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Wer, durch Arbeit oder Krankheit ins Haus gebannt, sein Leben in demselben Raume, an demselben Fenster zubringt, wird nicht nur mit den Mauern, Dächern und Fenstern der Nachbarschaft vertraut – er beschäftigt sich auch mit den Vorübergehenden. Während er selbst zur Unbeweglichkeit verurteilt ist, versenkt er sich in das rege Leben und Treiben der Straße, und die geschäftigen Menschen, die täglich zu bestimmten Stunden an ihm vorbeikommen, ahnen nicht, daß sie andern, stillen Existenzen gleichsam als Zeitmesser dienen, von Freundesaugen beobachtet und schmerzlich vermißt werden, wenn sie zufällig einen andern Weg gegangen sind.
Auch die beiden Delobelles, die Tag für Tag in ihren vier Wänden blieben, machten solche Beobachtungen. Da das Fenster schmal war, pflegte die Mutter, deren Augen durch die Arbeit gelitten hatten, dicht an der zurückgeschobenen Gardine zu sitzen, während der große Lehnstuhl ihrer Tochter zwar dicht neben ihr, aber doch etwas vom Fenster entfernt stand. Die Mutter pflegte Désirée die täglich Vorübergehenden zu nennen: es war eine kleine Zerstreuung, gab Stoff zum Gespräch und die langen Arbeitsstunden schienen schneller zu verfließen, wenn sie durch das regelmäßige Kommen und Gehen andrer, beschäftigter Menschen gleichsam gemessen wurden. Da kamen zwei kleine Schwestern, ein Herr im grauen Ueberrock, ein Knabe, der in die Schule geführt und wieder abgeholt wurde, und ein alter Beamter mit einem Stelzfuße, dessen Schritte dröhnend vom Trottoir heraufklangen. Letzterer war übrigens kaum zu sehen, denn er ging erst nach Einbruch der Dunkelheit vorüber; aber man hörte ihn und sein schwerer Tritt erschien der kleinen Lahmen wie das Echo ihrer düstersten Gedanken. Alle diese Bekannten von der Straße nahmen ahnungslos das Interesse der beiden Frauen in Anspruch. Bei Regenwetter hieß es: »Die Armen werden naß . . . Ob das Kind wohl vor dem Platzregen nach Hause gekommen ist?« – Und beim Wechsel der Jahreszeiten, wenn die Märzsonne auf die rieselnden Trottoirs fiel, oder der Dezemberschnee sie mit einer schwarz und weiß gefleckten Decke überzog, sagten sich die beiden Klausnerinnen beim Anblick eines neuen Kleidungsstückes ihrer Freunde: »Es wird Sommer!« oder »Der Winter ist da!«
Jetzt aber war ein Maiabend gekommen, einer jener hellen, stillen Abende, die das Leben in den Häusern an die offnen Fenster locken. Désirée und ihre Mutter regten Nadeln und Finger mit verdoppeltem Eifer, um vor dem Anzünden der Lampe das letzte Tageslicht auszunutzen. Das fröhliche Geschrei spielender Kinder klang aus den Höfen herauf, fernes Klavierspiel war zu hören und das Rufen der Straßenverkäufer, die mit halbgeleertem Karren vorüberfuhren; die Luft war vom Hauch des Frühlings, von leisem Hyacinthen- und Fliederduft erfüllt.
Madame Delobelle hatte eben ihre Arbeit weggelegt und horchte, ehe sie das Fenster schloß, mit aufgestützten Ellbogen auf das Getöse der großen, geschäftigen Stadt, das fröhliche Leben und Treiben des Feierabends in den Straßen. Zuweilen richtete sie, ohne sich umzusehen, ein Wort an ihre Tochter.
»Ei! da ist ja Herr Sigismund . . . wie früh er heute abend die Fabrik verläßt!. . . Aber vielleicht kommt es mir nur so vor, weil die Tage länger werden . . . Es kann doch aber noch nicht sieben sein? . . . Wen der alte Kassierer wohl bei sich hat? . . . Sonderbar . . . man könnte wirklich glauben, es wäre Franz Risler . . . aber das ist ja nicht möglich! Monsieur Franz ist weit von hier . . . auch hatte er keinen Bart . . . dennoch ist's eine große Aehnlichkeit . . . sieh 'mal her, Kind!«
Aber das Kind bleibt im Sessel sitzen, rührt sich nicht einmal. Mit in die Ferne schauendem Blick und erhobener Nadel, wie plötzlich inmitten ihrer Arbeit gebannt, sitzt Désirée da, in das Zauberland der Phantasie entrückt, das zu erreichen kein Gebrechen hindert. Der Name Franz, den ihre Mutter halb mechanisch beim Anblick einer flüchtigen Aehnlichkeit genannt hat, umschließt für sie eine ganze Welt holder Träume, süßer Hoffnungen, vergänglich wie das Erröten, das ihr in die Wangen stieg, wenn er abends, beim Nachhausekommen, einen Augenblick vorsprach, um mit ihr zu plaudern. Wie fern lag das alles! Und doch hatte er einst nebenan gewohnt; sie hatte seinen Schritt auf der Treppe und das ans Fenster Schieben seines Zeichentisches im Nachbarstübchen hören können. Und wie that es ihr wohl und weh, ihm zu lauschen, wenn er auf dem niedrigen Schemel zu ihren Füßen saß und von Sidonie sprach, während sie mit ihren Vögeln und Käfern beschäftigt war.
Sie sprach ihm Mut ein, indes sie emsig weiter arbeitete, und suchte ihn zu trösten, denn Sidonie hatte dem armen Franz manches kleine Herzeleid angethan, ehe sie ihm das große zufügte. Der Ton seiner Stimme, wenn er von ihrer Nebenbuhlerin sprach, der Glanz seiner Augen, wenn er an sie dachte, bezauberten die kleine Désirée, und als er in Verzweiflung fortging, war »die Liebe, die dahinten blieb«, noch größer als die, welche er mit sich nahm. Eine Liebe, die in der immer gleichen Umgebung, der immer gleichen Lebensweise unabänderlich dieselbe bitter-schmerzliche bleiben mußte, während seine Empfindung allen Winden preisgegeben, unter fremdem Himmel, auf fremden Wegen vielleicht verblaßte und verflog.
Das Tageslicht verschwindet mehr und mehr und mit der wachsenden Dunkelheit kommt eine tiefe Schwermut über das junge Mädchen. Der Freudenschimmer der Vergangenheit verblaßt wie der Tagesschein in der engen Fensternische, in der die Mutter mit aufgestützten Armen sitzen geblieben ist.
Plötzlich wird die Thür geöffnet; auf der Schwelle erscheint eine Gestalt, die nicht mehr deutlich zu sehen ist . . . Wer kann es sein? Die beiden Delobelles bekommen keinen Besuch und die Mutter, die sich umgewendet hat, sagt – in der Voraussetzung, daß jemand aus dem Modemagazin geschickt werde, ihre Wochenarbeit abzuholen: »Mein Mann ist schon gegangen, Monsieur, wir haben nichts mehr hier . . .«
Der Fremde tritt, ohne zu antworten, auf sie zu, und je mehr er sich dem Fenster nähert, um so deutlicher erscheint sein Profil auf dem dämmerigen Hintergründe. Es ist ein großer, kräftig gebauter, sonnenverbrannter Bursche mit dichtem, blondem Bart, der endlich mit voller Stimme und etwas schwerfälliger Aussprache fragt: »Ist's möglich, Madame Delobelle, Sie erkennen mich nicht?«
»Ich, Monsieur Franz, habe Sie gleich erkannt,« antwortet Désirée in kaltem, förmlichem Tone.
»Barmherziger Gott, Monsieur Franz!«
Schnell, schnell stürzt Madame Delobelle auf die Lampe zu, zündet sie an und schließt das Fenster.
»Wie, Sie sind es wirklich, lieber Franz? . . . Wie ruhig die Kleine das sagte: ›Ich habe Sie gleich erkannt‹. . . . So ein kleiner Eisblock . . . Sie wird nie anders werden!«
Sie ist wirklich wie ein kleiner Eisblock . . . bleich, ganz bleich, und ihre Hand, die Franz erfaßt hat, liegt weiß und kalt in der seinigen.
Er findet sie schöner, zarter geworden, während er ihr herrlich vorkommt wie immer und der Ausdruck von Müdigkeit und Schwermut, der in seinen Augen liegt, ihn nur männlicher erscheinen läßt als bei seiner Abreise.
Die Müdigkeit kommt von der Hast seiner Reise, die er gleich nach Empfang des furchtbaren Planusschen Briefes angetreten. Das Wort »Schande« hat ihn angestachelt; augenblicklich, ohne Urlaub ist er gekommen, hat seine Stellung, sein Hab und Gut daran gesetzt, ist vom Schiffe ins Eisenbahncoupé gestiegen und hat erst in Paris Halt gemacht. So hatte er denn wohl Ursache, ermüdet zu sein, um so mehr, da er in Gedanken voll Angst, Zweifel und wachsender Besorgnis die weite Entfernung wenigstens zehnmal durchmessen hat.
Seine Schwermut aber stammt aus früheren Zeiten; sie ist auf den Tag zurückzuführen, als das Mädchen, das er liebte, sich geweigert, ihn zu heiraten, um sechs Monate später seines Bruders Weib zu werden. Das waren zwei harte Schläge kurz nacheinander und der zweite noch härter als der erste. Uebrigens hat ihm sein Bruder vor der Hochzeit geschrieben, ihn gleichsam um seine Einwilligung zu seinem Glück gebeten, und hat das in so rührenden, zärtlichen Worten gethan, daß die Wucht des Schlages in etwas dadurch gemildert wurde. Und dann haben Zeit, Arbeit und weite Reisen den Schmerz des jungen Mannes mehr und mehr bezwungen, bis endlich nur noch eine stille Schwermut davon zurückgeblieben . . . es wäre denn, daß sein Zorn und Haß gegen das Weib, das seines Bruders Namen entehrt, ein Nachhall seiner einstigen Liebe ist.
Nein, nein, Franz Risler hat nur die Absicht, die Ehre seines Namens zu rächen. Nicht als Liebender, als Richter ist er gekommen – Sidonie mag sich hüten.
Sobald er in Paris dem Coupé entstiegen war, begab er sich in die Fabrik; er hoffte, daß ihm die Ueberraschung, das Erschrecken über sein unerwartetes Erscheinen auf den ersten Blick verraten würden, was hier vorging. Unglücklicherweise hatte er aber niemand getroffen.
Seit vierzehn Tagen schon waren die Jalousieen des kleinen Hinterhauses geschlossen und Vater Achilles sagte ihm, daß beide Damen auf ihren Landsitzen wohnten und daß auch die beiden Associés jeden Abend hinausfuhren. Fromont junior hatte heute das Geschäft schon früh verlassen, Risler senior war eben erst fortgegangen.
Franz beschloß, mit dem alten Sigismund zu sprechen. Aber es war Samstag, das heißt Zahltag, und so mußte er warten, bis die lange Reihe der Arbeiter abgefertigt war, die sich von der Portierloge des alten Achilles bis zum Kassenschalter erstreckte.
Trotz seiner Ungeduld und Traurigkeit that es dem armen Jungen, der von Kindheit an das Leben der Pariser Arbeiter kennen gelernt hatte, in der Seele wohl, sich einmal wieder inmitten dieses eigentümlichen Treibens zu befinden. Auf allen diesen teils gutmütigen, teils boshaften Gesichtern lag das frohe Bewußtsein der vollendeten Wochenarbeit, und es war unverkennbar, daß für sie der Sonntag bereits am Samstag um sieben Uhr abends vor der kleinen Lampe des Kassierers seinen Anfang nahm.
Man muß unter den Gewerbtreibenden gelebt haben, um den Reiz und die Weihe des Ruhetags zu begreifen. Vielen dieser armen Menschen, die ungesunde Arbeiten betreiben, bringt der segensreiche Sonntag das Aufatmen in frischer Luft, das ihnen für Gesundheit und Leben unentbehrlich ist. Daher die jubelnde Freude, die ihn begrüßt, die lärmende Lust, mit welcher er genossen wird. Es ist, als ob der Druck der Wochenarbeit mit dem letzten Dampf der Maschinen, der zischend über dem Rinnsteine ausströmt, in alle Winde zerstreut würde.
Beim Verlassen des Schalters zählten die Arbeiter das Geld, das blinkend in ihren geschwärzten Händen lag, sorgsam nach. Einige schienen unzufrieden, murrten, beschwerten sich. Aber sie hatten Arbeitsstunden versäumt oder Vorschuß erhalten, und durch das Klingen der schweren Kupfermünzen hörte man die ruhige, mitleidslose Stimme des alten Sigismund, der die Interessen der Firma bis zur Hartherzigkeit verteidigte.
Franz war mit den Scenen des Zahltages vertraut und wußte die echten Herzenstöne von den falschen zu unterscheiden. Er wußte, daß dieser um seiner Familie willen mehr verlangte, um den Bäcker, den Apotheker, die Schule zu bezahlen, jener nur für die Schenke oder noch Schlimmeres. Auch die traurigen, verkümmerten Schattengestalten, die vor dem Thorwege der Fabrik hin und her huschten und lange, forschende Blicke in den Hof warfen, waren ihm bekannt. Sie alle warteten auf einen Vater, einen Gatten, um ihn mit Bitten oder Vorwürfen so schnell als möglich nach Hause zu geleiten.
Und die barfüßigen Kinder; die elenden, in alte Shawlfetzen gehüllten Säuglinge; die zerlumpten Weiber, deren thränennasse Wangen so weiß sind wie die Haube, die sie umschließt. Und das Laster, das in finsteren Winkeln auf die Stunde der Lohnzahlung lauert; die Spelunken, die in engen dunkeln Gassen ihre Lampen anzünden und hinter den schmutzigen Scheiben die bunten Farben der Alkoholgifte zur Schau stellen . . . all dies Elend war Franz bekannt, aber niemals war es ihm so düster, so herzzerreißend erschienen, wie an diesem Abend.
Endlich war die Ablohnung vorüber und der alte Sigismund verließ sein Bureau.
Die beiden Freunde erkannten und umarmten sich, und in der tiefen Stille der für vierundzwanzig Stunden rastenden Fabrik berichtete der alte Kassierer, was geschehen war. Er schilderte Sidoniens Thun und Treiben, ihre wahnsinnige Verschwendung, die Schande, die sie über ihren Mann gebracht hatte. Kürzlich erst hatte das Rislersche Ehepaar in Asnières ein Landhaus, die ehemalige Besitzung einer Schauspielerin, gekauft und prachtvoll eingerichtet; sie hielten Wagen und Pferde und machten überhaupt großen Aufwand. Was den wackeren Sigismund am meisten beunruhigte, war die Zurückhaltung Georges Fromonts. Seit einiger Zeit nahm er beinahe gar kein Geld aus der Kasse und doch brauchte Sidonie mehr als je.
»Es steht gar nicht gut . . . gar nicht gut!« sagte der Kassierer mit traurigem Kopfschütteln, und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Aber dein Bruder, lieber Junge, dein Bruder? . . . Wie soll man sich sein Benehmen erklären? Er sieht in die Luft, steckt die Hände in die Taschen und hat für nichts Sinn als für seine unglückselige Erfindung, die nicht mehr vorwärts will. Soll ich dir sagen, was ich von ihm denke? Er ist entweder ein Schuft oder ein Dummkopf!«
Während dieses Gespräches gingen sie in dem kleinen Garten auf und nieder, blieben stehen, schritten weiter und Franz war dabei zu Mut, als befinde er sich in einem wüsten Traum. Seine schnelle Reise, der plötzliche Wechsel des Klimas und der Umgebung, Sigismunds endloser Wortschwall, das neue Bild, das er sich von seinem Bruder und Sidonie machen sollte – von Sidonie, die er so innig geliebt hatte . . . das alles verwirrte ihn, brachte ihn fast von Sinnen.
Es war spät – der Abend brach herein. Sigismund schlug vor, daß Franz mit ihm nach Montrouge gehen und bei ihm übernachten solle; aber der junge Mann lehnte die Einladung ab, indem er Müdigkeit vorschützte, und als er sich dann in der unbehaglichen Zwischenzeit, wenn das Tageslicht erloschen und das Gas noch nicht angezündet ist, im Marais allein sah, begab er sich mechanisch nach seiner alten Wohnung in der Rue de Braque.
An der Hausthür hing ein Zettel mit der Inschrift: »Möbliertes Zimmer zu vermieten«, und es fand sich, daß es die Stube war, die er so lange mit seinem Bruder bewohnt hatte. Er erkannte seine, noch immer mit vier Stecknadeln an der Wand befestigte Landkarte, das Treppenfenster und das kleine Thürschild der beiden Delobelles: »Modeartikel in Vögeln und Käfern.«
Die Delobellesche Thür stand offen; er brauchte sie nur anzustoßen, um eintreten zu können.
Sicherlich gab es für ihn in ganz Paris keine bessre Zuflucht, kein Plätzchen, wo sein erschüttertes Gemüt sicherere Ruhe und Frieden finden konnte. Diese stille, arbeitsvolle Häuslichkeit wurde für sein augenblicklich so haltloses Dasein zum Hafen der Ruhe, zum sonnigen, friedvollen Ufer, wo fleißige Frauen die Heimkehr des Gatten, des Vaters erwarteten, während draußen Wind und Wellen tosen. Was ihn aber vor allem – vielleicht nur unbewußt – anzog, war die Empfindung, hier eine treue Zuneigung zu finden, war jene Zaubermacht, welche selbst die Liebe, die wir nicht erwidern, auf uns ausübt.
Wie lieb hatte ihn der kleine Eisblock Désirée! Wenn sie mit ihm die gleichgültigsten Dinge besprach, leuchteten ihre Augen, und das unbedeutendste seiner Worte verklärte ihr hübsches Gesicht. Das war ein wohlthuendes Ausruhen nach allen den bitteren, verletzenden Worten des alten Sigismund.
Sie plauderten lebhaft miteinander, während Madame Delobelle den Tisch deckte.
»Sie essen doch mit uns, Monsieur Franz? . . . Der Vater ist ausgegangen, um unsre Arbeit fortzutragen, aber zum Essen kommt er bestimmt nach Hause.«
Die gute Frau sagte das mit einem gewissen Stolz und war dazu berechtigt, denn seit dem Mißlingen seines Theaterunternehmens speiste der berühmte Mann nicht mehr auswärts – selbst nicht, wenn er das Wochengeld erhob. Der unglückliche Theaterdirektor hatte in seinem Restaurant so häufig auf Kredit gegessen, daß er jetzt nicht mehr hinzugehen wagte. Dagegen verfehlte er nie, Samstags zwei bis drei ausgehungerte Tischgäste mitzubringen, alte Kameraden, Pechvögel, wie er selbst einer war. Diesen Abend erschien er in Begleitung eines Bonvivants vom Theater zu Metz und eines Komikers vom Theater zu Angers, beide augenblicklich außer Engagement.
Der Komiker, der im Lampenlicht alt und grau geworden war, sah mit seinem glattrasierten Gesicht wie ein greiser Gassenjunge aus und der Bonvivant trug einen spanischen Mantel und ließ keine Spur von Wäsche sehen. Schon von der Thürschwelle aus begann Delobelle sie pomphaft vorzustellen, aber als er Franz Risler erblickte, unterbrach er sich.
»Franz! . . . mein geliebter Franz!« rief der alte Bretterheld mit melodramatischem Ausdruck, indem er mit den Händen krampfhaft in die Höhe fuhr, und nach einer langen, gefühlvollen Umarmung stellte er seine Gäste gegenseitig vor: »Monsieur Robricart vom Theater zu Metz, Monsieur Chadezon vom Theater zu Angers – Monsieur Franz Risler, Ingenieur.«
Im Munde Delobelles gewann das Wort »Ingenieur« ein unsagbares Gewicht!
Désirée verzog den Mund, als sie die Freunde des Vaters erblickte; sie hätte den heutigen Abend viel lieber im engsten Familienkreise verlebt. Aber dafür hatte der große Mann kein Verständnis und überdies war er zu sehr mit der Entleerung seiner Taschen beschäftigt. Zuerst entnahm er ihnen eine köstliche Pastete. – »Für die lieben Damen« sagte er und schien ganz zu vergessen, daß er selbst dafür schwärmte. Dann erschien ein Hummer, eine Arlesische Wurst, kandierte Mandeln und frische Kirschen – das erste vom Jahre!
Während der entzückte Bonvivant einen unsichtbaren Hemdkragen aufzupfte und der Komiker mit einer Gebärde, die vor etwa zehn Jahren Beifall zu erregen pflegte, ein behagliches Grunzen hören ließ, dachte Désirée mit Schrecken an die Lücke, welche dies improvisierte Festmahl in ihrer beschränkten Kasse zurücklassen mußte, und Madame Delobelle durchstöberte ihr Buffett, um die nötigen Bestecke zusammenzufinden.
Die Mahlzeit verlief in heiterster Stimmung. Die beiden Komödianten hieben tapfer ein, zur Freude Delobelles, der allerlei Bühnenerinnerungen mit ihnen austauschte. Das war nun freilich nichts Erquickliches, sondern gleichsam ein häßliches Durcheinander verblichener Gewänder, erloschener Lampen, verschimmelter, zerbröckelnder Requisiten. – In platt-vertraulicher Ausdrucksweise erinnerten sie sich an ihre zahllosen Triumphe, denn ihrer Darstellung nach waren sie alle drei mit Beifall überschüttet, mit Lorbeer gekrönt, von der Bevölkerung ganzer Städte hochgefeiert, und während sie davon sprachen, aßen sie, wie eben Schauspieler essen, wenn sie auf der Bühne, mit einer Dreiviertelswendung das Gesicht voll dem Publikum zugekehrt, vor einer Mahlzeit von Papiermaché sitzen, abwechselnd reden und schlucken und durch die Art und Weise, wie sie das Glas hinstellen oder den Stuhl heranrücken oder mit Messer und Gabel hantieren, Teilnahme, Verwunderung, Freude oder Schrecken ausdrücken. Mutter Delobelle hörte lächelnd zu, denn eine Frau, die seit dreißig Jahren die Gattin eines Schauspielers ist, hat sich nachgerade an solche Seltsamkeiten gewöhnt.
Ein Eckchen des Tisches aber war, wie durch eine Nebelwolke, die jede Albernheit, jedes grobe Lachen, jede Prahlerei auffing, von der übrigen Gesellschaft getrennt. Da saßen in halblautem Geplauder Franz und Désirée, ohne von den Gesprächen der andern etwas zu hören. Kindheitserlebnisse, Geschichten aus der Nachbarschaft, nichtssagende Vorfälle, denen nur die Gemeinsamkeit der Erinnerungen Wert verlieh, waren der Gegenstand ihres traulichen Geflüsters.
Plötzlich zerriß die Nebelwolle und die dröhnende Stimme Delobelles unterbrach das Zwiegespräch.
»Du hast deinen Bruder noch nicht gesehen?« fragte er Franz, um diesen Gast nicht ganz zu vernachlässigen. »Auch seine Frau noch nicht? . . . Nun, da wirst du eine Modedame finden . . . Toiletten, mein Junge, und einen Schick . . . ich will dir nichts weiter sagen! . . . In Asnières haben sie ein wahres Schloß . . . auch die Chèbes wohnen dort. Wir sind uns durch alles das fremd geworden. Wenn man reich wird, läßt man die alten Freunde fallen. Kein Wort für uns . . . kein Besuch. Was mich betrifft, so kannst du dir wohl denken, daß es mich gleichgültig läßt, aber für meine Frau und Tochter ist es eine Kränkung.«
»Oh, Papa,« fiel Désirée lebhaft ein, »du weißt, daß wir Sidonie viel zu lieb haben, um ihr das übelzunehmen.«
Der Schauspieler schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. »Das ist eben euer Unrecht,« rief er aus. »Man hat es übelzunehmen, wenn die Leute darauf ausgehen, uns zu kränken und zu demütigen.«
Er hatte das Versagen des Kapitals zu seinem Theaterunternehmen noch nicht verschmerzt und war nicht gewöhnt, seinen Groll zu verbergen.
»Wenn du wüßtest,« fuhr er zu Franz gewendet fort, »wenn du wüßtest, welche Verschwendung sie treiben . . . es ist ein wahrer Jammer! Diese Unvernunft . . . Diese Gedankenlosigkeit! Ich, der ich hier vor dir sitze, habe deinen Bruder um eine kleine Summe gebeten, die mir eine Zukunft gesichert und ihm reiche Zinsen eingebracht hätte . . . er hat sie mir rundweg abgeschlagen. Natürlich! Madame braucht eben zu viel. Sie reitet, fährt in eigner Equipage zu Wettrennen und läßt den Mann nach ihrer Pfeife tanzen. Auch glaube ich, unter uns gesagt, durchaus nicht, daß sich der gute Risler glücklich fühlt . . . seine kleine Frau spielt ihm allerlei Streiche.«
Der ehemalige Schauspieler vervollständigte seine Rede durch ein ausdrucksvolles Augenblinzeln, das er dem Komiker und dem Bonvivant zuwarf, worauf ein Austausch jener hergebrachten Grimassen und Ausrufungen stattfand, die auf der Bühne stilles Verständnis ausdrücken.
Franz war niedergeschmettert; so sehr er sich dagegen sträubte, die traurige Gewißheit drang von allen Seiten auf ihn ein. Sigismund hatte in seiner Weise gesprochen; jetzt that es Delobelle in der seinigen . . das Ergebnis war ganz dasselbe.
Glücklicherweise war das Diner zu Ende; die Schauspieler erhoben sich und gingen miteinander in die Brauerei der Rue Blondel, Franz blieb mit den Frauen allein.
Als ihn Désirée so weich und zutraulich an ihrer Seite sitzen sah, überkam sie plötzlich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für Sidonie. Sie sagte sich selbst, daß sie diesen Schimmer von Glück im Grunde genommen nur der Großherzigkeit ihrer ehemaligen Freundin zu verdanken habe, und diese Empfindung gab ihr den Mut, sie zu verteidigen.
»Monsieur Franz, ich möchte Sie bitten, nicht alles zu glauben, was Papa von Ihrer Schwägerin gesagt hat. Er übertreibt leicht ein bißchen, der gute Papa. Ich bin überzeugt, daß Sidonie nichts von dem gethan hat oder thun könnte, was man ihr schuld gibt. Ich bin überzeugt, daß ihr Herz das alte geblieben ist und daß sie ihre Freunde noch immer lieb hat, wenn sie dieselben auch vernachlässigt. Das bringt das Leben so mit sich . . . man wird getrennt, ohne daß man es will . . . meinen Sie nicht auch, Monsieur Franz?«
Wie hübsch fand er sie, während sie ihm so zuredete! Nie zuvor war ihm die Feinheit ihrer Züge, die vornehme Zartheit ihrer Farben so aufgefallen, und als er diesen Abend fortging, voll Rührung über den Eifer, mit dem sie versucht, Sidonie zu verteidigen und für deren Verstummen und Wegbleiben allerlei echt weibliche Entschuldigungsgründe aufzufinden, sagte sich Franz Risler mit einer Regung selbstsüchtiger Freude, daß ihn dies junge Wesen geliebt habe, ihn vielleicht noch immer liebe, und daß er möglicherweise in ihrem Herzen jetzt und immerdar die warme, sichere Zufluchtsstätte finden werde, in die wir uns so gern verbergen, wenn uns das Leben verwundet hat.
Die ganze Nacht lag er in unruhigem Schlafe, einer Art Nachempfindung der Reiseunruhe, umtönt von dem Wind- und Wellenrauschen, das nach langer Meerfahrt in unsern Ohren zurückbleibt, und träumte von seiner frühen Jugendzeit, von der kleinen Chèbe und Désirée Delobelle, von ihren Spielen, ihren Arbeiten, und von der Ecole Centrale, deren große Gebäude ganz in der Nähe, in den finsteren Straßen des Marais still wie im Schlafe lagen.
Als der Morgen kam und das Sonnenlicht durch die vorhanglosen Fenster in seine Augen fiel und das Gefühl der Pflicht den Trieb zur Arbeit in ihm weckte, träumte ihm, daß es Zeit sei, in die Schule zu gehen, und daß der Bruder, ehe er sich in die Fabrik begab, seine Thüre öffnete und ihm zurief: »Steh auf, Faulpelz! steh auf!«
Diese gute, liebevolle Stimme war jedoch zu laut, zu wirklich für den Traum und zwang ihn vollends die Augen zu öffnen. – Da stand Risler an seinem Bette, wartete mit zärtlichem, etwas gerührtem Lächeln auf sein Erwachen und der beste Beweis, daß er es wirklich war, lag in den Worten, womit er seiner Empfindung beim Wiedersehen des Bruders Ausdruck gab: »Ich bin so glücklich . . . so glücklich!«
Trotz des Sonntags war Risler seiner Gewohnheit nach in die Fabrik gekommen, um die darin herrschende Ruhe zur Arbeit an seiner Druckmaschine zu benutzen. Vater Achilles hatte ihm mitgeteilt, daß sein Bruder angekommen und in der Rue de Braque abgestiegen sei, und so war er herbeigeeilt, erfreut, verwundert und etwas gekränkt darüber, daß Franz seine Ankunft nicht vorher gemeldet, und vor allem, daß er den ersten Abend nach der Heimkehr nicht mit ihm verlebt hatte. Immer wieder kam er mit leiser Anklage darauf zurück, während er von allem möglichen zu sprechen anfing und seine Mitteilungen durch tausend verschiedene Fragen, durch Liebkosungen und Freudenbezeigungen unterbrach. Franz entschuldigte sich mit seiner Müdigkeit und dem Verlangen, ihr altes liebes Zimmer zu bewohnen.
»Schon gut . . . schon gut!« fiel Risler ein; »nun aber lasse ich dich nicht wieder los. Du mußt gleich mit nach Asnières hinauskommen . . . für heute gebe ich mir einen Feiertag . . . denn du begreifst wohl, daß ich nichts thun kann, wenn du eben angekommen bist. Wie sich die Kleine wundern und freuen wird! . . . Wir haben oft von dir gesprochen . . . Nein! dies Glück . . . dies Glück!«
Seine Freude war so groß, daß sie ihn, den Schweigsamen, geradezu zum Schwätzer machte. Er bewunderte seinen Franz: fand, daß er noch gewachsen sei, und er war doch schon vor der Abreise, schon als Schüler der Ecole Centrale, von ansehnlicher Größe gewesen. Jedenfalls hatten sich seine Züge schärfer ausgeprägt, seine Brust war breiter geworden, und der lange, ungelenke Bursche mit schülerhafter Haltung, der vor zwei Jahren nach Ismailia gegangen war, wurde von dem schönen, sonnengebräunten, freundlich-ernsten Afrikareisenden, der jetzt heimkam, weit übertroffen.
Während Risler seinen Franz betrachtete, sah auch dieser den Bruder aufmerksam an, fand ihn unverändert, ebenso harmlos, herzlich, hin und wieder zerstreut wie ehemals und sagte zu sich selbst: »Nein, es ist nicht möglich! er ist noch immer ein Ehrenmann.«
Dann erinnerte er sich des Verdachtes, den man gegen ihn zu hegen wagte, und sein ganzer Zorn wendete sich gegen die heuchlerische, lasterhafte Frau, die ihren Mann so frech und straflos betrog, daß er als ihr Mitschuldiger angesehen wurde. Aber er wollte eine furchtbare Auseinandersetzung mit ihr haben; wollte ihr gerade heraus sagen: »Ich verbiete Ihnen . . . hören Sie wohl, ich verbiete Ihnen, meines Bruders Namen zu entehren!«
Diese Gedanken beschäftigten ihn unablässig, während sie an den jungen Bäumen längs der Eisenbahnböschung von Saint Germain vorüberfuhren. Risler, der ihm gegenüber saß, plauderte unaufhörlich. Er erzählte von der Fabrik, von den Geschäften. Im vergangenen Jahre hatte jeder von ihnen vierzigtausend Franken verdient; es sollte jedoch noch ganz anders kommen, wenn seine Druckmaschine erst im Gange war. »Eine rotierende Presse, lieber Junge, die mit einer einzigen Drehung des Rades zwölf bis fünfzehn Farben druckt, rot auf rosa, dunkelgrün auf hellgrün, ohne daß sich etwas verwischt, ohne daß die Farben ineinander fließen, oder die Zeichnung im mindesten leidet. Verstehst du mich, Brüderchen? – Eine Maschine, die wie ein Mensch künstlerisch arbeitet und die ganze Tapetenfabrikation umgestalten wird.«
»Und hast du dies Wunderwerk schon gefunden oder suchst du noch danach?« fragte der junge Mann mit einiger Besorgnis.
»Gefunden! . . . vollständig gefunden! Morgen sollst du meine Zeichnungen sehen. Ich habe außerdem eine mechanische Vorrichtung zum Aufhängen der Tapeten zu stande gebracht. Nächste Woche richte ich mir oben auf unserm Speicher eine Werkstatt ein, wo ganz im geheimen, unter meinen Augen die erste Druckmaschine zusammengestellt werden soll. In drei Monaten muß das Patent genommen und die Maschine in Thätigkeit sein. Dann, lieber Franz, werden wir allesamt reiche Leute . . . und du kannst dir leicht denken, wie glücklich es mich machen wird, wenn ich den Fromonts das Gute, das sie mir erwiesen haben, in etwas wenigstens vergelten kann. Ja, der liebe Gott hat mir ein glückseliges Los beschieden.«
Und nun begann er, die einzelnen Bestandteile seines Glückes aufzuzählen. Sidonie war das beste Geschöpf der Welt, eine reizende, kleine Frau, die ihm alle Ehre machte. Ihre Häuslichkeit war höchst angenehm; sie hatten oft Gesellschaft und zwar sehr feine Gesellschaft. Die Kleine sang wie eine Nachtigall, dank der vortrefflichen Methode ihrer Singlehrerin, Madame Dobson, die ebenfalls ein herzensgutes Wesen war. Nur eins machte dem wackeren Risler aufrichtigen Kummer; die unbegreifliche Verstimmung und Entfremdung zwischen ihm und Sigismund . . . vielleicht half ihm Franz dazu, dies Dunkel aufzuklären.
»Gewiß, Bruder, ich helfe dir!« antwortete Franz mit zusammengebissenen Zähnen, und die Röte des Zornes stieg ihm ins Gesicht, bei dem Gedanken, daß man dieser offnen, treuen Seele, die sich so einfach, so unbefangen aussprach, mißtrauen konnte. Gut, daß er als Richter und Rächer gekommen war; er wollte alles aufklären und zurechtrücken!
Inzwischen waren sie Asnières und dem Landhäuschen immer näher gekommen. Franz hatte dasselbe schon von weitem wegen seines zierlichen Treppentürmchens und seines glänzend neuen, blauen Schieferdaches bemerkt. Nun fand er, daß es wie für Sidonie geschaffen war . . . der passende Käfig für dies Vögelchen mit dem bunten, auffallenden Gefieder.
Es war ein zweistöckiges Schweizerhäuschen; schon von der Eisenbahn aus konnte man es inmitten eines weiten Rasenplatzes, den eine ungeheure englische Glaskugel zierte, mit blanken Spiegelscheiben und rosa gefütterten Gardinen schimmern sehen.
Die Seine, die hier noch ganz ihr Pariser Aussehen hat, mit Schiffen, Barken und Badeanstalten belastet ist und mit jeder Welle eine Unzahl kleiner an der Ufermauer befestigter Kähne schaukelt, auf deren anspruchsvollen, frisch gemalten Namen eine Schicht von Kohlenstaub liegt, floß an der Besitzung vorüber. Von ihren Fenstern aus konnte Sidonie die Wirtshäuser am Strome beobachten; in der Woche sind sie einsam, an Sonn- und Festtagen aber von einer bunten, lärmenden Menge belebt, deren Jubeln, Lachen, Singen und Rufen, von schweren Ruderschlägen begleitet, zehn Stunden lang am Flusse auf und nieder klingt.
An Wochentagen dagegen zeigten sich zerlumpte, unbeschäftigte Leute am Stromufer; Männer in großen, groben, spitzigen Strohhüten und wollenen Jacken; Weiber, die sich müde, mit starrem, wie von weidenden Herden träumendem Blick auf das welke, zertretene Gras der Böschungen sinken ließen. Allerlei Vagabunden, Orgelspieler, Harfenisten, herumziehende Seiltänzer rasteten hier und sperrten den Quai, während in den angrenzenden Häusern hin und wieder eine unordentliche Jacke, ein Kopf mit ungekämmtem Haar, oder die Pfeife eines Faulenzers an den Fenstern erschien, um dies fahrende Gesindel, wie einen Gruß der Hauptstadt, mit Sehnsucht zu beobachten. Es war ein häßlicher, trauriger Anblick.
Das kaum hervorsprießende Gras welkte unter den Füßen; alles ringsumher war mit schwärzlichem Staub bedeckt; aber jeden Donnerstag fuhr hier die elegante Halbwelt vorüber, um sich in großem Pomp auf leichten Rädern, mit erborgten Equipagen und Livreen ins Kasino zu begeben. Sidonie, die eingefleischte Pariserin, hatte daran ihre Freude, auch hatte sie schon als »kleine Chèbe« durch den berühmten Delobelle ohne Unterlaß von Asnières gehört. War es doch sein höchster Wunsch, in diesem Orte, wie so viele andre Schauspieler, ein Häuschen zu besitzen, ein grünes Winkelchen, das noch mit dem Mitternachtszuge, nach Schluß der Theater zu erreichen ist. – Alle Träume der kleinen Chèbe verwirklichte Sidonie Risler.
Die Brüder kamen an die Pforte des Quais, in der wie gewöhnlich der Schlüssel steckte. Sie traten hinein und gingen durch junges Gebüsch, hier an einem Billardsaale, dort an der Gärtnerwohnung, weiterhin an einem kleinen Treibhause vorüber. Alles sah aus, als ob es einer Spielzeugschachtel entnommen, nur vorübergehend zusammengestellt wäre und vom leisesten Lufthauch der Laune oder des Bankerotts über den Haufen geworfen werden könnte – es war das Landhaus einer Cocotte oder eines Börsenspielers.
Franz sah mit einer gewissen Verwunderung umher. Im Hintergrunde führte eine mit Blumen besetzte Freitreppe zu dem weit offenstehenden Salon hinauf. Ein amerikanischer Schaukelstuhl, Feldstühle, ein Tischchen, auf dem noch das Kaffeeservice stand, an der Thür. Von innen tönte Klavierspiel und das Flüstern gedämpfter Stimmen.
»Sidonie wird sich wundern; sie erwartet mich erst heute abend,« sagte der wackere Risler, indem er so leise als möglich auf dem Kieswege hinschritt. »Eben musiziert sie mit Madame Dobson.«
Sie hatten die Thür erreicht, und auf der Schwelle stehen bleibend, rief er mit seiner derben, gutmütigen Stimme: »Rate 'mal, wen ich dir bringe!«
Madame Dobson, die allein am Klavier saß, sprang von ihrem Taburett in die Höhe und aus dem Hintergrunde des Salons traten hastig hinter einem mit exotischen Pflanzen besetzten Blumentische Georges Fromont und Sidonie hervor.
»Wie du mich erschreckt hast!« rief die junge Frau, indem sie auf Risler zueilte.
Die Spitzenkrausen ihres langen, weißen Morgenkleides, dessen blaue Bänder wie zwischen Wolken durchschimmerndes Himmelblau aussahen, schleiften über den Teppich, während sie, ihre Verlegenheit bemeisternd, hochaufgerichtet, mit freundlicher Miene und ihrem gewöhnlichen halben Lächeln herantrat, ihren Mann umarmte und Franz mit den Worten: »Guten Morgen, Bruder!« die Stirn zum Kusse bot.
Risler ließ die beiden Auge in Auge stehen und trat zu Fromont junior, dessen Anwesenheit ihn aufs höchste überraschte. »Wie, Schorsch, Sie sind hier? . . . ich glaubte, Sie wären in Savigny.«
»Ich wollte auch . . . aber stellen Sie sich vor . . . ich bin gekommen . . . Ich glaubte nämlich, Sie blieben den Sonntag über in Asnières und wollte über eine Geschäftsangelegenheit mit Ihnen sprechen.«
Und mit großer Lebhaftigkeit, in ziemlich verwirrten Sätzen begann er ihm von einer wichtigen Bestellung zu erzählen. Sidonie war verschwunden, nachdem sie mit dem kalt und starr bleibenden Franz einige nichtssagende Redensarten gewechselt hatte, und Madame Dobson fuhr in leisen, gedämpften Tönen zu spielen fort; es klang wie die Begleitung einer entscheidenden Scene im Melodrama.
Die Lage der Dinge war in der That eine bedenkliche, aber Rislers gute Laune brachte alles einigermaßen wieder ins Gleis. Er entschuldigte sich bei seinem Compagnon, daß er nicht gleich dagewesen war, wünschte Franz das Haus zu zeigen und führte ihn vom Salon in den Pferdestall, vom Stall in die Speisekammer, den Wagenschuppen, das Gewächshaus; alles war neu, blank, glänzend, zu klein und unbequem.
»Es hat eine Menge Geld gekostet!« sagte Risler mit einem gewissen Stolz und ließ Sidoniens Besitztum bis in alle Einzelheiten bewundern. Er zeigte, wie Gas und Wasser in alle Stockwerke geleitet waren, zeigte die elektrischen Klingeln, die Gartenmöbel, das englische Billard, das Badezimmer und erging sich dabei in Dankesbezeigungen gegen Georges Fromont, der ihm durch die Ernennung zu seinem Compagnon geradezu ein Vermögen in die Hand gelegt hatte.
Bei jedem neuen Gefühlsausbruch des wackeren Risler suchte sich Georges Fromont beschämt und bedrückt dem seltsamen Blick, den Franz auf ihn richtete, zu entziehen.
Auch das Frühstück ging in unbehaglicher Stimmung vorüber. Madame Dobson trug beinahe allein die Kosten der Unterhaltung und war glückselig, im vollen Fahrwasser einer Liebesintrigue mitzuschwimmen. Da sie die Geschichte ihrer Freundin bis in alle Einzelheiten kannte, oder doch zu kennen glaubte, sah sie in der stillen Wut des armen Franz die Eifersucht des verschmähten Liebhabers, der seine Stelle besetzt findet, und in Georges Fromonts Unruhe die Furcht vor dem eingekehrten Nebenbuhler. Dem einen schenkte sie einen ermutigenden Blick, den andern suchte sie durch ein Lächeln zu trösten, bewunderte Sidoniens sichere Haltung und wendete ihre volle Nichtachtung dem abscheulichen Risler, diesem rohen, grausamen Tyrannen zu. Unablässig aber war sie bemüht, an der kleinen Tafelrunde das fürchterliche Schweigen nicht aufkommen zu lassen, zu dem das Klappern der Messer und Gabeln eine so lächerliche und peinliche Begleitung abgibt.
Gleich nach Beendigung des Frühstücks erklärte Georges Fromont, daß er nach Savigny zurückkehren müsse, und Risler wagte nicht, ihn festzuhalten, weil er bedachte, daß seine liebe Madame Schorsch einen einsamen Sonntag haben würde. Ohne seiner Geliebten ein vertrauliches Wort sagen zu können, mußte Georges in der vollen Mittagsglut nach dem Bahnhofe gehen, noch dazu in Gesellschaft des Ehemannes, der als liebenswürdiger Wirt darauf bestand, ihn nach der Eisenbahn zu begleiten.
Einen Augenblick blieb Madame Dobson mit Franz und Sidonie in der kleinen Laube, deren Rebengerank mit rosigen Knospen übersäet war. Dann aber sah sie ein, daß sie den beiden lästig wurde, kehrte in den Salon zurück und begann, wie vorhin, als Georges da war, leise und ausdrucksvoll zu singen und zu spielen. In der tiefen Stille des Gartens wirkte dies gedämpfte, durch die Zweige ziehende Getön, wie Vogelgesang vor dem Ausbruch des Gewitters.
Endlich waren die beiden allein.
Unter dem Gitterwerk der Laube, das noch keine Blätter bekleideten, brannte die Maisonne mit unerträglicher Glut. Sidonie legte beschattend die Hand über die Augen, während sie die auf dem Quai Vorübergehenden betrachtete; auch Franz sah hinaus, in entgegengesetzter Richtung. Aber während sie sich nicht umeinander zu kümmern schienen, wendeten sie sich plötzlich, in demselben Augenblick, mit der gleichen Gebärde und dem gleichen Gedanken nacheinander um.
»Ich habe mit Ihnen zu sprechen!« sagte er, als auch sie eben den Mund öffnete.
»Auch ich!« antwortete sie mit ernster Stimme; »aber kommen Sie hier herein . . . da werden wir weniger gestört.«
Mit diesen Worten führte sie ihn nach einem kleinen Pavillon am Ende des Gartens.