daß sie gestorben sei? . . .«

140 Doch sogleich fügte sie mit einem schweren Seufzer hinzu: »Freilich, péchère, lange hat sie nicht mehr zu leben . . .«

Ach nein, nicht mehr lange. Sie stand jetzt nicht mehr auf, verließ nicht mehr die mit Spitzen besetzten Kissen, auf denen ihr kleiner, abgemagerter Kopf mit den brennend roten Flecken auf den Wangen und den blauen Ringen um Augen und Nase von Tag zu Tag unkenntlicher wurde. Ihre länglichen, elfenbeinweißen Hände auf den Battistlaken ausgestreckt, neben sich einen Spiegel und einen kleinen Kamm, mit dem sie von Zeit zu Zeit ihre schönen braunen Haare glättete, lag sie stundenlang stumm wegen der schmerzhaften Heiserkeit ihrer Stimme und starrte traumverloren auf die Wipfel der Bäume und den leuchtenden Himmel über dem Garten des Hauses Portal.

An diesem Abend verharrte sie so lange regungslos in ihrer Träumerei, während die untergehende Sonne das Zimmer in purpurnes Licht tauchte, daß ihre Schwester unruhig zu werden begann: »Schläfst du?«

Hortense schüttelte den Kopf, wie um etwas zu verjagen.

»Nein, ich schlief nicht, und doch träumte ich. . . . Ich träumte, daß ich im Sterben liege. Ich befand mich gerade auf der Grenzlinie dieser Welt, zur andern Welt hinübergeneigt, ach ja, geneigt bis zum Hinüberfallen. . . . Ich sah noch dich und Teile meines Zimmers, aber ich war schon auf der andern Seite, und was mir auffiel, war die Stille des Lebens neben dem großen Lärm, den die Toten machten. Es klang als das Summen eines Bienenschwarms, das Rauschen von Fittigen, das Wimmeln eines Ameisenhaufens, das Sausen, welches das Meer im Innern großer Muscheln zurückläßt. Es war, als ob das Totenreich noch weit mehr übervölkert wäre, als das unsres Lebens auf Erden. . . . Und jenes Rauschen und Sausen war so durchdringend, daß es mir vorkam, als hörte ich zum erstenmal, als hätte ich einen ganz neuen Sinn an mir entdeckt.«

Sie sprach langsam mit ihrer heisern, pfeifenden Stimme. Nach kurzem Schweigen begann sie wieder mit aller Lebhaftigkeit, deren das zersprungene, klägliche Instrument 141 fähig war: »Mein Kopf schwärmt noch immer. . . . Erster Phantasiepreis, Hortense Le Quesnoi aus Paris!«

Man hörte ein Schluchzen, das sich im Geräusch einer sich schließenden Thüre verlor.

»Siehst du,« sagte Rosalie. . . . »Mama geht fort . . . du thust ihr weh . . .«

»Mit Willen . . . alle Tage ein wenig . . . damit sie nicht so viel auf einmal zu tragen hat,« antwortete das Mädchen ganz leise. Durch die Gänge des alten Gebäudes sauste der Mistral, heulte unter den Thüren und schüttelte sie in wütendem Anprall. Hortense lächelte: »Hörst du? . . . O, ich liebe das. . . . Es scheint, als wäre man weit weg . . . in fernen Ländern! . . . Armes, geliebtes Herz,« fügte sie hinzu, indem sie die Hand Rosaliens ergriff und sie mit erschöpfter Gebärde bis zu ihrem Munde führte. »Welch bösen Streich habe ich dir gespielt, ohne es zu wollen. . . . Dein Kind wird nun durch meine Schuld ein Südländer. . . . Du wirst mir das nie verzeihen, du Französin.«

Plötzlich drang aus dem Geheul des Windes ein Lokomotivpfiff bis an ihr Ohr, und sie fuhr erschrocken zusammen.

»Ah! Der Siebenuhrzug! . . .«

Wie alle Kranken und alle Gefangenen kannte sie die geringsten Geräusche in ihrer Umgebung und verband sie mit ihrem unbeweglichen Dasein, ebenso wie die Aussicht, die sie vor Augen hatte: die Pinienwälder, den alten gezackten römischen Turm dort am Abhang des Berges. . . . Von diesem Augenblick an wurde sie ängstlich, aufgeregt und blickte gespannt nach der Thüre, an welcher endlich ein Dienstmädchen erschien . . .

»Es ist gut . . .«, sagte Hortense lebhaft, und ihrer ältern Schwester zulächelnd, setzte sie hinzu: »Eine Minute, willst du? . . . Ich werde dich rufen lassen.« Rosalie glaubte an einen Besuch des Priesters mit seinem Kirchenlatein und seinen schreckenerregenden Tröstungen. Sie ging in den Garten hinunter, eine südländische Umzäunung ohne Blumen, mit Buchsbaumalleen, die durch hohe, starke Cypressen gegen den Wind geschützt waren. Seitdem sie Krankenwärterin 142 war, kam sie hierher, um aufzuatmen, ihre Thränen zu verbergen und ihrem von allen möglichen Aufregungen schmerzlich zusammengepreßten Herzen Luft zu machen. O, wie verstand sie jetzt das Wort ihrer Mutter: »Es gibt nur ein Unglück, das nicht wieder gut zu machen ist: den Verlust unsrer Lieben.«

Ihre andern Bekümmernisse, ihr zerstörtes häusliches Glück, alles verschwand vor ihrem jetzigen Schmerze. Sie dachte nur an dieses schreckliche, unvermeidliche, von Tag zu Tag näher rückende Verhängnis. . . . War es die Stunde, die rot glühende, schwindende Sonne, welche den Garten in düsterm Schatten zurückließ und an den Fenstern des Hauses verweilte, oder der kläglich heulende Nordwestwind, den man hörte, ohne ihn zu fühlen? Sie war an diesem Abend von unsäglicher Trauer und Bangigkeit erfüllt. Hortense, ihre Hortense! . . . die für sie mehr als eine Schwester, – beinahe eine Tochter war, ihre erste vorzeitige Mutterfreude! Thränenloses Schluchzen wollte sie fast ersticken. Sie hätte schreien, um Hilfe rufen mögen, aber wen? Der Himmel, zu welchem die Verzweiflung die Blicke erhebt, war ja so hoch, so fern, so kalt, gleichsam vom Sturme geglättet. Ein Schwarm von Zugvögeln, deren Geschrei und Flügelrauschen sich in den Lüften verlor, nahm seinen Flug dorthin. Wie hätte eine irdische Stimme zu jenen stummen, kalten Höhen empordringen sollen!

Trotzdem versuchte sie es, und das Antlitz dem Lichte zugewandt, das aufwärts stieg und sich hinter dem alten Dache verlor, betete sie zu dem, dem es gefallen hat, sich zu verbergen und sich unsern Schmerzen und Klagen zu entziehen, – zu dem, den die einen voll Vertrauen, mit zur Erde geneigter Stirne verehren, während andre ihn mit ausgestreckten Armen verzweifelt suchen und noch andre ihn mit empörter Faust bedrohen und sein Dasein leugnen, um ihm seine Grausamkeiten zu verzeihen. Und diese Gotteslästerung und Gottesleugnung, auch dies ist noch Gebet. . . .

Man rief nach ihr vom Hause aus. Sie eilte, am ganzen Leibe zitternd, herbei, denn ihre Angst und Furcht 143 war bis zu dem Grade gestiegen, wo das geringste Geräusch bis ins Innerste der Seele dringt. Durch ein Lächeln rief die Kranke sie an ihr Bett, da ihr zum Sprechen Kraft und Stimme fehlten, als ob sie soeben viel und lange gesprochen hätte.

»Ich habe dich um eine Gnade zu bitten, liebe Schwester. . . . Du weißt, jene letzte Gnade, die man den zum Tode Verurteilten bewilligt. . . . Verzeihe deinem Manne! Er hat sich wohl sehr schlecht und unwürdig gegen dich benommen, aber sei nachsichtig, kehre zu ihm zurück! Thu' es mir zuliebe, meine Schwester, thu' es unsern Eltern zuliebe, welche deine Trennung trostlos macht, und die nötig haben werden, daß man sich um sie schart und sie mit Zärtlichkeit umgibt. Numa ist so munter, er allein vermag sie ein wenig aufzuheitern. . . . Es ist abgemacht, nicht wahr? Du verzeihst . . .«

Rosalie antwortete: »Ich versprech' es dir . . .«

Was war auch dieses Opfer, das sie ihrem Stolze auferlegte, gegenüber dem nahenden, nicht wieder gut zu machenden Unglück? . . . Vor dem Bette stehend, schloß sie die Augen eine Sekunde, ihre Thränen verschluckend. Eine zitternde Hand legte sich auf die ihrige. Er war da, stand vor ihr, bewegt, erbarmungswürdig, gequält von dem Drange seines Herzens, dem er nicht Folge zu geben wagte.

»Küßt euch! . . .« sagte Hortense.

Rosalie neigte ihm ihre Stirne zu, die er zaghaft mit seinen Lippen berührte.

»Nein, nein . . . nicht so . . . umarmt euch . . . wie man es macht, wenn man sich liebt . . .«

Er umschlang seine Frau und drückte sie unter langem Schluchzen an seine Brust, während die Nacht ihren Schleier über das große Zimmer ausbreitete aus Mitleid mit derjenigen, welche die Gatten einander Herz an Herz gelegt hatte. Es war ihre letzte Lebensoffenbarung. Von nun an blieb sie in sich versunken, zerstreut, gleichgültig gegen alles, was um sie her vorging, ohne auf die Ausbrüche des verzweifelten Trennungsschmerzes zu antworten, auf die es keine Antwort gibt, und ihr jugendliches Antlitz behielt bis zuletzt den 144 Ausdruck des heimlichen, stolzen Grolls derer, die zu früh für ihren Lebensdrang sterben, weil sie die Enttäuschungen des Lebens noch nicht ausgekostet haben.

 


 


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