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Jedes Bestreben, eine Rede so erfolgreich wie möglich zu gestalten, findet seine Grenze in dem Gebot der Wahrhaftigkeit.
Allerdings muß man sich auch davor hüten, aus einem gewissen Wahrheitsfanatismus heraus die schuldige Rücksicht gegen seine Sache und gegen seine Nebenmenschen zu verletzen. Kein Gebot der Religion oder der Ethik zwingt einen Redner, stets alles zu sagen, was er für wahr hält, während natürlich stets alles, was er sagt, seiner Überzeugung entsprechen muß. Es ist eine Pflicht gegen die eigene Sache und gegen den Nächsten, daß man aus dem ganzen Schatz seiner Erkenntnis für den einzelnen Fall die Wahrheiten herausnimmt, die bei gutem Willen am ehesten verstanden werden können. Ihre Erkenntnis wird in vielen Fällen zugleich die erste Stufe zur ganzen Wahrheit bilden. Geradezu ein sittliches Unrecht kann es deshalb sein, an und für sich wahre Behauptungen dort auszusprechen, wo sie in diesem Augenblick doch nicht geklärt werden können und Mißverständnisse, Vorurteile und Widersprüche wecken müssen, was für den starken Mann – den Unterrichteten – heilsam ist, kann für ein Kind – den Unvorbereiteten – oft schädlich sein, und deshalb fordert es gerade das Gebot der Wahrhaftigkeit in seiner feinsten Auffassung, daß man gewissenhaft die Gebiete auswähle, die man in gegebener Stunde vertreten will.
Ich hatte einst in Westdeutschland zwei Vorträge zugesagt: einen einer Kreissynode evangelischer Pfarrer und einen öffentlichen Vortrag in einer Stadt, die als kommunistische Hochburg gilt. Als ich den Stoff zu den Vorträgen ordnete, legte ich nebeneinander den Satz der Bibel(3.Mose 25): »Ihr sollt das Land nicht verkaufen ewiglich, denn die Erde ist mein, spricht der Ewige; Ihr Menschen seid nur Lehnsträger von mir«, und den Satz von Karl Marx (»Kapital«): »Die Expropriation der Volksmasse vom Boden bildet die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise.« Wäre es nun »wahr« gewesen, wenn ich vor den Geistlichen mit dem Wort von Marx und vor der radikalen Arbeiterversammlung mit dem Wort der Bibel begonnen hätte? Es wäre eine sittliche Unwahrhaftigkeit gewesen, weil ich auch ehrlichem, suchendem Willen den Weg zur Wahrheit erschwert hätte. Am Schluß meiner Ausführungen konnte ich den einen sagen, daß die uralte Weisheit auch in neuer Form wiederklingt in den modernsten Bestrebungen und umgekehrt, daß das, was als neueste Forderungen verfochten wird, schon aus uralten heiligen Schriften der Menschheit heraustönt.
Eine solche Auffassung von der Wahrheitspflicht des Redners wird namentlich der Jugend nicht immer leicht. Ich entsinne mich eines begabten Studenten, der in einer Besprechung erklärte, er empfinde es als »unwahr«, daß man vor nationalen Studenten die grundlegende Bedeutung der Bodenreform für allen nationalen Aufstieg, vor sozialistischen die grundlegende Bedeutung der Bodenreform für alle kulturelle Emporentwicklung betonen solle. Ich habe dem jungen Eiferer geantwortet, daß niemand von uns wohl hoffen dürfe, sittlich feiner zu empfinden, als der Völkerapostel Paulus, der einmal von seiner Beredsamkeit schreibt (1. Corinther 9): »Wiewohl ich frei bin von Jedermann, habe ich doch mich selbst Jedermann zum Knechte gemacht, auf daß ich ihrer viele gewinne. – Den Juden bin ich geworden als ein Jude, auf daß ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich geworden als unter dem Gesetz, auf das ich die, so unter dem Gesetze sind, gewinne. – Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich als ohne Gesetz geworden, auf daß ich die, so ohne Gesetz sind, gewinne. – Den Schwachen bin ich geworden als ein Schwacher, auf daß ich die Schwachen gewinne. Ich bin Jedermann allerlei geworden, auf daß ich allenthalben ja Etliche selig mache!« –
Allerdings wird der Redner bald erfahren, daß im öffentlichen Leben die Versuchungen sehr groß sind, von der Pflicht der Wahrhaftigkeit abzuweichen. Hören wir einen Zeitgenossen, den in allen Lagern geachteten Landgerichtsrat W. Kulemann. Er erzählt in seinen »politischen Erinnerungen"« (1911):
»Ich habe den demoralisierenden Einfluß der Politik bei meiner eigenen Tätigkeit empfunden. Will man in einer Volksversammlung als Kandidat oder als einfacher Redner Erfolg erzielen, so wird man nicht allein die Angelegenheit, um die es sich handelt, in einer Weise darstellen, die auf die Zuhörer günstig wirkt und geeignet ist, ihnen den eigenen Standpunkt sympathisch erscheinen zu lassen, sondern man wird auch in erster Linie solche Themata behandeln, bei denen man den Interessen und Stimmungen der Wähler möglichst entgegenkommt. Das ist schon an sich eine innere Unwahrhaftigkeit.
Aber ist schon das nicht ganz leicht zu rechtfertigen, so tritt dieser Punkt doch weit zurück gegen einen zweiten, der auf ganz anderm Gebiete liegt. Den Gegner als einen Menschen zu behandeln, dessen Ansichten freilich falsch sind, aber sich doch von einem gewissen Gesichtspunkte aus verstehen lassen und jedenfalls subjektiv ehrlich gemeint sind, das wird selten nützlich sein; denn die Wähler lieben eine gewisse drastische Redeweise, und werden mehr begeistert, wenn man ihnen die Gegenpartei in den schwärzesten Farben schildert und auffordert, in dem Kampfe zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis auf die erstere Seite zu treten. Das hat zur Folge, daß man auch selbst unwillkürlich das Verständnis für die relative Berechtigung des gegnerischen Standpunktes verliert; man wird einseitig und ungerecht, kurz, man entwickelt sich Schritt für Schritt zu einem Menschen, bei dem das Gefühl für Recht und Wahrheit sich vermindert.
Immerhin, wer nichts weiter täte, als das hier Geschilderte, würde noch mit Recht als ein politischer Tugendheld erscheinen. Schlimmer wird es, wenn die Konflikte zwischen der eigenen Überzeugung und dem Parteiinteresse sich geltend machen, und wenn man vor die Wahl zwischen beiden gestellt ist. Da erscheint dann die »Taktik« als das Erlösungswort. »Taktische« Erwägungen erheben den Anspruch, daß sie »jenseits von Gut und Böse« stehen. Bei ihnen wird deshalb die Ethik von vornherein ausgeschaltet. Wollte man etwas scharf pointieren, so könnte man vielleicht sagen: Taktik ist die politische Unehrlichkeit, eingehüllt in die Toga der staatsmannischen Weisheit und Erfahrung.«
Den tiefsten Grund für diese Schwierigkeiten, die jeder Redner klar erkennen muß, zeigt Goethe im 14. Buche von »Dichtung und Wahrheit«, wo er von seinem Zusammentreffen mit Lavater und Basedow berichtet. Beide Männer, der geistliche und der weltliche Reformator, wirkten für die von ihnen als groß erkannten Ziele: »Indem ich nun beide beobachtete, ja, ihnen frei heraus meine Meinung gestand und die ihrige dagegen vernahm, so wurde der Gedanke rege, daß freilich der vorzügliche Mensch das Göttliche, das in ihm ist, auch außer sich verbreiten möchte. Dann aber trifft er auf die rohe Welt, und um auf sie zu wirken, muß er sich ihr gleichstellen. Hierdurch aber vergibt er jenen hohen Vorzügen gar sehr, und am Ende begibt er sich ihrer ganz. Das Himmlische, Ewige, wird in den Körper irdischer Absichten eingesenkt und zu vergänglichen Schicksalen mit fortgerissen.« – Je klarer man die Gefahren erkennt, um so eher kann man ihnen wirkungsvoll begegnen. Um ihretwillen aber den Kampf überhaupt nicht beginnen oder »vorsichtig« aufgeben, hieße auf jeden Kulturfortschritt von vornherein verzichten!
Was vom Inhalt, gilt natürlich auch von der Form. Es ist ein Zeichen von Unreife, wenn man glaubt, daß man nur dann wahrhaftig sein kann, wenn man rücksichtslos ist. Ein so feiner Menschenkenner wie Benjamin Franklin schildert den entgegengesetzten Weg: »Ich behielt die Gewohnheit bei, mich mit bescheidenem Mißtrauen zu äußern, so daß ich, wenn ich etwas behauptete, was wohl noch bestritten werden konnte, nie die Worte »gewiß«, »unstreitig« oder andere derart gebrauchte, sondern lieber sagte: »Ich denke oder fürchte, die Sache verhält sich so«; oder »ich würde aus den und den Gründen das nicht folgern«, usw. Diese Gewohnheit ist mir, wie ich glaube, von großem Nutzen gewesen, wo ich Gelegenheit hatte, meine Meinungen einzuschärfen und Maßregeln zu empfehlen, die ich habe fordern müssen. Und da der Hauptzweck des Gesprächs ist, zu belehren und belehrt zu werden, zu gefallen oder zu überreden, so wünsche ich, wohlmeinende und verständige Männer möchten ihre Macht, Gutes zu fördern, nie durch rücksichtsloses Absprechen verwirken, was fast immer mißfällt, Widerstand erregt und die meisten Zwecke vereitelt, zu denen uns die Sprache verliehen ist."
Wie die gleichen Tatsachen verschiedenen Ausdruck und deshalb auch verschiedene Wirkung finden können, zeigen ein paar lehrreiche Erzählungen der Alten:
Der Kalif Harun Alraschid träumte einst, er hätte sämtliche Zähne verloren. Er ließ den Traum seinen beiden weisesten Magiern mitteilen. Nach den Gesetzen der Traumdeutung konnte kein Zweifel bestehen.
Der erste Traumdeuter begann wehklagend: »Großer Herrscher! Schlimmes muß ich Dir melden! Jeder Zahn, den Du verloren hast, bedeutet den Tod eines Deiner Lieben. Du wirst sie alle dahinwelken und sterben sehen, und keiner wird bei Dir bleiben.«
Da ergrimmte der Kalif und ließ diesem Magier hundert Stockschläge aufzählen.
Der zweite Traumdeuter rief frohlockend: »Gutes habe ich Dir zu deuten, o Herr! Allah hat in seiner Weisheit und Güte beschlossen, Dein Leben unserm Volke länger zu erhalten als allen andern um Deinen Thron.«
Da freute sich der Kalif und ließ diesem Magier 100 Goldstücke auszahlen. –
Ein Philosoph im höchsten Greisenalter sprach einst mit seinem Lieblingsschüler über die Pflicht, der Wahrheit stets die mildeste Form zu geben. Während des Gesprächs erstiegen sie einen hohen Turm. Auf halbem Wege versagten dem Greise die Kräfte. Er mußte sich in einer Nische ermattet niedersetzen.
Jüngere Leute aus der Stadt kamen an ihnen vorüber.
Der erste spottete: »Siehst Du, so geht's, wenn man sich zuviel zumutet, wie konntest Du auch nur so unverständig, sein und hoffen, in Deinem Alter noch diesen Turm zu ersteigen.«
Ein zweiter lachte: »Wie, Du mußt hier schon aussetzen? Da sieh mich an, wie leicht und behende ich noch den Turm besteige.«
Ein dritter aber sagte: »Wirklich, bis hierher bist Du noch gekommen? Wie rüstig Du bei Deinem Alter doch noch bist! Wie weise mußt Du gelebt haben, daß Du Dich so stark erhalten hast.«
»Siehe«, wandte sich der Philosoph zu seinem Schüler, »sprachen nicht alle dieselbe Wahrheit aus? Der erste benutzte sie, um wehe zu tun; der zweite, um sich zu erheben, und nur der dritte tat mit ihr Gutes, indem er einem alten Mann eine Freundlichkeit erwies.« –
Ein Gebot der Wahrhaftigkeit, das, so schwer es auch ist, (vgl. Kulemann S. 79) gewissenhafte Beachtung erheischt, fordert, die Ziele und Beweggründe unserer Gegner zutreffend darzustellen. Es ist ein gewöhnlicher Kunstgriff rednerischer Söldlinge und Fanatiker, von den Gegnern ein Zerrbild zu entwerfen, das man dann schmunzelnd dem Abscheu seiner Zuhörer preisgibt. Diese Unwahrhaftigkeit ermöglicht zwar Augenblickssiege, vergiftet aber unser öffentliches Leben in gefährlicher Weise. Dasselbe gilt auch von der Aussprache mit einem Gegner. Unritterlich handelt, wer einen ungeschickten Ausdruck benutzt, um ein falsches Bild der gegnerischen Absichten zu entwerfen. Man soll vielmehr dort, wo man ehrliche Überzeugung findet, auch dem Gegner freundlich entgegenkommen und soll ihm helfen, seine Einwendungen sachlich zu formulieren und sie dann mit ihm vor der Versammlung durchdenken. Nur da, wo uns aufgeblasener Hochmut mit der Miene selbstgefälliger Überlegenheit oder offenbar bezahltes Klopffechtertum entgegentritt, sind auch Worte des Spottes und des Zornes am Platze.
Allerdings darf man auch nicht Takt und pädagogische Weisheit mit Leisetreterei und Feigheit verwechseln. Man verurteilt seine eigene Arbeit sonst leicht zur Unfruchtbarkeit. Ich entsinne mich eines lehrreichen Nachmittags in Danzig. Am Abend sollte ich das erste Mal in dieser Stadt über Bodenreform reden. Unsere Anhänger besprachen den voraussichtlichen Verlauf dieser Versammlung. Manche rieten, sehr vorsichtig zu sein, unsere Grundsätze zurücktreten zu lassen, und nur unsere nächsten Tagesförderungen zu betonen. Da erklärte sich der alte, vielerfahrene Geheimrat Gibsone, der Leiter der großen Abbegg-Stiftung, bestimmt dagegen: was wollen, was können wir im besten Fall erreichen? Ein paar Menschen gewinnen, die mit uns die Wahrheit der Bodenreform planmäßig weiter verbreiten! Was werden das für Menschen sein? Doch ausschließlich solche voll Selbständigkeit und starkem Willen. Die Durchschnittsmenschen kommen erst, wenn eine Bewegung weiter ist. Die Menschen aber, die wir allein brauchen können, bezwingen wir nur durch große Gedanken. Die wollen fühlen, daß die Bodenreform wirklich wert ist, für sie Zeit und Kraft und Opfer zu bringen! –
Feigheit und Leisetreterei betrügen sich selbst. Diejenigen, die sich in ihren selbstischen Interessen bedroht fühlen, erkennen doch sofort die Gefahr und werden in jedem Fall erbitterte Gegner. Aber die Hilfe derer, auf die man bei offener Entfaltung seiner Fahne rechnen könnte, gewinnt man nicht.
So maßvoll man stets auch in der Form bleiben soll, so sehr man gerade um der Wahrheit willen in jedem Einzelfall gewissenhaft individualisieren muß – in der Sache selbst darf es kein Schwanken und verschleiern, kein Zögern und kein Zurückweichen geben.
In diesem Zusammenhang sei auch eine Mahnung Goethes erwähnt, die zunächst befremdet, aber doch eine feine psychologische Erkenntnis umschließt: »Wer vor andern lange allein spricht, ohne den Zuhörern zu schmeicheln, erregt Widerwillen.«
Was soll das heißen? Die Schmeichelei im Tone mancher Redner, die ihre Anhänger als die einzigen gebildeten, ehrlichen, fast möchte man sagen, »normalen« Menschen hinzustellen belieben, kommt natürlich für ernste Vertreter einer Wahrheit nicht in Betracht. Wohl aber soll jeder Redner die Hörer herausfühlen lassen, daß er für sie spricht, für sie da ist, auf sie wirken möchte. Manche Redner sprechen so teilnahmlos, als wenn sie zu den leeren Wänden ihres Zimmers sprächen, und als ob die Menschen vor ihnen mit ihren Hoffnungen und Lebensbedingungen sie gar nichts angingen. Ein solcher Redner erregt natürlich Widerwillen.
Ja, man soll noch weiter gehen, man soll es die Zuhörer fühlen lassen, daß man bei ihnen in jedem Fall guten Willen und ernstes Streben voraussetzt, daß man bereit ist, die Fragen des Abends mit ihnen ernsthaft durchzuarbeiten.
Carl Schurz erzählt in seinen Lebenserinnerungen aus seiner stürmischen Jugend am Rhein: »Ich brachte von dieser Versammlung eine wichtige Erfahrung mit mir nach Hause: daß, wer ein Führer oder Lehrer des Volkes sein will, seine Zuhörer mit Achtung behandeln muß; daß selbst der überlegenste Geist an Einfluß auf andere verlieren wird, wenn er diese durch fortwährende Demonstrationen seiner Überlegenheit zu demütigen sucht.«
Ein »Schmeicheln« im vornehmen Sinne zeigt eine Rede Henry Georges, des großen angelsächsischen Bodenreformers, in seinem letzten Wahlkampfe um den Bürgermeisterposten von Groß-Neuyork. In einer Versammlung von 1200 Arbeitern wurde er von dem Vorsitzenden als ein Mann vorgestellt, der stets die besonderen Interessen der Arbeiter vertreten habe. Henry George aber begann: »Ich habe nie beansprucht, ein besonderer Freund des Arbeiters zu heißen. Auch jetzt beanspruche ich es nicht!«
Totenstille trat ein.
»Ich habe nie besondere Arbeiterinteressen vertreten und werde sie nie vertreten.«
Lautlose Stille.
Henry George schritt die Bühne ab und, sich an die Versammlung wendend, rief er: »Ich trete ein für die Rechte aller Menschen – für gleiche Rechte für alle. Laßt uns hinfort keine Sonderrechte mehr fordern, weder für Kapitalisten, noch für Arbeiter!«
Die Menge brach in Jubel aus. –
Und auch ich möchte den Lesern dieses Büchleins »schmeicheln«, indem ich es zwar für selbstverständlich halte, daß sie diese »Ratschläge« zur Redekunst mit selbständiger Prüfung, aber doch wohlwollend aufnehmen und sich, trotz aller Einwendungen im einzelnen, durch sie anregen lassen, auch wirklich in die Arbeit für das Wohl der Volksgesamtheit einzutreten!
Von Cicero erzählt man, daß nach seinem Vortrag die Römer des Lobes voll gewesen seien über den geistreichen Redner und die formvollendete Rede. Von Demosthenes aber sagt man, daß nach seinem Auftreten die Athener weder von dem Redner noch von der Rede gesprochen hätten, sondern daß nur der eine Ruf erklungen sei: Krieg gegen Makedonien!
Der eine Redner befriedigte Verstand und Gefühl, der andere weckte den Willen zur Tat.
Es mag viele Gelegenheiten geben, bei denen der Erfolg erster Art genügen kann; aber das Höchste bleibt doch stets die Beredsamkeit der zweiten Art – zumal in unserem Volk, in unserer Zeit, in der so Hohes auf dem Spiele steht!
Wenn die Mächte, die die Grundlagen unseres Volkslebens zu verderben drohen, mit ihren Mitteln in der Lage sind, auch auf dem Gebiete der Redekunst sich gewandte Parteigänger in Menge für Geld oder Tagesruhm zu kaufen, dann kommt es für die ehrlichen Freunde unseres Volkes darauf an, glattem Wort und kluger Mache Besseres und Stärkeres entgegen zu setzen: das ist die Redekunst, die Willen weckt!
Mehr als bewußte Gegner gilt es zu überwinden: das, was Schiller Wallenstein erkennen läßt als den gefährlichsten Feind:
»Nicht, was lebendig kraftvoll sich verkündigt,
Ist das gefährlich Furchtbare. Das ganz
Gemeine ist's, das
ewig Gestrige,
Das morgen gilt, weil's heute hat gegolten!«
Die Träger dieser verderblichen Macht sind die Gleichgültigen, die Unentschiedenen, die »vornehm« Neutralbleibenden. Dante hat in seiner »Hölle« die endlosen Scharen jener Elenden geschildert, jenes »Jammervolk, das ohne Schimpf und ohne Lob gelebt«, – gemischt mit jenen feigen Engeln, die bei der Empörung des Satans nicht Gott treu blieben und nicht zum Satan standen, sondern »neutral!« sein wollten. Sie sind vom Himmel ausgestoßen, und auch die Hölle nimmt sie nicht auf. Von eklen Würmern werden die immerdar gequält – »die auf das Große aus Feigheit einst Verzicht geleistet, die jämmerlichen, die niemals wirklich gelebt haben«. Die Zahl dieser Elenden, die eine Quelle der Fäulnis sind für sich selbst und für die Gesamtheit, immer mehr zu verringern, läßt Dante »Dienst an Gottes Heilplan« sein. Auch Du sollst durch Deine Redekunst dazu helfen!
»Ich kann nun einmal nicht reden«, das ist oft genug ein fauler und feiger Vorwand, der eigentlich nichts anderes bedeutet als das Geständnis: Ich habe keine große Sache, für die mein Herz höher schlägt, für die ich meine Person einzusetzen bereit bin! Man spreche mit einem solchen Menschen über eine Gehalts- oder Lohnfrage oder über Verbesserungen seiner geschäftlichen Verhältnisse oder über seinen Gesundheitszustand oder über irgendeine Frage, die ihn wirklich berührt, und man wird staunend sehen, welche Redekunst er zu entfalten vermag.
»Ich kann nicht reden«, das ist häufig auch der Ausdruck der müden Blasiertheit jener Söhne einer Überkultur, deren ganze Kraft sich in Zweifel und Kritik ausgibt. In der »Walpurgisnacht« hat Goethe diesen unglücklichen, in unserer Zeit besonders zahlreichen Typus geschildert:
»Wir waschen, und blank sind wir ganz und gar – aber auch ewig unfruchtbar!«
»Wer schaffen will, muß fröhlich sein!" wer erfolgreich reden will, muß sich eine gesunde und starke Freudigkeit bewahren. Gewiß ist auf der Welt nichts ganz vollkommen, und auch was unsere besten Reden erreichen können, wird im günstigsten Fall nur einen kleinen Schritt vorwärts und aufwärts bedeuten. Neue Aufgaben erwachsen aus jedem Fortschritt. Nun wohl, dienen wir unsrer Zeit, und überlassen wir künftigen Geschlechtern die Lösung ihrer Aufgaben! Seinem Volke in freier Rede zu dienen, ist nicht das Vorrecht einiger weniger besonders Begabter; es ist die Pflicht aller, die sich nach Erkenntnis einer großen Wahrheit nicht mit flüchtigen, bequemen Gefühlsaufwallungen begnügen, sondern entschlossene Arbeit für sie einsetzen.
Ein so erfahrener Menschenkenner wie Benjamin Franklin erklärte: »Auch ein nur mit mäßigen geistigen Gaben ausgestatteter Mann vermag wichtige Veränderungen zu bewirken und Großes durchzuführen, wenn er alle bloßen Vergnügungen und Ablenkungen gering achtet, und der Ausführung seines Planes auch wirklich die Hauptkraft seines Lebens widmet.«
Wahre Berufung zum Redner scheidet sich vom Schein namentlich beim Mißerfolg. Er bleibt keinem erspart. Auch das beste Wort aus tiefstem Herzen kann wirkungslos verklingen, wie der beste Same von treuster Hand auf unfruchtbarem Boden verderben muß.
Annette von Droste-Hülshoff hat in einem ihrer ergreifendsten Gedichte einen machtvollen Kanzelredner geschildert, bei der es der Dichterin war, »als hör' sie ferne Donner rollen«. Doch ...
»Neben mir im Chore,
Ein Fräulein gähnte leise hinterm Flore,
Ein Fahnenjunker blätterte im Buch!
Und abends im Theater sprach der Knabe,
Der achtzehnjähr'ge Fähnrich: Heute habe
Ich einen guten Redner doch gehört!«
Friedrich List, der heut gefeiert wird als einer der ersten, wenn nicht als der allererste unter den deutschen Nationalökonomen, mußte es erleben, daß 1844 der deutsche Forstmänner- und Landwirtetag in München ihn einen seiner Vorträge, der neue unbequeme Gedanken brachte, überhaupt nicht vollenden ließ.
Unter meinen verlorenen Vortragsabenden ist mir eine Versammlung im Gewerkverein der Fabrik- und Handarbeiter Berlin I besonders deutlich in der Erinnerung. Ich gab im Vortrag, was ich geben konnte, und doch folgte ihm eisiges Schweigen. Nach kurzer peinlicher Stille erhob sich jemand aus der Mitte der Versammlung und schlug eine Entschließung vor, in der die Versammlung es entrüstet ablehnte, meinen Ausführungen zuzustimmen! Und ohne jede Aussprache wurde diese Entschließung einstimmig angenommen. –
Natürlich war das ein Stück geschickt vorbereiteter Mache verbissener Gegner. Aber auf dem Heimwege durch die kalte Winternacht stieg in mir doch ein Gefühl der Bitterkeit auf. Es war nicht nur der verlorene Abend – ich wußte: dieselbe Presse, die alle Erfolge verschwieg, feiert morgen triumphierend diese »Volksstimme als Gottesstimme«. – Und waren es nicht diese Leute, für die ich zuletzt doch den ganzen Kampf um die Bodenreform, d. h. um gesunde Wohnungen und gerechten Lohn führte? Waren es nicht sie, um derentwillen ich auf einen Platz bei den Parteigrößen verzichtet hatte, der mir wohl zugänglich gewesen wäre, wenn ich hübsch »brav« die unbequeme Frage der Bodenreform hätte auf sich beruhen lassen?
Aber bald schüttelte ich diesen Gedanken ab, und ich fragte mich: Vielleicht hätte Dein Vortrag noch vorsichtiger die Mißverständnisse und Vorurteile berücksichtigen können, die von Max Hirsch in den Gewerkvereinen geweckt waren – gewiß Du hättest es besser machen können!
Und zuletzt bist Du doch nicht ins öffentliche Leben gegangen, um Erfolge zu erringen, sondern um Deine Pflicht zu erfüllen!
»Nicht das Wort des Redners, noch die Kunst seiner Stimme verdient Ehren«, sagt Demosthenes, »sondern daß er gleiche Bestrebungen hat wie sein Volk, und dieselben Gegenstände des Hasses und der Liebe wie sein Vaterland!«
Es gibt einen Segensspruch eines unbekannten Mönches um 1400. Ihm sollte auch heute noch jeder Redner sich beugen: » Mögest Du die Gnade der großen Dinge erfahren!«
Wer das Reden auffaßt als einen Dienst an seinem Volke; wer im Bewußtsein dieses Dienstes auf seinem Posten aushält, auch wenn müde Stunden heraufkriechen: dem wird die Beredsamkeit mehr als eine Kunst, dem wird sie eine Tugend!
Solche Redekunst wird auf die Dauer allem Eitlen, Falschen und Feilen gegenüber auch Herzen und Köpfe der Menschen gewinnen. Auch ihre Jünger werden erfahren, was Eichendorff den Dichtern verheißt, »die's ehrlich meinen«:
»Viel Wunderkraft ist in dem Worte,
Das hell aus reinem Herzen bricht!«
Eine Tat wird eine Rede im Volke, wenn sie vorher eine Tat im Herzen des Redners gewesen ist.
Ihre Macht im Gegensatz zu der künstlichen Häufung glatter Worte schildert »Faust«:
Wenn Ihr's nicht fühlt, Ihr werdet's nicht erjagen,
Wenn es nicht aus der Seele dringt
Und mit urkräftigem Behagen
Die Herzen aller Hörer zwingt.
Sitzt Ihr nur immer, leimt zusammen,
Braut ein Ragout von andrer Schmaus,
Und blast die kümmerlichen Flammen
Aus Eurem Aschenhäufchen raus!
Bewunderung von Kindern oder Affen,
Wenn Euch danach der Gaumen steht –
Doch werdet Ihr nie Herz zu Herzen schaffen,
Wenn es Euch nicht von Herzen geht."
Was Fichte in seinen »Reden an die deutsche Nation« von der Ursache des Sieges der Germanen über die Römer sagt, gilt auch von allen Kämpfen geistiger Art:
»Diese (die Cherusker) und alle andern in der Weltgeschichte, die ihres Sinnes waren, haben gesiegt, weil das Ewige sie begeisterte, und so siegt immer und notwendig diese Begeisterung über den, der nicht begeistert ist.«
Und dieselbe Mahnung und Verheißung darf man auch durch das große Wort des ersten Korintherbriefes hindurchklingen hören:
»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende 5chelle!«
»Ich glaube, darum rede ich,« sagt der Apostelfürst. Das ist zuletzt aller wahren Rhetorik A und O, das Herz zu erfüllen mit Glauben, Liebe und Hoffnung an das, was groß und gut ist, damit wir an dem Tag, an dem uns zu wirken gegeben ist, unsere Pflicht zu erfüllen vermögen.
Wir glauben; darum wollen wir reden!