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Siebentes Kapitel

Das kleine spanische Kriegsschiff »Sebastiana«, das dazu bestimmt war, die gefangenen Chilenen nach der fernen Robinsoninsel Juan-Fernandez zu bringen, lag segelfertig draußen in der weiten Bucht, dem natürlichen Hafen von Valparaiso. Mit der einsetzenden Flut und dem um diese Jahreszeit nachts vom Lande nach dem Meere hin wehenden Winde sollte das Schiff noch in der Nacht vom 15. auf 16. November 1814 die Anker lichten, um nach seinem Bestimmungsorte draußen im Pazifik abzusegeln.

Die nächtlichen Stunden waren weit vorgeschritten. Am sandigen Strande, an dem die Wogen der Flut in rhythmischem Spiele aufschlugen, um langsam mit knirschendem Geräusche wieder zurückzufließen, herrschte ein ungewohntes Leben und Treiben. Ein prächtiger Sternenhimmel spannte sich über Valparaiso. Drüben, hinter der Pyramide des Aconcagua, jenes gewaltigen, eisgepanzerten höchsten Berges der Kordilleren, war der Mond aufgegangen, das Meer mit rotgoldenem Farbenglanze übergießend. Frische Luft strich vom Lande her dem Meere zu. Es war, als wollte die Schönheit der Nacht den Gefangenen, die, durch rohe Gewalt gezwungen, ihr Land zu verlassen im Begriffe standen, noch einmal alle Reize der Heimat vor Augen führen. Am Strande lagen die kleinen Boote, die zur Beförderung der Reisenden vom Lande nach den weit draußen liegenden Schiffen dienten. Die Bootsleute standen in Gruppen herum, schwatzend und lachend, die Ankunft ihrer unfreiwilligen Fahrgäste erwartend. Militär sperrte den Zugang zu den Booten.

In seinen Poncho gehüllt, einen Mantel, durch dessen einzige Öffnung der Kopf des Trägers gesteckt wird, hatte sich Joaquin rechtzeitig an das Tor des Gefängnisses begeben, wo er geduldig auf den traurigen Zug wartete, der ihm mit dem Vater auch die Schwester, vielleicht für immer, entführen sollte. Finstere Gedanken der Rache gegen die Urheber der an seiner Familie wie an den besten Vertretern des Volkes begangenen Schändlichkeiten bewegten den jungen Mann. Wieder gelobte er sich im stillen, tatkräftig am Sturze und an der Vernichtung der spanischen Willkürherrschaft mitzuarbeiten, um die Verbannung seiner Lieben abzukürzen und deren Rückkehr ins Vaterland, in ihr Heim in Santiago, zu ermöglichen.

Spanische Reiterei sperrte den Platz vor dem Gefängnisse ab. Joaquin mußte zurückweichen. Da schlug es auf dem Turme der Kathedrale zwei Uhr. Die Tore des Kerkers öffneten sich, und heraus traten die Gefangenen unter starker Bedeckung. Im Scheine der Fackeln konnte Joaquin unter den vielen Gefangenen deutlich den Vater erkennen, der, gestützt auf Rosario, in dem düstern Zuge einherschritt. Joaquin vermochte sich seinen Angehörigen nicht bemerkbar zu machen, denn diese waren durch Soldaten zu Pferd und zu Fuß wie durch eine lebendige Mauer von der übrigen Welt abgesperrt. Langsam, in unheimlicher Stille, bewegte sich der Zug dem Hafen zu. Der junge Mann folgte ihm, hart neben der Bedeckung schreitend, immerfort des Augenblickes harrend, wo er mit seinen Angehörigen einen Blick oder womöglich ein letztes Wort der Liebe tauschen konnte.

Am Strande angekommen, blieb die Kavallerie zurück. Die Verbannten wurden nach vorherigem Namensaufruf truppweise zusammengestellt, in der Zahl, wie sie jeweils eines der Boote zur Überführung an Bord der Sebastiana fassen konnte. Während diese Sonderung und Aufstellung vor sich ging, hatte sich die um die Gefangenen gezogene militärische Absperrung da und dort etwas gelockert. Diesen Umstand benützte Joaquin sofort. Blitzschnell stürzte er sich durch eine Lücke zwischen den Soldaten auf Vater und Schwester zu, die mit einigen Genossen vor dem Boote standen, das sie als die zweite Gruppe aufnehmen sollte. Den Vater, die Schwester umarmen und küssen, war das Werk einiger Sekunden. Schon wurde Joaquin von zwei Spaniern gepackt und unter Flüchen und Verwünschungen von den Seinen weggerissen. Aber er hatte erreicht, was er gewollt. »Adios, Vater! Adios, Schwester! Auf Wiedersehen! Gott mit euch!« rief er laut seinen Lieben zu, die ihm von ferne winkten. Dann – ein Ruck mit kräftigen Armen, und rechts und links flogen die beiden spanischen Soldaten auf den sandigen Boden. Mit einigen gewaltigen Sätzen war Joaquin unter der Menge der Zuschauer verschwunden und außer Gefahr.

Langsam vollzog sich die Einschiffung. Über eine Stunde nahm sie in Anspruch. Ein Kanonenschuß, von der Sebastiana abgefeuert, zeigte endlich an, daß an Bord alles bereit sei. Die Soldaten zogen sich zurück, und der Verkehr am Strande war wieder freigegeben.

Ruhig, mit leicht geschwellten Segeln, glitt das Schiff über das Wasser dahin. Der heraufdämmernde Morgen fand es schon weit draußen im offenen Ozean.

Tief unten im Schiffsraume, den kein Lichtstrahl von außen her erhellte, waren die Gefangenen untergebracht. In dem Maße, als sich das Schiff vom Land entfernte und die wogende See das kleine Fahrzeug auf ihrem Rücken hin und her schleuderte, wurde auch die Lage der Gefangenen schlimmer. Die Mehrzahl litt unter der Seekrankheit. Das körperliche Unbehagen der Unglücklichen steigerte sich noch durch den sich täglich fühlbarer machenden Mangel an Luft. Eine dumpfe Gleichgültigkeit begann sich der Eingesperrten zu bemächtigen. Teilnahmslos gegen alles, sogar gegen die belästigenden Ratten, lagen die Armen auf ihrem harten Lager. Was kümmerte sie jetzt noch der Unrat, der Schmutz ihrer geradezu verpesteten Behausung? Die Schwere ihres Geschickes hatte bei dieser Meerfahrt scheinbar ihren Höhepunkt erreicht und den sonst so regen Geist der chilenischen Vaterlandsfreunde vollständig niedergedrückt.

Auch Rosario litt derart, daß sie zuweilen glaubte, das Ende der Überfahrt nach Juan-Fernandez nicht mehr erleben zu können. Aber auch die trübsten Nächte im menschlichen Leben müssen schließlich dem hellen Lichte des Tages weichen. Zum Glück hatte die Sebastiana guten Wind. Fünf Tage waren schon seit der Abfahrt von Valparaiso verflossen. Sie kamen den Gefangenen vor wie ebensoviele Jahre. Da, am sechsten Tage, erscholl vom Mastkorbe herab der Ruf: »Land! Land!«

Auch im Innern des Schiffes wurde er vernommen. Seine Wirkung war wunderbar. Plötzlich war alles Ungemach der letzten Tage vergessen; neues Leben zog in die Brust der Unglücklichen und damit auch neue Hoffnung und neue Freude. Viele falteten die Hände zum stillen Gebete. Blieben sie auch an dem sie erwartenden Orte der Verbannung Gefangene, eingeschränkt in der Freiheit der Bewegung, sie konnten doch Gottes schöne Sonne wieder sehen, hatten wieder den Himmel über sich und durften sich wenigstens ungeschmälert an frischer Luft erquicken.

Wenige Stunden, nachdem das Land gesichtet war, rasselte der Anker der Sebastiana in die Tiefe. Das Schiff lag still im kleinen Hafen von San Juan Bautista, der bescheidenen Ansiedelung auf der Robinsoninsel. Die Gefangenen wurden auf Deck gebracht. Der Glanz der Sonne, die sie nun schon über eine Woche nicht mehr erblickt hatten, blendete die Leute förmlich. Nur nach und nach konnten sie sich wieder an die Fülle des Lichts gewöhnen und ihre staunenden Blicke auf die hart vor ihnen liegende Insel richten, die ihnen nun, wer weiß wie lange, zum Aufenthaltsorte dienen sollte.

Da lag sie nun, die berühmte Insel. Welcher Chilene hätte sie nicht von Jugend auf dem Namen nach gekannt! Hatte doch auf ihr vor mehr als hundert Jahren ein schottischer Matrose jahrelang in völliger Einsamkeit gelebt, und ein Engländer hatte die Geschichte Robinsons der ganzen Welt erzählt.

»Das ist also die Robinson-Insel«, sagte sich Rosario, als sie, mit ihrem Vater an Steuerbord stehend, die stattlichen, grün überzogenen Berge betrachtete, die die Insel zierten. Überall duftiges Grün, das auf die schmerzenden Augen wohltätig wirkte; prächtige Bäume, hochstämmige Palmen mit mächtigen Wedeln hoben sich besonders stimmungsvoll aus dem landschaftlichen Bilde ab. Vom Schiffe aus sah der Ort ihrer Verbannung nicht abschreckend, sondern eher einladend aus.

»Hundertmal besser hier zu sein, hier das Vaterland, das eigene Heim vermissen zu müssen, als in dem engen Raume einer licht- und luftlosen Zelle zu schmachten«, sprach der Vater Rosales zu seiner Tochter, mit der Rechten auf das nahe Land deutend. »Vermag uns auch eine schöne Natur die geraubte Freiheit nicht zu ersetzen, so trägt sie doch wesentlich dazu bei, uns ihren Verlust eher ertragen zu lassen.«

»O geliebter Vater«, rief Rosario, sich an den Greis anschmiegend, »dein Kind wird alles aufbieten, um dir die Schwere des Daseins so weit wie möglich, zu erleichtern, dir einigermaßen durch treue Liebe zu vergelten, was es dir an Dankbarkeit schuldet!«

»Mein Kind, du hast diese Gesinnung bereits deutlich bewiesen. Bei allem äußeren Unglück preise ich mich glücklich; denn ein Vater, der so gute Kinder besitzt wie ich, ist beneidenswert und kann dem Allmächtigen nicht genug dafür danken.« Rosales drückte bewegt einen Kuß auf die Stirne seiner Tochter.

Boote kamen vom Lande herübergerudert. Dann wurden die Verbannten in ähnlicher Weise, wie sie in Valparaiso eingeschifft worden waren, truppweise nach und nach wieder ausgeschifft.


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