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Auf der grünen Insel des heiligen Patricius lag, in tiefstem Frieden, weltentrückt, das Kloster des Apostels Markus mit seinen edeln, romanischen, würde- und weihevollen Formen.
Die Sonne sank über dem fernen Wald im Westen und vergoldete mit ihren letzten Strahlen wie den roten, den Römern entlehnten Ziegelbau der Kirche, der nun im warmen Lichte erglühte, so die weiß bekalkten Mauern, die den Klostergarten umhegten; die Zinnen waren von wucherndem Epheu wie überschüttet: Tausende von Bienen trugen aus den gelblichen Blüten heim: ihr Summen glich einem leisen, langen, andauernden Gebet.
Und zu beten, in Gebet versunken zu liegen schienen Himmel und Erde und Meer und die ganze Natur.
Im abendlichen Blau glänzten, zart rosa angehaucht, zahllose kleine Wölkchen, alle im Halbrund, zierlichen handgroßen Muscheln vergleichbar: auf der glatten, ebenso blauen Meeresflut dort unten an der Küste zogen sie, genau gespiegelt, ein zweites Mal dahin. Kaum wahrnehmbar rauschte die letzte leise Welle der ebbenden See an den weißen Sand des vielzerklüfteten Gestades.
Ein langer Zug von Silbermöwen strich langsam, mit feierlichem, seltnem, langaushaltendem Flügelschlag, den Saum des Ufers entlang auf ein sanft wogendes Schilficht zu, dort auf schmalem Werder zu übernachten.
Die blumigen Sommerwiesen, von roten Feldnelken, gelben Butterblumen, blauen Glocken dicht übersät, schimmerten im Abendlicht; die müden Falter flogen langsam über die sanft nickenden Halme hin: auch sie suchten beim Sinken der Sonne die Ruhe.
Aus dem dunkeln Wald gemischten Schlages, – Tannen und Buchen, – der im Westen das friedliche Bild abschloß, drang feierlich flötend das wohllautreiche Abendlied der Amsel. Auch der schmale Bach, der zuerst die Gartenmauern des Klosters umgürtete und dann in sanftem Gefälle zu Thale rann, schien langsamer als am Tage zu fließen: es eilte ihm nicht, das schöne Gelände zu verlassen: ohne rippelnde Wellen, eben floß er dahin: nur zuweilen hüpfte aus der glatten Flut ein Asch oder eine Forelle, nach einer der zahllosen Mücken schnappend, die im Sonnenschein über dem Wasser hin ihren geflügelten Reigen tanzten.
Und der tiefe Friede, die Stille des Abends ward auch nicht gestört durch das seltne und leise Silbergetön, das ein paar weiße Schafe hören ließen, die einer kleinen Herde führend voranschritten: die Tiere stiegen gemächlich, immer wieder haltend und wählerisch aus den dicht sprießenden Blumen den Wegerich, die Weißgarbe, die jüngsten Kleeblätter rupfend, den sanften Wiesenhang hinan, der, den Bach entlang, aus dem Thalgrund gegen die Pforte in der Gartenmauer auf der Hügelkrone hin sich erhob.
Hinter den willig schreitenden Tieren, deren kostbare Wolle, musterhaft sauber gehalten, in hellstem Weiß leuchtete, schritt die junge Hirtin, ein Kind von kaum sechzehn Jahren; die schmalen Füßlein trugen keine Schuhe: das einzige Gewand, ein Linnenrock, hellblau wie die Blüte des Flachses, reichte kaum bis an die feinen Knöchel: um die noch kindlichen Hüften hielt das Kleid ein geknoteter Gürtel von weißer Wolle zusammen und auf der linken Schulter festigte den Überwurf ein kleiner Zweig vom Rotdorn, dem die schmale weißrote Blüte belassen war; das braune Haar flutete, gelöst, vom unbedeckten Haupt in breitem Strom über den Rücken hin bis auf den Gürtel; in der Rechten hielt sie die schwanke Haselgerte, deren sie kaum je bedurfte; die Linke ruhte auf dem breiten Kopf des prachtvollen hochschreitenden Schäferhundes, dessen zottiges, dunkelgelbes Fell jetzt in der Sonne wie Gold leuchtete, wie er bedächtig, – wie nachdenksam – neben der Kleinen dahinschritt, zuweilen mit den klugen treuen Augen ihren Blick suchend.
Wie sie so langsam wandelnd daher kam, das schmale Gesichtchen durchleuchtet von zwei fast allzugroßen, hellbraunen Augen, die in bläulichem feuchtem Weiß schwammen, glich sie mehr als einem Menschenkinde jenen überirdisch schönen Feenmädchen, von denen ihres Volkes Sage so hold zu flüstern weiß.
Denn irisch waren die Worte, die sie leise summend vor sich hinsang:
»Liebe Sonne, Sinkesonne
Sei gegrüßt mir noch einmal!
Ach wie früh schon mußt du scheiden!
Denn dein Wagen hat gewendet
Und der Kuckuck ruft nicht mehr.
Rasch verglüht die Morgenröte,
Früh verglüht der Tau im Grase,
Früh im Moose welkt das Veilchen,
Bald verblaßt der Regenbogen
Und der schöne Abendstern.
Rasch vorüber zieht der Frühling,
Rasch vorüber flieht die Freude:
Früh muß sterben, was da hold ist,
Holdes Mädchen, freud'ger Knabe, –
Wartet nur, bald sterbt auch ihr.«
Wehmutvoll verhallte der letzte Ton des kurzen, melodischen Liedes: auch die rasch verklingende Schwingung seiner Schlußlaute schien die trauervolle Klage des Inhalts zu bestätigen.
Horch, da ward die schmale, bisher halb geöffnete Pforte, die von dem Weideanger in den ummauerten Hof und Garten des Klosters führte, von innen völlig nach außen gestoßen und auf der Schwelle erschien die Gestalt eines Knaben – oder war es schon ein Jüngling? – der, mit einer kleinen, dreieckigen Harfe sich begleitend, dem eben verhallten Liede in gleicher Sprache antwortete:
»Klage nicht, o holde Karin,
Daß die Sonne und der Frühling
Und das Veilchen und die Freude
Und der Regenbogen müssen
Frühe scheiden: – und auch du!
Denn das ist der Reiz des Schönen
Und das ist der Anmut Zauber:
Hartes, Häßliches, Gemeines
Dauert wie der Stein der Straße:
Doch der Rose Duft verfliegt.
Aber nicht verloren ist er:
Daß er einmal hat geduftet,
Ist für immer unentreißbar
Und in Gottes ew'gem Atem
Atmet er unsterblich fort.
Also, holde Karin, werden
Ungeschieden auch wir beide
Atmen fort in Gottes Atem
Und wenn hier wir früh verwehen, –
Holde Karin, freue dich.
Hier ist Elend, Nacht und Sünde,
Dort ist Wonne, Licht und Unschuld:
Und je früher hier wir scheiden,
Desto früher sinken beide
Dort wir an des Vaters Brust.«
Der Jüngling trat nun über die Schwelle heraus ins Freie: da küßte der Vollguß der sinkenden Sonne sein lichtblondes, lang wallendes, aber ungelöst ganz schlichtes Haar, das in einer ungebrochenen Welle auf die jugendlichen Schultern flutete: die Kutte, die er trug, von schimmerndstem Weiß, war offenbar aus der Wolle jener Herde gefertigt.
Er hielt die Hand vor die Augen, das blendende Licht des Sonnenunterganges auszuschließen. Da eilte der mächtige Hund Hirtin und Herde voraus in großen Sätzen, sprang an dem Jüngling hinauf und legte ihm die starken Pranken auf die Brust.
»Ryan, treuer Gesell!« sprach er, ihm über den Rücken streichend. Nun lief der zu den Schafen zurück und half, sie rings umkreisend und freudig bellend, die kleine Herde durch die Pforte in den Hofraum treiben und in den hier geöffnet stehenden Pferch. Ein ganz junges Lämmlein trug das Kind auf dem Arm hinein und stellte es neben die blökend rufende Mutter.
Nun reichte der Jüngling dem Mädchen die Hand: »Der Herr segne dein Kommen wie dein Gehen, Karin. Mein Gebet begleitet dich überallhin, über Berg und Thal, durch Wald und Heide.« – »Und meine Gedanken bleiben bei dir zurück wohin ich gehe.«
»Komm, laß uns draußen ruhen, vor der Mauerthüre, auf dem weichen Moos, und die Sonne vollends zu Golde gehen sehen. Ryan, so! Lege dich nur zu meinen, – zu unsern Füßen!«
»Gern! Es ist gar schön hier, still und friedlich: – als wäre dies Stück Welt, dieser Anger und der Wald, herausgehoben aus der Erde . . .« – »Und wir zwei beide lebten allein darauf! Etwa wie auf dem Abendstern, der dort aus den Dämmerwolken grüßt.« – »Schau, Freund Innocens, was ich dir mitgebracht und wie ich all überall deiner gedacht habe: – bei jedem Schritt: auf der feuchten Wiese am Bach, auf der sonnigen, trockenen Heide und im schattigen Walde.« Sie griff in ihre weite Hirtentasche von geflochtenem, weißem Bast, die sie am Gürtel trug, und holte daraus einen Blumenkranz hervor, der in allen Farben leuchtete: vom tief satten Goldgelb des Ginsters bis zum hellblauen Wildrittersporn und zum veilchenblauen Nachtschatten, von dem purpurnen Fingerhut bis zu der weißen Seerose, die am Ufer hin auf dem Teich des nahen Waldes schwamm. Sie hielt ihm das Gewinde vor die staunenden Augen, dann drückte sie es ihm mit leichtem Schwung auf die blonden Haare. Nun schlug sie in die Hände: »Ei, Innocens, wie ein König siehst du aus!«
Da erschrak der Jüngling, und hastig nahm er den Kranz ab: »O laß . . . laß, Liebe! Nicht dies Wort.« – »Und weshalb nicht? Und warum verschmähst du meinen Schmuck?« – »Weil . . . weil . . . nun, du magst es wissen. Der Bischof-Abt hat mir nicht Schweigen auferlegt. Weil ich – ach, leider, leider! – ein Königssohn bin, ja ein entthronter König!« »O, wie traurig!« rief die Kleine, aufspringend, »Da darf ich nicht mehr wie mit einem Bruder mit dir . . .! Aber wie selbstisch von mir!« Und sofort warf sie sich auf beide Kniee vor ihm nieder – sehr erstaunt betrachtete der verständige Ryan dies ungewohnte Gebühren! Als sie nun aber vollends die Hände zusammenlegte, in der uralten Form der Huldigung, und ihm zurief: »Ich huldige dir, Herr König«, da stimmte er mit lautem Bellen freudig bei.
»Nicht, nicht doch!« mahnte Innocens, und drückte das Kind wieder auf seinen Sitz zurück. »Still, Ryan!« – »Mich wundert's aber gar nicht! Du kamst mir stets anders vor als andere, als die Väter und Brüder im Kloster. Und König welches Reiches? Etwa gar von Ávălon, dem Feenreich?« Und mit leisem, aber süßem Schauer des Aberglaubens sah sie zu ihm auf. »Nein, nein. Im Osten – weit von uns, fern über der See – liegt ein großes Land: – Austrasien heißt's: – das ist mein Königreich!« – »Und seit wann weißt du das?« – »Seit heute früh. Bei Tagesanbruch – ich lauschte durch das offene Fenster meiner Zelle dem silbernen Geläut deiner abziehenden Lämmer – trat Wilfrid, der große Bischof-Abt, an mein Bett, sprach mit mir den Morgensegen und hob darauf an: ›Es ist nun die Zeit gekommen, mein Innocens, da du reif und verständig genug bist, zu vernehmen und zu verwerten, was du und wer du bist. Heute vor zwölf Jahren war's, daß dich, den Schlummernden, ein mächtig Seeschiff an unsere Küste brachte, dort unten, siehst du, in der Lough-Bucht. In einem Langschild trugen sie den Schlafenden uns herauf. Das eine runde Ärmchen hing heraus: – auf dem andern ruhte, in dem dichten Geflechte des gelben Haars, das rosige Gesicht. Franken waren's, die dich brachten, Männer aus dem Ostland, wo Berge ragen und Ströme fließen, deren Namen ich damals noch nie gehört hatte. Unter ihnen war ein frommer Priester, Romarich, den ich vor Jahren in der heiligen Stadt am Tiber kennen gelernt hatte, an den Gräbern der Apostelfürsten: das gemeinsame Gebet an solcher Stätte hatte uns befreundet. Der erzählte denn, – und die Krieger, die ihn begleiteten, bestätigten es: – in jenem fernen Ostreich der Merowingen sei ein frommer König, Sigibert, zu Sterben gekommen: da habe er seinen einzigen Sohn, einen zarten Knaben, der Treue seines Hausmeiers, Grimoald, empfohlen: der habe geeidet auf den Heiligen, das Kind auf des Vaters Thron zu erheben und auf diesem Thron zu halten mit stark schützender Hand. Aber nach des Königs Tod habe der eidbrüchige Mann, rasch seinen eigenen Knaben, Childibert, auf den Königstuhl geschwungen, in dessen Namen zu herrschen; den echten Erben aber habe er morden wollen‹.« »O Gott, kann solche Sünde sein auf dieser schönen Erde?« rief das Mädchen und sah gen Himmel auf und Thränen füllten ihre Augen. »›Schon sei der Dolch über dem Kinde gezückt gewesen, da habe Romarich sich zu des Gewaltherrn Füßen geworfen und habe ihn angefleht, des unschuldigen Blutes zu schonen: er wolle den echten Erben in ein Kloster bringen, so weltentrückt, so fern dem Reich der Franken, daß weder der Knabe, noch sonst ein Mensch auf Erden daran je denken könne, zurückzukehren oder zurückzuholen auf jenen Thron. Und der Tyrann gab nach. Und der Priester führte den Geretteten davon – hierher zu mir: denn du bist jener Knabe, bist Dagobert, des Franken-Ostreichs Erbe‹.« »Ich grüße dich, ich grüße dich, Herr König!« rief das schöne Mädchen und küßte ihm wiederholt die Rechte. Und Ryan leckte ihm die Linke, die im Grase lag.
»›Und deshalb‹ – fuhr der ehrwürdige Abt fort, – ›deshalb hab' ich dich zwar hier im Kloster, wie einen Klosterknaben, wie einen künftigen Priester erzogen, aber niemals dir, so oft, so heiß du darum batest, das volle Klostergelübde abgenommen oder irgend eine Weihe zugedacht‹.« – »Warum nicht?« – »So forschte auch ich. Wilfrid aber gab Bescheid: ›weil wir Gottes Willen nicht vorgreifen dürfen, der dich vielleicht zu großen Dingen ausersehen hat. Denn wisse: übel gedieh dem Treubrecher die That: die wackeren Franken jenes Ostlands, die der Arge mit List und Gewalt überrumpelt hatte, ermannten sich alsbald, erhoben sich gegen ihn, lieferten ihn gefangen dem Merowing, der zu Paris das Westreich beherrscht, zur Todesstrafe aus und hätten zornig auch seinen Knaben getötet, hätte nicht Romarich, der dich gerettet, auch dessen Leben gewahrt. – Er erinnerte, daß der nun gestürzte Grimoald ja auch dein geschont habe: so flüchtete er auch diesen Unschuldigen in ein Kloster – in Welschland am Po. Allein Frieden und Ruhe ist doch nicht eingekehrt in dem unseligen Ostreich der Franken: blutige Kriege mit dem Westreich, zwischen den rasch wechselnden Knaben auf jenen Thronen, Empörungen und Fehden der Großen lassen es nicht gedeihen: es ist, als ob der Fluch des Herrn so lang auf dem Lande laste, bis die Schuld gesühnt ist, die durch des rechten Erben Verstoßung darauf geladen ist. Und deshalb hab' ich in den letzten Zeiten erst recht nicht nachgegeben deinem dringenden Bitten, dir die Gelübde abzunehmen: nur das erste, unerläßliche für alle im Kloster, das des Gehorsams gegen mich, mußt' ich dir auferlegen. Und wohl mir, heil mir, daß ich also verfuhr. Gott hat mich dabei erleuchtet. Denn wisse: was ich jahrelang geahnt – gehofft: – es ist geschehen. Was ich lang in dieses Klosters Stille geträumt, das hat nun draußen in der Welt die Gedanken der Großen, der Mächtigen ergriffen in beiden Reichen der Franken.
Jener Priester hat jüngst, bevor er die Welt für immer verließ und Abt eines Klosters ward, frommen Bischöfen und wackeren Palatinen zu Metz – das ist deines Reiches Hauptstadt und Hauptfeste – entdeckt, wo du in Verborgenheit bisher gelebt.
Und nun senden mir wohlmeinende Männer Boten und Briefe, – immer häufiger, – und rufen dich auf deinen angestammten Thron. Ein ehrwürdiger Bischof aus dem Westreich, Praejectus, tapfere Krieger aus dem Ostreich haben sich verbunden, den bösen Wirren dort ein gottgefällig Ende zu setzen, indem sie, das alte Unrecht sühnend, dich, den alle Frevel dieser Jahre dort nicht beflecken konnten, den Reinen, auf den Thron erheben, der ihm längst gebührte‹. So sprach Wilfrid der Abt und Bischof – ich aber warf mich auf die Kniee vor ihm und beschwor ihn unter heißen Thränen, mich doch nicht zu verstoßen, mich doch nicht aus dem heiligen, seligen Frieden dieses Klosters, aus der Unschuld dieses Lebens hinauszutreiben in eine Welt, von der ich ja nichts, gar nichts weiß, als daß ungezählte Leidenschaften, Laster, Frevel sie beherrschen. Er aber schüttelte das weiße Haupt, ging hinaus und überließ mich meinem Weh. Nie war er doch so grausam gegen mich!«
Er erhob sich seufzend. Da sprang die Jungfrau auf und mit leuchtenden Augen rief sie: »Recht hat er, recht, bei allen Heiligen! Längst sagte mir das Herz: Dein Freund ist was anderes, Höheres, zu Höherem berufen als all' die anderen hier. O Dagobert, mein Stolz, bedenke, welcher Beruf: das Unrecht sühnen, das Recht herstellen, der Retter, der Erlöser seines ganzen Volkes werden! Du mußt! Du darfst nicht anders! Ich grüße dich, mein König und mein Held.«
Und abermals wollte sie auf die Kniee vor ihm sinken, aber er fing die schlanke, noch so kindliche Gestalt auf in seinen Armen und drückte sie an die Brust. Freudig und laut bellte Ryan und sprang an beiden hinan: – er hatte das noch nie gesehen: doch sichtlich gefiel's ihm.
Da thaten sich die wieder halb zugefallenen Flügel der Mauerthüre weit auf und hervor traten zwei Männer, die unvermerkt das Gespräch und dessen Abschluß mit angehört und angesehen hatten: der ehrwürdige Bischof-Abt Wilfrid, dessen Haar so silberweiß war wie die Wolle seiner Kutte, und neben ihm eine stattliche Kriegergestalt in voller Waffenrüstung, einen weißen Stab, von einer goldenen Kugel gekrönt, in der Rechten.
»Amen,« sprach der Abt, die Hand auf die Häupter des jungen Paares legend, das, überrascht, aber ohne Bestürzung oder Beschämung, vor ihm stehen blieb. »Aus dieses Kindes Mund sprach Gottes Wille. Er geschehe auf den Thronen wie an den Herzen.«
Der Krieger aber sank auf das linke Knie vor dem Jüngling und sprach: »Ich grüße dich, Herr König von Austrasien, im Namen deines treuen Volkes. Gestorben ist der Merowing, den wir zuletzt, nicht wissend, daß und wo du lebtest, auf den Thron zu Metz gesetzt hatten: der Königsstuhl steht leer, er harrt des rechten Erben: ich aber komme, ich vor allen andern, dich darauf zu führen um meines Gesippen Grimoald Schuld zu sühnen: denn wisse: ich bin sein Neffe Pippin. Eben landete mein Schiff dort in der Bucht: es liegt bereit, dich zurückzuführen in das Reich, das Erbe deiner Väter. Hier nimm ihn hin, den Königsstab der Franken.« Er erhob sich.
Aber heftig wehrte der Jüngling ab: »O nein! O nein! Ich bitte, ich flehe euch an! Schonet mein! Reißt mich nicht aus Frieden und Stille in den bösen Kampf, in den Lärm der wilden Welt. Ich bin ihr nicht gewachsen. Ich sehe schon Blut – Blut – gezückte Waffen! – O nein! Ihr treibt mich ins sichere Verderben. Und fort von hier? Und fort von ihr, von dieser? Die ich bis heute nur wie eine Schwester zu lieben wähnte, – die ich aber – ich fühlt' es jetzt, als sich unsere Lippen fanden im ersten Kuß! – die ich heiß liebe als meiner Seele andere Hälfte: – als meine Braut. Und ich fühl's, ich seh's: – auch sie . . .! Wie? Diese Liebe, – kaum entdeckt, – soll ich lassen? Nein. O nein!« Und zärtlich drückte er, mit beiden Armen sie umfassend, die vor Weh und Wonne Bebende an seine Brust.
Der Abt aber sprach: »Was ihr beiden Kinder jetzt entdeckt, – ich hab' es wachsen, blühen sehen all' die Jahre her. Sieh, König Dagobert, auch deshalb verbot ich dir die andern Gelübde. Kraft deines Gelübdes des Gehorsams aber fordere ich, befehle ich, daß du diesen Stab ergreifst.«
Zögernd gehorchte der Jüngling. »Und Karin . . .? fragte er, sie enge an sich ziehend.
»Führst du als deine Königin mit nach Metz,« rief Pippin. »Noch keine schönre hat die Mosel je abgespiegelt.«
»Ja,« schloß der Abt »und daß ihr's alle wißt in jenem fernen Land und sie auch nach ihrem Blute gebührend würdigt: von königlichem Abstamm ist auch sie: – und ähnlich wie Dagoberts ihr Los. In Wales, auf der großen Insel der Britannen, trug ihr Vater Llewellyn, trugen ihre Ahnen Krone. Die wilden Sachsen eroberten das Land: ihr Vater, all' ihre Gesippen fielen im Kampf, die Mutter ward von treuen Männern übers Meer hierher geflüchtet: hier genas sie dieses Kindes und starb. Allverlassen, allverwaist wuchs in unserm Schutz das Königskind heran in einer Hirtin Demut: nun aber hat ihr Gott, hat ihr die Liebe die Krone auf das junge Haupt gedrückt.«
Tief in den Buchen und Tannen des Wasgenwaldes, verborgen in grüner Wildniseinsamkeit, lag das Kloster Luxeuil, die Stiftung des feurigen Eiferers Columba.
In einer rauhen Herbstnacht jagte der Wind die dichten Nebelmassen von draußen über die hohen Mauern bis in den geräumigen Klosterhof, wo die in düstrem Rot glimmenden Pechfackeln auf ihren hohen eisernen Ständern in der Nässe fast zu verloschen drohten. Obgleich die Mitternacht vorüber war, brannte noch Licht in einzelnen Zellen: manche der Mönche lagen noch dem Gebet oder dem Lesen in frommen Büchern ob.
Die schmale Pforte einer solchen Zelle auf einem der hochgewölbten Steingänge ward von außen behutsam geöffnet und der Abt trat über die Schwelle, ein alter, ehrwürdiger Mann, aus dessen faltenreichen Zügen schwere Lebenserfahrung nicht minder als gottesfürchtige Ergebung sprach. Das graue Haupt schüttelnd blieb er am Eingange stehen. Der einsame Insasse des schmalen Gelasses hemmte plötzlich den raschen, hastigen Schritt, mit dem er den engen Raum durchmaß und hielt hart vor seinem Besucher.
»O Vater Romarich! Noch immer nicht zur Ruhe? Bei deinen hohen Jahren! Und bald ruft dich schon wieder die Hora. Du solltest schlafen!«
»Wie kann ich schlafen, Bruder Renuntiatus, . . .«
Der Angeredete machte eine unwillige Bewegung.
»Wenn ich unter meiner Zelle stundenlang in der Stille der Nacht deinen rastlosen, ruhelosen Schritt über diese Quadern hin vernehme! Du hast und findest, ja du suchst gar nicht den Frieden, mein Renuntiatus . . .« »Nenne mich nicht so,« rief der andere, mit dem Fuße stampfend, »Ebroin heiß ich, Ebromuths Sohn, und so will ich heißen und bleiben, leben und sterben. Jenen Namen – er ist eine Lüge! – hat man mir aufgezwungen wie dies ganze unleidliche, unerträgliche Leben hier im Kloster: das heißt – für mich – im Kerker. Wahrlich, längst hätt' ich mich aus dieser seelenzermürbenden Gefangenschaft befreit: – ein Sturz vom Klosterdach in den Hof zerschmettert mit dem gequälten Gehirn zugleich die darin tobenden Gedanken . . .« Der Alte schlug ein Kreuz vor Entsetzen: »Welcher Frevel! Welche Sünde gegen deinen Schöpfer!« – »Hielte mich nicht Eins zurück.« – »Mein Sohn, du hättest längst den Rat befolgen sollen, den ich dir – mit dem weislich gewählten Klosternamen! – erteilt habe, bald nach deinem Eintritt in diese friedlichen Hallen. Du hättest dich aus unserem Gefangenen in unseren Genossen verwandeln, du hättest das Mönchsgelübde ablegen, der Welt und ihrer Eitelkeit entsagen sollen für immerdar. Dann hättest du Friede gefunden in dieser Zelle, in der du nun herumrasest wie ein gefangenes Raubtier.«
Grell auf lachte Ebroin. »Gut, dies Gleichnis! Besser gewählt als jener Name! Ja, ja: ich sah einmal am Hofe des Knaben, der mich hier eingesperrt hält, einen mächtigen Bären aus den Ardennen. Das arme Tier hatten sie in einen vergitterten Käfig gezwängt, in dem es sich gerade wenden konnte. Unaufhörlich, Nacht wie Tag, wandte es sich, trippelte die drei Schritt, die es machen konnte, riß verzweifelt an dem Eisengitter, und wandte sich wieder und trippelte wieder und riß wieder: . . ., der böse Königsbube stand dabei und hielt sich den Bauch vor Lachen über die ohnmächtige Wut, den Freiheitsdrang des starken Geschöpfes, das ihn mit einem Druck der Pranke zerquetschen konnte: und er schlug zuweilen hinein mit schwanker Gerte. Nach sechs Nächten verendete das prachtvolle Tier in Raserei. O, länger als der Bär, scheint's, hält der Mensch solche Qualen aus.« – »Du Armer! Ich habe dir mehr Freiheit gewährt, als . . .« – »Als du darfst, ich weiß. Ich darf wie im Hof, so im Klostergarten umherlaufen, ganz wie jener Bär: – aber überall ragen unersteiglich, glatt senkrecht die hohen düstern Mauern auf. Ah, nur eines hält mich noch am Leben!« – »Unseliger, ich weiß es: die Rachsucht!«
»Ja, ja, ja!« schrie der Gepeinigte tobend, »ich leugne's nicht. Wehe, wehe meinen Feinden, meinen Quälern allen, die mich all' diese Tage meiner besten Manneskraft hier eingesperrt halten, während draußen das Leben freudig weiter flutet. Ach neulich drang des Hifthorns fröhlicher Klang in dieses schweigende Grab: – draußen folgte die laute Jagd dem flüchtigen Hirsch. Und ich? – Oh ich lag auf meiner Binsenmatte da und las das tiefverhaßte Buch des heiligen Augustinus.« – »Ich darf dir stets nur je eines geben . . .« – »Da weinte ich. Vor Sehnsucht. Oder vor Wut. Wehe, führ' ich einst wieder ein Schwert in meiner Faust, wehe allen, die an mir und an diesem Frankenvolke freveln! In Strömen will ich ihr Blut vergießen.« – »Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.« – »Nein, Alter! Diese Rache ist mein. Zittert, bebt vor Ebroin dem Rächer! Aber nicht der Rächer nur, – der Retter Ebroin lechzt nach Freiheit, Macht, nach dem schützenden wie strafenden Schwert. Bis in diese Einsamkeit dringt zuweilen durch Flüchtlinge, die Asyl suchen, durch Brüder, die du an den König, an die Heilige im Kloster entsendest, warnende Nachricht von dem Unheil, das allüberall dies Reich zerfleischt. Nicht nur Leodegars und seiner Mitschuldigen Druck und Gewalt gegen die Freien, – auch des knabenhaften Bösewichts, des Königs, Übelthaten, die Fehden der Großen untereinander, das Aufkommen von Gewaltherren in allen Provinzen von Neuster und Burgund: – all' das hat die kleinen Leute zur Verzweiflung getrieben. Ich sehe, ich höre das Vaterland zertreten und ich liege hier, wie ein treuer Hofhund an die Kette gefesselt, indessen Räuber und Mordbrenner das Haus plündern und zerstören! O, zuweilen fürcht' ich, wahnsinnig zu werden. Ich sehe dann nichts mehr vor den Augen als Blut, Blut, rotes Blut!« – »Bei allen Heiligen, Bruder! Dann – in solchen Augenblicken – nimm deine Zuflucht zum Gebet.« Schrill lachte der Gequälte: »Beten? Hei, zu wem soll ich beten? Leer ist der Himmel. Wie soll ich glauben an einen Gott, der solchen Frevel, solches Unrecht triumphieren läßt? Und solchen Undank! Das, das traf am allerschwersten, daß die Geringen, deren Errettung ich all' mein Leben geweiht, daß die Bauern, die ich zu ihrer Befreiung hergerufen, von ein paar heuchlerischen Worten bethört, sich gegen mich wandten, mich niederzwangen, in Fesseln schlugen. Damals ist, frommer Romarich, etwas gerissen in mir: das Beste an mir: – das Band, das mich in Herzensgüte an die Menschen gebunden hatte. Ich bin verwandelt: – fürchterlich verwandelt, mir selbst oft unheimlich! Früher konnte ich, statt an Gott, an meine Macht und Stärke glauben: – ah, wie dein Gott hat meine Stärke mich verlassen. Hier lieg' ich, in ohnmächtiger müßiger Wut mich verzehrend . . .!
Aber wartet! Bei allen Schrecken der Hölle! Komm' ich jemals frei, – jedes Mittel, das zur Rache und zum Siege frommt, sei willkommen. Seit sie mich von meiner frommen Mutter und von jener Heiligen gerissen, haben mich alle guten Gewalten verlassen: böse Geister sind in mich gefahren! Und gerne, könnt' ich nur an ihn glauben, schloß' ich, um den Preis der Rache, Bündnis mit dem Satan!« Und in wildem Weh warf er sich auf das Antlitz nieder auf die morsche Schilfmatte der Zelle. »Du rasch schon, Unglücklicher! Ich bete, daß . . .«
»Horch, was war das?« rief Ebroin jäh aufspringend. »Ein Hornruf vor dem Außenthor! Auf der großen Straße! Das ist der Ruf der königlichen Lanzenreiter. Ah, wie lange hört' ich ihn nicht mehr!« »Und nun,« forschte Romarich, »man schlägt mit Waffen an das eherne Thor – was kann so spät noch . . .?«
Der schmale Mauerritz, der das Fenster der Zelle ersetzte, verstattete nicht den Blick auf das große Hofthor. Doch hörte man nun, wie es geräuschvoll geöffnet wurde: die rostigen Angeln knarrten, die schweren Riegel klirrten, die langen Thorketten rasselten zur Erde. Fackelglanz schien den düstern Hof zu erhellen: die Huftritte von mehreren Rossen hallten auf dem Steinpflaster, Waffen klirrten, rauhe Stimmen – nicht der Mönche! – wurden vernehmbar.
Schon näherten sich Schritte auf dem Klostergang der Zelle: die Thüre ward aufgerissen: im Geleit des Pförtners und des Propstes wurden zwei Lanzenreiter des Palastes sichtbar, die den Abt ehrfürchtig begrüßten: »Du bist Romarich, so sagten die Mönche. Und das ist der tapfre Ebroin . . . wir kennen ihn! Nun, Ebroin, wir bringen dir Gesellschaft: der Herr König hat befohlen, daß dieser Gefangene hier – hinter uns – deine Zelle teile: ›der Fuchs mit dem Bären‹, gebot er lachend dir zu sagen: es ist Leodegar, einst Bischof von Autun.«