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Zweiter Teil.

Achtes Kapitel.

Unsre Reise nach Dassi verlief unter dem bewährten Schutze der kaiserlichen Regierung. Frische Ochsen und zuverlässige, dienstbereite Chuprassis warteten unser auf jeder Poststation. Weder Mangel an Rindvieh, noch an Nahrung war mehr zu verspüren. Die Straße, die sich durch ebene, fruchtbare Gegenden wand, war mit Akazien und andern blühenden Bäumen eingefaßt, und halb versteckt in den wogenden Kornfeldern saßen auf kunstlos zusammengefügten Bänken Frauen und Kinder, die lebhaft ihre Klappern drehten, um Hirsche, Wildschweine und herannahende Scharen grauer Papageien, die sich keck ins Getreide niederlassen wollten, zu verscheuchen. An der Eisenbahnstation, zu deren Erreichung wir so lange Zeit gebraucht hatten, wurden wir von einem stattlichen, in Scharlach und Gold gekleideten Indier empfangen, der uns einen Weg durch die Menge bahnte, für unser Gepäck sorgte und uns in den Augen der Anwesenden eine ungeheure Wichtigkeit verlieh.

Zur Vorsicht stiegen wir auf der Station Gooty wieder aus und hielten dort eine ganze Woche lang Quarantäne, dann erst setzten wir unsre Reise nach Punah fort, wo ich mich von Mary-Ann trennen mußte. Unter lautem Weinen und Jammern nahm sie von mir Abschied. Die Trennung war für beide Teile schmerzlich, denn die Ajah bildete das letzte Band zwischen mir und der glücklichen, in der Waldesfreiheit verlebten Zeit.

Noch war sie ganz in Tränen gebadet und küßte mir in einem fort leidenschaftlich die Hände, als eine große, dunkle Dame mich plötzlich anredete: »Sind Sie vielleicht Miß Ferrars?«

»Ja,« antwortete ich erstaunt.

»Na, dann ist ja alles gut. Ich bin Mrs. de Villars. Mrs. Berners hat Sie mir abgetreten, denn sie hat Punah gestern verlassen müssen. So geht es nun einmal in Indien: heute hier, morgen da. Ihr Mann ist ganz unverhofft nach Burmah versetzt worden.«

Während Mrs. de Villars diese Worte in eigentümlich rascher, hastiger Weise hervorstieß, gab ich mir alle Mühe, mich in die veränderte Lage und in meine neue Arbeitgeberin zu finden. Mrs. Berners, deren Photographie ich gesehen hatte, war eine kleine, blonde, rundliche Frau, während diese Dame eine große, magere Gestalt, ein hübsches, schmales Gesicht und ungewöhnlich lebhafte, schwarze Augen hatte. Sie trug ein kostbares goldgesticktes weißes Tuchkleid, das für diesen Anlaß viel zu prächtig war, einen riesigen schwarzen Federhut auf dem unordentlich gekämmten Haar, eine weiße, mit Kaffeeflecken beschmutzte, aber mit einem großen Brillantstern befestigte Spitzenkrawatte und unreine weiße Glacéhandschuhe.

»Sie sind, wie ich sehe, im Begriff, sich von Ihrer Ajah zu trennen,« fuhr sie fort. »In diesem Zustand des Abschiednehmens von diesen Leuten befinde ich mich fortwährend. Sie sind mir geradezu verhaßt!«

Sie warf einen Zornesblick auf die arme Mary-Ann und sagte zu mir: »Da, öffnen Sie mal lieber diesen Brief und sehen Sie, ob alles in Ordnung ist, und dann kommen Sie rasch.«

Damit händigte sie mir ein Briefchen ein, das ich sofort las. Es war mit Bleistift geschrieben und lautete:

»Liebe Miß Ferrars!

Es tut mir unendlich leid, daß ich Sie nun nicht in unserm Hause aufnehmen kann, allein mein Mann wurde ganz unerwartet nach Burmah versetzt und ich stehe im Begriff, mit den Kindern nach England zu gehen. Binnen drei Tagen muß unser Haushalt aufgelöst sein, und so bleibt mir zu meinem großen Leidwesen keine Zeit, die Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen. Mrs. de Villars, die Ihnen diese Zeilen übergeben wird, wünscht eine Gesellschafterin.

Mit herzlichem Bedauern in fliegender Eile
Ihre A. Berners.«

»Nun, ich hoffe, die Sache ist in Ordnung?« fragte Mrs. de Villars in etwas scharfem Tone.

»O ja, gewiß. Doch entschuldigen Sie, wenn ich jetzt rasch nach meinem Gepäck sehe, da der Zug gleich abfahren wird.«

»Tun Sie das. Mein Chuprassi kann es holen. Sagen Sie der Frau Adieu und kommen Sie. Ich werde Ihnen auf der Heimfahrt alles erklären. Der Wagen wartet draußen.«

Wenige Augenblicke später folgte ich Mrs. de Villars durch das Stationsgebäude, worauf wir sofort in einen vornehmen Landauer stiegen, der allem Anschein nach ihr Eigentum war. Sie schien reich, jung und sorgenlos zu sein, und ich fragte mich voll Neugierde, was es wohl bei ihr für mich zu tun geben könnte.

»Ich kann mir denken, daß die Überraschung Sie etwas außer Fassung gebracht hat,« bemerkte sie, während wir, von zwei prächtigen Fuchsen gezogen, durch die Straßen von Punah rollten – das war ein andres Gefühl als in dem stoßenden Ochsenwagen! »Legen Sie Ihre Füße nur hier herauf, wenn es Ihnen bequemer ist,« fuhr sie fort. »Ich mache es gewöhnlich auch so. Mir ist es ganz gleichgültig, wie es aussieht; es ist ja doch mein Wagen.«

Ich lehnte indes die Aufforderung ab und sie nahm das Gespräch wieder auf. »Ich lebe ganz allein, habe keine Kinder, und mein Mann ist in den hohen Norden an die Grenze kommandiert worden, während ich es vorzog, hier zu bleiben. Wie könnte ich auch mit jenen Scheusalen dort leben, die Pferdefleisch essen und sich niemals waschen ... Nein, das ist gänzlich ausgeschlossen. Deshalb bin ich in Punah wohnen geblieben, wo das Leben so heiter und unterhaltend ist, und Tobby kommt herunter, so oft er es möglich machen kann.«

»Es ist ein weiter Weg von Tibet hierher.«

»Gewiß, aber daraus macht er sich nichts. Schon immer hat er mir zugeredet, ich solle mir doch eine Gesellschafterin nehmen, ein nettes junges Mädchen, allein ich hatte bis jetzt noch keine finden können. Einmal habe ich versucht, mit einer Dame zusammenzuwohnen und die Ausgaben mit ihr zu teilen, allein die Sache ging nicht auf die Dauer und trug mir nur Feindschaft mit einer ganzen Menge Leute ein. Einen Vorteil hat aber das gesellschaftliche Leben in Indien: man ist sozusagen fortwährend auf der Reise und hat deshalb immer wieder Gelegenheit, seine Feinde loszuwerden.«

»Kannten Sie Mrs. Berners näher? Waren Sie mit ihr befreundet?«

»O nein, durchaus nicht; ich kannte sie nur ganz oberflächlich. Sie ging vollständig in ihrer Kinderstube auf, und ich interessiere mich nicht im geringsten für andrer Leute Kinder. Ich saß einmal in Gesellschaft zufällig neben ihr, als sie uns von ihrer neuen Erzieherin, einer Miß Ferrars, vorschwärmte, die ihre Reise wegen der Pest habe unterbrechen müssen und sich nun in dem Pestlager als Pflegerin nützlich mache. Sie bewunderte deren Mut, und ich stimmte ihr lebhaft zu. Sie sagte ferner, Sie hätten glänzende Empfehlungen, seien aus guter Familie und müßten allem nach ein ganz vorzügliches, hochgebildetes Mädchen sein. Als ich dann von Mr. Berners' Versetzung hörte und man mir sagte, daß seine Frau nun gar nicht wisse, was sie mit Ihnen anfangen solle, da ging ich zu ihr und bot ihr an, daß ich Sie als meine Gesellschafterin annehmen wolle und daß ich Ihnen anstatt vierzig Rupien sechzig geben wolle. Daraufhin schrieb sie sofort jenes Briefchen, und so holte ich Sie an der Bahn ab. Sechzig Rupien sind nämlich für mich eine Kleinigkeit; ich habe mehr Geld, als ich ausgeben kann.«

»Das muß ein herrliches Gefühl sein!« rief ich unwillkürlich. »Aber wie wenigen wird es zu teil!«

»Ja, das ist wohl wahr, aber ich bin auch entsetzlich verschwenderisch und unordentlich,« gestand sie. »Ich war früher schon einmal verheiratet, an einen Mr. Lobb – Sie haben doch schon von Lobbs Pomade gehört – ein sehr reicher Mann! Später lernte ich Tobby in Monte Carlo kennen, und wir trösteten uns gegenseitig über unsre Verluste. Ich glaube übrigens wirklich, Sie werden eine angenehme Zeit bei mir haben, und Ihr Gesicht sowohl als Ihr Name gefällt mir. Ihr Name zog mich gleich an. Gab es nicht einmal einen Grafen Ferrars, der gehängt wurde? Doch da habe ich wohl wieder eine Dummheit gesagt. Das begegnet mir nämlich fortwährend.«

»In diesem Falle nicht,« antwortete ich beruhigend. »So viel ich weiß, war er kein Verwandter. Aber welche Arbeit, welche Pflichten haben Sie mir zu übertragen?«

»O, so viel wie nichts. Ein wenig nach dem Haus sehen und die Dienstboten zur Arbeit anhalten. Aber auch meiner werden Sie sich ein bißchen annehmen müssen. Ich bin so entsetzlich unpünktlich und vergeßlich. So verstecke ich zum Beispiel, ehe ich ausgehe, meine Schlüssel zwischen die Vorhänge, unter einen Teppich oder ins Klavier. Komme ich dann zurück, so kann ich mich nie mehr erinnern, wo ich sie hingetan habe, und muß die Diener rufen, damit sie mir suchen helfen. Das ist dann so demütigend. Mein Geld, meine Handschuhe, Briefe, Taschentücher, alles lasse ich herumliegen; ich leide darunter, und doch kann ich mich nicht ändern. Ja, Sie werden schon Ihre liebe Not mit mir haben,« fügte sie lachend hinzu. »Ich übergebe Ihnen die Schlüssel, das ganze Haus, die Dienerschaft ... ach, ich sage Ihnen, es ist ein ganzer Schwarm nichtsnutziger Kulis.«

»Ich fürchte, daß ich eine schlechte Haushälterin sein werde; denn ich habe noch nie in meinem Leben einem so großen Hauswesen vorgestanden.«

»Das schadet nichts. Sie brauchen sich nur so zu benehmen wie jetzt: kühl, höflich und würdevoll. Sie haben ein solch achtunggebietendes Wesen. Ich bin fest überzeugt, Sie verlieren niemals Ihre Selbstbeherrschung und werfen nicht in der Wut mit den Sachen um sich, wie ich es tue, wenn man mich reizt.«

»Das kann ich wohl allerdings versprechen,« antwortete ich lächelnd aus innerster Überzeugung.

»Tobby behauptet immer, ich hätte kein System, und da hat er auch recht. Einen Tag stehe ich zum Beispiel um fünf Uhr auf und renne wütend und scheltend im Hause umher, dann kümmere ich mich wieder wochenlang um nichts, stehe spät auf und lasse den Dingen ihren Lauf. Sie haben danach zu sehen, daß der Gärtner die Blumen in Ordnung hält, der Diener die Zimmer abstaubt, der Koch die Speisen zur rechten Zeit und wohl zubereitet heraufschickt. Sie müssen die Vorräte einkaufen lassen und austeilen, und dürfen vor allem mich niemals um Rat fragen.«

»Ich will es versuchen, will mir jedenfalls alle Mühe geben.«

»Sie sollen gänzliche Vollmacht über alles bekommen. Auch nach den Ställen müssen Sie sehen, und daß die Pferde ordentlich versorgt werden und ihr regelmäßiges Futter bekommen. Dann werden Sie Briefe für mich zu beantworten haben und mich unterhalten, wenn ich allein zu Hause bin. Hoffentlich spielen Sie Tennis?«

»Ja, aber nur ganz mittelmäßig.«

»Ich spiele mit wahrer Leidenschaft, stundenlang. Auch eine Menge Preise habe ich schon bekommen. Reisen und Tennis sind meine beiden Lieblingsbeschäftigungen. Ich werde Sie bitten, recht früh aufzustehen und mit mir zu üben, da ich mich im nächsten Monat bei einem großen Wettspiel beteiligen und dabei meinen Ruf als gute Spielerin behaupten möchte.«

»Es wird mir Vergnügen machen, aber ich sage im voraus, ich spiele nicht gut.«

»Nun, ich denke, das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte. Richtig: auf die Vögel und Hunde, die Javasperlinge, den Papagei, die weißen Pudel und besonders auf Tobby, das Wachtelhündchen, müssen Sie ein wachsames Auge haben.«

Mir sank allmählich der Mut bei dem sich mir eröffnenden Wirkungskreis. Die Oberaufsicht über einen großen, ungeordneten Haushalt führen, mich dieser aufgeregten Dame annehmen, die Dienste einer Gesellschafterin, Sekretärin, Haushälterin, Kammerjungfer verrichten, die Pferde und Hunde überwachen und dabei stundenlange Tennisübungen mitmachen ... das hieß sie so viel wie nichts zu tun haben!

Während dieses Gespräches fuhren wir durch die Straßen Punahs, einer reizenden, belebten, schattenreichen Stadt, vorüber an prächtigen öffentlichen Gebäuden, an Bazaren, Läden und hübschen Bungalows, die unter purpurroten und gelben Schlingpflanzen fast ganz versteckt und von den herrlichsten Bäumen überschattet waren. Auch einer Menge hocheleganter, moderner Wagen aller Art begegneten wir, die mit ihren bunt gekleideten Insassen dem ohnehin hübschen Städtebild einen besonderen Reiz verliehen.

»Ich will mein Möglichstes tun,« sagte ich endlich noch einmal, »allein ich fürchte wirklich, mir mangelt die Erfahrung. Ich bin nicht gewöhnt, zu ...«

»Das wird sich schon alles machen,« unterbrach mich Mrs. de Villars; »ich für meine Person zweifle nicht im geringsten daran. Wie neugierig werden die Leute Sie betrachten! Es gibt ja viele, die nichts Besseres zu tun wissen, als ihre Nasen in die Angelegenheiten ihrer lieben Nächsten zu stecken. So pflegten mich ein paar alte Damen, so oft sie mich sahen, nach Tobby zu fragen und ob er zu Hause sei, bis ich schließlich zu dem Entschluß kam, meinem Wachtelhündchen den Namen Tobby zu geben. Wenn Sie mich jetzt fragen: ›Wann erwarten Sie Tobby?‹ so antworte ich: ›Er ist zu Hause, allein er liebt nur meine Gesellschaft.‹ Da ich mit solchen Frauenzimmern natürlich nicht weiter verkehre, so sind sie auch noch nicht dahintergekommen, daß Tobby mein Hund ist ... So, und nun wären wir angelangt,« fügte sie hinzu, als wir plötzlich in das Eingangstor eines großartigen Anwesens einbogen.

Mrs. de Villars' Bungalow war niedrig, langgestreckt und mit kostbaren Möbeln vollgepfropft. Die ganze Besitzung machte indes einen vernachlässigten, sogar unsauberen Eindruck. Beim Heranfahren sah ich einen ganzen Troß von Dienerschaft und Boten um die Veranda herumlungern. Einige warteten mit Briefen, andre auf Befehle, und im Hintergrund hielt ein pockennarbiger Schneider ein halbfertiges Kleidungsstück in die Höhe, um die Aufmerksamkeit seiner Herrin anzulocken.

Zu Anfang, als ich mir die Ausdehnung meines Wirkungskreises klarmachte, schien es mir unmöglich, all den an mich gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Die Unordnung, der Staub, die faule, freche Dienerschaft schreckten mich zurück. Allein schon nach wenigen Tagen begann ich mich in meine Umgebung zu finden. Ich stand früh auf, sah nach, ob die Diener ihre Arbeit taten, und entließ die trägen. Ich hielt die Schlüssel in meinem Gewahrsam, schloß die Vorräte ein und überwachte das Füttern der Pferde. Auch trug ich Sorge, daß der Gärtner stets frische Blumen in Bereitschaft hatte, daß die Zimmer abgestaubt und die Pudel gewaschen wurden, und daß Mrs. de Villars nicht in abgetragenen Handschuhen und zerrissenem Rock ausging. Nach und nach gelang es mir auch, System und Ordnung in den Haushalt zu bringen und sogar noch etwas Zeit zum Tennisspielen, Briefschreiben und zu der Oberaufsicht über Mrs. de Villars' Kleider zu erübrigen. Ja, selbst für mich konnte ich noch einige freie Minuten erhaschen, wenn Mrs. de Villars ihren vielerlei geselligen Vergnügungen nachjagte, zu denen ich sie nur ausnahmsweise begleitete. Auch empfing sie nur selten Gäste im eigenen Hause, so häufig sie selbst ausging. Sie scheute die Unbequemlichkeit, wie sie offen erklärte, und zog es vor, sich im Hause andrer zu unterhalten.

Im allgemeinen hatte ich meine Herrin übrigens recht gern, und bald gewann ich die Überzeugung, daß sie sich selbst sehr zu ihrem Nachteil geschildert hatte. So nachlässig, unordentlich und heftig sie auch war, so hatte sie doch eine offene Hand und ein warmes Herz, und selten nur kam es vor, daß sie die Sonne über ihrem Zorn untergehen ließ, so stark er auch gewesen sein mochte. Zwei höchst mißliche Eigenschaften hatte sie allerdings, erstens ihre stete Ruhelosigkeit, denn nicht eine Viertelstunde lang konnte sie es am gleichen Platze aushalten, und dann die Unfähigkeit, zu einem Entschlusse zu gelangen. So konnte sie zum Beispiel eine Einladung annehmen, den Boten aber, noch ehe er das Haus verlassen hatte, zurückrufen und den entgegengesetzten Bescheid geben, um dann, wenn er sich mit der Antwort wirklich auf dem Wege befand, laut ihren Entschluß zu bereuen. Auch erzählte sie mir, wie es ihr vor meinem Kommen öfters begegnet sei, daß sie Einladungen zu Essen abgeschickt, diese dann aber vollständig vergessen und irgend einen Ausflug gemacht habe, so daß die Gäste empört mit hungrigem Magen aus der dunkeln Wohnung abziehen mußten.

»Sie können sich denken, daß ich mich infolgedessen keiner allzugroßen Beliebtheit erfreue,« schloß sie ihr Bekenntnis. »Seit ich aber Sie zur Unterstützung habe, steige ich bereits wieder in der öffentlichen Gunst.«

Bei all ihren Eigentümlichkeiten kamen wir doch erstaunlich gut miteinander aus. Sie versicherte mir wiederholt, daß sie sich noch nie so wohl in ihrem Hause gefühlt habe, und daß ihr mein ruhiges Wesen gefalle. Jedenfalls war ich eine gute Zuhörerin, denn wenn wir allein zusammensaßen, so sprach sie unaufhörlich und fast ausschließlich von sich selbst. Noch war ich keine Woche in ihrem Hause, so hatte sie mir schon anvertraut, wann und wie sie die Bekanntschaft ihres ersten Gatten, Mr. Lobbs, gemacht und wie sie sich mit ihm verlobt habe. Ich wurde mit den Namen und Angelegenheiten ihrer sämtlichen Verwandten aufs genaueste bekannt gemacht und keine Einzelheit über ihre persönlichen Triumphe, ihre kleinen Kümmernisse, ihre Toilettensorgen, sowie ihre Freundinnen und Feindinnen blieb mir erspart.

*

Allmählich war die Zeit des großen Tenniswettspiels herangerückt. Auf dem weiten Rasenplatze drängten sich die Menschen und ich befand mich ebenfalls dort, wenn auch nur unter den Zuschauern. Auf einer Bank sitzend, beobachtete ich Mrs. de Villars, die an diesem Tage nicht mit Glück spielte und, wie mir schien, nicht weit von einem heftigen Zornesausbruch war. Ich sah es an ihrem erregten Gesicht und ihren ungeduldigen Bewegungen.

»Miß Ferrars!« rief plötzlich eine Stimme. »Das nenne ich eine Überraschung!«

Ich sah auf, und wer stand neben mir? Mrs. Blasson in höchst eigener Person.

»Mrs. Blasson!«

»Jetzt Mrs. Lane,« verbesserte sie in liebenswürdigem Tone. »Ich habe mich kürzlich verheiratet, Sie aber, wie ich höre, nicht.«

»Nein, ich bin noch immer Miß Ferrars.«

»So war es also doch nicht mein Mr. Thorold, den Sie zu heiraten beabsichtigten! Es schien mir doch auch gar zu unwahrscheinlich. Er hat immer so wenig Lust zum Heiraten gezeigt und ist überdies auch gar zu wählerisch. Haben Sie ihn gesehen?«

»Ja.«

»Ist er nicht interessant?« fragte sie lebhaft.

»Nein, das finde ich nicht.«

»Dann haben Sie ihn jedenfalls nicht oft gesehen. Sie konnten sich also nicht entschließen, Watty Thorold zu heiraten? Man hat mir die ganze Geschichte erzählt. Sie sind wirklich eine mutige junge Dame! Schon auf dem Schiff bewiesen Sie übrigens Ihren Mut. Wissen Sie noch, damals bei dem fürchterlichen Sturm, als wir alle glaubten, wir würden untergehen!« – Sie zog einen Stuhl heran und ließ sich neben mir nieder. – »Daß Watty Thorold sich mit einer andern getröstet und verheiratet hat, haben Sie wohl gehört?«

»Nein, aber es freut mich ungeheuer.«

»Allerdings ein Mädchen andrer Art als Sie sind: eine Kutscherstochter, eine dicke, freche Person mit etwas Geld, die sogar die Unverschämtheit hatte, an Tizzie Hassall eine Vermählungsanzeige zu schicken und ihr zu schreiben, daß sie eine alte Liebe von Watty sei. Tizzie war natürlich rasend.«

»Geschah das erst kürzlich?«

»Vor vierzehn Tagen.«

»Wohnen Sie selbst in Punah?«

»Nein, ich befinde mich auf der Durchreise nach Sekunderabad. Und Sie?«

»Ich wohne hier.«

»So wagten Sie es also nicht, nach Hause zurückzukehren? Und bei wem wohnen Sie?«

»Ich bin Gesellschafterin bei Mrs. de Villars, bei jener Dame dort mit dem gelben Gürtel, die Tennis spielt.«

»Was?« – Sie hatte sich ungestüm umgedreht und sah mich nun scharf an. – »Gesellschafterin bei der Villars? Wie in aller Welt kommen Sie denn dazu?«

»Ich hatte verabredet, zu einer andern Dame zu gehen; da diese jedoch Punah plötzlich verlassen mußte, so empfahl sie mich an Mrs. de Villars.«

»Na, hören Sie mal, da sollte sich die Betreffende aber doch wirklich schämen! Wie kann man jemand in die Klauen der tollen Fanny geben! Unter diesem Namen ist sie nämlich in Indien bekannt. Sie haben gewiß längst bemerkt, daß nur Leute dritten Ranges mit ihr verkehren. Weder ein Dienstbote, noch ein Gatte hält es bei ihr aus. Drei Männer hat sie schon gehabt. Sagen Sie mal, wie lange sind Sie eigentlich schon bei ihr?«

»Erst zwei Monate; aber wir kommen recht gut miteinander aus.«

»Dann sind Sie wirklich ein bewunderungswürdiges Mädchen! Na, Sie werden übrigens schon noch Ihre Erfahrungen mit ihr machen. Sehen Sie nur, wie sie sich jetzt wieder gebärdet und mit den Füßen stampft! Wenn Sie nicht von ihr fortgehen, so werden Sie jedenfalls über kurz oder lang von ihr abgeschüttelt werden ... und je eher, desto besser!« fügte sie, sich erhebend, hinzu. »Ich nannte Sie mutig, weil Sie Watty Thorold aufgegeben haben, aber die Wahl, die Sie jetzt getroffen haben, ist tausendmal schlimmer. Sie sind wirklich waghalsig, Miß Ferrars. Ich wäre an Ihrer Stelle noch lieber die Frau eines armen Pflanzers als die Gesellschafterin der tollen Fanny geworden. Da kommt sie übrigens, und zwar, wie mir scheint, wieder einmal schäumend vor Wut. Ich wage nicht, ihr in den Weg zu treten. Leben Sie wohl.«

Bebend vor Zorn und mit feuersprühenden Augen kam Mrs. de Villars auf mich zugeeilt, und, ehe ich mich dessen versah, wurde ich vor ihr her über den großen Platz und in den Wagen hineingetrieben. Dort brach, sobald wir einander gegenübersaßen, der Sturm los. Mit allen Einzelheiten, atemlos vor Eifer, beschrieb sie mir die Vorgänge des verlorenen Spieles und schalt dabei auf ihre Gegner.

Allein wie gewöhnlich ging auch dieser Wutanfall fast ebenso rasch vorüber, wie er gekommen war. Als wir uns dem Hause näherten, begann sich das Interesse meiner Herrin bereits dem von der Tennisgesellschaft geplanten großen Balle zuzuwenden, der noch am selben Tage stattfinden sollte.

Zum mindesten viermal wurde die Wahl ihrer Kleidung geändert. Als sie dann aber endlich in einer feuerroten Toilette, mit Diamanten im dunkeln Haar und um den Hals vor mir stand, war sie in der Tat eine glänzendschöne Erscheinung.

Nachdem sie fortgefahren war, setzte ich mich mit Tobby Nr. 2 auf die Veranda und lauschte den Klängen einer Militärkapelle, die aus einiger Entfernung durch die stille, laue Abendluft herübertönte.

Dank Mrs. Lanes Mitteilungen hatte ich reichlichen Stoff für meine Gedanken. Ich freute mich aufrichtig, daß Watty verheiratet war und noch dazu mit einer »alten Liebe«. Diese Heirat nahm mir eine Last von der Seele, denn manchmal hatte mich doch ein Schauder erfaßt, wenn ich an die Beschreibung seiner einsamen Wohnung, an den niederstürzenden Regen und die Versuchung dachte, der er dann ausgesetzt war. Nun aber war ja alles gut, und trotz Mrs. Lanes gegenteiliger Behauptung und obgleich Mrs. de Villars' Benehmen in der Gesellschaft viel zu wünschen übrig ließ, mußte ich mir doch sagen, daß ich das bessere Teil erwählt hatte und es mir hier immer noch erträglicher ging, als wenn ich Watty Thorolds Frau geworden wäre.

Persönlich konnte ich mich ja auch wirklich nicht über meine Herrin beklagen. Sie bezahlte mir sechzig Rupien im Monat, und ich verdiente mir so meinen Unterhalt und lernte zugleich Indien kennen. Sobald ich eine genügende Summe zusammengespart haben würde, wollte ich nach England zurückkehren, denn ich sah allmählich ein, daß ein Mädchen ohne Freunde, Verwandte oder sonstige Beziehungen wirklich etwas Ungewöhnliches im fernen Osten ist. Nach einem Jahre würde ich mein Überfahrtsgeld und noch eine kleine Summe beisammen haben, dann wollte ich mich als Pianistin oder Musiklehrerin in London niederlassen. Das war das Luftschloß, das ich baute, das aber leider schon nach Ablauf weniger Stunden in sich zusammenfallen sollte.

*

Als Mrs. de Villars und ich am folgenden Morgen zu später Stunde beim ersten Frühstück saßen, wurde ihr die aus England eingelaufene Post überbracht, und sie machte sich daran, die Briefe zu öffnen. Plötzlich wandte sie sich zu mir.

»Was sagen Sie dazu? Übermorgen reise ich nach Japan! ... Ja, ja, Sie staunen, mir aber geht nichts über eine Abwechslung. Tobbys Verwandte sind nämlich auf dem Wege dahin, und nun reicht es gerade noch, daß ich in Colombo mit ihnen zusammentreffe. Die werden Augen machen! Schon lange wünschte ich Japan kennen zu lernen, und hier bietet sich mir nun die Gelegenheit!« jubelte sie, vergnügt in die Hände klatschend. »In drei Monaten werde ich zurück sein, vielleicht auch erst in sechs, da ich unter Umständen über Amerika und England reise.«

Ich war zu bestürzt, um sprechen zu können, und so fuhr sie fort: »Ich werde das Haus schließen und es in Ahmeds Obhut lassen. Das Silberzeug schicke ich auf die Bank, Hunde und Vögel wird Mrs. Black nehmen. Tobby muß telegraphiert werden, vielleicht entschließt er sich, seinen Urlaub in Yokohama zu verbringen ... Es ist wohl besser, Sie schreiben den Leuten, die zum Gabelfrühstück kommen wollten, ab und sagen, ich hätte eine dringende Abhaltung ... und dann ... Ach richtig,« – eine lange Pause folgte – »was soll aus Ihnen werden?«

Beide Ellbogen mit den ausgefransten Ärmeln auf den Tisch stützend, starrte sie mich an. Heute noch sehe ich sie deutlich vor mir mit ihren großen schwarzen Augen, dem zerzausten natürlich gelockten Haar und dem abgetragenen rosafarbigen Schlafrock.

»Ja, was soll aus mir werden?« wiederholte ich lachend. »Für die Hunde, das Silber und die Vögel haben Sie gesorgt, was aber wollen Sie mit mir machen?«

»Es ginge wohl nicht, daß Sie eine vorübergehende Stelle annehmen – sagen wir auf drei Monate – oder auf eigene Kosten mit mir reisten?«

»O nein, dazu fehlen mir die Mittel,« antwortete ich rasch. »Überhaupt werde ich Indien nur verlassen, um nach England zurückzukehren.«

»Nun denn, so hören Sie mich mal an. Ich schulde Ihnen zwei Monate, das macht hundertzwanzig Rupien, und außerdem werde ich Ihnen, weil ich Ihnen doch so Knall und Fall kündige, noch vierzig weitere geben, dazu ein glänzendes Zeugnis.«

Sie stand auf, wandte sich aber dann wieder um. »Nein, ich habe mir's anders überlegt: hundert Rupien will ich Ihnen mehr geben, denn Sie haben sich wirklich als ein Kleinod erwiesen.«

Rasch machte ich einen Überschlag. Mit dieser Summe und den noch von meinem Heckepfennig übrigen zwanzig Pfund konnte ich nach Madras reisen, mich dort nach einer Stellung umsehen und übers Jahr von meinen Ersparnissen die Überfahrt nach England bestreiten. Wahrhaftig, ich hatte genug von diesem Wanderleben in Indien!

»Gut denn, ich danke sehr für Ihre Freundlichkeit. Sobald Sie es wünschen, werde ich zur Abreise bereit sein.«

»Nun, so fliegen Sie und kündigen Sie der Dienerschaft den Dienst auf. Dann packen Sie die Sachen im Salon ein, die Photographieen, Nippessachen und seidenen Kissen, auch müssen die Teppiche aufgerollt werden ... Doch nein, bleiben Sie, und schreiben Sie zuerst die Briefe ... oder warten Sie, es ist besser, das Silber wird zuerst eingepackt, damit man es auf die Bank bringen kann.«

Rasch eilte ich davon, um zwei Diener zur Hilfe herbeizurufen, und als ich mit dem Zählen, Aufschreiben und Einpacken des Silbers nahezu fertig war, erschien Mrs. de Villars im Hut.

»Ich will mal schnell zu Mrs. Black hinübergehen, um sie zu bitten, daß sie die Vögel und Hunde zu sich nimmt, und nach nochmaliger Überlegung finde ich es doch besser, daß man den Gästen zum Gabelfrühstück nicht abschreibt, und da brauchen wir natürlich das Silber.«

Mrs. de Villars' schlimmste Eigenschaft war ihr Wankelmut und das fortwährende Umstoßen ihrer eigenen Pläne. Daß sich dies während der folgenden Tage besonders fühlbar machte und sie noch ruheloser und aufgeregter war als gewöhnlich, läßt sich denken. Selten kam ich vor zwei Uhr morgens zu Bett.

»Ich glaube, in solch geordnetem Zustande habe ich das Haus noch nie verlassen!« rief Mrs. de Villars am letzten Abend, behaglich die mageren Hände reibend. »Und das verdanke ich Ihnen allein. Sie sind ein wahrer Schatz! Nun sagen Sie mir, was haben Sie für Pläne?«

»Ich beabsichtige nach Madras zu gehen, um mich nach einer Stellung umzusehen. Später gedenke ich nach England zurückzukehren und mich als Klavierlehrerin niederzulassen.«

»Puh, was für eine Aussicht! So weit wird es übrigens niemals kommen. Sie heiraten natürlich vorher. Das war mit ein Grund, weshalb ich Sie nicht häufiger in Gesellschaft mitnahm; ich fürchtete nämlich, Sie zu verlieren. Wenn Sie einen Verehrer gefunden und sich verlobt hätten, so wäre ich wieder schön in der Patsche gewesen. Nun ist zwar, wie ich fürchte, der umgekehrte Fall eingetreten: ich lasse Sie in der Patsche sitzen. Aber leider ist die Sache eben nicht zu ändern. Überall, wo Sie sich gezeigt haben, sind Sie sehr bewundert worden, das sage ich Ihnen zum Trost, und wenn ich nicht nach Japan ginge, so hätte ich Sie das nächste Jahr mit nach Marbleishwar genommen und Ihnen eine gute Partie verschafft.«

»Das ist ja sehr freundlich« – ich lachte auf –, »allein ich bin gar nicht ...«

»Still, still! Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, Sie hätten die Absicht, eine alte Jungfer zu werden. Sicherlich haben Sie jetzt aber auch noch manches für sich zu packen, und vergessen Sie nicht, daß wir morgen früh um sechs Uhr von hier wegfahren.«

Von den Nordwest- und den Zentralprovinzen, sowie auch von Dekhan hatte ich bereits einen flüchtigen Eindruck gewonnen, und nun stand ich im Begriff, mich nach dem ältesten Sitz der Regierung, in die echten, palmenreichen Tropen zu begeben. Ich reiste mit einem späteren Zuge ab als Mrs. de Villars, nachdem wir uns auf dem Bahnsteig in Punah, wo ich sie zuerst gesehen, auch wieder verabschiedet hatten. Sie führte nur wenig Gepäck mit sich und reiste in Begleitung eines portugiesischen Dieners, selbstverständlich erster Klasse, wogegen ich mir eine Fahrkarte zweiter Klasse gelöst und als Gepäckträger den alten Ahmed bei mir hatte, einen Indier, in den Mrs. de Villars großes Vertrauen setzte, der mir selbst aber von Anfang an im höchsten Grade zuwider gewesen war. Immerhin aber nahm er sich diensteifrig meines Gepäckes an, legte eigenhändig die kleineren Stücke in ein leeres Coupé und erwies sich in jeder Hinsicht aufmerksam und äußerst gewandt, so daß ich wohl begreifen konnte, wie Mrs. de Villars ihn trotz seines glatten, fetten Gesichts und seiner schlauen Augen zu schätzen wußte.

Ich war die einzige Reisende in meiner Abteilung und setzte mich ans Fenster, von wo aus ich Ahmeds tiefe Abschiedsverbeugung erwiderte. Stundenlang schaute ich dann von diesem Platze aus hinaus auf die sich vor mir entrollenden Bilder des alten Indiens. Zuerst kam ich an Kirkee und verschiedenen, mir bekannten Orten vorbei, dann folgten bewaldete Berge, befestigte Städte, zerklüftete rötliche Gebirgsketten, grüne Weideplätze und breite Flüsse.

Endlich erhob ich mich, um mein Gepäck in Ordnung zu bringen und mir einen Mantel zu holen, denn der Abend war kühl. Doch als ich meine Reisetasche beiseite stellen wollte, kam sie mir eigentümlich verändert vor, und bei näherer Untersuchung entdeckte ich, daß die innere Tasche, worin ich mein Geld, meine Papiere und Zeugnisse aufbewahrt hatte, mit einer Schere herausgeschnitten war! Ahmed hatte diese Reisetasche in seine ganz besondre Obhut genommen, und nun fiel mir auch wieder das eigentümliche Lächeln ein, womit er meine fünf Rupien Trinkgeld in Empfang genommen hatte und seine tiefe höhnische Verbeugung bei meiner Abfahrt. Nichts blieb mir mehr, als die fünfundsechzig Rupien, die man mir beim Lösen der Fahrkarte herausgegeben und die ich glücklicherweise in meine Kleidertasche gesteckt hatte.

Was sollte nun aus mir werden? So entmutigt, so namenlos unglücklich fühlte ich mich, daß ich in krampfhaftes, verzweifeltes Weinen ausbrach. Schien es nicht, als habe sich alles gegen mich verschworen?

Wie lange ich so trost- und hoffnungslos weinte, weiß ich nicht, ich merkte nur mit einem Mal, daß wir in eine große Station einfuhren. Rasch unterdrückte ich mein Schluchzen und trocknete mir die Augen – trotzdem mußte ich von einem vorübergehenden jungen Schaffner bemerkt worden sein, denn er blieb stehen und sah zum Fenster herein.

»Na, was gibt's? Wollen Sie nicht aussteigen und etwas zu Abend essen?«

Wäre ich in der ersten Klasse gereist, so hätte er mich wahrscheinlich nicht so ohne weiteres anzureden gewagt, Armut aber verhilft einem manchmal zu eigentümlichen Freunden.

»Nein, ich will lieber hier bleiben.«

»Warum? Sind Sie krank?« fragte er teilnehmend.

»Nein, nicht gerade, aber ich habe soeben die Entdeckung gemacht, daß mir all mein Geld gestohlen worden ist. Sehen Sie nur, wie es zugegangen ist!« Und ich zeigte ihm meine zerstörte Reisetasche.

»Das ist ein sauberer Streich!«

Rasch öffnete er die Tür, setzte sich mir gegenüber und betrachtete den Schaden genauer. »Wieviel war es?« fragte er dann, mich mit seinen großen blauen Augen ansehend.

Unter einem neu hervorstürzenden Tränenstrom sagte ich es ihm.

»Na, weinen Sie nur nicht. Aber freilich solch ein Pech! Und wenn Sie keine Freunde, keine Zeugnisse und kein Geld haben ...«

»Fünfundsechzig Rupien sind mir noch geblieben.«

»Nun, damit können Sie sich schon ein Weilchen über Wasser halten.«

»Aber nicht in einem Hotel in Madras.«

»Nein, aber ich will Ihnen mal einen Rat geben. In den Vorstädten Vepery und Blacktown gibt es eine Menge billiger Kosthäuser, wo man um achtzig Anna bis eine Rupie täglich aufgenommen wird. Ich kenne zum Beispiel eine Frau Rosario, die in der Crundallstraße Nummer sechzehn in Vepery wohnt, bei der beträgt der Preis für Kost und Logis täglich eine Rupie. Sie ist eine sehr anständige alte Frau, wenn auch fast so schwarz wie ein Mohr, und wenn Sie ihr sagen, daß Giles – das bin ich – Sie schicke, so wird sie gewiß gut für Sie sorgen.«

»Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Freundlichkeit.«

»Es geht zwar ein bißchen kunterbunt zu in dem Haus, aber Sie werden sich schon darein finden. Jedenfalls ist es billig und anständig, und von dort können Sie sich nach einer Stelle umsehen oder nach Hause schreiben.«

»Ja, das werde ich wohl können,« stimmte ich mit einem Seufzer bei.

»Sie haben die gleiche Haarfarbe wie meine Schwester; das fiel mir zuerst auf. Ach, wie herzbrechend Sie geweint haben! Aber was nützt das? Kommen Sie jetzt und essen Sie mit mir.«

»Ach nein, ich danke, ich brauche nichts zu essen,« antwortete ich kläglich.

»Aber ich ... und Sie ebenfalls! Das Weinen hat Sie angegriffen. Ich habe nämlich auch einst bessere Tage gesehen; Sie werden mir's zwar kaum glauben. Allein nichts wollte mir in der Heimat glücken, und so kam ich nach Indien, um mich wenigstens auf eigene Füße zu stellen. Vielleicht schwinge auch ich mich wieder in die Höhe, und inzwischen ist es besser, ich bin hier, als ich lungere zu Hause herum und lasse mich von meinem Alten unterhalten. Meine Arbeit ist zwar recht schwer, aber daraus mache ich mir nichts ... Da Sie mir aber die Ehre Ihrer Gesellschaft nicht erweisen wollen, so muß ich eben allein gehen.«

Damit sprang er hinaus und schloß die Türe. Allein schon nach kurzer Zeit kam ein Kellner in einem roten Turban und brachte mir ein Stückchen kaltes Geflügel, Brot und eine Flasche eisgekühlter Limonade. Giles Sahib, so sagte der Kellner, schicke mir dies; alles sei bezahlt. Dankbar nahm ich dieses kleine Mahl an und fühlte mich daraufhin außerordentlich gestärkt. Diese Erfrischung und die Adresse des billigen Kosthauses hatte ich also der Farbe meiner Haare zu verdanken!

Kurz vor Abgang des Zuges erschien mein freundlicher Beschützer wieder, um sich von mir zu verabschieden und mir noch eilig zuzurufen: »Ich habe Sie meinem Kameraden Jenkins anempfohlen; er wird in Madras nach Ihrem Gepäck sehen und Ihnen für einen Wagen sorgen. Ich fahre jetzt nach Mettapollum. Also leben Sie wohl!« Damit reichte er mir die Hand und drückte die meinige herzlich. »Leben Sie wohl und verlieren Sie den Mut nicht. Viel Glück!«


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