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Araucos einziger König

Erstes Kapitel

Es war im Sommer 1860. Hoch stand das Gras in den argentinischen Pampas, den unendlichen wellenförmigen, flachen Ebenen, die sich von dem Höhenzuge der Kordilleren bis an den Atlantischen Ozean hin erstrecken. Recht mühsam war der Ritt der kleinen Männerschar, die ihren Weg durch die Pampas auf die Felsenmauer der Anden zu genommen hatte. Seit Wochen schon waren sie von Buenos Aires aus unterwegs, hatten alle Unbilden der Witterung, übermäßige Hitze bei Tag, Kälte bei Nacht, Sturm und Regen, in unerschütterlichem Gleichmut ertragen. Nur einer der Berittenen, ein schwarzbärtiger Mann mit blitzenden, dunklen Augen, etwa in der Mitte der Dreißig stehend, dessen Kleidung von der seiner Genossen stark abstach und sofort den Fremden, den Europäer verriet, sah mit einer gewissen Erleichterung das endliche Auftauchen des Gebirgszuges aus diesem Ozean wogender grober Gräser.

Vor Monaten hatte Orélie de Tounens seine französische Heimat verlassen. Sein Ziel war das Land der Araukaner jenseits der Anden, sein Trieb Ehrgeiz, seine ganze Lebensfreude das Abenteuer. In Paris hatte Tounens die Rechte studiert. Sein Beruf als Anwalt befriedigte ihn nicht. Die Stickluft des modernen französischen Lebens, das er in seinen üblen Seiten oft genug in den Gerichtssälen kennenzulernen Gelegenheit gehabt, hatte ihn nach und nach angewidert. Ihn verlangte es mehr und mehr nach der frischen, reinen, wenn auch scharfen Luft natürlichen, ungebundenen Lebens; sein kraftstrotzender Körper brauchte Betätigung. Diese bot ihm Frankreich, Europa nicht. Drüben in Südamerika, in unberührter Natur, bei einem Volke, dessen bewundernswerte Tapferkeit ihm zu Ohren gekommen war, dessen gegen Spanier von einst wie Chilenen von heute noch aufrecht erhaltene Selbständigkeit ihm die größte Achtung eingeflößt hatte, dort unter dunkelfarbigen Indianern wollte er versuchen, seinem wilden Tatendrang Genüge zu leisten. So war er, mit hochfliegenden Gedanken und Plänen erfüllt, von Bordeaux abgesegelt. Nach wochenlanger Fahrt hatte Tounens endlich bei Buenos Aires wieder festen Boden betreten. Dank mancher einflußreichen Empfehlung gelang es ihm, in Argentinien eine kleine Zahl von Gauchos und Pampasindianern in seine Dienste zu nehmen. Mit diesen ortskundigen Männern durchzog er die weiten Pampas. Der Zug mit seinen aufregenden Jagden auf das Wild, das ihnen zur täglichen Nahrung zu dienen hatte, mit seinen Entbehrungen, den nächtlichen Lagerfeuern, dem Durchreiten und Durchschwimmen reißender Ströme, den einander rasch folgenden Abwechslungen zwischen Hitze und Kälte, Trockenheit und Nässe – dies alles war für Tounens eine Vorschule, eine Vorübung für sein künftiges Leben. Welchen Genuß empfand er anfänglich jeden Tag von neuem wieder, wenn er, im Sattel sitzend, sich als Anführer der kleinen, anspruchslosen, aber um so keckeren Schar fühlte, die sich seine geistige Überlegenheit ohne Widerspruch gefallen ließ im Bewußtsein ihres eigenen Wertes als Freiherren der Natur! Was waren diese Gauchos für Prachtburschen gegen seine Landsleute in bezug auf Gesundheit, Ausdauer und Leistungsfähigkeit, dabei immer unverdrossen, gefällig und höflich! Hätten sie nicht zeitweise gar zu gern getrunken und gespielt, wären sie in Tounens Augen die besten aller Menschen gewesen, die er bis jetzt kennengelernt hatte.

Schließlich aber sehnte sich der Franzose doch nach einer Veränderung. Das ewige Einerlei der Pampas wirkte ermüdend, und er begrüßte es daher mit stiller Freude, als er in der bläulich schimmernden Ferne eines Morgens die schneeigen Gipfel der Andenberge auftauchen sah. Nun war er seinem Ziele nahegerückt; aber noch bedurfte es tagelanger Ausdauer und Geduld, bis Tounens mit seiner Begleitung in die eigentliche Gebirgswelt eindrang.

Unter seinen Begleitern befand sich ein sehr aufgeweckter Gaucho. Er war eine Art Oberhaupt seiner Landsleute. Sein natürlicher Verstand, verbunden mit scharfer Beobachtungsgabe, ersetzte reichlich die ihm mangelnde Schulung. Der Franzose mit seinem heiteren Wesen, seinem Mut und festen Willen hatte dem wilden Sohne der Pampas gleich von Anfang an gut gefallen. Auch Tounens erwiderte die freundschaftlichen Gefühle Tapias für seine Person bald ebenso warm. Wenn abends auf dem Lagerplatze die beiden nahezu gleichaltrigen Männer, auf ihre Ponchos ausgestreckt, am Feuer lagen und nach einfachem Essen der wohlverdienten Ruhe pflegten, entspann sich zwischen den beiden oft noch eine lange Unterhaltung, in der Tounens hin und wieder vorsichtige Andeutungen über seine Herkunft und die Möglichkeit, sein Leben unter den Indianern Araukos zuzubringen, machte. Je mehr die Reise sich ihrem Ende näherte, um so freudiger gehoben fühlte sich Tounens im Gegensatz zu Tapia.

Der vorletzte Abend ihres Beisammenseins war gekommen. Der kleine Reitertrupp hatte im Laufe des Vormittags den Fuß des Vulkans Quetrupillan erreicht und ritt nun in dem Flußtale gleichen Namens aufwärts der Höhe zu, die stattliche, schneeumhüllte Pyramide des Berges dicht zur Linken. Nun lagerten die Männer nach dem langen und anstrengenden Ritte auf dem steilen Saumpfad, der sie oft genug über abschüssige Geröllhalden, vorbei an gefährlichen Absturzstellen geführt hatte, hoch oben auf einem Felsenvorsprung, der Raum genug für sie selbst und die Pferde bot und in dessen Nähe ein Bach talwärts strebte. Die Sonne war hinter dem Hochgebirge untergegangen, die Nacht breitete ihre Schwingen über die Landschaft. Die Gesellschaft hatte abgekocht und ihr Mahl verzehrt. Die Mehrzahl der Reiter hatte sich bereits in ihre Schaffelle, die zugleich als Pferde- wie Satteldecken dienten, eingewickelt, und da und dort verrieten tiefe, laute Atemzüge, daß der eine und andere der müden Reitersleute eingeschlafen war. Tounens und Tapia lagen noch schweigend auf ihren Decken, eingehüllt in den warmen Poncho. Langsam stieg der volle Mond aus den Pampas empor. Bei der Durchsichtigkeit der Luft in dieser Höhe war der Glanz des Mondes von doppelter Schönheit. Alle Gegenstände schienen nähergerückt. Das dunkle Grasmeer der tief unten sich ausbreitenden Pampas schien mit dem Lager auf gleicher Höhe, in eine Linie mit ihm verschmolzen. Auf des Franzosen Gemüt wirkte dieser ungewohnt schöne Anblick, das Zauberhafte dieser Mondnacht, die ganze Eigenart des Bildes außerordentlich tief ein. Es schien, als ob die im magischen Mondlichte glänzenden Berge der Kordilleren über dem Lagerplatze niederhingen wie über einer tiefen Schlucht, an der, gleich den Wellen eines Ozeans, die Pampas mit ihren im Abendwinde leicht wogenden hohen und gewaltigen Grasmassen anschlugen. In erhabener Ruhe offenbarte sich die Majestät des Hochgebirges. Eine weihevolle Stimmung war über Tounens gekommen. Er ahnte, daß mit diesem Abend sein bisheriges Leben einen gewissen Abschluß gefunden habe. Mit dem beendeten Ritte durch die mondbeschienenen, sich unermeßlich ausdehnenden Ebenen da draußen war der erste Teil seiner Aufgabe erfüllt. Nun kam mit dem Übergang über die Bergkette der zweite, schwierigere Teil. Ob er ihn bezwingen, ob er wirklich das erreichen würde, was er sich drüben über dem Weltmeer, in der Heimat, in phantasiereicher Unternehmungslust vorgenommen hatte? Diese Gedanken bewegten den Franzosen. Warum nicht? Wer ernstlich will, was er sich vorgesetzt hat, wer in sich selbst gefestigt ist, wird immer Erfolg haben, sagte er sich. Soll ich mich mit unnützen Zweifeln quälen? Dazu habe ich keine Ursache, um so mehr, als bis jetzt ja alles nach meinem Wunsche, meinem Willen ging. Die Würfel meines Schicksals sind gefallen. Ein Lächeln der Befriedigung huschte über das ausdrucksvolle Gesicht des Mannes. Er fühlte sich stolz und frei zugleich.

Tapia hatte seinen Gefährten lange von der Seite betrachtet. Er hatte beobachtet, daß Tounens innerlich bewegt war; auch das Lächeln von vorhin war ihm nicht entgangen. Das schien ihm ein Zeichen, daß freundliche Gedanken bei seinem Schutzbefohlenen eingezogen sein müßten, die beste Gelegenheit also, das lange Stillschweigen endlich einmal zu unterbrechen. »Unsere Reise geht dem Ende zu, Señor«, fing Ignacio Tapia an.

»Sie ist wohl schon beendet, denn eure Aufgabe ist mit der Erreichung des Quetrupillan-Tales erfüllt«, entgegnete Tounens.

»Das ist richtig; aber nichtsdestoweniger werde ich Euch morgen noch bis auf die Höhe des Passes bringen, damit Ihr den Weg nicht verfehlt.«

»Dafür danke ich Euch schon jetzt, Ignacio.«

»Nichts zu danken, Herr. Für mich und meine Burschen ist ein Tag wie der andere; uns liegt wenig daran, ob wir früher oder später wieder an den La Plata gelangen. Ich selbst weile gerne noch ein wenig länger als abgemacht in Eurer Gesellschaft.«

»Das ist sehr liebenswürdig von Euch, Ignacio, und zugleich auch schmeichelhaft für mich. Doch sagt, welche von Euren Indianern wollt Ihr mir mitgeben?«

»Da ist keine große Auswahl«, sagte Ignacio lachend. »Von den vieren die Hälfte, also zwei, Anibal und Cäsar; das sind die besten.«

»Zwei vielversprechende Namen!« rief Tounens.

»Nun, sie heißen einmal so; warum, weiß ich selbst nicht.«

»Ja, kennt Ihr nicht den Heerführer der Karthager und den großen Römer Cäsar?«

»Hab' nie etwas davon gehört. Woher und wozu auch? Mein Wissen ist lediglich die Handhabung des Lassos und der Bola, das tolle Reiten und das Jagen des Wildes da drunten in den Pampas; von Eurem Lande, von dem Ihr mir so manchmal schon spracht, habe ich erst durch Euch gehört. Daß Ihr aber so eine Art Gelehrter seid, wie wir solche auch in Buenos Aires besitzen, habe ich gleich von Anfang an gemerkt.«

»So, wie meint Ihr das?« fragte Tounens belustigt.

»Weil Ihr ganz anders seid als wir; Ihr sprecht anders, empfindet anders, beobachtet anders als wir. Auch wißt Ihr für alles etwas, wo unsereiner überhaupt nichts sagen könnte. Ich kann mich nicht richtig ausdrücken, ich empfinde das eben nur.«

»Ihr seid ein braver, ehrlicher Bursche, Ignacio. Gerne war ich mit Euch zusammen, und ich werde mich an dieses Leben und diese Reise in Eurer Gesellschaft stets mit Vergnügen erinnern.«

»Meine Indianer müßt Ihr mir in einigen Monaten wieder zurückschicken; sie finden den Weg leicht nach Hause.«

»Das wird geschehen, Ignacio.«

»Was wollt Ihr denn aber bei den Araukanern, Herr? Verzeiht die Frage! Sie lag mir schon oft im Munde, wenn Ihr von Eurer Reise in das Land da drüben jenseits der Berge spracht.«

»Das kann ich Euch noch nicht genau sagen, Ignacio; nur so viel ist sicher: entweder komme ich in Bälde, vielleicht in Begleitung von Anibal und Cäsar, zurück, oder aber Ihr hört später einmal von mir.«

Ignacio schüttelte den Kopf zu dieser Erklärung; sie behagte ihm offenbar nicht. »Sonderbar«, sprach er nach einer Weile, »wirklich sonderbar! Ihr seid der erste Fremde, den ich in diese Berge bringe und der allein, ohne jede Bedeckung, ja ohne die Sprache der Araukaner zu verstehen, in das Indianergebiet zieht. Dies ist für mich wirklich sonderbar.«

»Die Sprache läßt sich lernen, Ignacio; im übrigen habe ich als Dolmetscher ja die beiden Indios, die Araukanisch sprechen.«

»Das wohl; ich kenne ja selbst etwas die Araukaner, denn sie kamen früher öfters über die Kordilleren, um hier in den Pampas ihrem Jagdvergnügen obzuliegen. Trotzdem ...« Ignacio, etwas verlegen geworden, unterbrach sich.

»Nun, und trotzdem?« munterte Tounens den Gaucho auf.

»Trotzdem will mir Eure Reise nicht gefallen.«

»Weiter nichts?« Tounens lachte fröhlich. »Ich sagte Euch schon, daß ich bei den Araukanern bleibe, falls es mir in ihrem Lande gefällt; wenn nicht, drehe ich mein Pferd um und reite wieder nach Argentinien hinüber. Mich verlangt nach etwas Eigenartigem; ich will von mir durch Taten in der Welt reden machen, will überhaupt zeigen, was ein kühner, zielbewußter Wille vermag.«

Ohne ihn verstanden zu haben, aber doch mit einer gewissen Ehrfurcht schaute Ignacio Tapia auf den Franzosen, der erregt von seinem Lager aufgesprungen war und nun aufrecht dastand, den Blick in die Weite gerichtet, ein Bild männlicher Entschlossenheit. Scharf hob sich in der hellen Mondbeleuchtung die stattliche Erscheinung Tounens ab. »Ein Caballero vom Wirbel bis zur Sohle!« murmelte Ignacio vor sich hin. »Der weiß, was er will.«

Tounens hatte sich schnell wieder gefaßt und setzte sich wieder. »Gebt mir einmal meinen großen Tabaksbeutel da herüber, Ignacio, und die Kognakflasche aus der Proviantkiste!«

Der Gaucho gehorchte.

»So, nun laßt uns noch ein Pfeifchen rauchen und nachher einen Schluck des feurigen Wassers trinken, das aus der nächsten Nähe meines Heimatortes stammt!«

Die Männer stopften ihre Pfeifen mit dem duftenden Kraute, zündeten sie an und rauchten schweigend. Dann nahmen sie einen Schluck des scharfen Getränks.

»Morgen gibt es wieder einen anstrengenden Tag. Es ist Zeit, daß auch wir uns aufs Ohr legen. Also gute Nacht, Ignacio!«

»Gute Nacht, Herr!«

Strahlend ging am andern Morgen die Sonne auf. Sie beschien ein reges Leben auf der Felsenplatte. Tounens Eigentum war ausgeschieden worden. Zwei Maultiere wurden von den Gauchos unter Ignacios Leitung für Tounens sorgfältig mit Lebensmitteln, Gepäck, Waffen und der hierzu nötigen Munition beladen, nachdem der Trupp vorher den üblichen Morgenimbiß, Matetee mit Zwieback, eingenommen hatte.

Die Zeit drängte zum Aufbruch; rasch saßen die Reiter im Sattel. Auf Befehl Ignacios ließ man ein Maultier allein vorangehen. Es war eine alte, gesetzte Stute, mit einer kleinen Glocke am Halse, die beim Aufstieg als sicherste Führerin diente. Ihr nach zogen von selbst, ohne Antrieb, die andern Tiere, die trotz ihrer schmächtigen, muskelarmen Beine die große Last des Gepäcks wie auch die der Reiter mit wunderbarer Sicherheit und Leichtigkeit trugen. Heiß brannte die Sonne auf die langsam sich emporwindende Karawane.

Es war Mittag, als die Höhe des Passes erreicht war. Tounens und Ignacio verabredeten einen kurzen Aufenthalt. Schnell ging die Zeit des letzten Beisammenseins herum.

»Nehmt dieses Paar silberbeschlagene Pistolen als dankbares Zeichen meiner Anerkennung und zugleich als Erinnerung an mich mit Euch, Ignacio!« Mit diesen Worten überreichte der Franzose dem Gauchoführer die Waffen.

»Ihr habt reichlich genug schon für uns gesorgt, daß es keines weiteren Lohnes bedarf, Herr«, erwiderte Ignacio abwehrend; »wir taten nur, was wir versprachen und wofür wir ja entschädigt wurden.«

»Gleichwohl, nehmt es als Andenken! Und nun, Gott mit Euch und den andern! Habt Dank für alles! Kommt gut nach Hause!« Tounens drückte jedem der Männer die Hand, Ignacio aber umarmte er. Dann schwang er sich aufs Pferd und ritt, ohne sich nochmals umzusehen, mit den Maultieren als Vortrab und gefolgt von Anibal und Cäsar, abwärts dem geheimnisvollen Lande Araukanien zu. Oben aber stand Ignacio Tapia und schaute dem Freunde nach, bis er ihm hinter den Felsen eines Bergvorsprungs aus den Augen schwand. Dann erst trat der Gaucho mit den Seinen still, wortlos den Rückweg an. Der rauhe Sohn der Pampas hatte das dumpfe, unbestimmte Gefühl, etwas verloren zu haben.


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