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In Erwartung ihrer sich als Frachtgut unterwegs befindlichen Mobilien, ohne welche eine häusliche Einrichtung nicht möglich war, hatten sich die Valmajours in der berühmten Passage du Saumon einquartiert, in welcher die Reisenden von Aps und Umgegend seit Menschengedenken abzusteigen pflegten, und die bei Tante Portal so wunderbare Erinnerungen hinterlassen hatte. Die Familie bewohnte dort unter dem Dach ein Zimmer und ein Nebengemach; letzteres war eine Art Holzstall ohne Licht und Luft, in dem die beiden Männer schliefen, während die kaum größere Stube mit ihren wurmstichigen Mahagonimöbeln, dem von Motten zerfressenen, abgenützten Teppich auf den roten, verblaßten Steinfliesen und dem kleinen Mansardenfenster, das ein Stückchen Himmel einrahmte, so gelb und trübe wie die lange, dachförmige Glasbedeckung der Passage, ihnen als ein prächtiges Gemach erschien. In diesem Hundeloch pflegten sie die Erinnerung an die Heimat durch Entwickelung eines stärken Geruches nach Knoblauch und gerösteten Zwiebeln, indem sie selbst auf einem kleinen Ofen ihre fremdartigen, exotischen Speisen kochten. Vater Valmajour, der ein großer Feinschmecker war und die Gesellschaft liebte, hätte es vorgezogen, sich zur Table d'hôte zu begeben, deren weiße Leinwand und glänzende Gedecke ihn entzückten, und sich an der geräuschvollen Unterhaltung der Herren 94 Handlungsreisenden zu beteiligen, deren Gelächter während der Mahlzeit bis zu ihnen herauf in das fünfte Stockwerk erscholl. Aber die kleine Provençalin widersetzte sich dem aufs bestimmteste.
Sehr erstaunt, bei ihrer Ankunft die schönen Versprechungen Numas – die zweihundert Franken jeden Abend, die seit dem Besuch der Pariser in ihrem phantasiereichen Köpfchen einen wahren Platzregen von Thalerrollen erzeugten – nicht alsbald verwirklicht zu finden, entsetzt darüber, daß alles so außerordentlich teuer war, fühlte sie sich vom ersten Tage an von jener zitternden Angst ergriffen, die das Volk von Paris als »la peur de manquer« – als die »Furcht, Mangel leiden zu müssen« bezeichnet. Sie allein hätte sich auch mit Anchovis und Oliven begnügt, wie zur Fastenzeit, té! pardi – aber diese »Mannsleute« waren ja gefräßig, wie die Wölfe, hier noch weit mehr, als in der Heimat, weil es weniger heiß war; und sie mußte jeden Augenblick in ihr »Säckchen«, eine selbstgenähte Tasche von Kattun greifen, in welcher die aus dem Verkauf von Haus und Hof erzielten dreitausend Franken klirrten. Bei jedem Goldstück, das sie wechselte, mußte sie sich förmlich Gewalt anthun, um sich davon loszureißen, es war ihr, als gäbe sie die Steine ihres Hauses, den letzten Rebstock ihres Weinbergs hin; ihre bäuerische, argwöhnische Habgier, die Furcht, bestohlen zu werden, die sie dazu getrieben hatte, ihr Gut zu verkaufen, statt es zu verpachten, verdoppelten sich in dem unbekannten Dunkel dieser Stadt, des großen Paris, dessen Wogen und Treiben sie von ihrem Dachstübchen aus hörte, ohne es zu sehen, und dessen Getöse in dieser geräuschvollen Gegend der Zentralhallen bei Tag und Nacht nicht ruhte und die Wasserflasche mit den Gläsern auf dem lackierten Brett in ihrer kleinen Gasthausstube beständig aneinanderklirren ließ.
Der Wanderer, der sich in einem berüchtigten Wald verirrt hat, kann seine Habseligkeiten nicht krampfhafter zusammenhalten, als die Provençalin es mit ihrem Geldsack that, wenn sie in ihrem grünen Rocke und ihrem arlesischen Kopfputze über die Straße ging und die Vorübergehenden sich nach ihr umsahen, wenn sie mit ihrem watschligen Gang 95 in die Läden eintrat und den Dingen allerlei wunderliche Namen gab, den Sellerie »àpi« und die blauen Gurken »mérinjanes« nannte, so daß sie, die Französin des Südens, hier in der Hauptstadt ihres Landes zu einer so fremdartigen Erscheinung ward, als wäre sie von Stockholm oder Nischni-Nowgorod gekommen.
Ihr anfänglich sehr bescheidenes, honigsüßes Wesen verwandelte sich, wenn ein Händler wegen ihres unsinnigen Feilschens über sie lachte oder ein andrer ihr grob begegnete, in Wutausbrüche, die auf ihrem hübschen, braunen, jungfräulichen Gesichte Zuckungen hervorriefen und sie in eine laute, eitle Geschwätzigkeit verfallen ließen, in der sie ihre Zunge nicht mehr im Zaume zu halten wußte und sich wie eine Besessene gebärdete. Dann kam die Geschichte vom Vetter Puyfourcat und seiner Erbschaft, von den zweihundert Franken allabendlicher Einnahme und ihr Gönner Roumestan aufs Tapet, von dem sie wie von ihrem unbedingten Eigentum sprach, über das sie nach Gutdünken verfügen könne, indem sie ihn bald vertraulich Numa, bald mit einem salbungsvollen Nachdruck, der noch weit komischer war, »Menistre« nannte – eine wahre Flut von auvergnatischem Kauderwelsch, von französierter langue d'oc, bis plötzlich ihr Argwohn wieder die Oberhand gewann und sie mit fest aufeinandergepreßten Lippen, als zöge sie die Schnüre ihres Geldsacks zusammen, in abergläubischer Furcht vor ihrem eignen Geschwätz verstummte.
Nach Verlauf von acht Tagen war sie in jener Gegend der Rue Montmartre, wo die Verkaufsläden dicht aneinander gedrängt stehen und zu den immer offenen Thüren mit dem Duft der Kräuter, des frischen Fleisches und der Kolonialwaren zugleich die Geheimnisse des ganzen Viertels ausströmen, in aller Munde. Und gerade die Fragen, die man hier des Morgens bei ihren ärmlichen Einkäufen höhnisch an sie richtete, diese fortwährende Verletzung ihrer Eitelkeit, die Anspielungen auf das beständig verzögerte Auftreten ihres Bruders, auf die Erbschaft des Beduinen, waren es, die Audiberte weit mehr noch, als die Furcht vor Not und Elend gegen Numa und dessen Versprechungen erbitterte, in die sie 96 anfänglich, als echte Tochter des Südens, wo die Worte in der leichten Luft so viel flüchtiger eilen und so viel leichter wiegen, ein wohlbegründetes Mißtrauen gesetzt hatte.
»Ach, wenn sie sich von ihm doch etwas Schriftliches hätten geben lassen!«
Dieser Gedanke beherrschte sie unausgesetzt, und sorgfältig sah sie jeden Morgen, wenn Valmajour aufs Ministerium ging, nach dem gestempelten Blatt Papier in der Tasche seines Ueberrocks.
Aber Roumestan hatte andre Papiere zu unterzeichnen, als dieses, und andres im Kopfe, als das Tambourin. Er richtete sich im Ministerium mit jenem Durcheinander, jener fieberhaften Sucht der Umwälzung und jenem edlen Eifer ein, der sich an solche Besitzergreifungen zu knüpfen pflegt. Alles war ihm neu, die großen Räume des Amtsgebäudes sowohl, wie auch die erweiterten Gesichtspunkte seiner hohen Stellung. Auf die höchste Stufe gelangen, »Gallien erobern«, wie er sagte, das war nicht das Schwierige, aber sich auf dem Posten erhalten, sein Glück durch einsichtsvolle Verbesserungen, durch fortschrittliche Versuche rechtfertigen! . . . Voller Eifer erkundigte, beriet, besprach er sich und umgab sich im vollen Sinn des Wortes mit Sternen erster Größe. Mit Béchut, dem berühmten Professor, studierte er die Gebrechen der akademischen Erziehung, die Mittel, um den voltaireschen Geist in den Lyceen auszurotten, während Herr von La Calmette, der eine neunundzwanzigjährige Erfahrung im Ressort der schönen Künste bot, und Herr von Cardaillac, der Direktor der Oper, welcher aus drei Bankerotten unversehrt hervorgegangen war, ihm Beistand leisteten, um das Konservatorium, den »Salon«»Salon«: Die jährliche französische Gemäldeausstellung. und die Oper nach neuen Plänen umzugestalten.
Das Unglück war nur, daß er nicht auf diese Herren hörte, sondern stundenlang sprach und dann, indem er plötzlich auf seine Uhr sah, sich erhob und sie eiligst verabschiedete.
»Verdammt! Fast hätte ich den Ministerrat vergessen . . . welch ein Dasein! Keine Minute hat man mehr für sich. . . . 97 Es bleibt also dabei, lieber Freund . . . Und senden Sie nur baldigst Ihren Bericht.« –
Die Berichte türmten sich auf Méjeans Schreibtisch auf, denn dieser fand, ungeachtet seiner Intelligenz und seines guten Willens, kaum Zeit genug, um die laufenden Geschäfte zu besorgen, und ließ deshalb die großen Reformen ruhig schlafen.
Wie alle neuen Minister hatte Roumestan seine eigne Umgebung, das glänzende Personal seines Büreaus in der Rue Scribe, mit sich gebracht: den Baron von Lappara und den Vicomte von Rochemaure, die dem neuen Kabinett einen aristokratischen Schimmer verliehen, im übrigen aber völlig unwissend waren und von den hier in Betracht kommenden Fragen nicht das geringste verstanden. Als Valmajour sich das erstemal in der Rue de Grenoble vorstellte, wurde er von Lappara empfangen, der sich ausschließlich mit den schönen Künsten befaßte und stündlich Stafetten, Dragoner oder Kürassiere absandte, um den jungen Künstlerinnen vom Theater in großen amtlichen Briefcouverts Einladungen zum Souper überbringen zu lassen; manchmal enthielt ein solcher Briefumschlag auch gar nichts und diente nur als Vorwand, um am Tage nach der fälligen, nicht bezahlten Miete den beruhigenden Kürassier des Ministeriums sehen zu lassen. Der Herr Baron empfing den Tambourinkünstler in gemütlicher, etwas herablassender Weise, etwa wie ein großer Gutsherr seine Pächter empfängt. Mit ausgestreckten Beinen, um keine Brüche in seine königblauen Hosen zu machen, sprach er mit ihm nur so obenhin, indem er fortfuhr seine Fingernägel zu glätten und zu putzen.
»Sehr schwierig in diesem Augenblick. . . . Zu beschäftigt der Minister. . . . Bald, in einigen Tagen. . . . Man wird Euch Nachricht geben, guter Freund.«
Und als der Musiker treuherzig gestand, es eile ein wenig, denn ihre Mittel würden nicht ewig dauern, da legte der Herr Baron seine Nagelfeile auf den Rand des Schreibtisches und riet jenem mit der ernstesten Miene von der Welt, einen Drehapparat an seinem Tambourin anzubringen . . .
»Einen Drehapparat am Tambourin? Und wozu?«
98 »Parbleu, mein Bester, um es während der toten Jahreszeit als boîte à plaisirs»Boîte à plaisirs«: Cylinderförmige, dem provençalischen Tambourin gleichende Schachteln, in welchen an den Vergnügungsorten in Paris die sog. »plaisirs«, ein waffelartiges Gebäck in Tütenform, ähnlich den Leipziger »Hübelchen« feilgeboten werden. Auf dem Deckel derselben sind Nummern und ein drehbarer Zeiger angebracht, mittels welchen die Kinder sich das Gebäck erspielen. zu benützen! . . .«
Bei seinem folgenden Besuche hatte es Valmajour mit dem Vicomte von Rochemaure zu thun. Dieser erhob seinen sorgfältig gekräuselten, ganz in einem staubigen Aktenbündel vergrabenen Kopf, ließ sich den Mechanismus der Flöte genau erklären, machte sich Notizen, versuchte die Sache zu begreifen und erklärte schließlich, er habe sich mehr mit den kirchlichen Angelegenheiten zu befassen. Danach traf der Unglückliche überhaupt niemand mehr, da das ganze Kabinettspersonal dem Minister in die unzugänglichen Regionen gefolgt war, in welche Seine Excellenz sich zurückgezogen hatte. Trotzdem verlor Jener weder seinen Gleichmut noch seine Zuversicht und beantwortete die ausweichenden Antworten und das Achselzucken der Huissiers immer mit demselben erstaunten, klaren Blicke, aus dessen Hintergrund ein feiner Spott, der jedem provençalischen Auge eigen ist, hervorleuchtete.
»Gut – gut . . ; ich werde wiederkommen.«
Und er kam wieder. Ohne seine hohen Gamaschen und sein an einem Gurt über die Schulter hängendes Instrument hätte man ihn für einen Angestellten des Hauses halten können, so regelmäßig fand er sich ein, obgleich ihm dies jeden Morgen schwerer wurde.
Schon der Anblick des hohen gewölbten Thores verursachte ihm Herzklopfen. Dahinter erschien das ehemalige »Hotel Augerau« mit seinem geräumigen Hofe, in dem man schon Holz für den Winter aufhäufte, und seinen beiden Aufgängen, die unter den spöttischen Blicken des Bedientenvolkes so mühsam zu ersteigen waren. Die silbernen Ketten der Thürsteher, die goldbetreßten Mützen, das ganze mechanische Beiwerk dieses majestätischen Gepräges, das ihn von seinem 99 Gönner trennte – alles war dazu angethan, seine Beklemmung zu steigern. Aber noch mehr fürchtete er die Auftritte bei sich zu Hause, das schreckliche Stirnrunzeln Audibertes, und so kehrte er mit verzweifelter Beharrlichkeit immer und immer wieder. Endlich hatte der Pförtner Mitleid mit ihm und gab ihm den Rat, er solle, wenn er den Minister zu sprechen wünsche, denselben am Bahnhof St. Lazare zur Zeit seiner Abfahrt nach Versailles erwarten.
Er begab sich dahin und stellte sich in dem großen Saal des ersten Stockwerkes, das zur Zeit der parlamentarischen Züge sein ganz besonders eigenartig belebtes Aussehen hat, auf die Wache. Abgeordnete, Senatoren, Minister und Journalisten, die Linke und die Rechte, alle Parteien drängten sich hier so bunt und zahlreich durcheinander, wie die blauen, grünen und roten Plakate, welche die Wände bedeckten; man schrie, man flüsterte, man beobachtete sich von Gruppe zu Gruppe, der eine ging beiseite, um seine nächste Rede im Stillen zu überdenken, indes ein andrer, ein Tribun der Korridore, mit einer Stentorstimme, welche die Kammer niemals hören sollte, die Fensterscheiben erzittern machte. Dialekte aus Nord und Süd, die verschiedensten Ansichten und Temperamente, ehrgeizige Bestrebungen und Ränke aller Art wimmelten und wogten durcheinander, während die fieberhaft erregte Menge sich geräuschvoll hin und her bewegte, und sicher war hier in dieser Ungewißheit des Wartens, in diesem Reisegetümmel mit vorgeschriebener Abfahrtszeit, das durch einen einzigen Pfiff auf langgestreckte Schienen, zwischen Signalscheiben und Lokomotiven, auf einen schwankenden Boden voll Zufälle und Ueberraschungen geschleudert wurde, die Politik an ihrem rechten Platze.
Nach Verlauf von fünf Minuten sah Valmajour Numa Roumestan am Arme eines Sekretärs, der seine Schriftentasche trug, herankommen. Mit offenem Ueberrock und strahlendem Gesichte erschien er ihm wie damals auf der Tribüne des Amphitheaters von Aps, und von weiten schon erkannte er seine Stimme und seine gütigen Worte, seine Freundschaftsversicherungen . . . »Sie können darauf rechnen . . . verlassen Sie sich auf mich . . . es ist so gut, als hätten Sie es schon . . .«
100 Der Minister war jetzt in den Flitterwochen seiner Machtstellung. Abgesehen von politischen Gegnerschaften, die oft im Parlament weniger heftig sind, als man glauben sollte, abgesehen von der Nebenbuhlerschaft einiger Schönredner und den Zwistigkeiten mit Advokaten, die entgegengesetzte Rechtssachen vertraten, besaß er keine Feinde, da er in den drei Wochen seines Ministeramtes noch keine Zeit gehabt hatte, die Bittsteller ungeduldig zu machen. Noch schenkte man ihm Glauben. Kaum fingen zwei oder drei an ärgerlich zu werden und ihn im Vorübergehen anzusprechen. Diesen warf er, indem er beschleunigten Schrittes an ihnen vorüberging, ein weithin vernehmliches »Wie geht's, guter Freund!« zu, womit er etwaigen Vorwürfen zuvorkam und dieselben zugleich widerlegte, die Beschwerden der Bittsteller in vertraulicher Weise fern hielt, und so letztere gleichzeitig enttäuscht und geschmeichelt zurückließ. Ein wahrer Glücksfund dieses »Wie geht's, guter Freund!« mit seiner ganz unwillkürlichen Doppelsinnigkeit.
Beim Anblick des Musikers, der sich ihm schlenkernden Schrittes und mit dem stehenden Lächeln, bei dem er seine weißen Zähne zeigte, näherte, hatte Numa gute Lust, sein vernichtendes »Wie geht's, guter Freund!« loszulassen; wie aber konnte er diesen Burschen mit dem kleinen Filzhut und der grauen Jacke, aus welcher seine sonnverbrannten Hände dunkelschwarz, wie auf einer Bauernphotographie hervorragten, als Freund anreden? Er zog es daher vor, seine »Ministermiene« anzunehmen, steif und stramm vorüberzugehen, um den armen Teufel verblüfft und wie vernichtet inmitten der drängenden, stoßenden Menge hinter sich zu lassen. Valmajour kehrte zwar an den folgenden Tagen wieder, wagte aber nicht, sich zu nähern, sondern blieb am Rande einer Bank als eine jener traurigen, stumm ergebenen Gestalten sitzen, wie man deren auf den Bahnhöfen sieht, und welche, an Soldaten oder Auswanderer erinnernd, gewärtig scheinen, allen Zufällen eines bösen Geschickes entgegenzugehen. Roumestan konnte dieser stummen Erscheinung, die er stets auf seinem Wege fand, nicht entgehen. Es half ihm nichts, daß er sich den Anschein gab, als kenne 101 er ihn nicht, daß er seine Blicke abwandte, und während er an ihm vorüberging, lauter als gewöhnlich sprach, – das Lächeln seines Opfers blieb da und wich nicht bis zur Abfahrt des Zuges. Unstreitig hätte Roumestan ein grobes Auftreten mit Schreien und Lärmen, dem die Polizei ein Ende gemacht haben würde, indem sie ihn von Valmajour befreite, lieber gesehen; ja er, der Minister, entschloß sich zuletzt sogar, den Bahnhof zu wechseln und manchmal auf dem linken Ufer abzufahren, nur um diesem lebendigen Vorwurf aus dem Wege zu gehen. Derartige nichtig erscheinende Störungen – das Kieselsteinchen im Siebenmeilenstiefel – fehlen auch im Leben der Höchstgestellten nicht.
Trotz alledem verlor Valmajour den Mut noch nicht.
»Er wird krank sein . . .« sagte er sich an solchen Tagen, an denen der Minister ausblieb, und fand sich nach wie vor auf seinem Posten ein. Zu Hause erwartete ihn die Schwester in fieberhafter Erregung.
»Nun, wie ist's? Hast du den Minister gesprochen? Hat er das Papier unterzeichnet?«
Und was sie noch mehr zur Verzweiflung brachte, als das ewige: »Nein . . . noch nicht! . . .« das war das Phlegma, mit dem ihr Bruder sein Instrument, dessen Ledergurt auf seiner Schulter eingeprägt war, in einen Winkel fallen ließ – ein Phlegma der Sorglosigkeit, eine Trägheit, die man bei südlichen Naturen ebenso häufig findet, wie die Lebhaftigkeit. Das seltsame kleine Wesen geriet dadurch in förmliche Raserei. Hatte er denn Fischblut in den Adern! . . . Wollte er denn nie ein Ende machen? . . . »Paß auf, wenn ich mich einmal ins Mittel lege! . . .« Er aber ließ mit der größten Seelenruhe das Gewitter an sich vorüberziehen, nahm seine Flöte und den Trommelschlegel mit der Elfenbeinspitze aus dem Etui, rieb sie mit einem Stückchen Wolle ab, um die Feuchtigkeit fernzuhalten, und versprach dabei, sich am nächsten Tage besser anzustellen, es noch einmal zu versuchen, und wenn Roumestan nicht da sein sollte, nach seiner Frau zu fragen.
»Ach was, nach seiner Frau . . . du weißt wohl, daß 102 sie deine Musik nicht liebt. . . . Wenn es noch das Fräulein wäre, . . . Ja, das ließe sich hören! . . .«
»Die Frau oder das Fräulein, das ist gleich, sie machen sich doch alle nur über euch lustig . . .« sagte Vater Valmajour, der vor einem Torffeuer niedergekauert war, das seine Tochter sparsamerweise mit Asche bedeckte, und welches dadurch zu einem Gegenstand beständigen Streites zwischen ihnen wurde.
Im Grunde war der Alte neidisch auf das Talent seines Sohnes und somit über dessen Mißerfolg nicht allzu traurig. Wie alle Verwickelungen, so entsprach auch diese große Umwälzung ihrer Lebensverhältnisse seinem Geschmack für ein abenteuerliches Zigeuner- und Musikantenleben. Zuerst hatte er sich auf die Reise und auf Paris gefreut, auf »Paris, das Paradies der Frauen und die Hölle der Pferde«, wie die Fuhrleute im Süden zu sagen pflegen, indem ihre Einbildungskraft ihnen in luftige Schleier gehüllte Huris und Pferde vormalt, welche inmitten der Flammen sich vor Schmerzen winden und bäumen. Statt dessen fand er bei seiner Ankunft Kälte, Entbehrungen, Regen. Aus Furcht vor Audiberte und aus Ehrfurcht vor dem Minister hatte er sich bisher begnügt, zitternd vor Frost in seinem Winkel vor sich hinzubrummen und mürrisch mit den Augen zu blinzeln; jetzt aber gaben ihm der Wortbruch Roumestans und die Zornesergüsse seiner Tochter das Recht, seinem Herzen Luft zu machen, und er nahm nun seine Rache für alle Wunden, welche die Erfolge seines Sohnes seit zehn Jahren seiner Eitelkeit geschlagen hatten.
»Geh mir doch mit deiner Musik . . .« murrte er achselzuckend, wenn er die Flöte hörte, . . . »die wird dich weit bringen.«
Und ganz laut konnte er fragen, ob es nicht zum Erbarmen sei, ihn, einen Mann von seinem Alter, so weit weg in dieses Kleinsibirien geschleppt zu haben, um ihn vor Kälte und Elend umkommen zu lassen; dann rief er seine arme, selige Frau an, die er zu Tode geärgert hatte, und jammerte stundenlang, den feuerroten Kopf dicht auf die Glut des Kamins gesenkt und grimmige Gesichter schneidend, bis 103 seine Tochter, der Klagen überdrüssig, sich seiner entledigte, indem sie ihm zwei oder drei Sous zu einem Glas Likör gab. Im Wirtshause hatte seine Verzweiflung sofort ein Ende. Hier, am knisternden Ofen, war es gut sein. Der alte Gaukler taute auf und gefiel sich alsbald wieder in seiner närrischen Laune eines italienischen Possenreißers mit der großen Nase, den dünnen Lippen und dem kleinen, verschrobenen Körper. Er erheiterte die Anwesenden durch seine Aufschneidereien und machte sich über das Tambourin seines Sohnes lustig, das ihnen im Hotel allerlei Verdruß zuziehe, denn Valmajour bearbeitete jetzt in Erwartung seines ersten Auftretens sein Instrument bis in die tiefe Nacht hinein, und die Nachbarn hatten sich über die allzuschrillen Triller der kleinen Flöte und über das beständige Trommeln, das die Treppen erzittern machte, als wäre im fünften Stockwerk ein Turm im Wanken, beklagt.
»Mach nur weiter . . .« sagte Audiberte zu ihrem Bruder, wenn der Eigentümer des Hauses sich beschwerte. Sonst fehlte nichts, als daß man in diesem Paris mit seinem Höllenlärm, der einen die ganze Nacht kein Auge zuthun läßt, nicht das Recht haben sollte, seine Musik einzustudieren! Und er studierte weiter. Aber die Folge war, daß man ihnen kündigte; und diese Passage du Saumon, die in Aps so berühmt war und sie an die Heimat erinnerte, verlassen zu müssen, erschien ihnen wie eine Verschärfung ihrer Verbannung, wie ein Weiterrücken nach Norden.
Am Tage vor dem Auszug ließ Audiberte nach dem täglichen, fruchtlosen Gang des Tambourinkünstlers die Männer in Eile essen und sprach während der ganzen Mahlzeit nicht, aber in ihren Augen leuchtete ein fester Entschluß, der sich auch in ihrem ganzen Wesen aussprach. Nach beendigtem Frühstück überließ sie es ihnen, den Tisch abzudecken, und warf ihren rostfarbigen langen Mantel über die Schultern.
»Zwei Monate, bald zwei Monate sind wir nun in Paris! . . .« murmelte sie in verhaltenem Zorn. . . . »Ich habe es nun satt. . . . Ich will selbst einmal mit ihm sprechen, mit diesem ›Menister‹! . . .«
104 Sie ordnete das Band ihrer schrecklichen kleinen Haube, die hoch auf den breitgewellten Haaren sitzend, die Bewegungen eines Kriegshelmes annahm, und verließ heftig die Stube, indem sie mit ihren sauber gewichsten Absätzen bei jedem Schritte den dicken Wollstoff ihres Kleides zurückstieß. Vater und Sohn blickten sich entsetzt an, ohne jedoch zu versuchen, sie zurückzuhalten, denn sie wußten nur allzuwohl, daß sie dadurch ihren Zorn bloß steigern würden; so blieben sie den Nachmittag über allein in erwartungsvollem Schweigen, und während unten der Regen auf das Glasdach niederströmte, putzte der eine seinen Trommelschlegel und seine Flöte, indes der andre die Mahlzeit bereitete und das Feuer aufs kräftigste unterhielt, um sich während der langen Abwesenheit Audibertes einmal nach Herzenslust zu erwärmen. Endlich ertönte ihr eiliger, kurzer Schritt auf dem Korridor und sie trat mit strahlender Miene ein.
»Schade, daß das Fenster nicht auf die Straße geht,« sagte sie, indem sie ihren Mantel ablegte, auf dem keine Spur vom Regen zu erblicken war. . . . »Ihr hättet sonst die schöne Equipage sehen können, die mich hierhergebracht hat.«
»Eine Equipage? . . . Du spaßest! . . . Du scherzest wohl!«
»Und die Lakaien und die goldenen Tressen. . . . Das hat ein Aufsehen im Hotel gemacht!«
Und nun berichtete sie mit Worten und Gebärden, während die beiden in stummer Bewunderung lauschten, von dem Erfolge ihrer Unternehmung. Vor allem hatte sie, anstatt nach dem Minister zu fragen, der sie nie vorgelassen haben würde, sich die Adresse – mit guten Worten kann man alles haben – die Adresse der Schwester geben lassen, des großen Fräuleins, das mit ihm nach Valmajour gekommen war. Sie wohnte nicht im Ministerium, sondern bei ihren Eltern in einem Stadtviertel mit kleinen, schlecht gepflasterten Straßen, in denen es nach Spezereien und Apothekerwaren roch, und die Audiberte an ihre Heimat erinnerten. Es war weit ab und sie mußte tüchtig marschieren. Endlich hatte sie das Haus gefunden; es stand auf einem Platz mit Bogengängen, gerade wie die Arkaden 105 am kleinen Platze zu Aps. Ah, das brave Fräulein, wie gut sie sie aufgenommen hatte, ganz ohne Stolz, obwohl es gar reich bei ihr aussah, schöne Vergoldungen, die ganze Wohnung voll, und seidene Vorhänge an allen Seiten, so und so aufgesteckt.
»Ah! Sie sind also in Paris? . . . Wie kommt das? . . . Wie lange schon?«
So war sie empfangen worden, und dann, nachdem sie ihr gesagt, wie es Numa mit ihnen machte, hatte sie sofort ihre Kammerfrau herbeigeklingelt – auch einer vornehmen Dame– und sie waren alle drei nach dem Ministerium gefahren.
»Dort aber hättet ihr die Zuvorkommenheit und die tiefen Bücklinge all dieser alten Büttel sehen sollen, die vor uns herliefen, um uns die Thüren zu öffnen.«
»So hast du also den Minister gesehen?« fragte Valmajour ängstlich, während sie Atem schöpfte.
»Ob ich ihn gesehen habe? Ich will's wohl meinen . . . . Und freundlich war er, das darfst du glauben! . . . Habe ich dir's nicht immer gesagt, du dummer Kerl, daß man das Fräulein mit ins Spiel ziehen müsse! . . . Hättest du nur gesehen, wie schnell sie alles in Ordnung brachte, und ohne jeden Einwand. . . . In acht Tagen wird eine große musikalische Festlichkeit im Ministerium gehalten, um dich den Direktoren vorzustellen. . . . Und dann unmittelbar darauf krickkrack, die schriftliche Abmachung und Unterzeichnung.«
Das Schönste aber war, daß sie vom Fräulein soeben im Wagen des Ministers bis unten vor die Thür begleitet worden war.
»Und sie hatte nicht übel Lust mit heraufzukommen,« fügte die Provençalin hinzu, indem sie ihrem Vater zublinzelte und ihr hübsches Gesicht zu einer vielsagenden Grimasse verzerrte. Das ganze Gesicht des Alten mit seiner klapperdürren Haut verzog sich, wie um zu sagen: »Verstanden . . . still davon! . . .« Jetzt riß er keine schlechten Witze mehr über das Tambourin. Valmajour selbst blieb völlig ruhig und bemerkte nichts von der versteckten Anspielung seiner Schwester. Er dachte nur an sein demnächstiges Auftreten, und indem er sein Instrument zur Hand nahm, ging er noch einmal alle seine Weisen durch, 106 daß die hellen Triller reihenweise und in übertriebenen Rhythmen als Abschiedsgrüße von einem bis zum andern Ende der Passage widerhallten.