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Das Herz schlug mir etwas rascher, als ich bemerkte, daß die grünen Reisfelder und Dattelpalmen allmählich einer kahlen, sandigen Ebene wichen. Die feuchtwarme Luft, die zum Wagenfenster hereindrang, führte einen salzigen Beigeschmack vom Meere mit sich, und bald fuhren wir zwischen zerstreut liegenden Dörfern hin, den sicheren Vorboten einer großen Stadt.
Ich näherte mich Madras und damit dem Ende eines behaglich-sorglosen Lebensabschnittes! Eine Barschaft von wenig mehr als fünf Pfund trennte mich von dem Hungertode. Nun hieß es: Kopf hoch und handeln! Ein Rechnungsüberschlag war bald gemacht. Bei der äußersten Sparsamkeit konnte ich mit sechzig Rupien zwei Monate lang leben, und während dieser Zeit mußte es mir ja doch gelingen, eine Stellung zu finden. Meine nächste Aufgabe war also, recht sparsam und vorsichtig zu sein.
Nach wenigen Minuten schon befand ich mich mitten im Gewühl und Lärm eines großen indischen Bahnhofes und wurde von zahllosen Reisenden mit ihren Bündeln, Körben, Kochgeschirren und sogar Lieblingshühnern im Arm hin und her gestoßen. Es sah aus wie der Auszug eines ganzen Volkes. Der eingeborene Indier hat nämlich eine besondre Vorliebe für das Eisenbahnfahren und genießt es mit geringem Kostenaufwand.
Bald sah ich auch Jenkins, der sich durch die Menge zu mir drängte. Er war ein freundlich aussehender kleiner Mann mit leicht ergrautem Barte und älter als der andre Schaffner.
»Ich habe einen Wagen für Sie gemietet, der Sie zu Frau Rosario in Vepery, Crundallstraße sechzehn, bringen wird. Sie ist eine gute Seele, wenn sie auch trotz ihres Umfangs nicht viel gleichsieht. Bei ihr können Sie wenigstens ein Unterkommen finden, bis sich Ihnen etwas Besseres bietet. Sie hat das Haus voll von Verwandten ... aber merken Sie es sich wohl: leihen Sie nur um alles in der Welt niemand dort Geld!«
»Geld leihen?« wiederholte ich ganz verblüfft.
»Ja, halten Sie zusammen, was Sie haben, und sagen Sie Frau Rosario, daß Giles und Jenkins Sie schicken. Ich wünsche Ihnen Glück! Wenn Sie mich brauchen, wird ein Brief unter der Adresse der Eisenbahnlinie, bei der ich angestellt bin, mich stets finden. Leben Sie wohl!«
Damit half er mir in eine Art auf Rädern stehenden Kastens mit geschlossenen grünen Läden. Ein dürrer Schimmel war davor gespannt, und ein Junge lenkte ihn, der unter seinem Turban und seinen bunten Fetzen fast verschwand. Mein Gepäck war bereits mit einem aus alten Lappen verfertigten Strick festgebunden, und ehe ich's mich versah, fuhren wir, eine dichte Staubwolke aufwirbelnd, in raschem Trabe davon.
Zuerst kamen wir an einem öffentlichen Park, an einem Spital und dann an einem großen, stark besuchten Bazar vorbei. Bald jedoch bogen wir in eine breite Straße mit verwahrlosten, in verwilderten Gärten stehenden Häusern ein. An dem halbverfallenen Gittertor eines solchen Anwesens schwenkten wir plötzlich in einen von Furchen zerrissenen Gartenweg ein und hielten dann vor der Tür eines langen, niedrigen Gebäudes mit großer, säulengetragener Veranda und verblichenem gelbem Anstrich. Auf der Veranda stand eine Anzahl halbdurchgesessener Bambus- und Strohstühle und einige halbvertrocknete Farnkräuter in Kübeln. Auch eine Henne mit ihren Küchlein bemerkte ich dort, sowie eine große Menge weit herunterhängender Spinngewebe.
Ringsumher aber herrschte lautlose Stille. Der Kutscher schrie und schrie, jedoch vergebens. Endlich stieg er wütend ab und lief nach den Hintergebäuden, von wo er nach wenigen Augenblicken in Begleitung eines Dieners zurückkehrte, der sich im Gehen seinen Rock anzog und eine leichte Wolke von Küchen- und Tabakduft mitbrachte. Er forderte mich in gutem Englisch auf, einzutreten, schob den schief heruntergelassenen Rollladen beiseite und führte mich in ein großes, dunkles Empfangszimmer.
Hier wartete ich ziemlich lange Zeit. Nachdem sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, bemerkte ich, daß dieser Raum da und dort noch an einstigen Glanz erinnerte. Später hörte ich, daß diese geräumigen Bungalows in früheren Zeiten die Wohnung von Regimentskommandeuren eingeborener Truppen gewesen seien. Jetzt sah der Garten, einst wohl der Stolz des Obersten, einer Wildnis ähnlich, und das schöne Empfangszimmer, worin seine Gattin gewaltet, machte einen verwahrlosten, unsauberen, ja sogar ärmlichen Eindruck. Die Wände hatten eine trübe, dunkelrosa Farbe und waren mit großen, grellen Farbendruckbildern und Papierfächern bedeckt. Die einst weiß gewesenen Vorhänge hatten eine rötliche Staubfarbe angenommen, und schräg ins Zimmer gerückt stand ein Pianino, dessen Überzug offenbar aus einem abgelegten Musselinkleid bestand. Auch eine Menge Bambusstühle der verschiedensten Altersstufen und Formen waren vorhanden und ein runder mit Photographieen und Muscheln bedeckter Tisch, aber weder eine Blume, noch ein Buch, noch eine Pflanze. Dafür entdeckte ich überreichen Staub auf allen Gegenständen, und der Geruch von Kokosnußöl erfüllte die Luft.
Bei dem langen Warten wurde die Geduld des Schimmels allmählich erschöpft. Er stampfte unaufhörlich, bis es mir schließlich auf die Nerven ging und ich in heller Verzweiflung hinauseilte, den Kutscher bezahlte und fortfahren ließ. Mit träger Einförmigkeit tickte die Uhr im Empfangszimmer weiter, und noch immer erschien niemand. Ein Blick ins benachbarte Zimmer zeigte mir eine lange, mit einem gebrauchten Tischtuch bedeckte Tafel, auf der einige Messer und Gabeln, sowie Salzfässer aus blauem Glas standen – offenbar die Mittagstafel. Endlich hörte ich eine gellende Stimme aus den hinteren Teilen des Hauses rufen: »Ich bin ja nicht angezogen! Ich gehe nicht hinein, ich kann nicht hineingehen! Lauf Mädchen!«
Ein eifriges, wenn auch gedämpftes Wortgefecht folgte, dann bewegte sich plötzlich der Türvorhang, und zum Vorschein kam eine ungeheuer dicke, ältliche Frau in einem losen, baumwollenen Morgenkleide und gestickten Pantoffeln. Sie hatte sozusagen drei Kinne und so gut wie keinen Hals, dafür aber freundliche dunkle Augen. Ihr Haar war in einen kleinen Knoten gedreht, und in der einen Hand trug sie eine große Kanne, in der andern einen Strohfächer. Nachdem sie mich einen Augenblick in sprachloser Überraschung angestarrt hatte, rief sie: »Ich habe das Melken der Kühe überwacht. Entschuldigen Sie deshalb, bitte. Sobald ich fortgehe, schütten sie nämlich Wasser in die Milch. O Gott, wie sie doch alle betrügen!«
Hierauf stellte sie die Kanne nieder. »Wie ich höre, wünschen Sie bei mir in Kost zu treten, Miß. Da muß doch wohl ein Irrtum vorliegen?«
»Sind Sie Frau Rosario?«
»Ja, gewiß,« erwiderte sie, sich in den breitesten Lehnstuhl niederfallen lassend.
»Ich möchte gern einige Zeit bei Ihnen wohnen und essen, wenn Sie mich aufnehmen können. Ein Schaffner namens Giles gab mir Ihre Adresse.«
»Sie, eine englische Dame, wollen hier wohnen?« rief sie in den Tönen des höchsten Erstaunens.
»Ja, wie man mir sagte, sind Ihre Preise nicht hoch, eine Rupie täglich, und da mir vor kurzem fast all mein Geld gestohlen worden ist und ich auch keine Freunde oder Bekannte habe, so möchte ich hier bleiben, bis ich eine Stelle finde.«
»Sie haben aber doch Empfehlungen?« fragte sie in geschäftsmäßigem Tone.
»Nein, meine Empfehlungen, Briefe und fast all mein Geld befanden sich zusammen in dieser Reisetasche,« erklärte ich, ihr den Schaden zeigend.
»O, du lieber Gott! Ihr Geld gestohlen, keine Freunde ... und Giles schickt sie!« – Nachdenklich sah sie mich an. – »Nun denn, Miß, Sie können hier bleiben. Freilich ist mein Haus gerade jetzt arg überfüllt, und wir sind nicht die allervornehmste Gesellschaft.«
»Können Sie mir ein Zimmer geben?«
»Was? Ein ganzes Zimmer? Nein, das kann ich nicht. Die Hälfte von Lolas Bett, wenn Sie wollen. O Gott, welche Hitze!« Und sie fächerte sich mit wahrer Wut. »Wir müssen eben sehen, wie wir's einrichten und Ihre Koffer hereinholen lassen. Lily hilft mir gewöhnlich, aber nun ist sie in den Bazar gegangen. Man kann die Leute nun mal nicht dazu bringen, daß sie einem die Sachen schicken. O Gott, ist das eine Plage! Der Metzger versprach mir, das Rindfleisch zu schicken, weil ich aber die letzte Monatsrechnung noch nicht bezahlt habe, will er nun kein Fleisch mehr hergeben. O, diese unverschämten Kerls! ... Sammy! Sammy!« schrie sie plötzlich, worauf ein schmutziger Diener erschien. »Bringe die Koffer, die auf der Veranda stehen, ins hinterste Zimmer ... Augenblicklich ist alles überfüllt, aber nächste Woche wird's besser werden ... Maudie, so komm doch und begrüße diese nette Dame.«
Das Kinn in die unsauberen Spitzen ihres Kleides bohrend, kam Maudie aus ihrem Versteck im Eßzimmer, wo sie gelauscht hatte, hervor und reichte mir mit einem schlauen, durchdringenden Blicke die magere Hand.
»O Gott, Maudie, was hast du für ein schmutziges Kleid an!«
»Ich kann nichts dafür, Tante. Der Wäschemann sagt, er bringe meine Kleider nicht, bevor man ihn bezahlt habe.«
»Du hast ja aber doch auch ein neues. Wo ist denn das?«
Unglücklicherweise war es damit dieselbe Geschichte: der Schneider wollte das neue Kleid nicht schicken, ehe man ihm die Rechnung bezahlte. Die Tante lachte indes nur vergnügt und schüttelte das runde, glänzende Haupt. Schulden schienen nicht schwer auf diesen fetten Schultern zu lasten.
»Doch nun müssen wir voranmachen. Lily ist in den Bazar gegangen, da will ich nur selbst nach Ihrem Zimmer sehen. Kommen Sie, Miß ... Wie ist Ihr Name?«
»Ferrars, Pamela Ferrars.«
»Dann kommen Sie, Miß Pamela Ferrars. Wir wollen sehen, wie wir's Ihnen bequem machen können.«
Damit watschelte sie mir voran auf eine hintere Veranda zu, wo sich eine ganze Ausstellung von altem Gerümpel befand. Von dort gelangten wir in ein großes Zimmer, dessen erbsengrün angestrichene Wände mit Zeitschriftenbildern und Modekupfern behangen waren. Es enthielt zwei ungeordnete Betten, wenige Möbel, dafür aber wahre Haufen von Kleidungsstücken. Überall lagen Kleider umher: einige hingen an ausgespannten Stricken, andre an Nägeln, und ein Schrank war so vollgepfropft damit, daß die Türen nicht schließen wollten. Auf einem Toilettentisch stand ein großer Spiegel und davor lagen Bürsten, Puderquasten und ein wildes Durcheinander von Kragen und tausenderlei Putzgegenständen.
»Hier wohnen Eulalie und Gwendoline,« sagte Frau Rosario, sich dabei wohlgefällig umschauend. »Ach ja, richtig, und Lola auch. Ich werde nun Lola zu Rosamunde umquartieren, dann können Sie Ihren Platz in Gwendolines Bett haben.«
»Wäre es nicht vielleicht möglich, daß ich eine Matratze auf dem Boden bekommen könnte?« bat ich in bescheidenem Tone. »Ich bin nicht daran gewöhnt ...«
»O Gott! Ja, das ginge vielleicht schon,« unterbrach sie mich. »Warten Sie mal: meine Freundin, Frau Cardozo, könnte mir ein Bett leihen. – Ach, und da kommt ja auch Lily!« rief sie, nach einem Wagen ausschauend, der soeben draußen vorfuhr. »Nun wird bald alles in Ordnung sein.«
Über ihren Kopf weg sah ich ein Mädchen in bunter Bluse hochaufgerichtet auf einem Fuhrwerk sitzen. Auf der Bank ihr gegenüber stand ein Korb mit Gemüse, daneben lag ein Bündel Kleider und ein Stück Rindfleisch. Augenscheinlich war ihre Ausfahrt mit Erfolg gekrönt. Im Hausflur kam Lily, ein unschönes Mädchen mit einer Brille, uns dann entgegen. Sie wurde mir in aller Form vorgestellt.
»Miß Ferrars, dies hier ist meine Haushälterin und Nichte Lily Lyster-Montfort. Nicht wahr, Lily, du sorgst nun für Miß Ferrars? Glaubst du wohl, daß Frau Cardozo mir ein Bett leihen kann? Mache jedenfalls den Versuch. Ich muß jetzt gehen und sehen, ob die Kühe ihr Futter bekommen. Entschuldigen Sie mich.« Und geschäftig trottete sie davon.
»Tante denkt an nichts als an ihre Kühe,« brummte das Mädchen, die Handschuhe ausziehend. Sie sah müde und erhitzt aus und hatte offenbar mit dem Metzger und dem Wäschemann einen Kampf zu bestehen gehabt.
»Sie wollen wirklich in diesem Hause wohnen?« fragte sie dann mit dem Ausdruck ungläubigen Staunens.
»Ja, vorläufig wenigstens.«
»Nun, da können Sie mir leid tun!« sagte sie, kurz auflachend. »Ich werde aber jedenfalls mein Möglichstes tun, es Ihnen ein wenig behaglich zu machen.« Dabei schaute sie sich um und stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Sie selbst wohnen wohl nicht in diesem Zimmer?«
»Nein, gottlob nicht! Ich könnte Eulalies Eitelkeit und Gwendolines ewiges Geschwätz nicht ertragen. Ich teile mein Zimmer mit Rosamunde, Joe und Maudie.«
»Das Haus scheint überfüllt zu sein?«
»Allerdings, aber das schadet nichts.« – Sie schrieb im Sprechen einige Worte auf ein Stückchen Papier. – »Maudie!« rief sie hierauf zur Türe hinaus. »Lauf schnell zu Frau Cardozo hinüber und bring ihr dies. Laß dir aber nicht einfallen, mit Lucilla herumzutrödeln ... Es ist wegen Ihres Bettes,« erklärte sie, sich wieder an mich wendend. »Hier nebenan ist eine Kammer. Das Dach ist zwar etwas schadhaft und weiße Ameisen hausen auch darin, aber Sie können wenigstens Ihre Sachen dort unterbringen und sich gelegentlich mal aus dem Gedränge flüchten.«
Sie öffnete eine Tür, und ich schaute nicht ohne Schreck in eine niedrige Kammer mit rotem durchlöchertem Ziegeldach. Sie enthielt nichts als einen einzigen Stuhl und ein Stück von einer alten Matte. Aber trotzdem begrüßte ich diesen elenden Winkel mit Freuden, denn hier würde ich wenigstens allein sein können.
»Sobald ausgefegt ist, werde ich Ihre Koffer hineinbringen lassen. Wir müssen sie auf ein paar Ziegelsteine stellen, sonst haben die Ameisen den Boden in ein paar Stunden durchgefressen. Ein altes Tischchen und eine Waschschüssel werde ich wohl auch noch irgendwo auftreiben. Im Bazar drüben würde ich mir dann für eine Rupie einen Spiegel kaufen, denn der hier ist stets so belagert, daß Sie doch keinen Blick hineinwerfen können. Schlafen müssen Sie aber natürlich hier.«
»Warum nicht lieber da drinnen?«
»Weil das Dach in schlechtem Zustand ist. Die Sparren sind von den Ameisen zerfressen, und so kann jeden Augenblick ein Dachziegel herunterfallen. Warum sind Sie eigentlich gerade hierhergekommen?« fragte sie plötzlich.
»Weil mir keine andre Wahl blieb. Ich habe kein Geld, um in einen Gasthof zu gehen.«
Mit wenigen Worten erzählte ich ihr nun mein Mißgeschick. Sie hatte sich auf den Rand eines Bettes gesetzt und hörte mir ernsthaft zu, bis ich geendigt.
»Sie suchen also eine Stellung? Nun, ich wünsche, daß Sie bald eine finden! Inzwischen aber hoffe ich, daß Sie sich nicht allzuschwer an uns zusammengewürfeltes Volk gewöhnen. Da ist vor allem meine Tante Rosario, die in ihren Kühen und Hühnern aufgeht, und John (so heißt nämlich mein Vater), der immer auf einen unverhofften Glücksfall wartet und dabei keinen Pfennig verdient. Ferner Friedrich Augustus, ein wohlhabender, eingebildeter, brummiger und unausstehlicher Mensch, dann Claude und Alonzo van Lede, junge Kaufleute, und Fitz Alan, ein Geck und Kleidernarr. Auch noch eine uralte Tante haben wir im Haus, und dann, wie Sie schon gehört haben, Eulalie, die in einem Geschäft angestellt ist, Gwendoline, die in einer Schule unterrichtet, und Lola, die Medizin studiert, gerade wie ich selbst. Ich bleibe nur noch so lange hier, bis ich meine Prüfung bestanden habe.«
»Wirklich?« antwortete ich ohne besondre Teilnahme, denn ich würde ja doch die erste sein, die diesem Hause den Rücken wandte.
»Wir sind alle den Tag über auswärts bei unsern verschiedenen Beschäftigungen, so daß Sie eigentlich nur in der Frühe und abends belästigt werden.«
»Was treiben Sie dann am Abend?«
»Wir gehen entweder zur Militärmusik am Strand, oder in den Park oder ins Theater. Manchmal haben wir auch Gesellschaft hier und tanzen. Wir räumen dann das Empfangszimmer aus, und irgend jemand spielt auf. Um acht Uhr morgens wird gefrühstückt wegen der jungen Herren, die ins Geschäft müssen: Kaffee und geräucherten Speck. Um sieben Uhr abends wird gegessen, gekochtes Rindfleisch mit Curry und Gemüse, natürlich ganz einfach, denn um eine Rupie täglich kann man keine großen Ansprüche machen. Die Wäsche müssen Sie selbst bezahlen, und wöchentlich bekommen Sie die Rechnung. Ich führe die Bücher. Einige von den Kostgängern bezahlen regelmäßig, andre lassen ihre Rechnung monatelang stehen. Eulalie und Gwendoline zum Beispiel haben seit einer Ewigkeit nichts bezahlt, und auch sonst haben sie noch überallherum Schulden. Sie machen sich aber nichts daraus, wenn sie nur schön angezogen sind, das ist ihnen die Hauptsache ... So, nun wären Sie schon etwas in die Verhältnisse hier eingeweiht,« fügte sie aufstehend hinzu. »Da kommt ja auch das Bett. Ich will nun gehen und nach Ihren Sachen sehen. Sie können sich ja gleich häuslich einrichten.«
Noch war ich indes mit meiner Einrichtung nicht weit gediehen, als ich lautes Schwatzen, Schreien und Lachen hörte – offenbar waren die übrigen Kostgänger zurückgekommen. Nach einiger Zeit trat ich denn auch ins Zimmer und bemerkte dort drei Mädchen. Die eine kämmte sich gerade das Haar, die andre puderte ihre Nase und eine dritte kam schwebenden Ganges mit ausgestreckten Händen auf mich zu. Diese war von einer solch ungewöhnlichen und überraschenden Schönheit, daß ich eine Art angenehmen Schreck empfand. Sie trug eine rosa Bluse, einen weißen Rock, ausgeschnittene Schuhe und eine Perlenkette um den Hals und hätte eher für eine andalusische Schöne reinster Abkunft, als für ein hübsches Ladenmädchen aus einer Vorstadt von Madras gelten können. Ihre Gestalt war die verkörperte Anmut; Füße und Hände hätten nicht vollkommener sein können, die Züge waren regelmäßig, um den Mund spielte ein liebliches Lächeln, und die großen, funkelnden Augen glänzten vor Jugendlust. Dieses strahlende Geschöpf bewillkommnete mich mit einem herzlichen Kuß und sagte mit stark fremdländischer Betonung: »Ich bin Eulalie! Wahrscheinlich hat Ihnen Lily bereits ein Bild von mir entworfen, aber das schadet nichts; ganz so schwarz, als sie mich geschildert, bin ich denn doch nicht ... Sie werden also jetzt auch hier wohnen! Nun, jedenfalls wollen wir alle gute Kameradschaft halten ... Das hier ist Gwendoline,« fuhr sie fort, als ein zweites hübsches Mädchen mit hellbraunem Haar und blauen Augen nun ebenfalls herankam, mich verwundert anstarrte und geziert lächelte. »Und hier ist Lola.« Lola sah klug aus, hatte vorstehende Backenknochen und eine dunkle Hautfarbe. »Sie ist die Gelehrte unter uns,« erläuterte Eulalie kichernd. »Alle ersten Preise heimst sie ein, und bald wird sie ihr Doktorexamen machen und reich und berühmt werden.«
»Als ob man jemals gehört hät... »Da läutet die Tischglocke! Ach, ich bin so hungrig, und wenn es heute wieder Curry gibt, dann möchte ich lieber gleich weinen.«
»O Lola, mein liebes, süßes, goldenes Herzchen, leih mir acht Anna!« rief Eulalie mit bittend erhobenen Händen. »Ich muß heute abend nach dem Essen unbedingt noch zur Militärmusik gehen und habe keine einzige Kupfermünze mehr.«
»Aber du schuldest mir ja ohnehin schon zwei Rupien,« antwortete Lola streng.
»Jawohl, Herzchen! Ich will dir's ja auch wiedergeben ... ganz gewiß, sobald ich mein Gehalt bekomme; vorher kann ich es ja doch nicht. Nur noch acht Anna! Bitte, bitte, liebe, süße Lola.«
»Ich habe selbst nichts übrig,« lautete die kurze Antwort, während Lola der Türe zuschritt.
»Gwendoline, dich brauche ich wohl gar nicht erst zu bitten!«
Und nun richtete Eulalie ihre flehenden Augen auf mich. In meinem Leben hatte ich noch keine solche beredten Augen gesehen. Ja, ich besaß ein Achtannastück, und das händigte ich ihr auch sofort ein, – freilich galt die hübsche, ganz ansehnlich aussehende Silbermünze, die früher der indische Schilling war, heute nur noch acht Pence, also etwa achtundsechzig Pfennig. So war ich denn also kaum zwei Stunden in Frau Rosarios Hause, und trotz der an mich ergangenen Warnung hatte ich bereits Geld ausgeliehen, allerdings nur einen kleinen Betrag – wer hätte aber auch Eulalies Augen widerstehen können?
*
Eine hinter der andern traten wir im Sturmschritt ins Eßzimmer. Hier überkam mich eine weit peinlichere Verlegenheit, als ich sie je an Bord des Schiffes empfunden hatte. Dort sah niemand etwas Besonderes an mir, um so mehr aber hier, wo ich die einzige Vertreterin der weißen Rasse war. Ein bestimmtes Gefühl sagte mir, daß meine Ankunft, mein Aussehen und meine Geldverhältnisse bereits aufs ausführlichste besprochen worden waren, und daß alle Blicke sich auf mich richteten, während ich Eulalie und Gwendoline an den Tisch folgte.
Am oberen Ende des langen, schmalen Tisches führte in leichter Musselinbluse, geschmückt mit einem Bernsteinhalsband, das Gesicht geisterhaft weiß gepudert, Frau Rosario den Vorsitz. Ich hatte den Ehrenplatz zu ihrer Rechten, während zu ihrer Linken ein dicker, dunkelfarbiger, finster aussehender Mann von etwa fünfzig Jahren saß, der einen weißen Drellanzug und viele Schmucksachen trug. Das mußte, wenn mich nicht alles täuschte, Friedrich Augustus sein. Wir waren achtzehn Personen, hauptsächlich junge Leute, doch bemerkte ich auch eine alte Frau und einen mageren ältlichen Herrn. Das Essen war reichlich, wenn auch nicht von der besten Qualität: gedämpftes Rindfleisch, Gemüse, in Öl gebackene Mehlkuchen; auch das gefürchtete Curry fehlte nicht. Die Gesellschaft entwickelte einen kräftigen Hunger, unterhielt sich lebhaft und lachte laut, besonders in Eulalies und Gwendolines Nachbarschaft. Zu meiner Rechten saß ein hübscher Eurasier mit kleinem Schnurrbärtchen, tadellosem Hemdkragen, mit Ringen an den Fingern und stark nach Parfüm duftend – der echte Stutzer. Frau Rosario stellte ihn mir als ihren Neffen Fitz Alan Granville vor.
»Wir nennen ihn aber alle einfach Fitz,« fügte sie hinzu, »und ich weiß, daß er sich freuen würde, wenn Sie es ebenso hielten.«
»Fitz« lächelte verbindlich, wobei seine tadellosen Zähne zum Vorschein kamen, und begann sofort eine lebhafte Unterhaltung. Begeistert erzählte er mir, daß er für das Radfahren schwärme und sich soeben ein neues Rad gekauft habe. Dann sprach er durcheinander vom Tanzen, Tennisspielen und von hübschen Mädchen.
»Sie kennen ohne Zweifel alle Anwesenden hier?« fragte ich während einer kurzen Pause.
»O ja, gewiß; die Hälfte davon sind Verwandte von mir,« antwortete er, ein nach Moschus duftendes Taschentuch entfaltend. »Lily ist meine Cousine, und das Mädchen dort drüben mit den roten Bändern und den langen Zöpfen ist meine Schwester Jocasta, eine schlagfertige, durchtriebene kleine Hexe.«
Jocasta sah in der Tat so aus, und ihre kleinen, dunkeln Augen begegneten den meinigen wie Nadelstiche, so oft ich zufällig in ihrer Richtung schaute.
»Sie ist eben erst Vierzehn geworden, geht in die Doveton-Schule und lernt auch recht gut, ist aber viel zu naseweis und altklug. Jetzt möchte sie natürlich für ihr Leben gern wissen, wer Sie sind und woher Sie kommen, auch wird sie sich durchaus nicht scheuen, Sie darüber auszufragen. Lassen Sie sie aber nur gründlich abfahren,« fügte er gutmütig hinzu – und ich nahm mir im stillen vor, seinem Rat zu folgen. »Die beiden jungen Leute neben ihr sind die Brüder van Lede, nette, gut bezahlte Kaufleute ... Haben Sie nicht vielleicht Lust, heute abend mit uns zur Strandmusik zu kommen? Es würde mir ein großes Vergnügen sein, wenn sie sich meiner Führung anvertrauen wollten.«
Während ich mich beeilte, diesen schmeichelhaften Vorschlag mit dem höflichsten Dank und den lebhaftesten Entschuldigungen abzulehnen, wurde ich plötzlich von Friedrich Augustus unterbrochen, der mich über den Tisch herüber anredete. Bis dahin hatte er den Mund eigentlich nur geöffnet, um über das Essen zu brummen.
»Wie ich höre, haben Sie all Ihr Geld verloren, Miß?«
»Nicht alles,« antwortete ich kühl.
»Selbst wenn dies der Fall wäre, so würde es hier nichts ausmachen.« Und er nickte mit dem Kopfe nach Frau Rosario hin, die sich mit dem Schneiden des Fleisches abmühte. »Sie hat ohnehin eine ganze Menge Kostgänger, die niemals einen Penny bezahlen.« Dabei zeichnete er mehrere Anwesende mit einem langen, bedeutungsvollen Blicke aus, was die Betreffenden veranlaßte, die Augen verlegen niederzuschlagen und rasch ihr Essen zu verschlingen, als fürchteten sie, sofort ausgewiesen zu werden. Dieser Friedrich Augustus machte einen höchst widerlichen Eindruck auf mich, sowohl wegen seines Wesens als seines Aussehens. Er war offenbar der reiche Verwandte, der gut zahlte, sich damit aber auch zugleich das Recht zum Schelten und Tyrannisieren erworben zu haben glaubte. In mir vermutete er wohl einen neuen Schmarotzer, denn er fuhr fort: »Bedürftige Leute gehören ins Armenhaus und nicht hierher, wo wir schon mehr als genug von dieser Sorte haben.«
»Aber Friedrich!« wandte Frau Rosario ein. »Nun höre doch auf! Kannst du die Leute denn nicht in Ruhe lassen?«
»O doch, wenn ich will, und wenn sie Geld haben,« antwortete er grob.
Ich war herzlich froh, als ich einige der Kostgänger vom Tisch aufstehen sah, und folgte ihrem Beispiel sofort.
Schon wenige Minuten darauf war die ganze Gesellschaft auf rätselhafte Weise verschwunden, als hätte der Erdboden sie verschlungen. Ich begab mich deshalb allein ins Freie, um draußen wenigstens eine Luft atmen zu können, die nicht mit den Gerüchen von Pomade, Patschuli und gedämpftem Rindfleisch erfüllt war. Langsam schlenderte ich durch den großen Garten, der eigentlich kaum so genannt zu werden verdiente, und als ich in der Nähe des Zaunes angelangt war, der ihn abschloß, sah ich zwei Mädchen, vielleicht die Töchter der Frau Cardozo, die mir das Bett geliehen hatte, neugierig herüberlugen. In der Ferne entdeckte ich einen alten Landauer mit vier geputzten jungen Mädchen und zwei Herren, der soeben vom Bungalow abfuhr. Drei Herren folgten zu Rad, und lautes Lachen und Rufen drang von dem kleinen fröhlichen Zuge, der sich zum Militärkonzert an den Strand begab, zu mir herüber. Ich setzte meinen Mondscheinspaziergang fort, lauschte dem aus dem Bazar herübertönenden Summen und Lärmen, dem Knattern des Feuerwerkes und dem fernen Tosen der Brandung. Plötzlich fuhr ich beim Klang einer dicht neben mir ertönenden sanften Stimme erschrocken zusammen.
»Fürchten Sie sich nicht vor Schlangen? Kommen Sie doch lieber auf den Weg hinaus.«
Es war der schmächtige ältliche Mann, den ich bei Tisch bemerkt hatte. Er war ohne Kopfbedeckung und rauchte eine Zigarre. »Sie werden die Gesellschaft bei uns ein wenig gemischt und sehr verschieden von der finden, an die Sie gewöhnt sind, aber zu den schlimmen Menschen gehören wir nicht,« fuhr er mit bittender Miene fort.
»O nein, das denke ich auch ganz gewiß nicht,« beeilte ich mich, ihm zu versichern.
»Harmlose Leute sind es, die das Leben leicht nehmen und sich am Guten, das sich ihnen bietet, erfreuen.« – Er hatte eine weiche, angenehme Stimme. – »Tante Rosario bat mich, Sie aus der feuchten Luft hereinzuschicken.«
Als ich mich dem Hause näherte, sah ich Frau Rosario in einem Lehnstuhl auf der Veranda thronen.
»Kommen Sie, Miß Ferrars, und leisten Sie mir Gesellschaft,« rief sie mir entgegen. »Die andern sind fast alle fortgefahren, da müssen wir uns gegenseitig, so gut es geht, die Zeit zu vertreiben suchen.«
Gehorsam setzte ich mich auf die äußerste Kante eines wackeligen Stuhles, während sie fortfuhr: »Sie sind alle zur Musik gegangen, außer Tante Gam, die schon zu Bett liegt.«
»Sie ist wohl schon sehr alt?«
»O ja, sie ist die Tante meines verstorbenen Mannes und hat niemand mehr auf der Welt; alle ihre Freunde sind schon tot. Auch Geld hat sie keines, und nun jammert und brummt sie von früh bis spät. Es ist eben auch hart, kein Geld zu haben und alt und gebrechlich zu sein.«
»Sie haben ein recht volles Haus,« bemerkte ich.
»O ja! Da ist einmal mein Bruder John, der Sie vorhin aus dem Garten holte. O Gott, er ist sehr gescheit und war auch oft nahe daran, reich zu werden, aber seine Pläne mißglücken ihm immer alle. Ich glaube, er ist zu bescheiden. Aber immer trägt er irgend einen großen Gedanken im Kopf, der Geld einbringen und uns alle glücklich machen soll ...« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Zuerst wollte er Gold suchen, dann eine neue Lampe und eine Sodawasserflasche erfinden, und jetzt eben ist er mit der Entdeckung einer besonders praktischen Art Punkah beschäftigt. Hinter dem Haus hat er sein Plätzchen, wo er arbeitet. Manchmal ist er auch wochenlang fort und versucht, sich etwas zu verdienen. Lily ist seine Tochter ... O Gott, was für ein gescheites Mädchen und dabei eine ausgezeichnete Haushälterin! Die versteht das Handeln! Ich schäme mich oft wirklich, wenn ich sie feilschen höre, und geizig ist sie auch ... o entsetzlich geizig! Sie hofft, bald ihr Doktorexamen machen zu können, und dann geht sie als Ärztin nach Kalkutta. In Madras gefällt es ihr nicht; sie sagt, sie habe zu viel Verwandte hier. Wie ich einmal ohne sie fertig werden soll, weiß ich wirklich nicht. Ich habe zwar noch eine zweite Nichte, Jocasta ... haben Sie sie bemerkt? Das Mädchen mit den langen Zöpfen?«
»Ja, ihr Bruder machte mich auf sie aufmerksam.«
»Aber sie ist noch zu jung und unerfahren. Ich sage Ihnen, dieses Mädchen hat Augen ... unglaublich! Die reinste Spionin ist sie, alles stöbert sie aus, auch kann keines der großen Mädchen sie leiden. Ach, wie so ganz anders, so gutherzig und weich ist dagegen Fitz Alan! Und nun ist der arme Junge ohne Arbeit.«
»O, wirklich?«
»Ja, er hatte eine Anstellung in dem Rauchwarenhaus Bell & Brown, aber als er um Gehaltserhöhung bat, wurde sie ihm abgeschlagen, und da er nur fünfundzwanzig Rupien verdiente, während sein Bruder bei der Eisenbahn jetzt fünfzig bekommt, so gab er seine Stelle auf.«
»War das nicht recht unklug von ihm?«
»Was hätte der arme Junge anders tun sollen? Er konnte doch nicht bleiben, wenn sein Bruder das Doppelte verdient.«
»Aber vielleicht hat sein Bruder mehr Kenntnisse oder mehr Erfahrung.«
Dieser kühne Einwurf übte eine überraschende Wirkung auf die gute Frau aus, die wie eine Feder emporschnellte und mir erregt antwortete: »Fitz ist ein lieber, braver Junge! Was schadet es, wenn er im Anfang auch nicht viel von der Arbeit versteht? Er kann es doch lernen, ihm fehlt nur die richtige Anweisung. Fitz ist sehr gescheit!«
In diesem glücklichen Hause schien alles »sehr gescheit« zu sein. Fitz Alan aber war offenbar dazu noch der Liebling seiner Tante, der er alles verdankte, von der Zigarre, die er rauchte, und dem Parfüm seines Taschentuches an bis herab zu den gewöhnlichen Bedürfnissen des Lebens, wie Wohnung, Essen und Kleidung.
»Maudie, Mädchen! Mach, daß du zu Bett kommst!« rief jetzt Frau Rosario. Maudie war nämlich herausgekommen und betrachtete uns fast mißtrauisch. »Sie ist eigentlich ein recht ungezogenes kleines Ding« – dabei streichelte ihr die Tante liebevoll übers Haar. »Geh jetzt zur Chinna Ajah, sie soll dir ein Stückchen von dem schönen Zuckerrohr geben, und dann darfst du nachher bei mir schlafen.«
Allein selbst diese verlockenden Aussichten bewogen Maudie nicht zum Gehorsam, sie ließ sich im Gegenteil gemächlich auf einen Stuhl nieder, um unsrer Unterhaltung zuzuhören.
»Sie ist nur vorübergehend bei mir,« nahm ihre Großtante, sich mit Gleichmut in die Lage findend, das Gespräch wieder auf. »Ihre Mutter war ein ungewöhnlich hübsches Mädchen gewesen; sie heiratete dann einen Sergeanten, aber das Geld wollte nicht reichen, und so konnte er sie nicht mit nach England nehmen. Seither schrieb er niemals mehr und schickte ihr auch kein Geld, und so ließ die arme Frau Maudie bei mir, während sie selbst jetzt die Krankenpflege erlernt. O Gott, was ist sie für ein gescheites Frauchen.«
»Sind denn Ihre Hausbewohner lauter Verwandte von Ihnen und keine zahlenden Kostgänger?«
»O du lieber Himmel! Nein! Eulalie, Gwendoline, Lola und Rosamunde sind nur gute Bekannte. Sie bezahlen auch, wenn sie können, die armen Mädchen. Friedrich Augustus, der dicke Herr, bezahlt regelmäßig und gut. Er ist sehr reich und in einem großen Handelshause angestellt, aber er brummt und schilt die ganze Zeit, obwohl er doch das beste Zimmer und meine eigene Kommode hat. Die beiden van Lede gehen in ein Geschäft in Blacktown. Es sind brave, gesetzte junge Leute, ebenso der andre junge Mann; Aubrey de Vere Jones heißt er und ist beim Telegraphenamt. Möchten Sie nicht vielleicht auch versuchen, dort eine Anstellung zu bekommen? Es ist eine ganz anständige Beschäftigung und Sie sind gewiß sehr gescheit.«
»Ach nein, ich möchte lieber eine Stelle als Erzieherin oder Gesellschafterin annehmen.«
»Ach so, ich fürchte nur, Madras ist nicht der Ort, wo viel Nachfrage nach solchen Damen ist. Aber eine Stelle für den Sommer ins Gebirge oder nach Bangalore, die ließe sich allenfalls finden. Das wäre etwas für Sie: kühles Klima und eine hübsche Stadt.«
»Es freut mich, das zu hören,« antwortete ich ziemlich kleinlaut.
»Sie müssen eine nette Anzeige in die Zeitung einrücken lassen, das kostet zwar mindestens zwei Rupien, wird aber sicherlich Erfolg haben. Sie fühlen sich gewiß recht einsam und verlassen, meine liebe Miß Ferrars, so weit fort von Ihren Verwandten! Das ist traurig; Sie tun mir recht leid!«
Der Ton ihrer Stimme und der teilnehmende Druck ihrer weichen, kleinen Hand ging mir tief zu Herzen. Sie hatte sich jedenfalls nicht über die Abwesenheit ihrer Verwandten zu beklagen. Nicht weniger als sechs kannte ich jetzt schon, die auf Kosten dieser freundlichen, gutherzigen Frau lebten.
»Warten Sie ja nicht auf die jungen Mädels,« fuhr sie eindringlich fort; »die kommen sicherlich spät nach Hause. Wir gehen jetzt wohl am besten zu Bett, vorher will ich Sie aber noch in Ihr Zimmer begleiten.«
Hier angelangt, entdeckte ich Frau Cardozos Bett, das in eine Reihe mit den andern gerückt war.
»Schlafen Sie recht gut,« wünschte Frau Rosario als verbindliche Wirtin, »und haben Sie nur keine Angst vor den Ratten, die an der Zimmerdecke herumlaufen, es fällt höchst selten mal eine herunter.«
Allein schon beim Gedanken an diese Möglichkeit befiel mich ein Grausen vom Kopf bis zu den Zehen.
»Ich weiß wohl, das Haus befindet sich in einem recht schlechten Zustande, dafür bezahle ich aber auch einen billigen Mietzins. Die weißen Ameisen sind gerade so abscheulich, wie die Ratten; weil ich aber keine Ausbesserungen verlange, drängt man mich auch nicht mit der Bezahlung. Früher freilich, da war dieser Bungalow der schönste von ganz Vepery ... Sawmy! Sawmy!« rief sie plötzlich mit erhobener Stimme. »Wo ist der Bursche nur wieder? Rasch bring die Lampe!«
Als Sawmy endlich schläfrig, blinzelnd und zerzaust erschien, sagte sie: »Du brauchst nicht auf die jungen Fräulein zu warten; sie kommen jedenfalls spät nach Hause ... Nun eile dich, Maudie, wir wollen zu Bett gehen.« Und nach einem herzlichen »Gute Nacht« verschwand sie mit ihrer Großnichte.
*
Mein Lager war hart: eine Bettstelle aus Rohrgeflecht mit dünner Baumwollmatratze. Ich schob es in eine entfernte Ecke, warf einen scheuen Blick nach oben und war bald fest eingeschlafen.
Der Morgen konnte nicht mehr fern sein, als ich beim Schein eines grellen Lichtes erwachte und bemerkte, daß meine Zimmergenossinnen zurückgekehrt waren. Lola lag bereits zu Bett, Gwendoline und Eulalie aber liefen noch immer hin und her.
»Ah, nun sind Sie ja endlich wach!« rief Gwendoline triumphierend. »Ich sage Ihnen, wir haben uns königlich amüsiert! Wie schade, daß Sie nicht dabei waren! Nach dem Konzert gingen wir noch zu einem kleinen Tanzfest mit Feuerwerk, und dort hat Eulalie eine großartige Eroberung gemacht ... ein pikfeiner junger Herr war es, sage ich Ihnen! Wie er sie immer bewundernd anstarrte! Er sah viel vornehmer aus als der Sergeant, der immer in unsre Kirche kommt.«
»Was für einen Unsinn schwatzest du da wieder!« sagte Eulalie, ihr einen Stoß versetzend. »Sei doch nicht so albern! Hast du Addie de Castros Hut gesehen?!«
»Ja, er war entzückend.«
»Ich möchte ihn gleich morgen nachmachen, wenn ich das Geld dazu hätte. Aber ich besitze ja nicht einen Penny, nur Schulden, Schulden! Ach, so viele, und dabei nur fünfundzwanzig Rupien zu erwarten! Tante Rosario schulde ich ...«
»Die drängt ja niemals,« unterbrach Lola sie von ihrem Bett aus.
»Nein, aber Lily um so mehr,« wandte Gwendoline ein.
»Ach ja, diese Lily! ... Bei Oakes habe ich Schulden, daß ich mich schäme, wieder hinzugehen, und beim Schneider, überall Schulden, es ist ein Jammer! ... Ach, Schulden, Schulden, Schulden, nichts als Schulden!« begann Eulalie plötzlich vor sich hin zu summen, indem sie im Zimmer hin und her tanzte.
»Wie kannst du tanzen und zugleich von Schulden sprechen!« schalt Gwendoline in kläglichem Tone.
»Bah, ich glaube, ich bin schon mit Schulden auf die Welt gekommen und werde ohne Zweifel auch in Schulden sterben. Was wäre das für ein Kummer für all meine Gläubiger, wenn ich jetzt plötzlich das Zeitliche segnete!« Dabei lachte sie und schlug eine reizende Pirouette. »Schulden sind ein Unglück, aber kein Verbrechen!« rief sie, Lola eine Kußhand zuwerfend.
»Eulalie Foneca, ich glaube wahrhaftig, du bist verrückt!« sagte Lola ernsthaft. »Der reiche Bankier, oder was er sonst ist, hat dich um den Verstand gebracht.«
»Sie hatte ja keinen zu verlieren,« bemerkte Gwendoline trocken. »Hast du schon gehört, daß demnächst im Viktoriasaal ein großer Subskriptionsball stattfinden soll?«
»Nein!« Eulalie stürzte auf ihre Freundin zu. »Wer sagt das?«
»Alonzo, und er weiß immer genau Bescheid. Wenn du recht nett mit Friedrich Augustus bist, so schenkt er uns vielleicht Eintrittskarten: drei Rupien das Stück, Essen und alles eingeschlossen.«
Eulalie machte einen Luftsprung, hob dann aber mit verzweiflungsvoller Gebärde die Arme in die Höhe und rief: »Und ich habe kein Kleid!«
»Du kannst doch das weiß und gelbe anziehen!«
»Nein, es ist in Fetzen. Ich muß ein neues haben.« – Sie überlegte einen Augenblick. – »Ein Rosa-Atlaskleid,« fügte sie dann entschlossen hinzu.
»Das ist doch unmöglich, das kostet zu viel,« warf Gwendoline ein.
»Ich sterbe, wenn ich kein Rosa-Atlaskleid habe!«
»Wenn du es nun aber doch einmal nicht haben kannst,« beharrte die Freundin.
»Das wollen wir erst mal sehen. Ich weiß schon, wie ich's anstellen werde. Der Trödler Sorabjee muß mir den Stoff verschaffen, der kann schon auf die Bezahlung warten. Und dann werde ich es mir selbst machen ...«
Bei diesem Punkte der Unterhaltung schlief ich ein, während die schuldenbedrückte Eulalie ohne Zweifel noch lange über die Einzelheiten eines prächtigen Ballanzuges nachgrübelte.
So endigte mein erster Tag in Frau Rosarios Kosthaus.
Schluß des ersten Bandes.