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Eines Nachmittags, es war kurz vor Weihnachten und schöner, heller Sonnenschein bei trockener Kälte, mußte die Juli nach Stafflach hinunter, um Medizin für den Vater zu holen, die der Bote von Steinach gebracht; die Dicke konnte nicht gehen, denn sie hatte sich den Fuß verstaucht; die Juli ließ sie zwar ungern allein beim Vater zurück, doch war sie ja gewiß, daß der Vater das Weib nie mehr sehen wolle und daß sie aus dem Haus müsse, sowie er nur erst aufstehen konnte. Es mußte ja kommen, einmal mußte vergolten werden!
Aber es kam ihr doch vor, als sollten sie noch lange darauf warten müssen; manchmal schien es ihr, als fürchte der Vater sich vor der Aussprache, als stehe er deshalb nicht auf, als werde er deshalb nicht gesund; denn er hatte kein Fieber mehr, die Wunde war geheilt, aber er aß fast nichts und redete kein Wort. Mit seinem abgezehrten Stoppelgesicht lag er drinnen wie ein Schwerkranker, stets mit einem Zug von Furcht oder Schrecken. Der Doktor hatte ihn schon ein paarmal besucht – jetzt kam er nicht mehr – und ihn aufgemuntert: »Ha, was ist denn, Kuchler, aufstehen mußt, fehlt dir nichts mehr. Den 134 Willen mußt haben zum Gesundsein, dann geht alles wieder, das Essen, der Schlaf und die Arbeit.«
Zur Juli sagte er dann: »Er mag nicht gesund werden, wie mir scheint, was hat er denn? Er muß 'raus aus dem Bett!«
Aus dem Bett! Dazu kam's nicht, die Juli durfte gar nicht reden davon!
Teilnahmslos lag er drinnen, gerade, wie wenn er vorhätte, nie mehr aufzustehen. Darum war die Juli auch nicht gerade übermäßig beunruhigt, ihn droben mit dem Weibe allein zu wissen. Das war vorbei, sie sah's ja, der Alte verzieh das nie, sie kannte ihn zu gut.
Kaum war die Juli um die Ecke verschwunden, schlich die Dicke horchend an des Alten Türe. Nichts rührte sich drinnen, nur den schweren Schlag der Uhr hörte sie; leise drückte sie auf die Klinke, leis trat sie ein, die Juli hatte ihn also nicht eingeschlossen. Der Alte machte die Augen fest zu, aber sie sah's wohl, daß er sie erst bei ihrem Hereinkommen geschlossen hatte. Still setzte sie sich in dem großen Stuhl zurecht, und bald klapperten ihre Stricknadeln um die Wette mit dem Ticktack der Uhr.
Wie er ausschaute! Das ganze Gesicht voller Stoppeln, ungewaschen und das Bett ganz schmutzig – ja, ja, die Juli! Es war höchste Zeit, daß sie ihn wieder in die Hände bekam! Einstweilen schaute sie ihn fortwährend an mit dem Ausdruck großer Traurigkeit und Bangigkeit; auf einmal aber kugelten ihr dicke Tränen herunter, das Strickzeug fiel zu Boden, sie wischte und wischte die Nase mit ihren fetten roten Fäusten, aber der Tränen wurden zu viele, sie mußte die Schürze vor die Augen halten; unter der Schürze 135 schluchzte sie zuerst leise, dann immer lauter und lauter – der Alte rührte sich, machte die Augen auf, schloß sie aber sofort wieder und drehte sich gegen die Wand.
Das Schluchzen setzte einen Augenblick aus, dann kam's aber um so heftiger; sie stand auf und mit gerungenen Händen stellte sie sich vor das Kruzifix hin, das, mit ein paar Palmzweiglein besteckt, in der Ecke hing, und begann halblaut zu beten.
»Mei' himmlischer Vater, derbarm di' und laß den armen Mann wieder g'sund werd'n. Derbarm di' und laß ihn die große Lug' einsehg'n, laß das nit auf mir, siehgst es ja, mir druckt's Herz ab. Wenn i aa g'fehlt hab' und hab' g'scherzt mit die andern und a bisl schön getan, verzeih mir's, i tua so was g'wiß nimmer; gib dem Mann an Einseh'n, daß er mir verzeiht! Gern will i ja auf Absam wallfahrten, liebe Muttergottes, wenn's aufkimmt, daß i unschuldig bin an der Sach'« – hinter ihr regte sich etwas, sie ließ die Schürze sinken, zwei Augen sahen sie fast bittend an, wie sie so in Schmerz aufgelöst dastand –, »Lisei,« stammelte der Alte leise, ein magerer Arm kam unter der Decke vor und streckte sich ihr entgegen – – – –
Als die Juli am Abend nach Hause kam, hörte sie in der Kammer des Vaters Lachen, die Türe ging auf und der Kranke kam heraus, matt noch und elend, aber fest gestützt und sorgsam geleitet von der Dicken.
Jetzt war alles verloren! Jetzt hatte sie ihn wieder fest, jetzt triumphierte sie, und die Juli war unterlegen für immer!
*
136 Nun ging's schnell mit des Vaters Genesung. Die Dicke wußte auch für ihn zu sorgen, das mußte man ihr lassen, und es gefiel ihm und tat ihm wohl. Das Haus war sauber, das Vieh stets versorgt, das Essen ordentlich gekocht, und war er launisch, so schwieg sie oder kam mit einem derben Scherz; zankte er, so ließ sie ihn zanken, oder sie verstand es, ihn zu begütigen. Dabei kam sie mit Wenigem aus und klagte nie, wenn sie nur satt war. An die Juli und die Nann kam freilich nicht allzuviel, Hunger brauchten sie ja keinen zu leiden, aber mit den Kleidern stand es schlimm. Sagten sie einmal was zum Vater, so fuhr er sie an: »Sagt's es ihr, mi geaht's niacht an.«
Was? Zu ihr sollten sie etwas sagen? Etwa gar betteln um ein Kleid? Lieber liefen sie in den alten Lumpen herum, die Nann getraute sich oft wochenlang nicht, zu melden, daß ihre Schuhe zerrissen seien; lieber saß sie mit nassen Füßen in der Schule, sie zankte ja doch immer, wenn man etwas brauchte!
Die Juli hatte ihr, als es gar zu grimmig kalt wurde, einen alten Janker vom Vater zurechtgestutzt, das heißt, sie schnitt die Ärmel ab und machte ihn über die Brust enger, dahinein wurde die Nann gesteckt. Es gab schon Tränen im Kuchlerhaus, als sie ihn anziehen mußte und die Dicke sich beinahe nicht mehr helfen konnte vor Lachen, es gab Tränen, als sie zum Gaudium der Dorfjugend in Jodok anlangte. Mit einem Schneebombardement und mit Hallo wurde die Nann empfangen und wochenlang mit Necken und Geschrei geplagt. Zuletzt lachte sie selbst mit, und da hörten auch die Späße auf, die Kinder gewöhnten sich daran, daß die Nann im 137 Janker vom ›Voda‹ daherkam, und die Nann kroch gern hinein, wenn's recht kalt war, wenigstens fror sie nicht so wie in ihrem eignen dünnen Kittel. Freilich tat es ihr oft weh, wenn ihre Kameradinnen so sauber daherkamen, mit guten Kleidern und frischen Schürzen, mit Schaltuch und Kapuze, und ihr höchstes Sehnen galt ordentlichen Kleidern. Wenn sie nur einmal groß wäre, wenn sie nur einmal fortkäme und verdienen könnte! Da hatte es aber noch gute Zeit, und im Kuchlerhaus änderte sich auch wahrscheinlich bis dahin nichts, die Dicke regierte, und regierte als des Vaters Weib.
Winter und Frühjahr vergingen, die Sonne brannte auf den Berglehnen, die Dicke stand oben und mähte wie ein Mann; sie spannte die Kuh ein und führte Heu heim, und was man mit dem Wagen nicht einführen konnte, trug sie; sie breitete im Herbst den Dünger auf die Wiesen, kein Hang war ihr zu steil, kein Weg zu weit, sie führte sogar im Winter den schwerbeladenen Holzschlitten trotz eines Mannes, hackte und sägte Holz und häufte es auf und saß des Winters in der Stube und spann oder ließ ihre Stricknadeln klappern, es fehlte nie und nirgends. Der Lenz kam, schon lief das Luisele in die Schule, es blieb alles beim alten. Oft sagte dem Kuchler einer, der von der ›Häuserin‹ wußte: »So taat i sie decht heiraten!«
»Ah was!« sagte der Anderl, »zwoamal heiraten ischt g'nua, a drittsmal war viel zu viel.«
War er da oder nicht, das Haus war in Stand, und sie wußte ihn immer zur rechten Zeit an die Arbeit zu mahnen, wenn's ihm einmal schwer fiel, von droben zu gehen. Sie hütete sich jetzt wohl oben 138 im Haus, sie wußte, daß sie zwei Augen nie verließen, zwei schwarze, böse Augen, hu, es schüttelte sie ganz, wenn sie die Juli sah, wie die umherschlich!
Man wußte schon nicht mehr, war sie närrisch oder gescheit. Reden mochte sie nicht, arbeiten nur das, was ihr gerade paßte, vor den Leuten verkroch sie sich, nie wollte sie zur Kirche oder ins Dorf. Dafür nutzte die Dicke das Dorfgehen redlich aus; wenn sie nach Hause kam, war sie kreuzlustig, und man sah ihr an, daß ihr der Wein geschmeckt hatte. Aber kein Blasi, kein Michel und kein Hansi saßen mehr in der Stube, wenn sie heimkehrte, der Michel war längst im Steinbock in Steinach und der Hansi bei den Soldaten, Kaiserjäger war er geworden, und als er an Weihnachten in Urlaub kam und in seiner schmucken, grau und grünen Uniform in der Kirche stand, mußte ihn die Nann immer wieder anschauen, ob er's auch wirklich sei, so fremd kam er ihr vor. Sie getraute sich gar nicht, ihn anzureden, so gern sie es getan hätte, sie schlich nur an ihm vorbei; der Hansi hatte aber auch ganz andres zu tun, als die kleine Nann zu begrüßen, er stand bei einer Menge Kameraden vor der Kirchentüre, wo sie scherzten und lachten und auf die jungen Dirnen sahen, die alle dem flotten Kaiserjäger durchaus nicht feindliche Blicke zusandten. Wie hätte er denn an die Nann denken sollen! Wie hätte er denn die Nann kennen sollen!
Natürlich sah sie ganz anders aus wie früher; größer und hagerer war sie geworden, das Näslein krümmte sich ein wenig, sie war ganz nach der Kuchlerart geschlagen, nur weiß und rot war sie und hatte lichtes Haar. Je größer sie wurde, desto weniger vertrug sie sich mit des Vaters Häuserin. Ihr war's 139 nicht gegeben wie der Juli, zu schweigen und sich plagen zu lassen, sie war stolz und trotzig und sparte die häßlichsten Reden nicht, auch wenn der Vater da war. Dafür suchte ihr die Dicke stets etwas anzuhängen, und die Prügel, die sie vom Vater dafür bekam, waren das einzige Zeichen, daß er sie überhaupt sah, sonst bekam sie kein Wort das ganze Jahr von ihm, desto mehr von der Dicken, der sie nichts rechtmachen konnte, und die nur an ihr herumzuknuffen und zu schimpfen hatte.
»Du,« schrie die Nann sie einmal an, »was hab i dir in Weg g'legt, daß du mi so kujonierst? I g'hör decht eher einer da ins Haus wie du!«
»Ah wohl!« machte die Dicke höhnisch, »du, du Welschhenne, du, mit deiner raren Mutter.«
»Du sagst mir nix über mei Mutter,« schrie die Nann außer sich und schlug die Dicke mitten ins Gesicht, und als die das Kind bändigen wollte, biß es wie rasend um sich, stieß mit den Füßen und wollte sich nicht greifen lassen.
»I bleib nimmer da, i geh fort!« schrie das Mädchen.
»Wie deine Schwestern,« höhnte die Dicke, »die hat der Voda aa außischmeißen müssen.«
Nein, sie wollte schon selbst gehen, wenn nur die Schule erst aus wäre, wenn nur die Zeit um wäre!