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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Ida langweilt sich.

Der erste Besuch von Ida von Barancy in Etiolles verursachte Jack sehr viel Freude, aber zugleich auch große Unruhe. Er war stolz auf seine wiedergefundene Mutter, aber er kannte auch ihre Schwatzhaftigkeit und Gedankenlosigkeit und fürchtete Cäciliens Urteil. Die ersten Augenblicke des Zusammenseins beruhigten ihn wieder; abgesehen von dem pathetischen Ton, in dem Ida Cäcilie »meine Tochter,« nannte, verlief die Begegnung ganz befriedigend; sobald aber Ida von Barancy unter dem Einfluß des guten Frühstücks ihre würdige Haltung aufgab, wie ein junges Mädchen lachte, das seine Zähne gern zeigt und abenteuerliche Geschichten zu erzählen begann, fühlte Jack seine Befürchtungen bestätigt. Man sprach von Herrn Rivals Eltern, die in den Pyrenäen lebten.

»Ach ja, die Pyrenäen,« seufzte sie. »Ich bin vor fünfzehn Jahren mit einem Bekannten, dem Herzog von Cassarèl, einem Spanier, dort gewesen. Ein verrückter Mensch! Ich hätte wohl zwanzig Mal den Hals brechen können; denken Sie sich, wir fuhren von Doumont mit Vieren in gestrecktem Galopp hinab, und der Champagner floß in Strömen. Ein origineller Mensch, dieser kleine Herzog; ich hatte ihn in Biarritz kennen gelernt.«

Und als Cäcilie bemerkte, daß sie für die See schwärme:

»Ja, meine Kleine, wenn Sie das Meer gesehen hätten, wie ich es in einer stürmischen Nacht auf der Höhe von Palma sah! Ich saß mit dem Kapitän des Dampfers zusammen, einem ungeschlachten Menschen, der mich zwingen wollte, Punsch zu trinken; und als ich nicht mochte, wurde der Kerl toll vor Wut, öffnete das Fenster, packte mich im Genick und hielt mich in den Regen und Gischt hinaus, es war gräßlich.«

Jack versuchte, diese gefährlichen Geschichten zu unterdrücken, aber vergebens, sie begannen stets von neuem.

Dessenungeachtet begegnete Cäcilie der Mutter ihres Freundes mit liebevoller Ehrfurcht, aber wie wurde dem Unglücklichen erst, als er beim Beginn des Unterrichts das junge Mädchen zu seiner Mutter sagen hörte:

»Wollen wir ein wenig in den Garten gehen?«

Nichts war natürlicher, aber der Gedanke, die beiden allein zu lassen, erfüllte sein Herz mit Schrecken. Was mochte sie ausplaudern! Zum ersten Mal fand Jack die Stunde lang und fühlte sich erst zufrieden und glücklich, als er Arm in Arm mit seiner Braut durch den Wald dahinschritt. Aber auch diese schönste Stunde des Tages wurde durch die Mutter gestört. Ida verstand nichts von der Liebe, sondern fand sie lächerlich und sentimental. Sie hatte für die Liebenden nur ein bedeutungsvolles Lächeln, ein »Hm, Hm«; aber sie stützte sich mit ausdrucksvollem Seufzer auf den Arm des Doktors:

»Ach, Doktor, die Jugend ist doch schön!«

Aber das schlimmste war, daß sie die jungen Leute fortwährend rief:

»Kinder, geht nicht so weit, bleibt hier, daß man Euch sehen kann.«

Zwei oder drei Mal bemerkte Jack, wie der Doktor ein Gesicht schnitt; er war sichtlich aufgebracht. Aber trotz alledem war der Wald so wundervoll, Cäcilie so zärtlich, daß der arme Bursche allmählich seine gefährliche Gefährtin vergaß. Aber Ida ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

Vor der Hütte des Waldhüters machten die Spaziergänger einen Augenblick Halt. Als Mutter Archambauld ihre ehemalige Gebieterin erblickte, erging sie sich in Höflichkeitsbezeugungen aller Art, ohne indessen nach dem Herrn zu fragen, denn ihr gesunder Bauernverstand begriff recht gut, daß von ihm nicht die Rede sein durfte. Aber der Anblick dieses guten, ergebenen Geschöpfes wurde der ehemaligen Frau d'Argenton verhängnißvoll. Ohne das von Mutter Archambauld in aller Eile hergerichtete Vesperbrot zu berühren, erhob sie sich plötzlich und eilte mit hastigen Schritten den Weg zum Erlenhäuschen hinauf. Sie wollte Parva domus wiedersehen.

Das Häuschen war bis zum Dach mit wildem Wein und Epheu bewachsen, Hirsch mochte abwesend sein, denn die Läden waren geschlossen und der Garten war vereinsamt. Ida stand einen Augenblick unbeweglich, dann pflückte sie eine Clematisblüte, setzte sich auf die Treppenstufen und atmete mit geschlossenen Augen den Duft ein.

»Was ist Dir?« fragte Jack, der ihr gefolgt war.

Sie erhob ihr thränenüberströmtes Gesicht:

»Nichts ... Ein wenig Erholung ... Ich habe hier soviel begraben'«

In der That sah das verlassene Haus mit der lateinischen Inschrift wie ein Grab aus. Sie trocknete sich die Augen, aber mit ihrer Heiterkeit war es vorbei. Vergebens versuchte Cäcilie, der gesagt worden war, Frau d'Argenton sei von ihrem Mann geschieden, den peinlichen Eindruck durch Zärtlichkeiten zu verwischen, vergebens suchte Jack sie zu zerstreuen, indem er von seinen schönen Zukunftsplänen sprach:

»Siehst Du, mein Kind,« sagte sie, als beide am Abend nach dem Bahnhof von Evry fuhren, »ich werde Dich nicht oft begleiten können, ich habe zuviel gelitten.«

Ida ließ mehrere Sonntage vorübergehen, ohne nach Etiolles zu kommen und von jetzt ab mußte Jack seinen einzigen Feiertag teilen: Cäcilien die eine Hälfte widmen, aber auf den schönsten Teil des Tages, den Waldspaziergang und die gemütliche, abendliche Plauderstunde verzichten und Nachmittags nach Paris zurückkehren, um mit seiner Mutter zu essen. Bei seiner Ankunft fand er sie meistens im Flur mit Frau Levindré plaudernd. Belisar und seine Frau, die Sonntags regelmäßig von Mittag bis nach Mitternacht aus waren, hätten Ida von Barancy gern mitgenommen, aber sie schämte sich, in Gesellschaft dieser armen Leute zu erscheinen und zog den Verkehr mit den faulen, schwatzhaften Levindrés vor. Ja, der dunkele, dumpfige Flur hatte schon manche vertrauliche Mitteilung, manchen Seufzer angehört:

»Ja, Frau Levindré ...«

»Ach, Frau von Barancy ...«

Und Herr Levindré, der ein politisches System erfunden hatte, entwickelte seine hochtrabenden Redensarten, während ein gleichmäßiges dumpfes Schnarchen aus dem Verschlag drang, wo der Kamerad seinen Rausch ausschlief. Aber auch Levindrés besuchten Sonntag zuweilen Verwandte oder Freunde, und an solchen Tagen begab sich Ida, um der Langeweile und Einsamkeit zu entgehen, in das Lesekabinet der Frau Léveque hinunter, wo Jack sie schon zu finden wußte. Dort saß sie einsam am Fenster und las Romane, bis ihr der Kopf schwindelte; sie las, um Grübeleien und Gewissensbisse zu vermeiden. Der klare Himmel und die Sommerluft ließen die ärmliche Umgebung noch düsterer erscheinen und dann überwältigte sie die Erinnerung. O das herrliche Leben in Etiolles, die fröhlichen Mahlzeiten, der Ruf der ankommenden Gäste, die schönen Abende auf der italienischen Terrasse, wenn »Er«, an einen Pfeiler gelehnt, erhobenen Hauptes im Mondschein deklamirte:

»Ich glaube an die Liebe, wie an den lieben Gott!«

Wo war er? Wie ging es ihm? Das Buch entsank ihren Händen und sie überließ sich ihren Gedanken, bis ihr Sohn heimkehrte, dem sie zuzulächeln versuchte. Er aber erriet ihren Gemütszustand sofort an der Unordnung, die im Zimmer herrschte, an der nachlässigen Kleidung der früher so eitlen Frau, die jetzt in zerknittertem Morgenrock und ausgetretenen Schuhen durch die Dachstube schlenderte und nicht im Geringsten für das Mittagessen gesorgt hatte.

»Ich habe nichts vorbereitet, es ist so heiß ... und ich hatte gar keine Lust.«

»Weshalb keine Lust? gefällt es Dir nicht mehr bei mir? Du langweilst Dich, nicht wahr?«

»Nein, gewiß nicht, mein Jack.«

»Nun, dann laß uns außerhalb essen; das wird Dich zerstreuen.«

Vor allem fehlte Ida die Gelegenheit, Toilette zu machen, ihre auffallenden, kleidsamen Anzüge zu tragen, die für ihre jetzige Stellung viel zu prächtig waren und deshalb unbeachtet im Schrank hingen.

Zu den sonntäglichen Spaziergängen zog sie sich so bescheiden wie möglich an und folgte mit Jack dem hinausflutenden Menschenstrom. In einem kleinen Restaurant in Bagnolet oder Romainville machten sie Halt und aßen schweigend zu Mittag. Dann und wann versuchten sie auch wohl zu plaudern und ihre Gedanken auszutauschen, aber gerade in dieser Hinsicht machte sich die Verschiedenheit ihres Wesens recht deutlich fühlbar, sie waren zu lange von einander getrennt gewesen. Jack, dessen Geist und Verständnis von Tag zu Tag mehr erwachte, erschrak oft über die niedrige Gesinnung seiner Mutter, er entdeckte mit Entsetzen auf ihrem schönen Antlitz das Mienenspiel und das Lächeln des Feindes, welches ihn als Kind so oft geängstigt hatte. Nach dem Essen unternahmen sie an schönen Abenden meistens einen Spaziergang durch die Anlagen der Buttes Chaumont und setzten sich zum Schluß an irgend einem schönen Aussichtspunkte auf eine Bank. Zu ihren Füßen lag Paris, von bläulichem Dunst umgeben, und ringsum herrschte fröhliches Volksgewühl. In der Nähe der Musikkapelle spazierten die aufgeputzten, kleinen Kaufleute, auf den großen Rasenplätzen lagerten Arbeiterfamilien, oder sie spielten, lärmten in den ehemaligen Steinbrüchen. Ida schaute diesem Leben und Treiben mit gewisser Verachtung zu und die Art, wie sie den Kopf in die Hand stützte und mit dem Sonnenschirm Figuren in den Sand zeichnete, sprach deutlich genug: »Wie langweilig«. Angesichts dieses beständigen Trübsinns kam sich Jack so machtlos vor; er hätte wohl gewünscht, die Bekanntschaft einer einfachen, aber anständigen Familie zu machen, um seiner Mutter den Verkehr mit einer Frau zu ermöglichen und er glaubte auch das Richtige gefunden zu haben.

Es war an einem Sonntag im Garten der Buttes Chaumont. Vor ihnen schritt ein alter gebückter Mann von ländlichem Aussehen neben zwei Kindern, zu denen er sich mit der unermüdlichen Geduld und dem Eifer eines Großvaters hinabbeugte.

»Die Gestalt muß ich kennen,« sagte Jack zu seiner Begleiterin: »Gewiß, ich irre mich nicht, es ist Vater Roudic.«

Es war in der That Vater Roudic, aber so alt und schlaff, daß ihn der ehemalige Lehrling aus Indret nur an dem vierschrötigen, kleinen Mädchen erkannte, welches ein genaues Abbild Zenaidens war, während dem kleinen Burschen nur ein Käppi fehlte, um Herrn Mangin aufs Haar zu gleichen.

»Sieh da, der kleine Kerl,« sagte der alte Mann zu Jack, als dieser ihn anredete und ein trauriges Lächeln glitt über sein welkes Gesicht.

Nun bemerkte Jack erst, daß er einen Trauerflor um den Hut trug, wagte aber aus Zartgefühl nicht, nach der Ursache zu fragen, als plötzlich Zenaide erschien, die, seit sie ihren faltigen Rock mit einem städtischen Kleid vertauscht hatte, noch viereckiger als sonst aussah. Sie hatte ihren Mangin untergefaßt, der jetzt in Paris angestellt war und auf den sie noch immer sehr stolz zu sein schien. Aber auch er sah glücklich aus, und schon an der Art, wie er seine Frau ansah, konnte man erkennen, daß er seine Zenaide jetzt auch ohne Mitgift genommen hätte. Jack stellte den braven Leuten seine Mutter vor, und als die Gesellschaft sich in zwei Gruppen verteilte, gelang es ihm leise zu fragen:

»Was ist denn vorgefallen? Ist Frau Clarisse ...?«

»Ja, sie ist tot, sie ertrank vor zwei Jahren in der Loire ... wir sagen aus Zufall ... des Vaters wegen, aber Sie kannten sie ja, Jack, und können sich wohl denken, daß sie aus Kummer über den Nanteser in den Tod gegangen ist. Ja, ja, die Männer!«

Die gute Zenaide ahnte nicht, daß sie mit diesen Worten Jack, der seine Mutter seufzend betrachtete, ins Herz traf.

»Der arme Vater Roudic,« fuhr Zenaide fort, »wir haben geglaubt, er würde es nicht überleben. Als Mangin nach Paris versetzt wurde, haben wir ihn zu uns genommen und wohnen in der Rue des Lilas in Charonne ... Sie müssen ihn besuchen, Jack, er hat seinen kleinen Kerl immer gern gehabt. Aber nun lassen sie uns zu den anderen gehen, er hat sich schon zweimal nach uns umgesehen, sicherlich ahnt er, wovon wir sprechen.«

Ida, die mit Herrn Mangin in lebhafte Unterhaltung verwickelt war, hielt plötzlich inne, als Jack neben sie trat. Wovon hatte sie denn eben gesprochen? Ein Wort Vater Roudic's klärte ihn alsbald auf:

»Ja, gewiß, er verstand zu reden und der Brotkuchen schmeckte ihm auch gut.«

Er begriff, daß von d'Argenton die Rede war. Man hatte Ida nach ihrem Manne gefragt und sie hatte sich, glücklich von ihm reden zu können, über diesen interessanten Gesprächsgegenstand ausgelassen. Endlich nahm man mit dem Versprechen Abschied, sich bald zu besuchen. Jack war entzückt, die braven Leute gefunden zu haben, die ihm ein viel passenderer Verkehr für seine Mutter dünkten, als die Familien Levindré und Léveque. Er ging also zuweilen mit Ida zu ihnen und fand in der engen Vorstadtwohnung die Muscheln, Schwämme und Seepferdchen von Indret wieder und fühlte sich in der ländlichen Einfachheit und Sauberkeit unendlich wohl. Aber er bemerkte bald, daß seine Mutter die fleißige, praktische Zenaide langweilig fand und daß sie auch hier wie überall von derselben Unlust und Gleichgiltigkeit ergriffen wurde, die sie in den wenigen Worten aussprach: »Es riecht nach Arbeitern!«


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